Der neue Landdoktor 8 – Künstler unter sich

Der neue Landdoktor –8–

Künstler unter sich

Wenn sie offen reden würden …

Roman von Tessa Hofreiter

»Ja, habt ihr denn schon diesen eigenartigen Wagen bemerkt, der seit Stunden drüben beim Herrn Pfarrer steht?« Die alte Ederin wies auf den gegenüberliegenden Parkplatz, und die Damen in Fanny Lechners Lebensmittelgeschäft reckten interessiert die Hälse. »Hat man hier so was schon gesehen!«

»Hübsch, nicht wahr?« Traudel, die gute Seele des Doktorhauses, guckte ganz unschuldig zwischen den Packungen mit verschiedenen Müslis hervor. »Bissl altmodisch und gemütlich. Ist halt mal etwas anderes, gell?«

»Na, ich weiß nicht recht.« Frau Eder rückte ihre Brille zurecht und musterte unschlüssig die gegenüber liegende Straßenseite. »Schaut so ein Auto aus?«

Das Gefährt, über das man sich angeregt unterhielt, unterschied sich wirklich sehr von den anderen Wagen, die auf dem Parkplatz standen. Es ließ sich nicht genau sagen, ob es ein Wohnwagen, ein Wohnmobil oder einer dieser wunderschönen, alten Wagen war, mit denen früher die Landfahrer unterwegs gewesen waren. Irgendwie schien es eine Mischung aus allem zu sein.

Seine hölzernen Außenwände waren zu silbrigem Grau verwittert, die unterteilten Fenster und die hübsche alte Tür in einem warmen, dunklen Grün gestrichen und soweit man es mit prüfenden Blicken durch die Fenster beurteilen konnte, verfügte er über einen sehr individuell gestalteten Innenraum.

Dieser Wagen schien als Werkstatt und gleichzeitig auch als Wohnung zu dienen. Derjenige, der ihn so gestaltet hatte, musste nicht nur einen guten Geschmack haben, sondern auch das Bedürfnis, sich bei der Arbeit in einer angenehmen Atmosphäre aufzuhalten.

»Wem der wohl gehören mag?«, fragte Afra in die Runde.

»Einem Bekannten vom jungen Doktor«, antwortete Traudel beiläufig. »Fanny, wann bekommst du denn die nächste Lieferung? Wir warten noch auf das Müsli mit den getrockneten roten Früchten und den …«

»Nun lass mal das langweilige Müsli!«, fiel Afra ihr ins Wort. »Ein Bekannter vom jungen Doktor? Vom Sebastian Seefeld? Der kennt jemanden mit so einem Wagen? Nun erzähl schon!«

Traudel unterdrückte einen leisen Seufzer. Alles, was mit dem Doktorhaus zu tun hatte, war in der dörflichen Gemeinschaft von Interesse, und sie als Haushälterin wurde gern als Informationsquelle angezapft. Dabei fiel niemandem auf, dass Traudel niemals irgendetwas wirklich Wichtiges oder gar Persönliches von der Familie Seefeld preisgab, sondern immer nur von Offensichtlichem oder Belanglosem sprach.

»Na, wie man sich halt so kennt«, antwortete sie unverbindlich. »Er wird für einige Zeit hier in Bergmoosbach bleiben. Ihr wisst doch, dass in unserer Kirche die Orgel dringend restauriert werden muss. Doktor Seefelds Bekannter wird sich darum kümmern, er ist Orgelbauer. Sein Name ist Leander Florentin.«

»Leander Florentin!«, meinte Hannerl schwärmerisch. Sie war Fannys kleine Schwester und dreizehn Jahre alt. »Wenn er so hübsch ist wie sein Name …«

»Was dann! Dann ist die Welt mal wieder ein bissl schöner geworden, gell? Aber bis es so weit ist, räum‘ bitte weiter die Regale mit den Waschmitteln und dem Toilettenpapier ein! Du bist hier, um zu helfen und dein Taschengeld aufzubessern«, antwortete Fanny resolut.

»Manno!« Hannerl verzog sich grollend zwischen die Regale. Wenn man schon so uralt war wie die große Schwester, Ende Zwanzig, dann hatte man wohl überhaupt kein Verständnis mehr für Romantik. Ein Orgelbauer namens Leander Florentin, der als Auto eine Art altmodischen Zirkuswagen fuhr, der konnte doch nur total romantisch sein! Aber wahrscheinlich verlor man jenseits der Zwanzig dafür jedes Gespür. Hannerl beschloss, dass ihr das niemals passieren würde!

*

Hätte das Mädchen den Mann gesehen, der jetzt an der Seite des Herrn Pfarrer und des Gemeinderats die Kirche besichtigte, wäre sie sicher wieder ins Schwärmen geraten. Leander Florentin sah in der Tat sehr gut aus. Er war groß und breitschultrig, mit dichten, dunklen Haaren und dunklen Augen. Der lässige Drei-Tage-Bart passte zu seinen markanten Gesichtszügen. Der Blick seiner braun-goldenen Augen war zurückhaltend und gleichzeitig voller Wärme. Bekleidet war er mit einer gut geschnittenen, schwarzen Jeans, weißem T-Shirt und einem leichten, anthrazitfarbenen Wollpullover mit V-Ausschnitt. Der Mann verfügte über eine männliche, angenehm ruhige Ausstrahlung. Er war ein stiller, in sich gekehrter Mensch, dem oberflächlicher Kontakt zu anderen nicht leicht fiel. Warum viele Worte machen, wenn man eigentlich nichts zu sagen hatte? Er schwieg lieber, hörte Musik und lauschte den Erzählungen, die darin verborgen waren.

Nun schaute er sich in der schönen Kirche Bergmoosbachs um und hörte seiner Begleitung aufmerksam zu. Die Kirche war seit geraumer Zeit in aller Munde. Endlich waren Gelder zu einer längst fälligen Renovierung bewilligt worden. Man dachte an eine Überholung der Orgel, Erneuerung einiger Vergoldungen und das Auffrischen der weißen Wandfarbe. Dabei hatte man eine Entdeckung gemacht, die für Aufsehen sorgte: an einer Seitenwand war unter dem Weiß eine alte Wandmalerei verborgen.

Bergmoosbachs Kirche war an die dreihundertfünfzig Jahre alt, und das übertünchte Fresko ließ sich weit zurück datieren. Es stammte von keinem bekannten Künstler und war also kein sensationeller Fund, aber wichtig genug, dass man es erhalten wollte. Es hatte viele und hitzige Diskussionen darüber gegeben, welcher Fachmann in der Lage und bezahlbar sei, um diese großflächige Malerei wieder zum Leben zu erwecken. Aber schließlich hatte man sich auch in diesem Punkt einigen und die Arbeit in Auftrag geben können.

Bisher hatte Leander allen Ausführungen interessiert zugehört, aber allmählich wünschte er sich, dass seine Auftraggeber und der Pulk von wichtigen Amtsträgern, die sie umgaben, endlich gehen würden. Er wollte in dem Gebäude allein sein und es in aller Ruhe auf sich wirken lassen. Jede Kirche und jede Orgel waren anders, jede hatte ihre eigenen Klangfarben. Leander wollte durch den Raum gehen, dem Hall seiner Schritte lauschen und das Gestühl und die Stoffe begutachten, die zum Schmuck der Kirche gehörten. All das und noch so viel mehr beeinflusste die Klänge mit, welche die Orgel erzeugte.

Endlich schienen sich alle darüber einig zu sein, dass jetzt nichts Bedeutendes mehr zu sagen war, und verabschiedeten sich. Erholsame Stille füllte den Kirchenraum. Leander Florentin ging zur Treppe, welche zur Orgelempore hinauf führte, und machte sich ans Werk.

Der Mann wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als er in dem Spiegel, der ihm den Kirchenraum in seinem Rücken zeigte, eine Bewegung wahrnahm. Irritiert unterbrach er die Tonfolgen und schaute sich um.

Unten auf den Altarstufen stand eine Frau.

Sie ließ sich durch ihn nicht stören und musterte den Innenraum mit einem ähnlich prüfenden Blick, wie er es vorhin getan hatte. Leander wurde ärgerlich. Er fühlte sich aus seiner Arbeit herausgerissen und beobachtet, und das schätzte er überhaupt nicht! Da er sich in einer Kirche befand, konnte er nicht einfach von der Empore zu ihr herab rufen, sondern ging die Treppe hinunter und durch den Mittelgang auf sie zu.

Es war eine ungewöhnliche Frau, die dort stand und ihm ruhig entgegen schaute. Sie war sehr zart und wirkte fast zerbrechlich. Wahrscheinlich stammte sie aus dem Süden, denn ihre Haut hatte einen warmen Ton, und die Augen und die fein geschwungenen Brauen waren tief dunkel. Sie hatte exakt geschnittenes, kinnlanges Haar von auffälliger Farbe. Das ursprüngliche Schwarz lag nur noch als Ahnung unter schimmerndem Silber. Zu ihrem jungen Gesicht und der zierlichen Figur bot dieses aparte Silbergrau einen reizvollen Kontrast.

Bekleidet war sie mit einer schmalen Jeans, einem knappen schwarzen Blazer und einem opulenten Schal aus dunkelroter Seide mit Rosenmuster. Leanders Künstlerauge sah sofort, dass diese Blüten handgemalt waren. Ihre schmalen Hände schmückten zwei moderne Silberringe mit grünem Stein.

Er fand diese Frau apart, wunderschön und äußerst störend.

»Äh, bitte, hätten Sie nicht gemeinsam mit den anderen gehen können?«, fragte er gereizt.

Die dunklen Augen musterten ihn ruhig. »Nein«, erwiderte sie. Ihre Stimme war Gesang.

»Ich, äh, ich möchte arbeiten und das kann ich am besten, wenn ich ungestört bin!«, sagte er einigermaßen beherrscht.

»Genau wie ich«, kam die sachliche Antwort.

Leanders Kopfhaut begann zu prickeln. Wie so viele Menschen, die ganz in ihrer Arbeit aufgehen, verlor er manchmal den Anschluss ans wirkliche Leben. Er konnte vergessen, dass es außerhalb der Musik und des Orgelbaus noch anderes Wichtiges gab, das Menschen beschäftigte.

»Dann lassen Sie sich doch bitte nicht aufhalten!«, sagte er ungeduldig.

»Keineswegs!«, antwortete die Fremde, wandte ihren Blick von ihm ab und ließ ihn wieder konzentriert durch das Kirchenschiff schweifen.

Leander hielt die Luft an, zählte innerlich bis zehn und sagte dann sehr deutlich: »Ich habe hier zu arbeiten und möchte dabei ungestört sein!«

Jetzt erschien eine steile Falte auf der glatten Stirn der jungen Frau. »Dann arbeiten Sie doch!«, entgegnete sie verärgert. »Ich habe weder vor, hier für ein Rockkonzert zu proben, noch einen Jazz-Dance einzustudieren. Sie können sich also weiter mit Ihrer Orgel befassen, wo ist eigentlich das Problem?«

»Das Problem sind Sie!«, antwortete er prompt.

Die Frau zuckte kühl die Achseln und ging zu dem Teil der Wand hinüber, die bereits neu getüncht worden war. Suchend glitten ihre Fingerspitzen über den weißen Farbaufstrich, sie wirkte hochkonzentriert und beachtete Leander nicht weiter.

Bitte, sollte sie! Was immer sie hier tat, es schien keinen Lärm zu verursachen, und sie ließ auch nicht mehr diesen irritierend intensiven Blick durch den Raum schweifen. Leander ging zur Empore zurück und versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Es war so, wie er befürchtet hatte: die Restaurierung würde wesentlich aufwändiger sein und viel länger dauern als geplant.

Dass ihm jetzt auch noch eine Schönheit mit schwarzen Augen durch den Sinn geisterte, machte es nicht gerade einfacher.

*

Im Doktorhaus stand Emilia auf der Terrasse und schaute zufrieden auf den großen Tisch, den die Familie eben gemeinsam gedeckt hatte. Auf dem weißen Leinentuch standen der Korb mit frischem Brot, in das getrocknete Tomaten eingebacken waren, gewürzte Butter, Feldsalat mit Walnüssen und Orangen, verschiedene Käsesorten und ein Wacholderschinken aus Bergmoosbachs bester Räucherkammer. Sollte das den Geschmack der Gäste nicht treffen, lagen natürlich auch Weißwürste und Brezen in Traudels Vorräten bereit. Als Dessert lockten selbst gemachtes Schokoladeneis, nach dem man süchtig werden konnte, und Bayerische Crème mit Himbeersauce.

»Das ist alles so lecker! Hoffentlich kommen die Gäste bald, damit wir anfangen können zu essen«, meinte Emilia ungeduldig. »Papa, woher kennst du diesen Orgelbauer eigentlich?«

»Aus dem Krankenhaus«, antwortete Sebastian Seefeld. »Das war eine sehr dramatische Geschichte. Leander hat eine ältere Schwester, an der er sehr hängt. Sie hat ihr erstes Kind durch eine Totgeburt verloren und ist vor Kummer sehr krank geworden. Alles deutete auf einen Herzinfarkt hin, und die Patientin sollte entsprechend behandelt werden. Ich habe noch eine weitere Untersuchung veranlasst und dabei zeigte sich, dass die Frau gar keinen Herzinfarkt gehabt hatte.«

»Sondern das ›Gebrochenes-Herz-Syndrom‹?«, fragte der Doktor Benedikt Seefeld, sein Vater, interessiert.

»Was ist das denn? Gibt es wirklich eine Krankheit, die so heißt?«, erkundigte sich Emilia.

»Ja«, erklärte Sebastian seiner Tochter weiter. »Sie ist noch weitgehend unbekannt. Wenn man einen großen seelischen Schmerz erlitten hat, so wie Leanders Schwester durch den Verlust ihres Babys, dann kann das Herz unter diesem enormen Stress so krank werden, dass es sich anfühlt und aussieht wie ein Herzinfarkt. Und wenn das dann falsch behandelt wird, kann es lebensgefährlich sein.«

»Mann! Das ist ja krass!«, erwiderte Emilia betroffen. »Dann ist es also nicht nur so eine dramatische Redensart, dass jemand an gebrochenem Herzen gestorben ist?«

»Nein, offensichtlich nicht«, antwortete ihr Vater und beendete mit einem liebevollen Lächeln das Gespräch. Er wollte nicht, dass Emilia sich mit einem so ernsten Thema weiter belastete.

Aber seine Tochter musste unbedingt noch etwas wissen: »Papa, was ist dann aus der Schwester dieses Leander geworden? Ist sie wieder gesund?«

»Ganz und gar!«, konnte der Arzt seine mitfühlende Tochter beruhigen. »Sie hat inzwischen ein gesundes Baby zur Welt gebracht, einen kleinen Jungen. Und nun rate mal, wie der heißt!«

»Na, Sebastian, natürlich!«, sagte Traudel im Brustton der Überzeugung. Sie fand, das sei ja wohl das Mindeste, was man für ihren Bub tun konnte, nachdem er das Leben der Mutter gerettet hatte!

Sebastian lachte und drückte ihr einen festen Schmatzer aus die Wange. »Ja, ja, du hast halt ein Genie großgezogen!«, meinte er mit einem Augenzwinkern.

»Hier, du Genie! Dann schnapp dir doch bitte mal unseren neuen, angeblich so perfekten Korkenzieher und öffne die Weinflaschen!«, sagte Benedikt Seefeld und drückte seinem Sohn die Flasche in die Hand.

Unter viel Gedrehe und Gezerre an dem widerspenstigen Teil gelang es dem jungen Doktor schließlich, den Korken zu ziehen, und der aromatische Rote konnte in die Karaffe umgefüllt werden. Keinen Augenblick zu früh, denn soeben knirschten Schritte auf dem Kiesweg, und Leander kam über den Gartenweg zum Haus. Es gab ein lebhaftes Wiedersehen zwischen den Männern, der Rest der Familie wurde vorgestellt, und dann setzte man sich an den Tisch. Leander zeigte sich von der Schönheit des alten Doktorhauses und des prachtvollen Gartens beeindruckt und gewann damit sofort Traudels Sympathie.

»Unser zweiter Gast ist aufgehalten worden und bittet um Entschuldigung«, sagte Sebastian. »Es gab Lieferschwierigkeiten bei einigen ihrer Utensilien, aber sie beeilt sich und wird gleich hier sein. Bis dahin lasst uns auf das Wiedersehen und auf das gute Gelingen deiner Arbeit anstoßen, Leander.«

In den feinen Klang der Gläser, die einander berührten, mischte sich das Geräusch leichter Schritte, die über den Kiesweg eilten. »Bitte entschuldigen Sie nochmals die Verspätung!«, sagte die junge Frau, welche jetzt die Terrasse betrat.

Apart. Silbergraue Haare und nachtschwarze Augen. Leander schluckte. Sie war der Störenfried aus der Kirche.

Sebastian hatte sich erhoben. »Wie schön, dass Sie jetzt bei uns sind!«, sagte er freundlich. »Darf ich vorstellen? Das ist Sophia Corelli, die Künstlerin aus der Toskana, welche bei uns in der Kirche das übermalte Fresko retten wird.«

Die anderen nannten ebenfalls ihre Namen, und Sophia setzte sich auf den einzigen freien Platz – wie hätte es anders sein können – neben Leander. Ihr Duft streifte ihn, es war eine Mischung aus Bergamotte und Lavendel, sommerwarmen Zypressen und Kreidefarben. Sie trug eine schmale, schwarze Leinenhose und eine Seidentunika in den Farben eines verblassenden Sonnenuntergangs, und sie leuchtete.

Sophia war nicht sehr erfreut, dem Orgelbauer hier zu begegnen. Über seinen Auftritt in der Kirche hatte sie sich geärgert, aber sie bemühte sich, das jetzt nicht zu zeigen. Sie unterhielt sich mit der Familie und stellte fest, dass sowohl Sebastian als auch sein Vater nicht nur interessante Gesprächspartner, sondern auch sehr charmant waren.