Die Autorin dankt dem Bundeskanzleramt Österreich
für die Unterstützung der Arbeit an diesem Roman.

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01034-4

Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Link

Unter Verwendung zweier Fotos: Flugzeug von Adisa/shutterstock.com und Etikette von STILLFX/shutterstock.com

Lektorat: Tanja Raich

Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, typic.at

Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Lucy fliegt

Lucy, 23, will nach oben

Das ist Lucy. Also eigentlich Linda. Aber das tut im Moment nichts zur Sache. Weil sie sowieso nur auf den Namen Lucy hört. Ihre Brüste wiederum hören auf andere Namen. Aber das tut im Moment auch nichts zur Sache. Die Sache ist nämlich die: Lucy hat ein Ziel. Und für dieses Ziel tut sie alles. Sogar in ein Flugzeug steigen.

Ich steige auf die Metalltreppe. Zuerst mit dem rechten Fuß. Dann mit dem linken. Immer aufpassen. Nie zuerst mit dem linken. Das bringt Unglück. Und wieder mit dem rechten. Ich liebe meine neuen Plateaustiefel. Drücken tun sie halt. Ich hätte sie doch eine Nummer größer. Das Flugzeug hab ich mir auch größer vorgestellt, das hab ich mir viel größer. Das ist voll klein. Was steht da oben. Star. Da steht Star. Ein Zeichen. Ich bin ein Star, ich bin ein Star, holt mich hier rein. Holt mich. Wieso gehen die nicht weiter. Stehen da auf der Treppe herum. Die ist so hässlich die Treppe. Wie kann man das Geländer nur pissgelb. Wenn wir da noch lange herumstehen, kann ich meine Frisur vergessen. Bei dem Wind. Jetzt fängt es auch noch zu nieseln. Und ich keinen Haarspray. Durchatmen. Wo sitz ich überhaupt. 14D steht da. 14D. Ich hab eine Boarding Card in der Hand, ich hab tatsächlich eine Boarding Card. Von jetzt an geht es bergauf. Von jetzt an geht es nur noch.

Warum ich nicht schon längst in Hollywood bin, das kann ich euch sagen, ich bin nicht schon längst in Hollywood, weil mir immer alle im Weg herumgestanden sind, wären mir nicht immer alle im Weg herumgestanden, wäre ich schon längst in Hollywood, das könnt ihr mir echt glauben.

Stehen mir ja schon wieder alle im Weg. Können die da vorne endlich weiter. Ich muss pinkeln. Ich muss so was von. Wieso muss ich jetzt. Mitten auf der Flugzeugtreppe. Das ist nur die Nervosität, ich war ja erst im Flughafen. Dreimal war ich, damit ich nicht im Flugzeug. Und jetzt muss ich schon wieder. Kein Grund, nervös zu sein. Überhaupt kein Grund. Wenigstens geht da jetzt was weiter. Eine Stufe. Noch eine. Rechter Fuß. Linker. Gleich bin ich drinnen. Mein erstes Mal. Beim ersten Mal mit einem Typen war ich nicht so nervös. Da war ich auch betrunken. So was von. Vielleicht hätte ich mich heute auch. Aber ich kann ja nicht schon am Vormittag. Was würden sich die Leute. Ich schaff das auch so. Durchatmen. Alles wird gut. Ein Fuß nach dem anderen, mit erhobenem Kopf, einem leichten Lächeln auf den Lippen, wie es sich für eine Hollywood-Diva gehört. Man weiß nie, wann eine Kamera auf einen gerichtet. Oder irgendein Paparazzo ein Foto. Das weiß man nie. Man muss immer perfekt aussehen. Am Geländer festhalten. So hässlich. Diese Treppe ist einer Schauspielerin nicht würdig. Nicht einmal ein roter Teppich. Noch nicht. Aber bald. Bald werde ich nur noch über rote Teppiche schreiten. Umdrehen. Lächeln. Die Haare aus dem Gesicht. Schauen, ob eine Kamera. Da ist keine Kamera, da ist keine. Nie in die Kamera schauen, das wirkt unprofessionell. Einfach lächeln. Da steigen noch immer Leute aus dem Bus. Wie sollen die Leute alle in das Flugzeug da. Luft. Ruhig, Lucy, alles wird gut. Weitergehen. Nach vorne schauen. Nicht, dass ich so kurz vorm Ziel noch die Treppe runterstürze. Mir den Kopf auseinanderschlage. Nein. Im Horoskop steht, es wird ein großartiger Tag. Gleich bin ich drinnen. Die Boarding Card in der Hand. Was steht drauf. 14D. Noch immer steht 14D drauf. Wenigstens nicht Reihe dreizehn. Wieso sind meine Hände so feucht. Durchatmen. Ins Flugzeug steigen. Zuerst mit dem rechten Fuß. Lächeln. Da steht schon mein Empfangskomitee. Willkommen an Board. Wie die grinst. Und die da hinten. Mit den Locken. Ist das die eine vom. Nein, ich hab schon Halluzinationen. Vor lauter Aufregung. Nur nicht aufgeregt sein. Aber ich hab ja allen Grund, aufgeregt. So knapp vorm Ziel bin ich. So knapp. Endlich.

Lucy, 23, will in die Welt der Stars

Lucy glaubt daran, dass sie es schaffen wird. Immerhin hat sie es im Gemeindebau schon von der Zwanziger-Stiege in die Einundzwanziger-Stiege geschafft. Wenn das kein Aufstieg ist.

Ich glaub nicht nur, dass ich es schaffen werde, ich weiß, dass ich es schaffen werde, und wisst ihr, wieso ich weiß, dass ich es schaffen werde, weil ich bis jetzt alles geschafft hab, was ich schaffen hab wollen, ich hab es sogar in Mamas Bauch reingeschafft, und das obwohl der Gummi nicht gerissen ist, und ich hab es aus dem Brutkasten rausgeschafft, obwohl niemand mehr daran geglaubt hat, nicht einmal die Mama hat mehr daran geglaubt, genauso wie sie zuerst nicht daran geglaubt hat, dass ich es überhaupt in sie reinschaffen werde, ich meine, wenn ich sogar das geschafft hab, schaff ich alles andere mit links.

Ich biege nach rechts ab. Vor mir der lange Gang. So schmal. Voller Menschen. Schon wieder stehen alle im Weg. Die depperten Tussen da. Glauben auch, sie sind was Besonderes. Die Anzugmänner. Stopfen Jacken und Taschen in Ablagefächer. Schieben Mini-Trolleys unter die Sitze. Die haben mir den Haarspray weggenommen. Ausgerechnet. Wo meine Haare nach dem Flug einen Haarspray dringend notwendig. Nicht aufregen, Lucy, dein Herz. Wenigstens haben sie mir die Notfalltropfen nicht. Und mein Handy. Und hoffentlich haben sie die anderen Taschen genauso durchwühlt. Nach Haarsprays. Deosprays. Bomben. Ob eine Bombe im Flugzeug. Der Mann mit der Baseballkappe schaut so verdächtig. Sitz 7A. Der hat sicher was vor. Eine Bombe am Flugzeugklo zusammenbauen. Oder die Flugzeugtür in der Luft öffnen. Oder das Flugzeug entführen. Mit mir als Geisel. In Filmen nehmen sie immer die Schönste als Geisel. Vor dem muss ich mich in Acht. Soll ich um Hilfe. Wo ist die Stewardess. Aber was, wenn das nur ein normaler Passagier. Ich kann ja nicht nur, weil einer so komisch schaut, behaupten. Aber wenn er doch. In einem Actionfilm wäre er garantiert derjenige mit der Bombe. Wobei meistens sind es ja die, von denen man nicht annimmt, dass sie es. Also könnte es jeder hier. Der Anzug-Typ. Der mit der Glatze. Ich selbst. Vielleicht hat mir jemand was in meine Tasche. Oh mein Gott. Soll ich aussteigen, noch kann ich aussteigen. Hinter mir so viele. Mach dich nicht lächerlich, Lucy, das ist kein Actionfilm, das ist dein persönlicher Happy-End-Film. Vielleicht ist ihm nur schlecht. Vielleicht schaut er deshalb so komisch. Oder vielleicht ist er nervös. Wegen dem Flug. Oder mir. Ich lass mich doch von so einem paranoiden Fan nicht von meinem Ziel. Von keinem lass ich mich mehr. Das ist ja genau das, was sie alle wollen. Dass ich aufgebe. Aber ich gebe nicht auf. Nicht so kurz vorm Ziel. Ich zieh das durch. Komme, was wolle. Durchatmen. Reihe zehn. Reihe elf. Was steht auf der Boarding Card. 14D. Noch immer steht 14D. Reihe zwölf. Reihe vierzehn. Wo ist die Reihe dreizehn. Wo ist die Reihe dreizehn. Es gibt keine Reihe dreizehn. Wieso gibt es keine Reihe dreizehn. Das heißt, dass die Reihe vierzehn in Wirklichkeit die Reihe dreizehn. Mein Herz. Da setz ich mich sicher nicht. Sicher nicht.

Jetzt setz dich schon her, sagt die Mama. Ich sage: Nein, ich will neben dem Papa sitzen. Dein Papa ist ein versoffener Hurenbock, sagt die Mama, jetzt setz dich neben den Sigi, der Sigi ist jetzt dein Papa. Nein, sage ich. Der Sigi sagt: Da ist der Sigi aber traurig. Jetzt sei lieb zum Sigi, sagt die Mama, oder willst, dass das Christkind nicht kommt. Ich setze mich. So ist es brav, Spätzchen, sagt die Mama, und jetzt sing dem Sigi doch das Lied vor, das ihr im Kindergarten gelernt habt. Ich singe: Lasst uns froh und munter sein.

Lachen. Immer lachen. Dann wird alles gut. Hinsetzen. Die Leute drängen ja alle. Und ich will auf keinen Fall negativ auffallen. 14D. Wieso ausgerechnet Reihe dreizehn. Luft. Das haben die sicher mit Absicht, ganz sicher haben die das mit Absicht. Ich brauch Luft. Schnell auf den Stresspunkt klopfen. War das mit Zeigefinger und Mittelfinger oder mit Mittelfinger und Ringfinger. Egal. Einfach klopfen. Zwischen Oberlippe und Nase. Klopfen. Vielleicht will wer Platz tauschen. Der hinter mir. Nein, die schauen alle her. Nur keine Blöße geben. Durchatmen. Logisch überlegen. Wenn das Flugzeug abstürzt, weil ich in Reihe vierzehn, die ja in Wirklichkeit Reihe dreizehn, dann stürzen ja alle, also ist es egal, wo ich. Fester klopfen. Schön fest klopfen, hat dieser Fitnessfreak in der einen Sendung gesagt, sonst wirkt es nicht. Immerhin steht vierzehn drauf und nicht dreizehn. Oder. 14D. Und wenigstens sitze ich am Gang. Anschnallen. Da sind die Überlebenschancen viel größer als am Fenster. Gurt festziehen. Steht alles im Überlebensbuch. Im Flugzeug immer am Gang. Bei einem Banküberfall ruhig bleiben. Bei einem Penisbruch die Rettung rufen und den Penis kühlen. Steht alles drinnen. Wir werden nicht abstürzen, denk nicht solche Sachen, Lucy. Nicht daran denken, nicht daran denken, nicht daran. Hollywood. Ich denke an Hollywood. Mein Name auf dem Walk of Fame. Selfies mit den Stars. Die Oscar-Rede. Alles wird gut, wenn ich erst einmal in Hollywood.

Lucy, 23, hat Star-Qualitäten

Lucy ist Emma Stone wie aus dem Gesicht geschnitten. Bald wird man sagen: Emma Stone ist Lucy wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber so weit sind wir noch nicht. Weil halt auch immer was oder wer dazwischen kommt.

Vor drei Jahren hätte ich schon im Flugzeug. Vor drei Jahren. Jahrelang hab ich gekellnert. Und jeden Cent gespart. Jeden Cent, den ich nicht für Schuhe, Partys und Schauspielratgeber ausgegeben. Und dann. Kurz bevor ich das Geld zusammengehabt. Das.

Ich binde mir meine Schürze um. Mache den CD-Player an. Die ersten Gäste kommen. Die Sasa legt Servietten in die Brotkörbe. Der Bernie macht Milchschaum. Er sagt: Also noch einmal, du hast gestern Nacht alle Tische abkassiert, die Geldbörse in deine Handtasche gegeben, die Tasche an der Bar stehen lassen, bist aufs Klo gegangen. Ich weiß, das war superdumm von mir, sage ich, so dumm. Der Bernie sagt: Ich frag ja nur, weil vielleicht ist die Tasche ja irgendwo. Die Sasa sagt: So ein Scheiß, das macht mich so richtig fertig, es tut mir so leid, Linda, du Arme. Ich bin nicht arm, sage ich. Also, ich wäre mit den Nerven am Ende, sagt die Sasa, du tust mir so leid, du Arme. Wie oft noch, sage ich, ich bin nicht arm, das war nur Geld, und ich bin mir sicher, dass wer auch immer die Tasche genommen hat, das Geld dringender braucht als ich, sonst hätte er sie nicht genommen, vielleicht kann jetzt ein Vater seiner Tochter eine Zahnspange kaufen und die Tochter wird dank mir nicht mehr verarscht in der Schule, oder vielleicht kann sich ein Typ jetzt die ersten Mieten für eine Wohnung leisten und seine Freundin aus dem Mutter-Kind-Heim holen, was weiß ich, ist ja nicht so tragisch. Nicht so tragisch, sagt die Sasa, mit dem Geld hättest du dir die ersten Mieten in L.A. leisten können, und den Rückflug, falls es doch nicht klappt. Die Sasa lacht. Der Bernie sagt: Naja, wenigstens bleibst du uns jetzt noch ein bisschen erhalten, ich teil dich gleich für die nächsten Wochen ein. Danke, Bernie, sage ich, und ihr müsst es so sehen, vielleicht hat das so sein sollen, vielleicht wäre mein Flugzeug abgestürzt und dann wäre ich nie nach Hollywood gekommen, so gesehen kann ich dankbar sein, dass das Geld weg ist, ich geh mal die Tische aufnehmen.

Vor mir der Klapptisch. Aufklappen. Zuklappen. Aufklappen. Zuklappen. Sei nicht albern, Lucy. Wie sich die Sasa aufgeführt. Das Geld, das Geld. Das Geld war nicht das Problem. Die paar Monate, die ich länger gekellnert hab. Die waren nicht das. Was war eigentlich das Problem. Was war. Der Alex. Der Alex war das Problem. Weil wegen dem hab ich zweieinhalb Jahre vergeudet. Zweieinhalb Jahre. Wenn der Alex nicht gewesen wäre. Wäre ja alles andere auch nicht passiert.

Ich war so knapp davor, nach Los Angeles zu fliegen, so knapp war ich davor, wirklich so knapp, ich hab das Reisebüro auf der Mariahilfer Straße schon gesehen, dafür diesen Sunnyboy nicht, der mir im Weg herumgestanden ist und ein Eis geschleckt hat, und bin voll in ihn hineingelaufen, was natürlich nicht meine Schuld war, er ist mir ja im Weg gestanden.

Kannst du nicht aufpassen, sage ich und will weitergehen. Er sagt: Du hast mich niedergerannt, schau mich an. Auf seinem T-Shirt klebt Schokoladeneis. Ich sage: Es gibt Leute, die haben es eilig, du könntest dich wenigstens dafür entschuldigen, dass du mir im Weg gestanden bist. Er lächelt mich an und sagt: Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du ausschaust wie die Emma Stone.

Sagt mir einfach, dass ich ausschaue wie die Emma Stone, ich meine, welches Mädchen freut sich nicht darüber, wenn es hört, dass es ausschaut wie die Emma Stone, nicht, dass ich nicht wüsste, dass ich so ausschaue, aber wenn dir der süßeste Typ auf der Welt sagt, dass du so ausschaust, ist das ja auch irgendwie eine Entschuldigung, die ich natürlich angenommen hab, indem ich ihn nach einem gemeinsamen Eis zurückgeküsst hab, als er mich geküsst hat, zehn Meter vorm Reisebüro, das nach einer Heißen Liebe und dem Kuss die Tür vor meiner Nase zugesperrt hat, worauf er gesagt hat, wollen wir ins Kino gehen.

Der hat das alles genau geplant gehabt. Zuerst ein Kompliment. Dann ein Eis. Dann wieder ein Kompliment. Dann Kino. Letzte Reihe und so. Und ich lass mich einlullen. Von seinen Liebesschwüren. Ich liebe dich, Linda. Ich liebe nur dich. Geh nicht nach Hollywood. Bleib hier. Mit dir will ich einmal Kinder. Nein, ich bin nicht so einer wie dein Vater. So einer bin ich nicht, ich schwöre. Verdammter Heuchler. Der wollte ja auch nur. Wie alle.

Warum ich auf ihn reingefallen bin, na weil ich damals noch an die Liebe geglaubt hab, genauso wie ich mit fünf noch an den Weihnachtsmann oder mit zehn an eine schwangere Jungfrau geglaubt hab, jetzt glaub ich nur noch an mich und an meinen Verstand.

Ich werde noch wahnsinnig, wenn ich nicht bald aufs Klo. Ich mach mich gleich an. Wo sind die Stewardessen. Da kommen noch immer so viele Leute. Kann ich noch aufs Klo. Das ist der Stress, das ist nur der Stress. Das vergeht wieder. Einatmen und ausatmen. Klopfen. Was schaut der so deppert, hat der noch nie jemanden seine Stresspunkte klopfen sehen. Ich brauch Notfalltropfen. Wo sind die Notfalltropfen. Wieso findet man in der Tasche nie was. Und wieso hab ich die Beutelhandtasche und nicht die mit den vielen Fächern. Nur weil sie rot. Und besser zum Rock. Das hast du jetzt davon, Lucy. Da ist alles durcheinander. Haarbürste, Zigaretten, Geldbörse, Pass, Überlebensbuch, Kugelschreiber, Zeitschrift, wo sind die Notfalltropfen, Lippenstift, Ladekabel, Handy, Schlüssel, wenn ich die Notfalltropfen jetzt am Flughafenklo vergessen hab, kann ich nicht fliegen, dann fliege ich nicht, Feuerzeug, Haargummi, Nagellack, da sind sie, Gott sei Dank. Zunge rausstrecken. Vier Tropfen. Eins, zwei, drei, vier. Wohin damit. In die Sitztasche vor mir. Das Überlebensbuch. So überleben Sie das Leben. Auch in die Sitztasche. Die wichtigen Dinge müssen griffbereit. Wohin mit dem Mantel. Hinauf in die Ablage. Abschnallen. Aufstehen. Ausziehen. Kann mich der vielleicht kurz ranlassen und den Mantel rein. Was die alle für einen Stress machen. Ich setz mich ja schon wieder. Anschnallen. Gurt festziehen. Was brauche ich noch. Mein Handy. Kann ich noch schnell auf Facebook. Oder muss ich das Handy schon abdrehen. Kurz noch auf Facebook. Aber so, dass es keiner sieht. Nur nicht erwischen lassen. Nur nicht.

Lucy, 23, kennt sich mit der Liebe aus

Sie hat ja auch schon sehr früh damit begonnen, mit der Liebe. Wenn es um die Liebe geht, kann ihr keiner was vormachen.

Was steht auf Facebook. Da schau her. Die Vanessa von der Unterstufe hat ihr Profilbild geändert. Schön von oben fotografiert, damit man ihr Doppelkinn nicht. Was interessiert mich das überhaupt, dass die Vanessa ihr Profilbild. Wieso bin ich mit der überhaupt auf Facebook. Wie viele Freunde hat sie. 448. Wie viele hab ich. 2293. Und morgen werden es mit einem Schlag doppelt so viele. Mindestens. Wer ist jetzt beliebter, Vanessa, du oder ich, und warte erst, wie beliebt ich sein werde, wenn ich in einem Blockbuster. Dann wird mich keiner mehr auslachen.

Habt ihr schon gehört, die Linda will Schauspielerin werden. Die Linda ist ja viel zu hässlich, um Schauspielerin zu werden. Mit den Monsterlippen kann sie höchstens in der Geisterbahn auftreten! Oder Schwänze lutschen! Habt ihr schon gehört. Schauspielerin. Dass ich nicht lache. Viel zu hässlich. Monsterlippe, Monsterlippe, Monsterlippe!

Schmollmund machen, Flugzeug-Selfie, perfekt. Hat das jetzt eh keiner gesehen. Die Scarlett Johansson ist in der Schule auch fertig gemacht worden. Alle Stars sind fertig gemacht worden, bevor sie Stars. Und wenn sie dann Stars sind, wollen auf einmal alle mit ihnen befreundet. Das war ja mit der Vanessa das Gleiche. Als ich die Erste war, die sich entjungfern hat lassen.

Natürlich liebe ich dich, wie oft noch, sagt der Jo und schiebt meinen Rock in die Höhe. Ich schiebe meinen Rock hinunter, frage: Tut das nicht weh? Er sagt: Ein bisschen muss es wehtun, und schiebt den Rock wieder hinauf. Ich schiebe den Rock wieder hinunter. Er seufzt. Hält mir eine Flasche Tequila hin. Ich setze mich auf, nehme die Flasche und lasse den Tequila in mich hineinrinnen. Der Jo sagt: Jetzt aber, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Meinst du es wirklich ernst, sage ich und lege mich wieder hin. Du kannst mir vertrauen, sagt der Jo und schiebt meinen Rock in die Höhe. Sicher, frage ich. Der Jo zieht mir meine Unterhose aus und sagt: Schau, irgendwann musst du es sowieso hinter dich bringen, und da ist es doch besser, du bringst es mit mir hinter dich als mit irgend so einem Anfänger aus der Unterstufe. Na gut, sage ich und halte die Luft an. Der Jo schiebt meine Beine auseinander, sagt: Na, geht doch.

Ich war der Star in der Klasse. Der Star. Weil ich die Erste. Die Erste von der Unterstufe.

Natürlich will ich überall die Erste und die Beste sein, das ist doch normal, wer will das nicht, wenn du nicht die Erste und die Beste bist, bist du gar nichts.

Wie sie in der Pause um mich herumgestanden. Die Vanessa mit ihrem Doppelkinn. OK, damals hatte sie noch keines. Aber hässlich war sie immer schon. Sogar die Mädchen von der B-Klasse und der C-Klasse. Alle wollten sie auf einmal mit mir befreundet.

Die Mädchen reden auf mich ein: Der Jo erzählt überall herum, dass er dich geknackt hat. Stimmt das? Wie war es? Sag schon! Tut es weh? Bist du gekommen? Wie oft? Wisst ihr, sage ich zu den Mädchen, ihr spreizt einfach die Beine, dann steckt er ihn hinein, mehr ist es nicht. Wenn es nicht gleich geht, spuckt er auf seine Finger und rubbelt ein bisschen an euch rum, dann geht er schon irgendwie rein. Und wenn er drinnen ist, dann stöhnt ihr ein paar Mal, das war’s. Passt nur auf, dass ihr was drunter legt, weil die Flecken kriegt ihr sonst nie wieder aus der Matratze raus.

Wie viele wollen da noch rein. Ins Flugzeug. Und wieso sitz ich ganz allein. Bestimmt wegen der Reihe vierzehn. Wegen der Reihe vierzehn sitzt da keiner, wegen der Reihe vierzehn, die ja in Wirklichkeit die Reihe dreizehn. Dreizehn war ich. Oder war ich schon vierzehn. Auf einmal wollten sie alle mit mir. Dabei wollte ich ja nur mit dem Jo. Ich weiß bis heute nicht, warum er dann mit der Sonja von der 5B gegangen. Er hat ja gesagt, dass ich gut war. Dass ich alles richtig gemacht.

Mama, was hab ich falsch gemacht, sage ich. Die Mama sagt: Das weiß ich nicht, wirst halt irgendwas gemacht haben, was ihm nicht gepasst hat. Es hat aber alles gepasst, sage ich. Die Mama sagt: Du hast halt ein Talent dafür, die Männer zu vertreiben. Ich kämpfe mit den Tränen. Ist ja schon gut, sagt die Mama, magst einen Kakao. Ich nicke. Die Mama sagt: Musst halt das nächste Mal netter sein.

Ich war zu allen nett. Ich bin doch ein nettes Mädchen, oder nicht. Und warum mag mich dann keiner. Die Tamara hat mich gemocht. Ich vermisse die Tamara. Und die anderen Jungs haben mich gemocht. Die haben mich getröstet. Vergiss den Jo, der hat dich nicht verdient. Komm her. Gehen wir zu mir. Gehen wir ins Gerätekammerl. Gehen wir aufs Bubenklo. In der Pause haben sie nur über mich geredet. Nur über mich. Hast du die Linda schon gehabt. Wo hast du sie gehabt. Hat sie bei dir geschluckt. Die haben das lieb gemeint. Oder? Ich meine, immerhin wollten alle mit mir. Mit mir hat man angeben können, also war ich was wert. Wenn ich nichts wert gewesen wäre, hätten sie ja nicht damit angegeben, dass sie mit mir, sondern es heimlich.

Ob die mich alle geliebt haben, natürlich haben die mich alle geliebt, ich meine, Ich liebe dich hat keiner gesagt, aber welcher Teenager sagt schon Ich liebe dich, die sprechen halt in Codes, statt Ich liebe dich sagen sie halt Ich ficke dich, was ja im Grunde dasselbe ist, weil man sagt ja nicht umsonst zu Ficken auch Liebe machen.

Keiner von denen hat mich wirklich. Keiner. Da brauch ich mir gar nichts einreden. Weder der Jo. Noch der Alex. Und der Manuel schon gar nicht. Der Maximilian ja auch nicht. Sonst hätte er nicht alles kaputt. Grinst mich im Biologieunterricht an. Schreibt mir kleine Liebesbriefe mit Herzen drauf. Und dann. Macht er alles kaputt.

Der Maximilian fragt in der großen Pause: Magst du am Sonntag in den Tiergarten gehen. Ich sage: In den Tiergarten. Ja, in den Tiergarten, sagt er und wird rot. Ich sage: Nein. Er sagt: Aber warum. Nein, sage ich. Aber ich hab gedacht, sagt er, dass du mich auch. Was ist an einem Nein so schwer zu verstehen, brülle ich, nein, nein, und noch einmal nein, und jetzt lass mich in Ruhe. Ich laufe weg, sperre mich auf dem Mädchenklo ein und weine.

Was hätte ich auf so eine bescheuerte Frage antworten sollen, ich meine, wieso hat er nicht so wie alle anderen fragen können, ob ich mit ihm aufs Bubenklo gehen mag, wieso hat er fragen müssen, ob ich mit ihm in den Tiergarten gehen mag, ich meine, in den Tiergarten, da muss man ja Händchen halten und miteinander reden, und was hätte ich mit ihm reden sollen.

Was reden die da schon wieder. Reden die über mich. Die reden sicher über mich. Die hat das gleiche blöde Lachen wie die Vanessa. Jurastudentin ist sie, steht da. Hätte ich doch studieren. Nein, was bringt mir bitte ein Studium. Gar nichts bringt mir das. Die Fertigstudierten, die ich kenne, sind Praktikanten beim Fernsehen. Da studierst du jahrelang und dann bist du eine Praktikantin. Ich meine. Da hab ich es schon weiter geschafft. Die Vanessa wird so eifersüchtig sein, wenn sie mich auf der Kinoleinwand. So eifersüchtig. Zuerst hat sie mich bewundert. Und dann. Ist doch immer dasselbe.

Lucy, 23, hat einen Ruf

Und einen Ruf muss man sich erst einmal verdienen. Einen Ruf bekommt man nämlich nicht umsonst. Sonst hätte ja jeder einen.

Wie sie die Wände auf dem Mädchenklo vollgekritzelt. Lucy ist eine Hure. Nein, damals hab ich noch Linda. Wie hat mich die Mama nur Linda.

Ich sitze auf dem Mädchenklo. Lese: Linda ist eine Hure! Ich nehme den Lippenstift aus der Hosentasche und streiche Hure durch. Höre die Mädchen kichern. Die Vanessa sagt: Du kannst es so oft durchstreichen, wie du willst, du bist und bleibst eine Hure, eine Hure, eine Hure. Ich halte mir die Ohren zu. Sage: Lalalalalalalalala.

Nein, das hat mir doch nichts ausgemacht, wieso hätte mir das was ausmachen sollen, die waren ja nur neidisch, die Mama hat immer gesagt, wenn die anderen über dich lästern, sind sie neidisch, neidisch waren sie alle auf mich, weil sie nicht so beliebt bei den Burschen waren.