Buchcover

Maj Bylock

Purzelbaum und Liebesbrief

Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer

Saga

Der Rote Blitz

Ich lauschte mit angehaltenem Atem. Nein, noch war es draußen auf der Treppe still.

»Am besten, ich klettere runter und schau mal nach«, dachte ich und schlich zum Fenster. »Sonst sterbe ich auf der Stelle!«

Fröstelnd kletterte ich aufs Dach hinaus, zur Feuerleiter rüber, die gleich vor meinem Fenster anfing. Die Leiter ächzte bedrohlich, ich war nämlich ziemlich mollig. Aber die Leiter war die beste Möglichkeit, um ungesehen aus meinem Zimmer zukommen. Und außerdem endete sie sehr praktisch hinter dem großen Birnbaum.

Heute wollte ich nicht ganz runter auf den Hof, heute war mein Ziel die Küche im zweiten Stock. Noch drei Sprossen, dann stand ich direkt vor dem Fenster.

In der Küche war Mama damit beschäftigt, mein Geburtstagstablett herzurichten. Die Torte stand schon bereit. Gestern abend hatte ich mir in der Speisekammer eine Kostprobe genehmigt. Schließlich gehörte die Torte ja mir, Kajsa 9 Jahre war mit grünem Gelee auf die Buttercreme gespritzt.

Aber ich hatte nicht mein Leben riskiert, um die Torte noch einmal zu sehen. Nein, ich hoffte auf etwas ganz anderes. Etwas, das ich mir mehr als alles andere wünschte. Ich preßte mir die Nase platt an der Fensterscheibe.

Da hörte ich einen Aufschrei – und dann ein Krachen. Als das Küchenfenster endlich aufgerissen wurde, befand ich mich bereits wieder in meinem Bett in Sicherheit. Aber ich war enttäuscht. Das, was ich zu sehen gehofft hatte, war nicht zu entdecken gewesen.

Schon seit langer Zeit durfte ich mir Mamas Fahrrad leihen, wenn ich irgendwohin wollte. Es war schwarz mit extra dicken Reifen, Ballonreifen.

Im Schaufenster des Fahrradgeschäfts hatte ich das Fahrrad gesehen, von dem ich träumte: rot, glänzend und wunderschön. Vorn auf dem Schutzblech saß ein silberner Vogel, von dem das Fahrrad seinen Namen erhalten hatte: Schwalbe – ein schöner Name für ein Fahrrad, fand ich. Eine Schwalbe fliegt ja wie ein Pfeil durch die Luft.

Jetzt waren Schritte auf der Treppe zu hören. Die Tür flog auf. Der erste Gratulant kam hereingetaumelt, fröhlich bellend und mit dem Bart voller Creme. Peggy! Sie landete geradewegs auf meinem Bett und schüttelte den Kopf. Die Creme flog in alle Richtungen.

»Viel Glück und viel Segen

auf all deinen Wegen ...«

Da standen sie alle um mich herum. Mein Herz klopfte wie wild. Gustav, mein großer Bruder, hatte mir Bälle gekauft. Er wußte, daß ich neue brauchte, die alten hatte Peggy nämlich alle zerkaut.

Papa zog feierlich einen kleinen weißen Umschlag hervor, wie jedes Jahr. Ich wußte genau, was darin lag: ein Zweikronenstück mit der jeweiligen Jahreszahl. Dieses Jahr stand 1940 darauf.

Ich schloß die Augen und versuchte auszurechnen, für wieviel Eis zwei Kronen reichen würden. Mindestens für zwanzig Eis am Stiel mit Birnengeschmack.

Aber Papa nahm das Zweikronenstück wieder an sich. Es wurde im Schreibtisch eingeschlossen, bis ich groß war. Dann würde es sehr viel mehr wert sein als jetzt, davon war Papa überzeugt.

Großvater holte sein altes braunes Portemonnaie hervor und angelte ein Fünfzigörestück heraus.

»Dafür darfst du dir kaufen, was du willst«, sagte er. »Und möglichst heute noch.«

Mamas roter Rock hatte eigenartige dunkle Flecken. Und die Torte, wo blieb die Torte?

»Vorhin hab ich draußen vor dem Küchenfenster ein Gespenst gesehen.« Mama seufzte. »Und mit ihm ist die Torte im hohen Bogen durch die Luft gesegelt.«


Peggy mit ihrem Cremebart schnarchte zufrieden auf meinen Füßen.

Die Torte ... Ich wußte, daß Mama keine neue backen konnte. Draußen in der Welt war Krieg, und die Lebensmittel waren rationiert. Eier, Zucker und andere Zutaten für Torten gab es nur in begrenzten Mengen.

Die Torte war mir nicht so wichtig. Aber das Fahrrad? Wahrscheinlich hatte Papa es sich nicht leisten können, das Fahrrad zu kaufen. Erst vor kurzem hatte er einen Treibgasgenerator fürs Auto anschaffen müssen. Das war eine Art Ofen, der hinten am Auto befestigt und mit Kohle beheizt wurde. So konnte man ohne Benzin Auto fahren, und das war ein Glück, denn das Benzin war ebenfalls rationiert. Draußen im Meer wimmelte es von Minen, und daher konnten die Tankschiffe die Küsten von Schweden nicht erreichen.

Da hob Papa mich plötzlich in die Luft und lief dann mit mir die Treppe hinunter. »Schau mal!« sagte er und zeigte auf etwas, das am Birnbaum lehnte: ein glänzendes rotes Fahrrad! Und dennoch brannten heiße Tränen in meinen Augen. Ich sah sofort, daß es Mamas altes Fahrrad war, rot angestrichen.

Papa umarmte mich und flüsterte: »Ein neues können wir uns im Augenblick nicht leisten. Aber Großvater hat es doch sehr schön hingekriegt. Sieh mal! Er hat gelbe Streifen auf den Rahmen gemalt.«

Ich schluckte die Tränen runter. Immerhin gehörte das Fahrrad nun mir! Mit einem eigenen Fahrrad stand mir die Welt offen.

Gustav sah, daß ich ein wenig traurig war, und sagte: »Wer so pummelig ist wie du, braucht Ballonreifen. Die tragen dich sicher durchs Leben.«

So nett war er sonst fast nie. Nein, meistens behauptete er, er wolle mich als Riesendame im Zirkus vorführen.

Ich zwickte ihn in den Arm. Er wußte ganz genau, daß ich lieber gefährlich auf den schmalen Rädern der Schwalbe gelebt hätte, als sicher auf Mamas Ballonreifen durchs Leben zu fahren. Aber ich beschloß, mein Fahrrad ab jetzt gern zu haben. Und einen Namen gab ich ihm auch. Ich taufte es Der Rote Blitz.

Dann hörte ich Hufe klappern.

»Schnell rein in die Kleider«, sagte Papa. »Ich brauche Hilfe.«

Papa war Tierarzt. Wenn irgendwo Tiere krank wurden, machte er Krankenbesuche auf den Höfen, wo die Tiere lebten. Und dabei durfte ich ihn oft begleiten. Manchmal kamen die Tiere auch zu uns, und das war meistens morgens, bevor Papa sich auf seine Besuchsrunde begab.

Er hatte eine Praxis im Haus, wo er kleine Tiere wie Hunde, Katzen, Schildkröten und Vögel behandelte. Hier konnte er ihnen Spritzen geben und sie operieren. Pferde und Kühe mußten draußen auf der Straße bleiben, dann brachte Papa seine Behandlungsinstrumente zu ihnen hinaus.

Manchmal brauchte er Hilfe. Es kam vor, daß die Besitzer der Tiere bei der Behandlung nicht zuschauen konnten. Dann mußte jemand aus der Familie helfen. Wenn ich gerade keine Schule hatte, war das meistens ich. Schon als kleines Kind hatte ich damit angefangen und war es daher gewohnt.

Heute war der Patient ein Pferd, das hinkte, weil ihm ein Huf weh tat. Jedesmal, wenn es auf diesen Huf trat, nickte es traurig mit dem Kopf. Der Bauer mußte das Pferd anbinden und den kranken Huf hochhalten.

Papa befühlte den Huf vorsichtig und nahm die Zange. »Ein rostiger Nagel!«

Dann schnitt er die entzündete Stelle mit einem krummen Messer aus und reinigte die Wunde. Ich hielt die Schüssel mit dem sauberen Wasser. Anschließend erhielt das Pferd einen weißen Verband, der mit Teer eingerieben wurde, um ihn dicht und haltbar zu machen.

Nach dem kranken Pferd kam ein Reitpferd, das allerdings ganz gesund war. Stolz und schön stand es da, und das schwarze Fell glänzte in der Morgensonne. Das Pferd sollte verkauft werden, und sein Besitzer brauchte ein Attest, daß es gesund war.

»Oh, darf ich bitte reiten?« bettelte ich.

Der Besitzer war freundlich und hob mich auf das Pferd hinauf. Mir verschlug es den Atem, so herrlich war es, dort oben zu sitzen.

Aber mein Spazierritt sollte nicht lange dauern. Ein hellgelber Blitz schoß über die Straße. Peggy! Sie glaubte, der Mann wolle mich entführen, und packte ihn an der Hose. Erst als ich wieder neben ihr auf dem Boden stand, ließ sie sein Hosenbein los.

Papa ärgerte sich kein bißchen über Peggy, sondern lobte sie, weil sie so gut auf seine Tochter aufpaßte. Ich dagegen machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Los, hüpf ins Auto«, sagte er. »Du darfst mich beim nächsten Krankenbesuch begleiten. In anderthalb Minuten geht’s los, das heißt, wenn ich den Karren hier in Gang bringe.«

Wenig später sausten wir aufs Land hinaus. Mit Papa auf Krankenbesuch zu fahren war jedesmal spannend. Keine Fahrt war wie die andere. Manchmal nahmen die Besuche ein trauriges Ende, nämlich dann, wenn die Tiere so krank waren, daß sie geschlachtet werden mußten. Aber meistens machte es Spaß, vor allem dann, wenn die Medikamente sofort wirkten und man beobachten konnte, wie die Tiere aufstanden und wieder fressen wollten.

»Was machen wir heute?« Ich sah Papa erwartungsvoll an.

»Schweine gegen Rotlauf impfen«, antwortete er. »Und dann müssen wir einem kleinen Fohlen helfen, das Verstopfung hat.«

Es waren mindestens zwanzig Schweine, und ein paar von ihnen waren bereits krank und hatten rote Flecken. Die anderen brauchten je eine Spritze, um gesund zu bleiben.

Die Schweine rannten wild durcheinander und schrien ohrenbetäubend. Fremde Leute im Schweinestall – das waren sie nicht gewohnt.

Der Bauer war ruhig und kräftig. Er fing sie der Reihe nach ein und hielt sie hoch, damit Papa die Spritze in ihre runden Schenkel stechen konnte.

Die Schweine zappelten. Die Spritze tat nicht weh, aber sie hatten trotzdem Angst. Wie sollte der Bauer wissen, welches Schwein schon eine Spritze bekommen hatte? Sie sahen ja alle gleich aus und liefen durcheinander. Das war ein Problem, und jetzt kam ich ins Spiel.

Ich stand mit einer Dose Schuhcreme bereit. Jedesmal, wenn ein Schwein geimpft worden war, malte ich ihm einen dunkelbraunen Klecks auf den Rücken. Anstelle von roten Flecken bekam es einen braunen.

Das Fohlen, das Verstopfung hatte, war erst ein paar Tage alt. Auf langen, wackeligen Beinen stand es da und schlug mit dem Schwanz.

Papa holte ein Instrument hervor, das wie eine Schlinge aussah. Damit holte er vorsichtig kleine harte Kugeln aus dem Po des Fohlens. »So, nun schaffst du es alleine«, sagte er und streichelte es am Maul.

Die Mutter, die große Stute, wieherte und sah ihn an. Bestimmt bedeutete das danke schön!