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Über dieses Buch:

Berlin in den 30er Jahren. Hanna wünscht sich nichts anderes, als ein normales Leben zu führen: mit den Freundinnen ins Café gehen, ihren Freund Moritz ins Museum begleiten, von einer glücklichen Zukunft träumen. Doch dann tauchen sie überall in den Schaufenstern auf – die Schilder, auf denen »Juden unerwünscht« steht. Bald gibt es keine Freundinnen mehr an Hannas Seite, und ihre unschuldigen Gefühle für Moritz können ihn in große Gefahr bringen. Doch was kann man tun, wenn das Unfassbare Tag für Tag näher rückt? Hanna fasst einen mutigen Entschluss …

Ein Roman über das Grauen, das sich in unser Leben schleichen kann, und die Hoffnung, die stärker ist als alles andere.

Über die Autorin:

Kirsten John (1966–2020) studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Für ihren Debütroman »Schwimmen lernen in Blau«, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, erhielt sie unter anderem den Niedersächsischen Förderpreis für Literatur und den Kurt-Morawietz-Literaturpreis der Stadt Hannover. Kirsten John machte sich außerdem als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern einen Namen.

Die Website der Autorin: www.kirsten-john.de

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Originalausgabe Dezember 2013

Copyright © der Originalausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock/SunKids, maskpix, Andrii Muzyka, Everett Historical, Patricia Hofmeester sowie 123RF/mbcfoto und pixabay/Koczot

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-422-8

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Kirsten John

Der Duft der Seerosen

Roman

dotbooks.

Prolog

Das Schiff ist riesig, ein Gigant. Und es liegt so nah am Kai, dass nicht eine Maus dazwischen passen würde. Hanna stellt ihre Koffer rechts und links von sich ab, legt den Kopf in den Nacken, beschirmt die Augen mit der Hand und sieht hinauf.

Eine Stadt ist es, eine wie die, aus der sie kommt. Eine lebendige, wimmelnde, mit Menschen überfüllte Behausung, die oben zu bleiben versteht und Rettung bedeutet. Was allerdings zu beweisen wäre: Kaum vorstellbar, dass etwas so Großes tatsächlich schwimmt. Und doch ist der Koloss dafür da, wurde nur zu diesem Zweck gebaut. Er wird nur durch Stahl zusammengehalten, dessen Nieten an der Außenwand einen eigenen, einzigartigen Schnittbogen ergeben. Das hätte Moritz gefallen: ein Stoff, der endlos ist, der nicht zerfallen kann und niemals sinken.

Hanna, die selbst eine Maus ist angesichts der beeindruckenden Größenverhältnisse, versucht wie stets, sich zu arrangieren. Ruhig zu bleiben, sich zurechtzufinden. Im Moment heißt das erst einmal, an Bord zu kommen. Hinein ins Schiff und dann hinauf, ganz nach oben.

Zwei untere Türen sind geöffnet, gleich über der Kaimauer, kleine Luken nur in dem stählernen Rumpf. Aus der einen ragt eine schmale Brücke heraus, aus der anderen ein Förderband. Männer sind damit beschäftigt, Koffer von Lastkarren zu wuchten und auf das Band zu legen. Surrend nehmen die Koffer und Taschen, die Kisten und Pakete ihren Weg in die dunkel klaffende Höhle. Kiste um Kiste, Koffer um Koffer wird geschluckt, als sei das Schiff ein hungriger Wal. Ein ausgeweidetes, präpariertes Tier. Motoren dröhnen, Befehle werden gebrüllt. Überall stapeln sich Dinge, die an Bord müssen, hängen Taue herab wie riesige Fallstricke, riecht es nach Meer und Algen und merkwürdigerweise nach Erde, ja, danach auch.

Hanna nimmt ihre Koffer. Ihr ist kalt trotz des Wollmantels, der zu kurz ist und ihr nur knapp über die Knie reicht, der aber einen hübschen Besatz aus künstlichem Pelz hat und beinahe vornehm wirkt. Man darf nur nicht zu genau hinsehen. Dazu passend besitzt sie einen Muff, der sicher im Koffer verstaut ist, und eine Mütze, die sie aufgesetzt hat. Schräg getragen, wie es der Mode entspricht, liegt ein Ohr frei, und Hanna bekommt das zu spüren. Es geht ein strenger Wind, der um das Schiff herumzustreichen scheint und ihr eine feuchte Brise ins Gesicht bläst.

Der riesige Wal selbst bleibt davon unberührt. Wie betäubt liegt er da, wie versteinert. Nicht vorzustellen, dass sich dieses Monstrum in Bewegung setzen kann.

Hannas linkes Ohr ist inzwischen ebenso kalt und klamm, wie ihre Finger es sind, außerdem ist sie nervös, natürlich. Sie hat den ganzen Tag über fast nichts gegessen, sich viel zu früh am vereinbarten Treffpunkt eingefunden, den Hans ihr genannt hatte. Hat sich mit klopfendem Herzen durch die Zollbaracke schleusen lassen, am Zöllner vorbei, der zwar ihre Taschen kontrollierte, sie jedoch nicht nach Papieren gefragt hat, die die anderen Flüchtlinge vorzuweisen hatten: das Affidavit. Es bestimmte über alles. Darüber, wer an Bord dieses Schiffes, wer entkommen durfte. Wer für ein zweites Leben vorgesehen war. Die Stimmung in der langen Halle war dementsprechend eine Mischung aus Angst und Erwartung. Überall sprachen die Menschen mit gedämpften Stimmen, wurden Kinder zur Ordnung gerufen. Es gab Passagiere mit Kisten und Koffern und solche, die nur eine einzige Tasche bei sich hatten. Es lag Spannung in der Luft und große Erleichterung, sobald man endlich durchgewinkt wurde.

»Das war leicht«, hatte auch Hanna befreit, fast übermütig gesagt, während sie ihrem Ersten Offizier, ihrem Hans aus der Baracke folgte. Sie besaß kein Affidavit, doch sie durfte entkommen.

Hans schüttelte den Kopf. »Hier sind sie nur froh, wenn sie dich los sind, da sind die Kontrollen nicht allzu streng. Aber drüben, in Amerika, da wollen sie deine Bürgschaft sehen. Sie lassen dich sonst nicht von Bord.«

Das weiß Hanna, doch wenigstens hat sie jetzt schon mal einen Namen, sie hat ein Passwort und die Versicherung, dass alles gutgehen wird. Es bürgt ja jemand für sie. Hans tut das.

Die letzten Meter geht sie allein. Immer wieder sieht sie hoch zu den vielen Fenstern im schwarzen Rumpf, der ab einer gewissen Linie weiß gestrichen ist, dann hoch über die erste Reling und zu den Rettungsbooten. Sie hat keine Angst. Im Gegenteil: Es gab einen von Moritz geschaffenen Zeitraum, in dem das Jahr 1938, in dem die gesamte Zeit keine Rolle spielte. In dem man sich nicht bewegen, aber auch nicht untergehen konnte. Den Augenblick der Maus. Und dieses Schiff entspricht dem ja. Es steht ja alles fest, ist fest verschweißt und vernagelt, mit Tauen an seinem Platz gehalten, und sie muss nur noch hinein in dieses Monstrum, dann wäre alles gut. Dann wäre sie gerettet.

Das Schiff wirkt noch steiler, je näher sie kommt, noch größer. Strahlt Sicherheit aus und Stärke. »Nur für die Crew«, wird Hanna auf Englisch aufgehalten, sobald sie sich der einen, der linken Tür mit der schmalen Gangway nähert.

Hanna nennt dem Mann in der Schiffsuniform den Namen und das Passwort; beides hat Hans ihr gegeben. Dann hält sie den Atem an.

Der Mann betrachtet sie ausdruckslos, schließlich nickt er. »Einen Augenblick«, sagt er und lässt sie stehen.

Hanna wartet. Jetzt kann sie, wenn sie sich vornüberbeugt, das träge dümpelnde Hafenwasser zwischen Schiff und Kai sehen, in dem sich allerlei Unrat verfangen hat, Bretter und Taue, eine alte Boje und jede Menge grüne, schaukelnde Pflanzenreste. Doch, eine Maus wäre wohl ins Wasser gefallen, hätte keine Möglichkeit gehabt, an Bord zu kommen. Für Mäuse bürgt ja schließlich niemand.

Endlich erscheint ein anderer Mann, ein eher kleingewachsener, aber breiter Kerl mit mächtigem Backenbart, der den Oberkörper beim Sprechen schief hält und sie in dieser Schieflage, als stemme er sich gegen schweres Wetter, erneut nach dem Passwort fragt.

Waterlily. Hanna wiederholt es auf Deutsch, mehr für sich: Seerose.

Der Backenbärtige lächelt so schief, wie seine Körperhaltung ist, dazu nickt er und bedeutet ihr mit einladender Geste, ihm zu folgen. Hanna legt noch einmal den Kopf in den Nacken, sieht hoch und erblickt statt des Himmels nur die fest vertäuten Rettungsboote. Und das soll es ja schließlich auch sein, eine Rettung. Also kämpft sie die aufsteigenden Zweifel nieder, atmet tief durch und folgt dem schrägen Mann ins Dunkle.

Kapitel 1

An jenem Tag, an dem Hanna zur Jüdin geworden war, hatte sie Mohnstriezel bestellt.

Der Glaube war ihr schon früh abhandengekommen: Ihre Großmutter Usch sprach nicht viel darüber, und wenn sie an bestimmten Tagen im Jahr Kerzen anzündete, war sich Hanna nicht sicher, ob es ein jüdisches oder aber katholisches Ritual zum Gedenken an die Toten war. Eine Kerze für den Mann ihrer Großmutter, der eines Tages nicht von der Arbeit zurückgekommen war. Er war Cheforthopäde einer großen Klinik gewesen, und gefunden hatte man ihn vor der hauseigenen Werkstatt im Keller, ein künstliches Bein im Arm, als hätte er sich daran festgeklammert, als sei dieses Fragment von Leben sein letzter Halt gewesen.

Eine Kerze für den Schwiegersohn, der sich von seiner Verwundung im Weltkrieg nur so weit erholt hatte, um eine einzige Tochter zu zeugen und sich anschließend unauffällig im Schlaf davonzustehlen, erleichtert darüber, seine Pflicht sowohl dem Vaterland als auch der Familie gegenüber erfüllt zu haben.

Und schließlich eine Kerze für die Tochter, die nur wenige Jahre danach an Lungentuberkulose erkrankt war und die kleine Tochter der Obhut ihrer Mutter überlassen hatte. »Kümmere dich«, waren ihre letzten Worte gewesen, der Rest war untergegangen in unstillbarem Husten, der endlich enden sollte.

Über Religion war von Uschs Seite kaum mehr zu erfahren. Es gab gute und es gab schlechte Menschen, so sah sie das, und im Übrigen sprach man nicht über den Glauben, genauso wenig wie über Politik. Das war unhöflich. Wie’s drinnen aussah, ging keinen etwas an.

Die Haushälterin Herta allerdings war eine gestandene Katholikin, und so war es kein Wunder, dass Hanna bald lernte, »Jessesmariaundjosef« zu fluchen, sobald ihr etwas misslang. Als sie noch klein war und die Mutter gerade erst gestorben, hatte Herta sie ein paar Mal in das dunkle, kalte Gemäuer mitgenommen, das ihr angeblich Trost spenden sollte, doch die kleine Hanna in ihrem Sonntagsstaat hatte dort nichts Tröstliches gefunden. Nur die vielen flackernden Kerzen, die hatten ihr gefallen, und die Frau mit dem Säugling im Arm, von der Herta behauptet hatte, sie sei »unser aller Mutter«. Usch, damals noch rüstig und energisch wie heute, hatte ihr befohlen, der Kleinen keinen Floh ins Ohr zu setzen. Und sowieso durfte Hanna nicht mehr mitgehen, nachdem der Mann in Schwarz herausgefunden hatte, dass sie ein »Judenbalg« sei, das den Herrn verraten habe. Hanna war erleichtert, beiden Herren, sowohl dem Schwarzen als auch dem Verratenen, nicht mehr begegnen zu müssen.

Also hatte sie später, im Mädchenlyzeum, in die Spalte Religion »keine« geschrieben. Die Sekretärin hatte das nach Rücksprache mit Herta, die zur Anmeldung mitgekommen war, berichtigt.

Mehr Auswirkungen hatte es zunächst nicht. Es war wichtiger, neben wem man saß, ob und wie rasch man beim Völkerball aufgerufen wurde, wie man den strengen Blicken der Hofaufsicht entkam. Später dann war es von höchster Bedeutung, welches Kleid man trug, welche Zeitschrift und welches Buch man las, wie viel Geld man für die Konditorei übrig hatte. Es gab so etwas wie Alltag, in den man hineinwuchs, und daran konnten auch die Nachrichten nichts ändern. Die braunen SA-Uniformen verschwanden, ihre Nachfolger standen schon parat, es wurden Gesetze erlassen und ermächtigt, aber das war draußen und dazu noch Politik, und wichtig waren die Freundinnen: eine Clique kichernder, gackernder Mädchen, die von der ersten Liebe träumten und Englischvokabeln büffelten.

Und dann kam der Nachmittag in der Konditorei, immer dort, immer war ein Kuchen, war ein Mohrenkopf im Spiel, auch wenn sie den nicht aß an jenem denkwürdigen Tag, als sie Jüdin wurde. Sie aß gar nichts, saß da und wartete auf ihre Freundinnen. Die sich verspätet hatten. Die sich sonst nie verspäteten, aber sie wollte nicht allein anfangen, und dem Fräulein sagte sie, sie hätte noch nicht gewählt. Nein, nicht einmal die übliche Schokolade.

Und sie kamen nicht. Zunächst nicht.

Hanna wartete eine Dreiviertelstunde, und das Fräulein war schon dreimal am Tisch gewesen, aber Hanna blieb eisern und wartete, konnte sich das Ganze nicht erklären. War sie ungenau gewesen? Hatte sie den Tag verwechselt? Aber nein: Auf dem kleinen Zettel, den ihr Liesel zugesteckt hatte, mitten in der Geschichtsstunde über die langweiligen Reformen eines Mönchs namens Luther, hatte es »drei Uhr« geheißen. Sie hatte den Zettel nicht mehr, aber sie war sich sicher. Und einmal meinte sie, das Gesicht von Bärbel an der Scheibe zu sehen, aber das konnte nicht sein, sie wäre ja sonst wohl reingekommen und hätte sich zu ihr gesetzt.

Gerade als sie gehen wollte, kamen sie doch noch, alle fünf. Elisabeth war die Anführerin, mit der hatte sie sich einmal gestritten, aber das war Jahre her, und inzwischen verstanden sie sich gut. Alle fünf kamen herein, mit hochroten Köpfen, als seien sie gelaufen, als hätten sie etwas versteckt, was jetzt gefunden war, und sie setzten sich an den Tisch in der Ecke, neben der ein großer, golden gerahmter Spiegel hing. Kichernd hielten sie sich die Hand vor den Mund, stießen sich an mit verschwörerischen Mienen oder beugten sich über den Tisch wie über eine Beute, die sie bewachten. Eine nur, es war Bärbel, hielt den Kopf gesenkt.

Hanna, die annahm, die Freundinnen hätten sie nicht gesehen, hatte schon die Hand erhoben, als sie Elisabeths Gesichtsausdruck im Spiegel sah.

Hannas Hand sank hinunter, schwer wie Blei, während ihre Gedanken rasten. Jede Bemerkung, jede Geste der letzten Tage ging sie durch, jedes scheinbare Missverständnis, jede Begebenheit. Hatte sie an Effis Frisur etwas auszusetzen gehabt? Die Mutter von Lotte zu grüßen vergessen? Hatte sie Bärbel nicht abschreiben lassen oder Uschi im Turnen zu hart bei der Stütze angefasst?

Und dann fiel es ihr ein, das unterbrochene Gespräch auf dem Schulhof am Mittag, die verlegenen Mienen der Freundinnen, als sie sich wie jede Pause zu ihnen gesellt hatte. Etwas spät, weil sie noch die Tafel hatte wischen müssen. »Wir werden es ihnen schon zeigen«, hatte Elisabeth gerade gesagt.

»Wem wollen wir etwas zeigen?«, hatte Hanna atemlos gefragt und keine Antwort erhalten.

Dann hatte Bärbel hastig nach der Englischaufgabe gefragt, und Hanna hatte die Sache vergessen.

Bis jetzt. Jetzt hatte sie ihre Antwort, und die Welt stürzte ein, ganz leise und zu dem Geruch von Kaffee und Sahne, zu frischem Apfelkuchen und Mohn.

Ihr wurde heiß und kalt, und als das Fräulein jetzt noch einmal an den Tisch kam und fragte, da sagte sie, sie wisse es immer noch nicht. Wie im Taumel stand sie auf, obwohl sie Angst hatte vor den Blicken, die ihr das Rückgrat durchbohrten, und sie vergaß ihren Mantel an der Garderobe und rannte nach Hause.

Es war nicht weit, eigentlich nur um die Ecke, und in der Wohnung angekommen, ließ sie Herta stehen, auch wenn die ihr nachrief, und sie weinte, am Bett ihrer Großmutter weinte sie und weinte und sagte, schuld sei allein, dass sie Jüdin sei. Das sei die Wurzel allen Unglücks.

Usch ließ sie weinen und wartete ab. »Jüdischen Glaubens zu sein, ist keine Schuld«, sagte sie schließlich. »Ebenso wenig wie Katholik zu sein oder was weiß ich. Es gibt gute Menschen und schlechte Menschen, das ist alles.« Und sie sah streng aus, unerbittlich. »Ich möchte, dass du jetzt zurückgehst und deine heiße Schokolade bestellst und dein Stück Kuchen; du wolltest doch Schokolade, nicht wahr? Lass dich nicht vertreiben. Zeig’s ihnen. Das Geld nimmst du aus dem Krug in der Küche, keine Widerrede.« Beim Hinausgehen rief sie ihr nach, und es klang wie der Satz aus einer Operette: »Wie’s innen aussieht, geht niemanden etwas an.« Das war eine Arie, musste eine sein.

Und Hanna sang sie innerlich, immer und immer wieder, als sie zurückging in die Konditorei, sich an einen der Tische setzte und der Bedienung sagte, ja, jetzt habe sie sich entschieden. Und sie trank eine Schokolade und aß einen Mohnstriezel und dann noch einen, bis ihr schlecht wurde. Und obwohl sie es kaum mehr aushielt, die Blicke und die demonstrative Ausgelassenheit in der Spiegelecke, blieb sie so lange sitzen, wie es ihr möglich war. Dann bezahlte sie mit dem Geld ihrer Großmutter und ging hinaus, nicht ohne sich vorher langsam, unerträglich beobachtet, den vergessenen Mantel anzuziehen.

Zu Hause schaffte sie es gerade noch auf die Toilette auf halbem Flur, bevor sie sich übergab.

Als sie wieder vor ihrer Großmutter stand, verheult, mit aufgelöstem Haar und hochrotem Gesicht, nickte die ihr zu. »Ich weiß, Kind, es ist hart.« Und dann ließ sie Hanna sich zu sich aufs Bett legen und streichelte der Weinenden wieder und wieder über die Haare.

***

Wenn es doch bloß einmal still stehen würde! Wenn es nur eine Minute ruhig wäre, dann könnte sie sich einrichten, sich umsehen, vielleicht irgendwo eine Tasse Tee bekommen, aber daran ist nicht zu denken bei dem Geschaukel. Das schlingert nicht, das rollt, vor und zurück und seitwärts.

»Da gewöhnst du dich dran«, sagt ihre Zimmergenossin Inge, eine Frau mit niedriger Stirn und dunklen Augen.

»Ja, gewiss«, erwidert Hanna tapfer, denn was bleibt ihr auch schon übrig, wie’s drinnen aussieht, geht schließlich keinen etwas an, schon gar nicht die dunkle, haarige Inge, die so anders aussieht, als ihr Name klingt. Inge. Das klingt hell, fröhlich, das klingt vor allen Dingen blond.

Jetzt muss sich Hanna beeilen, die kleine Kabinentoilette aufsuchen, gerade mal groß wie ein Schrank, und hinknien kann sie sich nur mit Mühe, während sie sich übergibt. So leise und diskret wie möglich tut sie das, es ist ja auch nicht viel, was sie den Tag über gegessen hat, so aufgeregt war sie vor dem Ablegen des Schiffes in Amsterdam. Im muschelförmigen Waschbecken wäscht sie sich anschließend die Hände und fährt sich durch die blonden, fast weißblonden Haare, die ihre Großmutter so liebte. »Hast ja nicht viel von deiner Mutter, Kindchen«, pflegte sie zu sagen, »aber die Haare. Die Haare, Hanna, sind dein Schatz.«

Selbst das Badezimmer schwankt. Aber eine eigene Toilette, Jessesmariaundjosef, die hatten sie nicht einmal in Berlin gehabt, und Herta hatte die diskret mit einem Deckel versehenen Nachttöpfe der Großmutter eine halbe Treppe tiefer entsorgen müssen.

Hanna streicht über den goldfarbenen Wasserhahn mit den zwei ebenfalls goldfarbenen Rädchen für warmes und kaltes Wasser. Selbst darin spiegelt sie sich, kann sie ihr bleiches, schmales Gesicht sehen, wenn auch verzerrt. Sie überprüft ihren Anblick im eingerahmten Pendant über dem Waschbecken. Dünn ist sie geworden, kein Wunder, nach den vielen Kartoffelpuffer- und Heringstagen, und unter ihren Augen liegen Schatten. Wenn Usch sie so sehen könnte. Älter sieht sie auch aus, älter und weiser. Und irgendwie ängstlicher.

Es klopft an die Tür, und Hanna schrickt zusammen. Antwortet nicht, versucht nicht einmal, ihr heftig schlagendes Herz zu beruhigen, sondern hält nur aus, wartet ab. Dann, als nichts mehr kommt, öffnet sie vorsichtig die schmale, nach innen aufgehende Tür.

»Na endlich«, sagt Inge barsch, die mit verschränkten Armen wartet. »Dachte schon, du wärst reingefallen und hättest dich runtergespült.«

Hanna tritt beiseite, überlässt der Fremden das Badezimmer und hört, wie sich die Tür mit einem Klick schließt. Unentschlossen macht sie ein paar Schritte in die Kabine, die von jetzt an die ihre sein soll, dann setzt sie sich neben ihr Gepäck auf das Bett rechts an der Wand und sieht sich um. Noch immer galoppiert ihr Herz, sei es von der Anstrengung, sei es vor Schreck, aber schlecht ist ihr nicht mehr, wenigstens das. Im Gegenteil: Im Rollen und Stampfen meint sie nun so etwas wie ein Wiegen zu spüren. Jetzt hinlegen, sich sinken lassen in diesen Luxus! Wie in eine schäumende Wanne, Himmel, wie lange hat sie kein Bad mehr genommen? Herta hatte ihr oft eins eingelassen, mit wunderbar weichem Wasser und Seifenschaum, den sie mit nassem Zeitungspapier erzeugte, eine Spezialität von ihr. Hier gibt es natürlich keine Badewanne, hier ist das Wasser überall und ringsherum, was einen ein wenig ängstigt, vor allem, wenn man sich unter der Oberfläche befindet.

Ist sie denn unter der Oberfläche? Hanna kann es nicht sagen. Hat irgendwann den Überblick verloren in den vielen Maulwurfsgängen, durch die ein Steward sie tiefer und tiefer in die Eingeweide des Schiffes geführt hat. Es gibt keine Fenster, nur Lichter, an denen man sich orientieren soll. Und Zahlen an den Türen; ihre ist die 404. Eine Glückszahl, wie Hanna findet.

Selbst hier unten, irgendwo im Bauch dieses gigantischen Wals, ist das Erhabene zu spüren, das Wohlanständige. In dem vergoldeten Wasserhahn und dem muschelförmigen Becken, oder dort zum Beispiel, in diesen tropfenförmigen Lampen auf beiden Nachttischen. Hanna beugt sich vor, sucht nach dem Schalter und findet ihn merkwürdigerweise nicht am Fuß, sondern am Kopf der Lampe, knipst ihn an. Sie hat Bücher dabei, drei Stück, darunter auch Moby Dick, und plötzlich sehnt sie sich nach der Nacht, danach, sich einzugraben in dieses Bett und einzutauchen in die fremde Welt. Sie ist gewiss nicht Ahab, niemand aus der Mannschaft, vielleicht aber der Wal selbst, der nur dem Strom folgt und sich nicht fangen lassen will. Hanna knipst das Licht wieder aus. Jetzt könnte sie es hervorholen, das Buch, es auf ihren Nachttisch legen, doch es lauern auch Alpträume darin: gemalte Träume, Bilder von brennenden Mauern und Schlangen, die sie ausgeschnitten und gesammelt hat und deren Anblick sie im Moment nicht erträgt. Nein, das Gepäck muss noch etwas warten, und Hanna fährt fort mit ihrer Erkundung.

Das Bullauge da, das ist ihr schon beim Eintreten ins Auge gefallen, doch es ist blind, führt nirgends hin. Gegenüber der schmalen Tür, die sie zunächst für eine Schranktür gehalten hat, hinter der sich jedoch das Badezimmer verbirgt, steht eine schmale Frisierkommode mit dezent gemustertem Armlehnenstuhl davor. Hanna erhebt sich, geht drei schwankende Schritte und probiert ihn aus. Sieht nur kurz in den langen Spiegel, der die Kabine größer erscheinen lässt und sie selbst noch schmaler, und betrachtet lieber die verstreut davorliegenden Gegenstände, die ihre Mitbewohnerin ausgepackt hat. Schminkutensilien, eine Bürste, Schere, Lockenwickler aufgereiht in einer Schachtel. Ein Schrank muss doch auch irgendwo sein, und richtig, da ist er, eingepasst in die Wand hinter der Tür. Auch er ist Mahnung daran, dass sie auspacken, sich einrichten soll, doch sie wendet sich ab. Atmet ein und schließt kurz die Augen, als wolle sie Kraft schöpfen. Dann legt sie den Kopf in den Nacken und betrachtet stattdessen die Deckenvertiefung, die auf den Wänden aufgebrachten Leisten zwischen verschiedenfarbig lackierten, wie Holz wirkenden Flächen und die Beleuchtung, die dem Raum Tiefe geben. Und das ist nur die Touristenklasse! Hanna weiß, dass irgendwo über ihnen die erste Klasse liegt und unter ihnen noch eine dritte Klasse sein muss: Der backenbärtige Steward, der sie an Bord gebracht hatte, hat es erwähnt.

Die Tür öffnet sich. Hanna sieht ins Licht, blinzelt nicht einmal, als die andere, die Dunkle, wie ein Schatten an ihr vorbeigleitet. Sie kann ihren Luftzug spüren, riecht sie sogar: eine Wolke aus schwerem, süßlichem Parfüm.

»Geht es dir gut?«, fragt der Schatten, der sie wie selbstverständlich duzt.

Alle an Bord reden Englisch, das hat ihr Hans erklärt, der Erste Offizier, der ihr die Passage verschafft hat, doch Inge spricht deutsch. Dazu kommt das vertrauliche Duzen, das Hanna als unhöflich empfindet.

»Ja«, erwidert sie, und ihre Stimme klingt gereizt. Dann tut es ihr leid, und sie senkt den Kopf, was Sterne vor ihren Augen tanzen lässt. »Es ist alles sehr beeindruckend«, sagt sie.

»Stimmt«, gibt Inge zurück.

Kein guter Start für eine gemeinsame Überfahrt, denkt sich Hanna und sucht nach etwas Versöhnlichem. »Bist du schon lange hier an Bord?«

Das Thema scheint ihrer Mitbewohnerin nicht zu passen, denn ihre Miene verdüstert sich.

»Lange genug.«

»Ich frage nur, weil du dich bestimmt auskennst.«

»Das auch.«

Nett bleiben, nimmt sich Hanna vor: Sie muss wissen, was sie erwartet. Natürlich weiß sie es schon, zumindest das meiste. Muss an Hans denken, seinen Bart, der kitzelt, wenn er sie küsst.

»Heute ist ein großer Empfang, nicht wahr? Der Steward hat es mir erzählt. Pünktlich um sieben, im Speisesaal.«

Inge nickt.

»Vielleicht könntest du mich mitnehmen.« Das ist das letzte Friedensangebot, da kann sie Gift drauf nehmen, und diese Gewissheit verleiht Hannas Bitte eine Spur Schärfe.

»Ja, sicher«, erwidert Inge und zuckt mit den Schultern. »Wir sollten uns nur nicht ins Gehege kommen«, fügt sie hinzu. »Es ist eine kleine Kabine.«

Hanna, der tausend Fragen auf der Seele brennen, über den Empfang, über Inge, über die anderen Frauen an Bord, beißt sich auf die Lippen. Sie nickt.

»Wenn du also auspacken willst, solltest du das jetzt tun.«

Hanna schüttelt den Kopf. Sie wollte sich nicht sagen lassen, wann sie was auspackt und wann nicht.

»Ich werde mir als Erstes das Schiff ansehen«, verkündet sie. Wieder zuckt ihre Mitbewohnerin nur mit den Schultern, und Hanna greift entschlossen zur Klinke.

»Aber verlauf dich nicht«, hört sie die andere noch rufen, bevor sie die Kajütentür zuschlägt. Das wäre ja noch schöner.

Natürlich verläuft sie sich, nachdem sie an Deck gefroren und den Möwen zugesehen hat, die sie begleitet haben, nachdem sie hinunter auf die Wellen gestarrt und den Horizont nach dem letzten Fleckchen Land abgesucht hat.

Unter Deck ist es noch still. Zwar sind viele Menschen unterwegs, die ihre Kabine, Angehörige oder etwas anderes suchen oder die wie sie selbst das Schiff erkunden wollen, doch ist die Stille noch nicht von ihnen abgefallen. Die Stille der Flüchtlinge, seit langem geübt im Unauffälligen, im Dahinhuschen. Als könne das Schiff anhalten, längs geholt und gekapert werden, sobald sie zu laut, zu erleichtert wären. Selbst jetzt noch. Wie Gespenster begegnen sie sich in den Gängen, lächeln unsicher und schlagen die Augen nieder.

An Deck ist die Orientierung leicht, doch hier unten gibt es nur die grün schimmernden Lampen, die die Gesichter fahl aussehen lassen. Es riecht nach frischer Farbe und nach Reinigungsmitteln, und an den Wänden finden sich Nummern über Pfeilen, die in die eine oder andere Richtung zeigen. Hanna bringt es nicht über sich, eines der Gespenster nach dem Weg zu fragen, also hält sie Ausschau nach einer weißen Uniform. Doch dann, als es so weit ist, als sie schon die Hand ausgestreckt hat, um den Steward anzuhalten, erstarrt sie, und der Hals wird ihr eng. Etwas hält sie zurück, will nicht erkannt werden, nicht auffallen, um keinen Preis, und sie lässt den Arm wieder sinken und lächelt dem fragend blickenden Mann unverbindlich zu. Dann dreht sie sich auf dem Absatz um und flieht in die entgegengesetzte Richtung.

Es ist schieres Glück, dass sie die 404 findet, aber die Vier ist ja auch ihre Glückszahl, zumindest war sie das bislang. Ohne anzuklopfen, stürzt Hanna in die Kabine, macht die Tür hinter sich zu und lehnt sich schwer atmend dagegen.

»Ich bin zu spät, ich weiß«, sagt sie.

Inge ist schon fertig umgezogen. Steht vor ihr im bodenlangen, eleganten Satinkleid und sieht mit einem Mal gar nicht mehr so dunkel und auch nicht mehr so unfreundlich aus. Jetzt wirkt sie eher unnahbar, aber ob das ein Fortschritt ist?

»Ich bin gleich so weit.« Hanna stürzt sich auf den größeren der beiden Koffer, zerrt ihn auf, nimmt den oberen Stapel Blusen und Unterwäsche heraus, die sie achtlos auf das Bett wirft, und kramt nach ihrem langen Rock. Da ist er, von Herta persönlich nach dem Schnittmuster aus einem Modemagazin genäht, und er ist ein wenig zerknittert, aber das fällt nicht so auf. Mit den Blusen allerdings ist es eine andere Sache.

»Du hättest vorhin auspacken sollen«, sagt Inge. Sie sitzt so steif auf der Kante des Armlehnenstuhls, als erwarte sie, von hinten angesprungen zu werden. »Dann hätten sich die Sachen aushängen können.«

Hanna verbeißt sich eine Erwiderung. Sie schlüpft aus ihrem Reisekostüm und läuft in Unterwäsche ins Badezimmer, um sich zu waschen. Als sie wieder herauskommt, hat Inge zwei ihrer Blusen auf Bügel gehängt und hält sie prüfend in die Höhe. »Gehen beide nicht.« Sie schüttelt den Kopf. »Du wirst dir eine von mir leihen müssen. Der Rock ist in Ordnung.«

Hanna ist ärgerlich und dankbar zugleich. Sie steigt in den Rock und lässt sich von Inge eine hochgeschlossene, gerüschte Bluse mit Puffärmeln und in einem Blau reichen, das hervorragend zu ihren Augen passt. Inge macht Platz, damit Hanna sich schminken kann, bietet ihr sogar ihren eigenen Augenbrauen- und Lippenstift an, als sei sie persönlich verantwortlich für das Erscheinungsbild der Neuen. Zum Schluss noch ein letzter prüfender Blick.

»Himmel, siehst du arisch aus«, entfährt es Inge, und Hanna ist ihr merkwürdigerweise nicht böse. Im Gegenteil: Es verleiht ihr Zuversicht, auch wenn sie sich im selben Augenblick für diesen Schutz schämt. Die Übelkeit macht sich wieder bemerkbar.

»Ich wette«, sagt Inge, »du hattest nicht viel auszustehen, bei deinem Aussehen.«

Es klingt bitter, natürlich tut es das, doch Hanna ist nicht bereit, darauf einzugehen. Sowieso kann sie gerade nichts sagen, weil sie Haarnadeln zwischen den Zähnen hat, während sie ihr Haar rechts und links über den Ohren hochsteckt. »Fertig«, sagt sie schließlich und dreht den Kopf, um das Ergebnis zu begutachten. Usch hätte es besser gekonnt. Wenn sie sich auf den Boden an das Bett setzte, reichte die Großmutter gerade gut genug heran, um ihr die Haare zu machen. Die blonden Haare ihrer jüdischen Mutter.

»Wir können jetzt gehen«, sagt Hanna und streicht sich den Rock glatt.

Kapitel 2

Vordergründig gab es nicht viel auszustehen – im modernen Mädchenlyzeum, an dem ganz fortschrittlich Englisch als erste Fremdsprache unterrichtet wurde, änderte sich wenig. Die wenigen jüdischen Schülerinnen wurden allerdings noch weniger, weil ihre Eltern sie auf jüdische Schulen schickten oder nach Palästina auswanderten, dafür tauchten die ersten BDM-Blusen in den Fluren auf. Turnen wurde wichtiger, doch die im Biologieunterricht verpflichtende »Rassenkunde« wurde mit so viel sichtlichem Widerwillen und Unglauben unterrichtet, dass keines der Mädchen das Ganze ernst nehmen konnte.

Und doch spürte Hanna das Drohende, das in dem Schweigen der ehemaligen Freundinnen lag. Bärbel war die Einzige, die ihr nach dem Vorfall im Café errötend noch ein, zwei Mal einen Gruß zuwarf, den Hanna allerdings nicht erwiderte. Wie betäubt ging sie in die Klasse, hob wohl noch ab und zu die Hand, doch wurde sie stiller, duldender.

Einmal, als sie ihr Lineal verliehen hatte und die Mathematiklehrerin darauf aufmerksam wurde, fiel die Bemerkung, im Verleihen seien die Juden ja gut. Die Lehrerin, ein Fräulein Weber mit dem üblichen Parteiabzeichen, schloss mit dem Witz, dass die betreffende Schülerin nur aufpassen solle, dass Hanna keinen Zinseszins in Zentimetern verlange. Das hörte sich beinahe gutmütig an, und Hanna stimmte, wenn auch unsicher, in das Lachen der anderen ein.

Spürbarer, wenngleich auch nicht gerade schmerzhaft, waren Anlässe wie die Abiturfeier des älteren Jahrgangs, von der Hanna ausdrücklich ausgeschlossen wurde und von der sie auch nicht viel erfuhr. Ihre Banknachbarin Charlotte ließ sich nur zu einer spärlichen Zusammenfassung herab.

»Himmel, war das langweilig«, berichtete sie. »Die besten Schülerinnen haben ein Buch bekommen, Mein Kampf, natürlich, und dann noch das andere, das von Rosenberg. Dann hat die Direktorin den Treueid auf den Führer gesprochen, und wir mussten die zwei Hymnen singen, du weißt schon. Und das war’s.« Ungeduldig zerrte sie an ihrem Ranzen. »Sei froh, dass du nicht da sein musstest. War elend lang, die ganze Veranstaltung. Warum geht das verfluchte Ding denn nicht auf?«

Außer von den ehemaligen Freundinnen erfuhr Hanna nur wenig persönliche Ablehnung. Ihre Situation wurde schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Das »Weltjudentum« war Politik, mochte schuld sein an diesem oder jenem, aber niemand schien dies auf Menschen zu beziehen, die in der Stunde neben einem saßen, mit denen man turnte und zum Haareraufen schwere Klassenarbeiten schrieb. Niemand außer ausgerechnet den früheren Freundinnen, die ihr neu erwachtes »nationales Bewusstsein« Elisabeth verdankten und die wiederum ihrem Nazi-Onkel; einem Nazi-Onkel, der gar kein richtiger war, sich nur um sie und ihre Mutter »kümmerte« und die Mädchen bei ihren Besuchen mehr als einmal mit anrüchigen Witzen und einem Klaps auf das Hinterteil in Verlegenheit gebracht hatte.

Das Leben wurde kaum spürbar undeutlicher. Anstand und Normalität waren noch zu erkennen, vertrautes Ufer, gar nicht allzu weit entfernt. Es gab nur wenige klar erkennbare Klippen, und manchmal nahm Hanna auf ihrem Nachhauseweg extra den Umweg an den roten Schaukästen des »Stürmers« vorbei, um sich selbst und so etwas wie Empörung zu spüren. Wie so viele geriet sie in einen Nebel, und es war zunächst ein Glück und später fast ihr Untergang, dass Moritz sie fand.

Es war vor einem der offenen Bücherkarren, der Schundhefte für ein paar Groschen ebenso verkaufte wie einen gebundenen Kästner, und Hanna konnte Stunden damit zubringen, in den angebotenen Büchern herumzustöbern, um Neuerwerbungen zu feilschen oder ausgelesene Romane zurückzubringen. Oder besonders tief nach einem Feuchtwanger oder Werfel zu graben, die der Zensur entgangen waren.

»Wohin der Sturm uns trägt scheint mir ein erfolgversprechender Titel«, hörte sie eines Tages eine Stimme neben sich. Sie war gerade aus der Schule gekommen, das Wetter war schön, sie war herumgebummelt, es roch nach Frühling und Lindenblüten. »Falls es sich dabei um einen Seefahrerroman handelt.« Wütend darüber, dass sie errötete, wandte sie sich der Stimme zu.

»Und doch würde ich Ihnen eher zu Moby Dick raten, falls Sie auf ein Abenteuer aus sind«, beendete der Fremde neben ihr gerade seine Einmischung. Er sah nicht wirklich gut aus, zumindest nicht auf die einprägsame, vordergründige Art. Hätte er Hanna nicht angesprochen, wäre er ihr wahrscheinlich nicht weiter aufgefallen. Seine Nase war markant, nun gut, später registrierte sie auch noch das Grübchen an seinem Kinn. Doch es dauerte, bis sie sich seine Augenfarbe merken konnte: Blau ins verwässerte Grau hinein. Er trug einen Hut.

»Diese Bücher«, erwiderte Hanna mit Beherrschung, »sind für meine Großmutter. Moby Dick habe ich schon gelesen.«

»Und wie fanden Sie es?« Der junge Mann ließ sich von ihrem frostigen Ton nicht abschrecken.

»Wunderbar«, erklärte Hanna, die für Seefahrerromane eigentlich nur wenig übrighatte, Moby Dick jedoch tapfer zu Ende gelesen hatte. Hanna las alle Bücher zu Ende, auch die, die sie nicht mochte. Sie liebte den Epilog.

»Nicht wahr?« Der junge Mann strahlte. Er mochte im Übrigen auch keine Seefahrerromane und hatte Moby Dick nach 226 Seiten aufgegeben. Aber das sollte sie erst später erfahren, bei Kaffee und Mohrenkopf, zu dem Moritz van der Heyden sie einlud. Und nachdem alle Karten auf dem Tisch lagen.

»Ich bin Jüdin«, eröffnete ihm Hanna rundweg, und der junge Mann lächelte und antwortete prompt: »Und ich evangelisch. So steht es zumindest auf meiner Geburtsurkunde. Aber angesprochen habe ich Sie nicht, weil ich mit Ihnen gemeinsam beten wollte.«

Wieder spürte Hanna, dass sie rot wurde. Sie dachte an ihre Großmutter, die diese spontane Verabredung sicher nicht gutgeheißen hätte, und an Herta, die sogar entsetzt darüber gewesen wäre. So etwas schickte sich nicht.

»Warum haben Sie mich dann angesprochen?«

»Weil Sie gern – lesen«, sagte Moritz, »und ich auch.«

Sie sprachen über Literatur, offenbarten ihre gemeinsame Liebe zu Dickens, gestanden ihren Kampf mit dem Weißen Wal, diskutierten, wenn auch leise, über Thomas Mann. Doch die modernen Dichter waren nicht so sehr Moritz’ Sache.

»Ich mag das, was schon Generationen vor mir gelesen haben, den Hauch der Geschichte, wenn man es so will. Oder halt Kulturgut.« Er zuckte mit den Schultern. »Schiller und Goethe, aber auch Kleist und Shakespeare.«

Nun, die mochte Hanna auch. Doch Moritz’ Liebe reichte tiefer.

»Homer verehre ich und die griechischen Tragödien und Dante.« Bei denen Hanna passen musste. »Es ist alles schon einmal gedacht, alles schon einmal geschrieben worden«, lautete Moritz’ These, »und alle moderne Literatur ist nur Fußnote.«

Das allerdings konnte sie so nicht stehenlassen, und sie redeten sich die Köpfe heiß über Faust und neue Ideen und neue Ideale, wobei sie bei Faust noch nicht einmal flüstern mussten und die neuen Ideale sich als die alten herausstellten, die, die gerade abhandenkamen. Nach noch einem Mohrenkopf und einer weiteren Tasse Kaffee musste Hanna gehen.

Für den darauffolgenden Tag verabredeten sie sich wieder. »Im Museum«, schlug Moritz vor, »denn da arbeite ich. Ich restauriere Gemälde.«

Das faszinierte Hanna, die selten ein Museum betrat, so gut wie nie eigentlich; das letzte Mal war sie mit der Grundschule da gewesen, wenn sie es recht bedachte. Mit Moritz wollte sie gern und mit Erlaubnis hingehen, obwohl Herta das plötzliche Interesse an »all dem toten Zeugs« und »irgendeinem dahergelaufenen jungen Mann« gleichermaßen verdächtig vorkam. Usch ermutigte sie jedoch ausdrücklich, sich zu bilden. Den Frauen hatte sie erzählt, Moritz sei Jude: eine Notlüge, denn die Freundschaft mit einem nichtjüdischen Mann war für beide Seiten gefährlich.

Man sah es ihr nicht an. Wenn sie mit Moritz unterwegs war, waren sie sich gleich.

Mit Moritz fühlte sie sich wohl. Mehr als das: Hanna ließ sich entführen in die andere, nervenberuhigende und, wie es ihre Großmutter wohl ausgedrückt hätte, auch höflichere Welt. Ließ sich durch das Mikroskop hineinziehen, landete zwischen Farbpartikeln und Pinselstrichen groß wie Gebirge und warf einen Blick auf Mikroben, die dort lebten und Grün fraßen. Ein anderes Mal zeigte Moritz ihr eine Schimmelpilzwiese auf dem Gemälde einer Moorlandschaft, deren Stengel sich beim leisesten Lufthauch wie Grashalme im Wind wiegten. Hanna erfuhr mehr, als ihr lieb war, über Craquelés und Schichtenfestlegung, über die Bekämpfung des Splintholzkäfers mit Fungiziden und die Vorteile von Störleim. Hörte aufmerksam zu, selbst als es um Bindemittel und die Zusammensetzung von Farbe ging. Moritz demonstrierte ihr ausführlich, wie man eine Brandblase niederlegte, was sie nicht sonderlich interessierte, dann wieder zeigte er ihr das schwärzeste Schwarz, zu dem Maler fähig waren, was sie faszinierend fand. Bilder sind nicht das, was sie zu sein scheinen, lernte sie. Und dass jedes Gemälde eine eigene, im wahrsten Wortsinn lebendige Welt sei, in denen Ungeheuer auf Schimmelwiesen grasten. Die vernichtet werden mussten, damit das Ganze, damit die Idee erhalten blieb.

Und so lernte sie vor allem etwas über die Zeit. Und wie sie sich konservieren, wie sie sich festhalten ließ.

***

Die Koffer stehen immer noch halb ausgepackt in der Kabine, zwei Koffer nur, drei Bücher, die Alpträume: Alles wartet schaukelnd ab, ruhig und schwarz, während Hanna tanzt. Sie ist beschwipst, obwohl sie wenig getrunken hat, aber es ist auch alles zu überwältigend. Und unwirklich. Wenn sie den Kopf nur ein wenig nach hinten legt, kann sie einen grünen Sternenhimmel sehen: Die Lackvertäfelung der Wände wird von der großen Spiegeldecke zurückgeworfen, die sich über den gesamten Saal spannt und die Kerzenlichter auf den Tischen unendlich werden lässt.

Einige der Passagiere sehen vornehm aus, dabei sind die allermeisten von ihnen Flüchtlinge wie sie selbst, und wie Hanna tragen sie das Kostbarste am Körper, das zu retten war. Sie sieht Pelzbesatz und Perlenketten, Schmuck, der in Kleidersäumen und Stofftieren geschmuggelt worden ist, und so manche Frau trägt das Startkapital ihres künftigen Lebens um den Hals. Es ist die erste Gelegenheit, um gesehen zu werden und zu feiern: Wir leben noch. Wir benehmen uns normal, wir essen, trinken und lachen wie andere Menschen auch. Wie wir es selbst früher getan haben. Wir sehen uns wieder ähnlich!

Kerzen schimmern, Musik spielt, es duftet nach Parfüm und Haarwasser, und das Leben ist eine Operette. Wie’s drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. Alles nur ein schöner Traum, und Hanna wird umhüllt von seinem Glanz. Lachend trinkt sie Wein und unterhält sich mit »ihrem« Ersten Offizier Hans, der gut aussieht in seiner schmucken Uniform. Am Anfang, als sie ihn kennengelernt hat in Amsterdam, hat sie sein Bart gestört, doch jetzt findet sie, er kitzelt. Er gefällt ihr, alles hier gefällt ihr, die anderen Frauen, die Seerosen (sie muss kichern, als sie sie so bezeichnet), und selbst Inge am anderen Ende des Tisches nickt ihr versöhnlich zu.

Auf der in der Mitte des Speisesaals eingelassenen Parkettintarsia wird zu Musik getanzt, die Hanna in der Schule als »Negermusik« verleidet werden sollte und die sie mag. Der Rhythmus geht ins Blut. Die Kerzen werfen die flackernden, zuckenden Schatten auf die Wände, und das sieht in der Tat so eigentümlich aus, dass Hanna wieder kichern muss. Arme heben sich in die Luft, Lachen ist zu hören. Heiß ist es, fast zum Ersticken heiß, und die Stimmung ist zwar ausgelassen, jedoch immer noch kontrolliert. Nein, so weit geht das Vergessen nicht. Man muss festhalten an dem, was von einem selbst geblieben ist. Und so manche Tänzerin nimmt zögernd, plötzlich mutlos geworden, das glitzernde Juwel ab und bringt es zurück in die Kabine, um es nach einem fast zärtlichen Blick wieder in sein Versteck zu sperren.

Hanna tanzt nur mit ihrem Ersten Offizier, der sorgsam über sie wacht. Das Schwanken und Schaukeln stört sie nicht mehr, es ist mehr als ein Wiegen, ein rundes Rollen in alle Richtungen, und es erleichtert das Tanzen, macht einen merkwürdig leicht.

Am Ende will sie nicht gehen, doch Hans muss auf seine Wache, und Hanna winkt ihm nach, lässt sich von Inge hinausziehen in den dunklen Gang.

»Zurück in die Eingeweide«, schmollt sie. »Als ob uns ein Wal verspeist. Warum haben wir nicht eine der oberen Kabinen?« Sie schwankt leicht, aber vielleicht ist das auch nur das Schiff. Wer kann das jetzt noch unterscheiden?

»Du solltest dich freuen, überhaupt hier zu sein«, erwidert Inge mechanisch. Ihr Lippenstift ist verschmiert, und das dunkle, fast krause Haar fällt ihr wieder in die Stirn. Sie hat einen roten Fleck am Hals, der im fahlen Licht fast schwarz wirkt und über den sie gedankenverloren mit dem Daumen streicht.

»Besonders froh siehst du nicht aus«, stellt Hanna fest.

»Ich kenne das «, antwortet Inge knapp.

Hanna summt eine der Melodien, nach der sie bis vor kurzem noch getanzt hat. »Swing oder so«, überlegt sie laut. Sie macht ein, zwei Schritte vor und wieder zurück, kommt ins Straucheln und hält sich lachend an dem Handlauf fest, der in allen Gängen zu beiden Seiten angebracht ist. »Wie Aschenputtel«, sagt sie.

»Dann weißt du ja, was um Mitternacht passiert«, erwidert Inge und hält ihr die Kabinentür auf.

Hanna tanzt hinein und bleibt wie im Scheinwerferlicht stehen, als Inge das Licht anknipst. Das geschieht schnell, es gibt keine Warnung, und doch kommt es Hanna so vor, als ob das Schiff, der weiße Wal, für einen Augenblick den Atem anhält, bevor sie verschluckt wird von der Erinnerung.

Ein Koffer auf dem Bett, der andere abgewetzte davor. Beide sind aus Leder, echtem Leder, und Herta hatte sie vom Boden heruntergeholt und sauber gewischt, während Usch von ihren Reisen aus der Jugendzeit erzählte. Nach Österreich war die Fahrt gegangen, in die Pension ins Salzburger Land. Und dann hatten die drei Frauen die beiden Koffer gemeinsam gepackt, langsam und sorgfältig, als vollführten sie eine heilige Handlung. Herta hatte ihr Geld ins Futter genäht, Geld, das längst ausgegeben war, und dabei kleine Stiche mit kurzem Faden gemacht, und die Stiche sind immer noch zu sehen, auch wenn der Faden längst verschwunden ist.

»Ich hätte ihn aufheben sollen«, murmelt Hanna. Sie spürt plötzlich eine nicht enden wollende Sehnsucht nach dem Stück Faden, das sie irgendwo achtlos hat liegenlassen. Wie hätte sie ahnen können, dass alles einmal so kostbar werden würde? So verloren ist?

»Was?« Inge hat sich schon die Schuhe ausgezogen und löst sich gerade die Haare.

»Nichts«, erwidert Hanna. Dann setzt sie sich zu ihrem Koffer aufs Bett. Wagt nicht, ihn hinunterzuheben oder gar zu Ende auszupacken, wagt nicht einmal, die Hände auszustrecken, um das schadhafte Leder zu berühren, so sicher ist sie sich, dass die Vergangenheit unter ihrer Haut zerfallen wird zu Staub.

Kapitel 3

wegen