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JOHANNES THIELE, geb. 1954, ist nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Paderborn seit 1981 freier Schriftsteller und Publizist, Autor erfolgreicher Biographien (»Elisabeth«, »Luise«) und Herausgeber zahlreicher Anthologien (u.a. »Das Buch der Deutschen«, »Die allerschönsten Geistesblitze«, »Das österreichische Zitatenlexikon«). Er lebt und arbeitet in München.

Zum Buch

Die großen deutschen Dichter und Schriftsteller

Dieses Autorenlexikon enthält all jene Dichter, Schriftsteller und Literaten, die zum Kanon der deutschsprachigen Literatur gezählt werden: Von den frühen Minnesängern wie Walther von der Vogelweide über die Weimarer Klassik mit Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe bis in das zwanzigste Jahrhundert mit Thomas Mann und Günter Grass werden Leben, Werk und Wirken der bedeutendsten Köpfe der Literatur vorgestellt – anschaulich, prägnant und informativ.

Johannes Thiele

Die großen deutschen Dichter und Schriftsteller

Johannes Thiele

Die großen
deutschen Dichter
und Schriftsteller

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0211-6

www.marixverlag.de

O mein Freund, wiederhole es Dir unaufhörlich, wie kurz das Leben ist, und daß nichts so wahrhaftig existiert als ein Kunstwerk. – Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln, aber wenn die Welt einmal aufbrennt wie ein Papierschnitzel, so werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das Haus Gottes gehn, – dann erst kommt Finsternis.

CAROLINE SCHLEGEL

INHALT

Lust an Literatur

Warum Klassiker lesen?

Die Dichter

HARTMANN VON AUE

WALTHER VON DER VOGELWEIDE

WOLFRAM VON ESCHENBACH

ANDREAS GRYPHIUS

HANS JACOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN

ANGELUS SILESIUS

CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT

FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

CHRISTOPH MARTIN WIELAND

MATTHIAS CLAUDIUS

GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG

JOHANN GOTTFRIED HERDER

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ

FRIEDRICH SCHILLER

JOHANN PETER HEBEL

JEAN PAUL

FRIEDRICH HÖLDERLIN

FRIEDRICH SCHLEGEL

NOVALIS (FRIEDRICH VON HARDENBERG)

LUDWIG TIECK

E. T. A. HOFFMANN

HEINRICH VON KLEIST

CLEMENS BRENTANO

ACHIM VON ARNIM

ADELBERT VON CHAMISSO

BETTINA VON ARNIM

LUDWIG UHLAND

JOSEPH VON EICHENDORFF

FERDINAND RAIMUND

FRANZ GRILLPARZER

ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF

JEREMIAS GOTTHELF

HEINRICH HEINE

JOHANN NESTROY

CHRISTIAN DIETRICH GRABBE

NIKOLAUS LENAU

WILHELM HAUFF

EDUARD MÖRIKE

ADALBERT STIFTER

FRIEDRICH HEBBEL

GEORG BÜCHNER

THEODOR STORM

GOTTFRIED KELLER

THEODOR FONTANE

CONRAD FERDINAND MEYER

WILHELM RAABE

ARTHUR SCHNITZLER

GERHART HAUPTMANN

FRANK WEDEKIND

STEFAN GEORGE

HEINRICH MANN

HUGO VON HOFMANNSTHAL

THOMAS MANN

RAINER MARIA RILKE

HERMANN HESSE

ALFRED DÖBLIN

ROBERT MUSIL

STEFAN ZWEIG

FRANZ KAFKA

GOTTFRIED BENN

GEORG TRAKL

GEORG HEYM

FRANZ WERFEL

KURT TUCHOLSKY

NELLY SACHS

JOSEPH ROTH

ERNST JÜNGER

CARL ZUCKMAYER

BERTOLT BRECHT

ERICH MARIA REMARQUE

ERICH KÄSTNER

ANNA SEGHERS

MAX FRISCH

PETER WEISS

HEINRICH BÖLL

PAUL CELAN

WOLFGANG BORCHERT

FRIEDRICH DÜRRENMATT

INGEBORG BACHMANN

SIEGFRIED LENZ

MARTIN WALSER

GÜNTER GRASS

CHRISTA WOLF

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

MICHAEL ENDE

REINER KUNZE

UWE JOHNSON

JUREK BECKER

PETER HANDKE

BOTHO STRAUß

LUST AN LITERATUR

Dieses Buch ist kein Schriftstellerlexikon, eher ein Kanon der deutschen Literatur. Es wäre jedoch völlig missverstanden, wollte man in der Auswahl ein Ranking vermuten, ein Best of, ein Urteil gar über Rangfolge und Wert. Es will einen roten Faden auslegen, von dem aus sich die Literatur, dieses »weite Feld«, erschließen lässt.

Wirken soll das Buch wie ein Kaleidoskop. Ein Kaleidoskop ist eigentlich ein »Schönbildschauer«, abgeleitet vom griechischen kalós (schön) und skopein (schauen, betrachten). Ein Spielzeug, bei dem sich unregelmäßig liegende bunte Glasstückchen durch Spiegelung in einem Winkelspiegel zum Bild eines regelmäßigen, sich bei Bewegung ändernden Sterns anordnen.

Man wird einwenden können, dass die Geschichte der Literatur alles andere als ein »regelmäßiges« Bild ergibt, im Gegenteil, dass sie so unruhig, widersprüchlich, sprunghaft und antagonistisch ist wie alle Geschichte. Insofern ist das Bild schief. Mir kommt es jedoch darauf an, sich einen spielerischen Zugang zur Literatur zu bewahren, die unregelmäßigen Steine in Bewegung zu bringen, so dass sich immer neue Bilder ergeben, immer neue Facetten. Und sich entzücken zu lassen, um ein hoffnungslos altmodisches Wort zu gebrauchen, denn letztlich geht es beim Lesen doch darum, »die uns im Leben zugeteilten Stunden der Langeweile gegen solche des Entzückens einzutauschen« (François de la Rochefoucauld). Sich nicht nur irgendeinem »Lesespaß«, sondern einem ästhetischen Vergnügen hinzugeben. Die Spielräume auszuschöpfen, die sich durch Lektüre in der Phantasie des Lesers auftun, sich verführen zu lassen von der Möglichkeit des Weiterdenkens und Weiterspinnens und auch des Widersinns.

»Große deutsche Dichter und Schriftsteller« flößen Respekt ein. Wie erratische Zeugen einer unzugänglichen Zeit stehen sie da, mit der Aura des verstaubten, langweiligen Bildungsballasts. Ist das nicht alles viel zu schwierig? Muss man nicht über ein hohes Maß an Wissen verfügen, um sich ihnen überhaupt zu nähern, geschweige denn aus ihrer Lektüre einen Gewinn zu ziehen? Nein, die Klassiker sind keine »Geister, deren Schriften, in unvermindertem Jugendglanz, durch die Jahrtausende gehen«, wie Arthur Schopenhauer empathisch schreibt. Sie sind eine einzigartige Einladung, das Leben zu deuten, zu verstehen, einen schärferen Blick, ein heißeres Herz zu gewinnen.

Freilich: Information kann nicht schaden. Es hilft, zu erfahren und zu wissen, welche Bedeutung einem Autor zukommt, worin seine Unverwechselbarkeit besteht, seine Originalität, seine besondere Qualität, das vielleicht umstürzend Neue, das er in die Literatur hineingetragen hat. Doch diese Informationen dürfen nicht dazu führen, Literatur nur auf ihren praktischen Nutzwert abzuklopfen und – wenn sie diesen nicht auf den ersten Blick hergeben – sie gleich ad acta zu legen.

Es geht hier also in jedem Fall – bei aller sachlichen Information – um die emotionale Wirkung der Literatur. Wir lesen Tausende, Zehntausende Texte in unserem Leben. Texte in Beipackzetteln, Gebrauchsanweisungen, Gesetzbüchern, Zeitungen, Lexika, Taschenbüchern, Bestsellern. Literatur wird aus Texten erst dann, wenn sie uns fühlen lassen, wirklich fühlen lassen. Große Literatur haben wir vor Augen, wenn wir uns noch im kleinsten Vers und in der kürzesten Geschichte als Teil der Menschheit fühlen.

Wenn Literatur uns nicht bewegt, zu Tränen rührt, aufrüttelt, erschüttert, frieren macht, Hitze unter die Haut schickt, wenn sie uns nicht sehnsüchtig stimmt, elegisch oder melancholisch, wenn sie nicht unsere Ängste schürt und unsere Hoffnungen hochfliegen lässt bis zu den weißen Wolken, wenn sie uns nicht unsere Unterlassungen und fahrlässigen Versäumnisse bewusst macht, uns nicht etwas Holdseliges, Staunlustiges, Traumschönes in Erinnerung ruft, etwas, das wir alle einmal geahnt haben, als wir – willig oder unwillig – ein zerknittertes Reclamheftchen oder abgegriffenes Hamburger Leseheft in Händen hielten, wenn sie uns nicht durch alle Höllen schickt und uns alle Himmel zeigt, wenn sie nicht die unendliche lange Weile unseres Lebens unterbricht, wenn wir nicht einmal nach einer Lektüre die Welt in Brand setzen wollten oder vor Liebe vergehen – dann ist sie nichts. Gar nichts. Wenn sie aber nur ein Fünkchen ist, ein Fünkchen Wahrheit, Lust, Witz, Überschuss, Wahnsinn – dann ist sie alles.

Für den Literaturwissenschaftler Emil Staiger eröffnet Literatur eben diesen Raum der Möglichkeiten: »Halten wir uns bereit, die Gewöhnungen unseres Tages abzustreifen und das Vergangene wieder als Hort verscherzter und vergessener, aber lebendiger Möglichkeiten zu ehren. Nur so entrinnen wir natürlich der würdelosen Despotie des Zeitgeistes, nur so gewinnen wir jene Freiheit, die einzig der Raum der Geschichte gewährt.«

Irgendwo muss jedes Buch seinen Schlussstrich haben. Ich habe mich dafür entschieden, keinen Autor mehr aufzunehmen und zu berücksichtigen, der nach 1945 geboren wurde. Vielleicht gibt es intelligentere, sachbegründetere Kriterien, es ist jedoch letztlich gleich. Wer einen soliden und auch unterhaltsamen Überblick sucht, der ihm die Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute prägnant und mit dem Mut zum leidenschaftlichen Plädoyer und subjektiven Urteil vorstellt, möge zum Buch Lichtjahre von Volker Weidermann greifen.

München, im Juli 2006

Johannes Thiele

WARUM KLASSIKER LESEN?

Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.
Wir wollen weniger erhoben,
Und fleißiger gelesen sein.
GOTTHOLD EPHRAIM LESSING,
SINNGEDICHT AN DEN LESER

Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als – in den Lesebibliotheken.

Höre, was ich darin fand, und ich werde Dir ferner nichts mehr über den Ton von Würzburg zu sagen brauchen.

»Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.«

»Hier steht die Sammlung zu Befehl.«

»Etwa von Wieland.«

»Ich zweifle fast.«

»Oder von Schiller, Goethe.«

»Die möchten hier schwerlich zu finden sein.«

»Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen?«

»Das eben nicht.«

»Wer liest denn hier eigentlich am meisten?«

»Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen.«

»Und die unverheirateten?«

»Sie dürfen keine fordern.«

»Und die Studenten?«

»Wir haben Befehl ihnen keine zu geben.«

»Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers?«

»Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen.«

»Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek?«

»Wir dürfen nicht.«

»Was stehn denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden?«

»Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben.«

»So, so.«

HEINRICH VON KLEIST

DIE DICHTER

HARTMANN VON AUE

* um 1168

† um 1210

Minnelehre

Das Büchlein

Romane

Erek

Iwein

Verslegenden

Der arme Heinrich

Gregorius

Hartmann von Aue, der sich in kirchlicher Lehre ebenso auskennt wie in der Antike und der sogar bei einem Kreuzzug mit von der Partie ist, gilt als der Herold höfischer Klassik. Bei keinem anderen Dichter finden wir die Lehre der Minne so ausgefeilt und dichterisch umgesetzt wie bei diesem ritterlichen Poeten (Das Büchlein). Weibliche Erotik und männliche Abenteuerlust sind die Ingredienzien, aus denen Hartmann publikumswirksame Stoffe zur abendlichen Unterhaltung und Erbauung auf den Burgen schmiedet.

Maß und Zucht, Gesinnungsadel und Treue – die Grundwerte der höfischen Kultur des Mittelalters spiegeln sich auch in den beiden Epen Erek und Iwein, für die der französische Dichter Chrétien de Troyes mit seinen Dichtungen um die Ritter der Artusrunde die Vorlage liefert.

Erek beginnt wie ein traditionelles Ritterabenteuer: Der Held reitet aus, erringt die Geliebte und kehrt ehrenvoll an den Artushof zurück. Doch damit ist bei Hartmann die Geschichte nicht wie sonst üblich zu Ende, sondern beginnt erst: Der Held ist von der Liebe zu seiner Frau Enite so gefesselt und in Anspruch genommen, dass er darüber seine Pflichten als Ritter vernachlässigt. Als Enite eines Tages im Selbstgespräch ihre Unzufriedenheit und Enttäuschung über Ereks tatenloses Leben bei Hofe äußert, geht er auf Abenteuerfahrt, jedoch nicht ohne Enites Begleitung. In den sich steigernden Gefahren bewähren sich beide: Erek als Ritter, Enite als liebende Frau. Die Moral der Geschichte liegt auf der Hand: Es gilt, für Amour und Ehre das rechte Maß zu finden.

Moralischer geht es in der Legende Gregorius zu, in der Hartmann – beeindruckt von seinem Kreuzzugserlebnis – eine Büßergeschichte von Schuld und Gnade unter christlicher Perspektive erzählt. Auch die Erzählung Der arme Heinrich zeigt, dass die Bereitschaft zum Opfer Gottes Gnade bewirkt – ein Wechselspiel zwischen einem todkranken Ritter und einem Bauernmädchen, das sein Herzblut für die Genesung des Geliebten geben will.

Als direktes Gegenstück zum Erek kann Hartmanns letztes großes Epos gelten: Diesmal ist es nicht die Maßlosigkeit der Minne, die den Helden bedroht, sondern das Übermaß an Abenteuern. Iwein vergisst über seinen ritterlichen Aventiuren seine Gemahlin Laudine und verletzt das Gebot der Minne, aber auch Maß und Zucht. Als er sich bei weiteren Abenteuern und Kämpfen als Beschützer der Unterdrückten und Armen erweist, kann Laudine gar nicht anders, als ihm zu verzeihen.

WALTHER VON DER VOGELWEIDE

* um 1170

† um 1230

Gedichte

ca. 30 Textzeugnisse, u.a. in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift, der Manessischen Handschrift und der Weingartner Handschrift

Spruchdichtung

ca. 140 bis 150 überlieferte Sprüche

Unter der Linde
auf der Heide,
wo unser beider Bett war,
da könnt Ihr finden
sorgfältig beides
niedergedrückt: Blumen und Gras.
Vor dem Wald in einem Tal,
tandaradei,
sang schön die Nachtigall.
WALTHER VON DER VOGELWEIDE

Ja, Tandaradei – Leben und Lieben und Singen scheinen eins zu sein bei Walther von der Vogelweide. Doch schon zu Lebzeiten gilt er als an Vielseitigkeit, Wandlungsfähigkeit und Genialität unübertroffen. Der größte Lyriker und Dichter des Mittelalters ist ein fahrender Sänger, an vielen Höfen zu Gast, unbehaust und ruhelos, dessen Lieder nicht nur von Liebe und Verehrung des Weiblichen singen, sondern auch politische, kämpferische und kritische Themen zum Inhalt haben.

Walthers Songbook ist an den Höfen heiß begehrt, seine Spruchdichtung, seine Minnegesänge, seine Mädchenlieder, die dann von der höfischen Dorfpoesie weiterentwickelt werden. Sprachkraft, Bildung, Rittergeist zeichnen ihn aus. Politisch steht er ganz auf der Seite von Kaiser und Reich der Staufer, er gilt als guter Ratgeber und weiser Zeitkritiker. Doch so heftig er sich gegen den Machtanspruch der Papstkirche wehrt – Walther ist ein überzeugter Christ. Was ihn nicht davon abhält, unzählige Lieder über »herzeliebe frowelin« zu dichten und zu singen: »Nemt, frouwe, disen kranz« oder das berühmte sinnenfrohe Lied »Under der linden«.

Mit der höfischen Liebe zur verführerischen Grande Dame kennt er sich ebenso aus wie mit der Liebe zum einfachen Mädchen vom Land, dessen Schönheit er preist, das ihm seine Liebe schenkt und dessen gläsernes Ringlein ihm lieber ist als das Gold der Königin. Heiter sind diese Lieder, gelöst, voll warmer Empfindung. Sie durchbrechen die Künstlichkeit der höfischen Poesie.

Die höfische Form ist auch Maßstab für die Spruchdichtung Walthers: In satirisch-polemischer Art und Weise nimmt er Stellung zu aktuell-politischen Fragen, verunglimpft er seine Feinde. Verschiedene Fürstenhöfe sind die wichtigsten Bezugspunkte der Sprüche, in denen virtuos Politik in Dichtung umgesetzt wird. Die Stilisierung des Sängers, der sein Publikum unmittelbar in Bann zieht, ist ein ebenso wichtiges Ausdrucksmittel wie die anschauliche Bildsprache, die Eindringlichkeit, Lebendigkeit und nicht zuletzt der auf Witz bedachte Effekt, der stets eine finale Pointe hervorruft. Nach Walthers Attacken auf den Papst stellt Thomasin von Zerklaere fest: »Er hat tausend Menschen verwirrt.«

Mit zunehmendem Alter wird Walther immer resignierter und entsagender. Die frühere übermütige Lebensfreude ist fast gänzlich verschwunden, als der Verfall und der beginnende Niedergang des Reiches unübersehbar werden. Der Glanz der Schönheit und der Lebensfreude ist trügerisch geworden. Als Walther seine Augen schließt, scheint eine ganze Welt unterzugehen.

WOLFRAM VON ESCHENBACH

* um 1170/1180

† um 1220

Gedichte

Minnelieder

Epen

Parzival

Willehalm

Titurel

Wenn Ritterschaft, sprach Parzival,

zugleich der Seele Seligkeit

sich samt des Leibes Ruhm im Streit

erjagen kann mit Schild und Schwert –

stets hab’ ich Ritterschaft begehrt.

Ich stritt, wo ich zu streiten fand;

auch sind die Taten meiner Hand

vom Ruhme nicht mehr allzu weit.

Versteht sich Gott auf rechten Streit,

so soll er mich zum Gral ernennen.

Fürwahr, sie sollen mich bald kennen:

Wer Kampf sucht, findet ihn bei mir.

WOLFRAM VON ESCHENBACH, PARZIVAL

Wolfram von Eschenbach ist der Dichter des Parzival. Damit ist eigentlich alles gesagt. Denn mit diesem viel gelesenen und weit verbreiteten höfisch-ritterlichen Versroman gelingt ihm – obwohl er den allerdings fragmentarischen Perceval von Chrétien de Troyes verarbeitet – literarisch etwas völlig Neues und Eigenes: nicht nur eines der anspruchsvollsten Großepen des Mittelalters, sondern auch ein früher »Entwicklungsroman« der Weltliteratur.

Wolfram verknüpft zwei Erzählschichten miteinander: den Artuskreis und die Gralssage. Und folgerichtig verläuft die Entwicklung des jugendlichen Helden vom ahnungslosen Knaben zum Artusritter und schließlich zum Hüter des Grals.

Nach dem frühen Tod seines Vaters wächst Parzival bei seiner Mutter Herzeloyde in der Waldeinsamkeit auf. Als Jüngling zieht Parzival aus, den Hof von König Artus zu suchen, wo er nach manchen Abenteuern und Mutproben – unter anderem dem Kampf gegen den Roten Ritter – aufgenommen wird. Doch da er auf seinem Weg über die Gralsburg versäumte, nach dem Grund für die Trauer dort – das Leiden von König Amfortas – zu fragen, wird er von der Gralsbotin Kundry aus der Tafelrunde ausgeschlossen und verflucht. Jahrelang zieht Parzival nun unruhig durch die Welt, von Hader gegen Gott und sein Schicksal erfüllt. Bei dem Klausner Tevrizent versöhnt er sich mit Gott und wird dafür mit der Einführung in das Gralsgeheimnis belohnt. Auf der Gralsburg stellt er die erlösende Frage, Amfortas wird geheilt und Parzival Hüter des Grals.

Eine Fülle einzelner Episoden strukturiert dieses Epos, Parzival begegnet zahlreichen Gestalten, unter anderem dem kämpferischen und mit Abenteuern glänzenden Artusritter Gawan. Doch er wächst auch über die höfisch-ritterliehe Welt hinaus: Irrtümer, Zweifel, Umwege führen ihn schließlich zu Gott. Sein Weg kann als Analogie zur Heilsgeschichte – Unschuld, Sündenfall, Erlösung – gelesen werden. So werden Göttliches und Menschliches vereinigt: »Wer sein Leben so beendet, dass er Gottes Huld nicht durch Hingabe an die Lust der Welt verloren, dabei aber auch sich in der Welt in Ehren bewährt hat, der hat recht gelebt« (Schluss des Epos).

Wolframs weitere Epen sind fragmentarisch geblieben: Im Titurel erzählt er die zarte und tragische Liebesgeschichte der schönen Sigune, die ihrem toten Verlobten die Treue hält; im Willehalm berichtet er vom Kampf gegen die heidnischen Sarazenen, wobei aus dem Glaubenskampf schließlich ein Epos der Menschlichkeit wird.

Wolframs Sprache unterscheidet sich wesentlich vom Stil Hartmanns von Aue – sie ist bildhaft, reich an Pointen, auch ironisch. Dieser wirkungsreichste deutschsprachige Dichter des Mittelalters ist mehr als »nur« ein Ritterdichter. Der Stoff des Parzival inspiriert Richard Wagner zum Libretto einer seiner besten Opern. Und Wolfram selbst tritt als Figur gleich in zwei Wagner-Opern auf: im Tannhäuser und in den Meistersingern.

ANDREAS GRYPHIUS

* 2. Oktober 1616 Glogau

† 16. Juli 1664 Glogau

Gedichte

Sonn- und Feiertagssonette

Teutsche Reimgedichte

Dramen

Leo Arminius oder Fürstenmord

Catharina von Georgien

Cardenio und Celinde oder Unglücklich Verliebte

Großmüthiger Rechts-Gelehrter oder Aemilius Paulus Papinianus

Absurda Comica oder Herr Peter Squentz

Horribilicribrifax

Das Leitmotiv seiner Gedichte ist das christliche Symbol von der Vergänglichkeit des Menschen und der Eitelkeit alles Irdischen. Dieses ursprünglich religiöse und fast kirchlich-dogmatische Gefühl vertieft sich in seinen Sonetten grandios künstlerisch zur Weltanschauung einer erschütternden Resignation und eines erhabenen schmerzlichen Pessimismus. Klabund

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden,
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferkind wird spielen mit der Herden.
ANDREAS GRYPHIUS

Mit Andreas Gryphius sind wir mitten im pathetisch-religiösen Hochbarock. Die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges schildert Gryphius, der auch als Begründer des deutschen Trauerspiels gilt, aus innerer Bewegung und Ergriffenheit. Das Gefühl der Nichtigkeit der Welt und der Vergänglichkeit des Lebens – zum Beispiel in den Gedichten mit Vanitas-Thematik – veranlasst ihn jedoch nicht zu weltabgekehrter Passivität. Es ist der Glaube an eine höhere und bessere Welt, die ihn treibt und motiviert und Hoffnung für den sich über das Irdische erhebenden Menschen schöpfen lässt.

In seiner Lyrik beschwört Gryphius leidenschaftliches Bewusstsein von Vergänglichkeit, düsterem Ernst und glaubensfester Religiosität. Auch seine Dramen zwischen Himmel und Hölle sind reich an Affekten, doch ohne tragische Spannung, und behandelt die tiefe Skepsis gegenüber der Welt und die Standhaftigkeit des gewissenhaften Menschen.

Seine zur Posse neigenden Lustspiele schließlich zeigen Gryphius von einer lockeren Seite: Hier werden die Gegensätze von Sprachen und Milieus verspottet. Die Absurda Comica wirkt wie englisches Komödiantenspiel und zeigt – ganz ähnlich wie Shakespeares Sommernachtstraum – rüpelhafte wie eifrige Handwerker auf der Bühne »Pyramus und Thisbe« spielen. Der Horribilicribrifax schließlich ist eine amüsante Karikatur der Großsprecherei und des Kauderwelschs, des Phrasendreschens und der Halbbildung, »die sich als Folge der Überschätzung alles Militärischen besonders beim Offiziersstand bemerkbar macht. Der aufschneiderische Maulheld Horribilicribrifax ist eine köstliche Figur, die man heute noch leibhaftig herumlaufen sehen kann« (Klabund).

HANS JACOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN

* 12. März 1621 Gelnhausen

† 17. August 1676 Renchen (bei Offenburg)

Romane

Dietwalts und Amelinden anmuthige Liebs- und Leidsbeschreibung

Schwartz und Weiß oder der Satirische Pilgram

Der seltzame Springinsfeld

Das wunderbarliche Vogelnest

Courasche

Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch

»Das ist:

Die Beschreibung des Lebens eines seltzamen Vaganten

genannt Melchior Sternfels von Fuchshaim

wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen

was er darinn gesehen

gelernet

erfahren und außgestanden

auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig

und männiglich nutzlich zu lesen.«

Hier haben wir gleich den typischsten aller Barocktitel vor Augen. Und in barocker Überfülle erzählt Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, schon als Kind in die Kriegswirbel hineingezogen, dann Trossbube und Musketier, die abenteuerliche, mitunter krasse, unverbildete, lebensnahe Geschichte aus dem »großen Krieg« und überwindet damit – nicht zuletzt durch den im Mittelpunkt stehenden Pikaro, dem Burschen aus dem Volk – gleich auch den höfisch-galanten Stil.

Im Gegensatz zum höfischen Epos betrachtet der Schelmenroman nämlich die Welt von unten, aus der Perspektive der Unterdrückten, der kleinen Leute. In der Form der fiktiven Autobiographie ist der Simplicissimus der große volkstümliche, zeitüberdauernde Roman des unbekannten Deutschen im Dreißigjährigen Krieg, der aus der Sicht eines verwegenen Helden, aus der Mitte der Soldaten, Bauern und Kleinbürger geschildert wird: Gespräche und Geschichten, farbige Berichte ländlichen Lebens und städtischer Kultur, soldatischen Lagertreibens, ziehender Landsknechthaufen, der Belagerungen, Kämpfe, Listen und Überfälle, marodierenden und sengenden Horden, der Leiden und Drangsale, der Tränen und des Gelächters einer aus den Fugen geratenen, chaotischen Zeit.

Diese unbekümmerte Mischung aus Drastik und Derbheit erinnert an Schwanksammlungen, doch christliche Gläubigkeit und idyllisch spielende Phantasie sprengen alle Kategorien. Grimmelshausen, der »mit Lachen die Wahrheit sagen« will, bietet Satire, Fantasy und sogar eine Robinsonade, außerdem eine Menge Märchen und Schwänke, so dass das Ganze sich wie ein Geschichtenbuch fürs Lagerfeuer liest, wäre da nicht die große Moral vom Krieg als dem Bild für die Unbeständigkeit alles Irdischen. Und würde im Simplicissimus nicht auch der große Traum von einem künftigen, einigen, friedvollen Deutschland geträumt.

ANGELUS SILESIUS

* 25. Dezember 1624 Breslau

† 9. Juli 1677 Breslau

Mystische Schriften

Geistreiche Sinn- und Schlußreime

Cherubinischer Wandersmann

Die heilige Seelenlust

Du mußt zum Kinde werden

Mensch, wirst du nicht ein Kind, so gehst du nimmer ein,

Wo Gottes Kinder sind: die Tür ist gar zu klein.

Ohne warum

Die Ros’ ist ohn’ warum; sie blühet weil sie blühet,

Sie acht’ nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.

ANGELUS SILESIUS, CHERUBINISCHER WANDERSMANN

Johann Scheffler, genannt Angelus Silesius (»schlesischer Bote«), kreist in seinen knappen, pointiert zugespitzten Epigrammen um das Geheimnis des Innewohnens Gottes in der Seele, der mystischen Erfahrung des Einswerdens der Seele mit dem Göttlichen als dem Grund und Ziel aller Religion. Sein Cherubinischer Wandersmann versammelt meist zweizeilige Aphorismen in sprachlicher Vollendung, die den christlichen Glauben mystisch ausdeuten und in geistreichen Formulierungen und paradoxen Zuspitzungen beim Leser kleine Erleuchtungen bewirken.

In dieser epigrammatischen Versschmiede zeigt sich Silesius’ einzigartige Kunst: So wie sich der Mystiker in das innere Selbst versenkt und in der Berührung der Gegensätze, die in Gott aufgehoben werden, die »Unio mystica« im Göttlichen ersehnt, in der letztlich Ort und Zeit und Begriffe keine Rolle mehr spielen, so wird hier das unaussprechliche mystische Erlebnis – das Aufgehen im Unendlichen – in kühnen Bildern und verblüffenden Formulierungen nachvollziehbar.

CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT

* 4. Juli 1715 Hainichen (Sachsen)

† 13. Dezember 1769 Leipzig

Gedichte

Geistliche Lieder und Oden

Prosa

Fabeln und Erzählungen

Dramen und Schäferspiele

Die zärtlichen Schwestern

Das Los in der Lotterie

Das Band

Sylvia

Roman

Das Leben der schwedischen Gräfin von G.

Programmschriften

Pro comoedia commovente (Für das rührende Lustspiel)

Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen

Moralische Vorlesungen

Unstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert der einzige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemälde, in denen man gleich zu Hause ist. Gotthold Ephraim Lessing

Wer heute die Texte Christian Fürchtegott Gellerts liest, wird kaum noch ermessen können, welche ungeheure Popularität sie zu ihrer Zeit gehabt haben. Seine Fabeln und Erzählungen sind zweifellos das beliebteste und populärste Buch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; es wird in fast alle Kultursprachen übersetzt. Diese flüssig geschriebenen und locker komponierten Versgeschichten sind von geradezu anmutiger Liebenswürdigkeit und dienen der Unterhaltung und Belehrung; sie bieten bisweilen aber auch humorvolle Satire gegen Freigeisterei, Modetorheiten, Charakterfehler und propagieren bürgerliche Genügsamkeit, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit. Das Leben der schwedischen Gräfin von G. ist eines voller Schicksalsschläge, die mit der Gelassenheit des aufgeklärten Christen hingenommen und überwunden werden.

So kann dieser bescheidene, später ständig kränkelnde Professor der Rhetorik zurecht als einer der wichtigsten Autoren der deutschen Aufklärung gelten – ganz nach dem Geschmack seiner Zeit. Man liebt seine moralischen Histörchen mit praktischem Nutzen über alles. Sie sind die eigentlichen Transmitter bürgerlicher Moral, die beharrlich gegen das Laster kämpft. Auch in seinen Lustspielen kommt es Gellert weniger darauf an, sein Publikum zu unterhalten und zu amüsieren, als es zu »rühren« und Vernunft und Gemüt zum Ausgleich zu bringen. So werden Gegensätze harmonisiert, Mäßigung und Gelassenheit erreicht: Geliert als der große Didaktiker, der das Gestelzte und Gezierte früherer Zeiten hinter sich lässt und seine Leserinnen und Leser mit Natürlichkeit zu überzeugen weiß. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts ist Geliert nurmehr eine Figur der Literaturgeschichte.

FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK

* 2. Juli 1724 Quedlinburg

† 14. März 1803 Hamburg

Gedichte

Ausgewählte Oden und Elegien (u.a. Die Frühlingsfeier, Der Eislauf, Dem Erlöser, Der Zürcher See)

Versepos

Der Messias

Aufsätze und Abhandlungen

Von der Sprache der Poesie

Die deutsche Gelehrtenrepublik

Von dem Fehler, andere nach sich zu beurteilen

Vom Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften

Von der Freundschaft

Gedanken über die Natur der Poesie

Man ist gegenwärtig sehr geneigt, Lessing als den Ausgangspunkt unserer Literatur hinzustellen. Das ist aber nicht wahr. Der Vater unserer Literatur ist Klopstock. Er hat zuerst den Funken der Begeisterung in die träge und pedantische Masse geworfen. Franz Grillparzer

Im Frühlingsschatten fand ich sie;

Da band ich sie mit Rosenbändern:

Sie fühlt’ es nicht und schlummerte.

Ich sah sie an; mein Leben hing

Mit diesem Blick’ an ihrem Leben:

Ich fühlt’ es wohl, und wüßt’ es nicht.

Doch lispelt’ ich ihr sprachlos zu,

Und rauschte mit den Rosenbändern:

Da wachte sie vom Schlummer auf.

Sie sah mich an; ihr Leben hing

Mit diesem Blick’ an meinem Leben,

Und um uns ward’s Elysium.

FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK, DAS ROSENBAND

Aus einem pietistischen Elternhaus stammend, macht sich Friedrich Gottlieb Klopstock die Ideale der Unabhängigkeit zu eigen, wird 1792 sogar zum Ehrenbürger der Französischen Revolution ernannt. Ohne die hochgestimmte Gefühls- und Sprachgewalt seiner Lyrik sind weder die Gedichte des jungen Goethe, noch die Rilkes und Georges denkbar. Er bevorzugt die Ode, die Hymne, das Versepos – Genres, die heute nicht mehr hoch im Kurs stehen und rasch den Eindruck aufkommen lassen, es mit einem langweiligen Poeten zu tun zu haben, dessen Dauererregung uns nur noch ebenso kurios vorkommt wie die seherische Phantasie, das begeisterte Lebensgefühl, die patriotische Begeisterung.

Doch Klopstock bringt einen ganz neuen Ton in die Literatur: die Offenbarung der Gefühle. Sich freizumachen von moralischer Autorität und sich ohne Sündenbewusstsein der Größe und Schönheit der Schöpfung hinzugeben, sich mit Gleichgesinnten in Freundschaftsbünden zusammenzufinden – von diesem Programm geht eine bezwingende Wirkung aus. Es wirkt wie ein Zündholz im vertrockneten Literaturgehölz.

Wollte die Aufklärung den Leser bloß belehren oder allenfalls noch belustigen, so soll er jetzt in seiner Existenz getroffen werden, emporgehoben aus seiner Misere, wahrhaft erschüttert. Empfindsame Betrachtung und mitleidvolle Ausmalung wollen die Seele durch erhabene Vorstellungen und Gefühle erwecken. Es werden die ganz großen Themen gesetzt: Gott und Natur, Freundschaft und Liebe, Freiheit und Vaterland, Tod und Ewigkeit.

Klopstock wendet sich an das Gemüt, an die Seele, kraftvoll und weltbejahend steigert er den religiösen Gefühlskult. Sein Glaube an die Bestimmung des Menschen zu Freiheit und Größe manifestiert sich zum Beispiel in der hymnischen Naturschilderung der Friihlingsfeier. Dichtung wird zum »heiligen Beruf«, der Dichter zum religiösen Seher und patriotischen Propheten.

Die Frühlingsfeier wirkt bis zu Goethes Werther: »Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: ‚Klopstock!’ Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.« Das war die Wirkung dieses Dichters, so wenig nachvollziehbar uns dies heute vorkommen mag. Große Gefühle. Bigger than life.

Dichtung wird jetzt zum Erlebnis, stärker denn je. Der Griff zu antiken Versmaßen ermöglicht Klopstock enthusiastische Gefühlsaufschwünge, neue Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache durch mehr Musikalität, größere Klangfülle, durch neu geprägte Bilder und Wörter. Sein Messias – der Miltons Verlorenes Paradies zum Vorbild nimmt – schildert in pathetischer und ekstatischer Sprache Leiden und Triumph Christi. Aber weniger die biblischen Geschehnisse zählen, als vielmehr die Gedanken, Gefühle und Empfindungen und Gefühle der Jünger und Engel und aller Mitspieler des großen Passions- und Erlösungsdramas, das sich auf einer kosmischen Bühne vollzieht, auf der Geisterchöre von Himmel und Hölle mitwirken.

In bewusster Abwendung vom spielerischen Rokoko hält hier hymnischer Ernst Einzug in die Literatur und beeinflusst in der überstarken Betonung von emotionaler Erlebnisfähigkeit vor allem den Sturm und Drang.

Klopstock, erfüllt von der Utopie eines deutschen Geisteslebens, mag uns heute mit seiner spirituellen Sinnlichkeit und vollkommenen Künstlichkeit der Sprache ferngerückt sein wie kaum ein anderer Dichter. Zu seiner Zeit war die Gefühls- und Sprachgewalt seiner freirhythmischen Poesien ein absoluter Höhepunkt der literarischen Artikulation.

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

* 22. Januar 1729 Kamenz (Sachsen)

† 15. Februar 1781 Braunschweig

Dramen

Der junge Gelehrte

Der Freigeist

Miss Sara Sampson

Die Juden

Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück

Emilia Galotti

Nathan der Weise

Prosa

Fabeln

Ästhetische Schriften

Briefwechsel über das Trauerspiel

Briefe, die neueste Literatur betreffend

Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie

Hamburgische Dramaturgie

Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt

Leben und leben lassen

Kritische und philosophische Schriften

Das Christentum der Vernunft

Uber die Wirklichkeit der Dinge außer Gott

Anti-Goeze

Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können

Die Erziehung des Menschengeschlechts

Merkwürdig ist es, daß jener witzigste Mensch in Deutschland auch zugleich der ehrlichste war. Nichts gleicht seiner Wahrheitsliebe. Lessing machte der Lüge nicht die mindeste Konzession, selbst wenn er dadurch, in der gewöhnlichen Weise der Weltklugen, den Sieg der Wahrheit befördern konnte. Heinrich Heine

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist

oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die

er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht

den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz,

sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern

sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende

Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge,

stolz.

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

Mit Gotthold Ephraim Lessing haben wir nicht nur den aufklärerischen Schriftsteller par excellence vor uns, sondern zugleich den Überwinder des rationalen Klassizismus. Er ist die treibende Kraft des Literaturbetriebs seiner Zeit – als Autor von Tragödien, Komödien, Fabeln und Gedichten, als Literaturtheoretiker und Kritiker, als Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker, als philosophischer und theologischer Denker.

An Lessing führt kein Weg vorbei, nicht an seiner hohen Moralität, nicht an seiner Humanität, nicht an seiner Toleranz. Auf ihn haben sich alle berufen, ihn haben sie alle für sich vereinnahmt, der bürgerliche Liberalismus ebenso wie der nationalbewusste Konservatismus, ja selbst der frühe Sozialismus. Und als Begründer der Literaturkritik gilt er auch. Bewundert wird sein schmuckloser, aber auch phrasenloser, schöner Stil, dessen Einfachheit imponiert. Lessing kommt ohne Mythologie und Empfindsamkeit aus, den Hilfskonstruktionen der Literatur seiner Zeit. Er ist ganz klar und schnörkellos, unprätentiös und in jeglicher Hinsicht beeindruckend.

Dem Drama gibt Lessing völlig neue Impulse: Er will in Anschluss an die aristotelische Tragödientheorie Emotionen wecken, Furcht, Mitleid, schließlich Katharsis, die Reinigung der Leidenschaften. Der Zuschauer soll sich mit dem Helden identifizieren, mit ihm fiebern und mit ihm leiden und zugleich von der Furcht ergriffen werden, das gleiche Unglück könne auch ihn treffen. Doch diese Absicht ist nur zu verwirklichen, wenn der Held nun kein unerreichbares Ideal mehr verkörpert, sondern realistisch gezeichnet wird, als ein »gemischter Charakter«, der nicht mehr nur völlig gut oder völlig böse angelegt ist. Nicht eine naturalistische Wiedergabe ist das Ziel, sondern die poetische Wahrheit, die der Dichter aufzuzeigen habe.

Damit bestimmt Lessing die Funktion der Literatur neu und eröffnet neue künstlerische Möglichkeiten. Er wertet den Dichter auf, der erstmals als künstlerisches Subjekt begriffen und legitimiert wird.

Nach wie vor beherrschen Tragödien und bürgerliche Dramen den Spielplan, das effektvolle Rokoko-Lustspiel Minna von Barnhelm, deren Konflikt sich glücklich löst, ist eine der wenigen Komödien auf den Bühnen der damaligen Zeit. Mit Gespür für publikumswirksame Konstellationen lässt Lessing Liebe und Ehre aufeinandertreffen: Die grazil-heitere und anmutige Titelheldin, ihre schelmisch-listige und gewandte Kammerzofe Franziska, der allzu korrekte Major Tellheim, der ehrliche Grobian Just – sie alle sind lebhaft und echt empfunden, keine Abziehbilder oder Pappfiguren. Und auch die wendigen, scharfzüngigen Dialoge geben dem Stück zusammen mit dem dramaturgisch angelegten Spielwitz eine noch heute überzeugende Vitalität.

Aus dem Trauerspiel Emilia Galotti