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PHILIPP KÖSTER

Lötzsch

Der lange Weg eines Jahrhunderttalents

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Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents.

Mit einem Vorwort von Wolfgang Lötzsch.

Covadonga Verlag, 2012

3., erweiterte Ausgabe

ISBN Print 978-3-936973-72-3

ISBN E-Book (ePub) 978-3-936973-81-5

© Philipp Köster – 2004, 2012

ist nicht Bestandteil der E-Book-Ausgabe.

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

INHALT

Vorwort von Wolfgang Lötzsch

Prolog

Ein Zettel mit blauer Tinte

Damenrad im Schulausscheid

Ideale Hebelverhältnisse

Letzte Ausfahrt Karl-Marx-Stadt

Also zerstören wir!

Gänsehaut und Butterbemme

Achtlos liegen gelassen

Bis zur Klärung des Sachverhalts

Eine veränderte Sachlage

Gretchenfrage am Amalienpark

Der lange Polterabend

Acht Quadratmeter Kaßberg

Ein positives Umfeld

Persönliche Aussprachen

Ein verlockendes Angebot

Knüppelpflaster und ein Kofferradio

Kandidat der Arbeiterklasse

Eine neue Welt

Aufrecht im Sattel

Eine Karriere in Zahlen

Quellenhinweis

Der Autor

Vorwort

Am 25. Mai 2012 ist etwas Besonderes passiert. Die Deutsche Sporthilfe hat mich in die »Hall of Fame des deutschen Sports« aufgenommen, als einen von nur vier Radsportlern. Kurt Stöpel, der erste deutsche Etappensieger bei der Tour de France, der Sechstage-Spezialist Gustav Kilian, Albert Richter, der Sprintweltmeister auf der Bahn, und ich – Wolfgang Lötzsch aus Chemnitz.

Ich weiß, dass ich nicht die Erfolge errungen habe, die sonst Bedingung sind, um in den Kreis der größten deutschen Sportler aufgenommen zu werden. Umso mehr freut es mich, dass die Jury anerkannt hat, dass ich für meine Überzeugungen, für mein Beharren auf die Freiheit des Einzelnen, auf manch einen sportlichen Triumph verzichtet habe. Und dass ich, wenn ich entsprechend gefördert worden wäre, vieles mehr hätte erreichen können. Davon bin ich überzeugt und die Jury offenbar auch.

Dieses Buch erzählt meine Geschichte. Es ist die Geschichte eines jungen Menschen mit unbändiger Freude am Radfahren, mit Talent und Beharrlichkeit. Es ist aber auch eine Geschichte eines Staates, der freie Geister nicht erträgt und der diesen jungen Menschen vergeblich mit Gefängnis, Isolation und Bespitzelungen zu brechen versuchte.

Mancher glaubt, das Interesse der jungen Generation an der Geschichte der DDR lasse nach, das Leben im real existierenden Sozialismus sei inzwischen nur noch graue Vergangenheit. Ich erlebe das Gegenteil. Wenn ich zu Vorträgen an die Schulen komme und den Jugendlichen von meinem Leben als Radsportler in der DDR erzähle, dann ist es mucksmäuschenstill in den Schulbänken. Ich werde dann oft gefragt, was ich heute empfinde und ob ich heute wieder so handeln würde wie damals. Das ist eine Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Damals war ich mir nicht immer sicher, dass ich durchhalte. Heute bin ich stolz darauf, dass ich meinen Weg gegangen bin. Dass sie mich nicht kleingekriegt haben und dass ich anständig geblieben bin.

Es sind nicht nur die Schüler, die sich interessieren. Neulich wurden während der Chemnitzer Museumsnacht erstmals die Gebäude des alten Stasi-Gefängnisses gezeigt, in dem auch ich längere Zeit inhaftiert war. Um 18 Uhr, als die Tore geöffnet wurden, drängelten sich bereits mehrere hundert Menschen. Und die Schlange der Wartenden riss bis um zwei Uhr nachts nicht ab. Was uns zeigt, dass wir die Erinnerung lebendig halten müssen. Nur wenn wir die Geschichte verstehen, können wir verhindern, dass sie sich wiederholt.

Diejenigen, die mich damals bespitzelt und Berichte geschrieben haben, hat das Buch nicht dazu bewegt, das eigene Handeln von damals zu hinterfragen. Noch immer hat kein Einziger der über fünfzig Inoffiziellen Mitarbeiter das Gespräch mit mir gesucht, noch immer hat sich kein Einziger bei mir entschuldigt.

Früher hat mich das Schweigen der Täter beschäftigt. Heute gehe ich gelassen damit um. Weil sie ihr Ziel, mich kleinzukriegen, nicht erreicht haben. Um den Schlusssatz des Buches zu zitieren: Ich sitze aufrecht im Sattel.

Wolfgang Lötzsch

Chemnitz, im Juni 2012

Prolog

Wenn Wolfgang Lötzsch nicht mehr nachdenken möchte, dann setzt er sich auf sein Fahrrad und fährt seine Lieblingsstrecke über Weißbach und Scharfenstein nach Schmalzgrube und zurück. Nicht mehr nachdenken darüber, was gewesen wäre, wenn…

Wenn er damals im Jahre 1971 in die SED eingetreten wäre. Wenn sein Vater nicht gegenüber Funktionären gesagt hätte, es gäbe in der DDR keine Pressefreiheit. Wenn nicht gleichzeitig der Eiskunstläufer Günter Zöller in den Westen geflüchtet wäre. Und wenn nur ein Funktionär des Sportclubs Karl-Marx-Stadt ihm vertraut hätte. Vielleicht wäre Wolfgang Lötzsch heute ein ehemaliger Weltmeister, ein Olympiasieger, ein mehrfacher Gewinner der Friedensfahrt. Ein Sportidol, weit über Chemnitz und Deutschland hinaus bekannt.

Wolfgang Lötzsch hatte alle Anlagen. Er war ein Jahrhunderttalent. »Das größte Talent der DDR«, sagt der ehemalige Nationaltrainer Wolfram Lindner noch heute. Aber dann erschien er dem Staat, für den er Medaillen holen sollte, als nicht mehr zuverlässig. Erst stieß man ihn aus, dann schikanierte und bespitzelte man ihn und schließlich steckte man ihn ins Gefängnis. Die Akte des Wolfgang Lötzsch bei der Staatssicherheit umfasste 1.500 Seiten Papier. Schwarz auf weiß steht darin, wie er binnen Jahresfrist vom Hoffnungsträger zum Staatsfeind wurde. Wie ihn Freunde verrieten und Arbeitskollegen verpfiffen. Aber auch, wie sehr der Staat ihn gefürchtet hat.

Denn Lötzsch ist nicht zerbrochen wie so viele vor und nach ihm. Er hat dem Staat die Stirn gezeigt. Er ist weiter Rad gefahren – gegen die Nationalfahrer und gegen den inneren Schweinehund. Er hat Rennen gewonnen, die nicht zu gewinnen waren, mit einem zwanzig Jahre alten Rahmen gegen die hochgerüstete Konkurrenz. Und er hat widerstanden, als sie ihn großzügig wieder aufnehmen wollten, wenn er nur mit ihnen zusammenarbeiten würde. Er hat widerstanden. Aber er hat einen hohen Preis gezahlt. Weil es verlorene Jahre waren. Im Westen wäre Wolfgang Lötzsch reich geworden, im Osten berühmt.

Heute hat er sein Auskommen und ein Haus in Chemnitz. Und der Radsport hat ihn nicht losgelassen. Als Mechaniker im Profi-Team Gerolsteiner wartet er die Räder solcher Stars wie Davide Rebellin, Georg Totschnig und Danilo Hondo. »Ich bin zufrieden«, sagt er. Es ist nicht die Gegenwart, die schmerzt.

Wolfgang Lötzsch tritt energisch in die Pedale, fährt über Weißbach, Scharfenstein nach Schmalzgrube. Das Gesicht im Wind, die Sonne in den Speichen. Und kein Gedanke mehr an 1.500 Seiten Papier.

Ein Zettel mit blauer Tinte

Es ist März geworden im Jahre 1992, und Wolfgang Lötzsch hat nun doch einen Antrag auf Einsicht in seine Akte gestellt. Weil ihn Freunde gedrängt haben, weil sein langjähriger Weggefährte Wolfgang Schoppe auch schon einen solchen Antrag gestellt hat, weil es wohl einfach an der Zeit ist. Rund zwanzig Jahre ist es nun her, dass alles begann, nun will er wissen, warum alles so gekommen ist. Eines Tages liegt ein Schreiben von Joachim Gauck, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, im Briefkasten. Die Akteneinsicht ist genehmigt, wird Wolfgang Lötzsch mitgeteilt. Nun wartet er voller Ungeduld auf einen Termin.

Seine Akte, das weiß er, liegt im Jagdschänkenweg in Chemnitz, in einem achtgeschossigen Hochhaus, in dem früher die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt der Staatssicherheit residierte. Inzwischen verwaltet dort eine Außenstelle der Gauck-Behörde deren Nachlass und die Akten.

Lötzsch kennt das Gebäude, sie haben ihn schließlich oft genug dorthin vorgeladen. Als er in der Außenstelle anruft, um einen Termin zu vereinbaren, fragt er die Sachbearbeiterin, bis wann denn geöffnet sei. »Wir schließen um vier Uhr«, antwortet sie und Lötzsch sagt leichthin: »Dann komme ich um halb vier vorbei!« Da bittet die Sachbearbeiterin um eine Sekunde und schaut in ihrer Liste nach dem Namen »Lötzsch, Wolfgang« und nach den Beständen. Dann sagt sie langsam: »Ich denke, Sie sollten etwas mehr Zeit mitbringen.« Und wie sie das so sagt, da denkt Wolfgang Lötzsch auch, dass das wahrscheinlich am besten ist.

Am Abend vor dem Termin in der Außenstelle sitzt er im Wohnzimmer seines Hauses am Chemnitztalweg und kann die bangen Gedanken nicht mehr verscheuchen. Wer mag wohl Berichte über ihn geschrieben haben? Waren es Arbeitskollegen? Andere Radsportler? Ihm fällt ein Mitarbeiter des Sportclubs Karl-Marx-Stadt ein und ein Teamkollege aus der Betriebssportgemeinschaft, der immer argwöhnisch nachfragte »Wo hast du denn das her?«, wenn Wolfgang Lötzsch wieder einmal mit neuen Ersatzteilen aus dem Westen zu einem Rennen kam. Aber sonst? Vielleicht haben ihn Freunde bespitzelt? Er grübelt noch bis spät in die Nacht und ist dann beruhigt. Es fällt ihm niemand ein – beim besten Willen nicht.

Am nächsten Tag ist Wolfgang Lötzsch überpünktlich im Jagdschänkenweg. Er meldet sich an der Pforte, die Sachbearbeiterin holt ihn ab und führt ihn in ihr Büro in der zweiten Etage. Dort erklärt sie ihm, wie mit den Akten nach dem Gesetz verfahren wird: Dass er kein einziges Blatt Papier aus seiner Akte mitnehmen darf, aber alles kopieren lassen kann. Und dass noch lange nicht alle Decknamen der Inoffiziellen Mitarbeiter bereits entschlüsselt sind. »Das wird noch dauern«, sagt sie: »Wir stehen da gerade erst am Anfang.«

Wolfgang Lötzsch nickt, dann führt sie ihn ins Lesezimmer der Außenstelle, seine Akte liegt dort bereits auf dem Tisch. Er hat mit einer umfangreichen Akte gerechnet, 500 Seiten dick vielleicht. Doch die Akte »Lötzsch, Wolfgang« besteht aus fünf prall gefüllten Ordnern mit 1.500 Seiten Papier – fein säuberlich abgeheftet. Es sind zahllose Vermerke, Anordnungen, Berichte, Abschriften, Fotos, Protokolle und Notizen.

Wolfgang Lötzsch setzt sich auf einen Stuhl und beginnt zu lesen. Es ist eine Reise zurück in seine Jugend und Kindheit. Ein Vermerk über die Herkunft seiner Eltern liegt zuoberst, dann ein Fragebogen, den die Eltern einst ausfüllen mussten, damit der zwölfjährige Wolfgang auf die Kinder- und Jugendsportschule wechseln durfte. Auch Aktennotizen über die entscheidende Sitzung des Sportclubs Karl-Marx-Stadt finden sich, anschließend wurde er aus dem Verein geworfen. Jede Seite liest er sorgfältig und Zeile für Zeile. Es ist bereits später Nachmittag, draußen wird es schon dunkel, und Wolfgang Lötzsch hat nicht einmal hundert Seiten seiner Akte gelesen. Er muss wiederkommen, um weiterzulesen.

Mit vielen Namen im Kopf fährt er nach Hause. Er weiß jetzt, dass sein Trainer Roland Kaiser »Siegfried Polland« hieß, dass sich der Direktor der Jugendsportschule Bernd Egert den Namen »Remmert« gab und dass Karl-Heinz Koschmieder, der gutmütige Masseur im Sportclub Karl-Marx-Stadt, bei der Staatssicherheit unter dem Namen »Andreas Schmied« geführt wurde. Auch seine Chefin in der Gärtnerei hat Berichte über ihn geschrieben und zwei Mitstudenten an der Technischen Universität Karl-Marx-Stadt. Manche Klarnamen von Informellen Mitarbeitern sagen ihm nichts, auch bei längerem Nachdenken nicht. Vielleicht hat er sie nur ein oder zweimal in seinem Leben gesehen, nur zufällig und beiläufig sind sie in seine Akte geraten. Aber er nimmt sich vor, mit allen zu sprechen, die Berichte über ihn geschrieben haben. Er wird hingehen und eine einzige Frage stellen: Warum?

Am nächsten Tag sitzt er pünktlich um zehn Uhr wieder im Lesezimmer am Jagdschänkenweg und liest fieberhaft in seiner Akte. Und immer wieder wird ihm flau in der Magengrube. Natürlich, er wusste, dass sie ihn über Jahre beobachtet hatten. Ihn kann nicht überraschen, dass seine Fahrten nach Berlin nicht unbemerkt geblieben waren. Aber nun begreift er, dass die Staatssicherheit ihn nahezu vollständig kontrolliert hat – und das über Jahre.

Er findet Aufnahmen von abgehörten Gesprächen in seiner Wohnung, gestochen scharfe Fotos von ihm, aufgenommen bei seinen Besuchen in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin, und ausführliche Vernehmungsprotokolle aus dem Gefängnis. Nun erst erfährt er, dass auch im Haus seiner Eltern Abhörwanzen installiert waren, dass er während seiner Haft gesundheitlich ruiniert werden sollte und dass sie insgesamt fünfzig Informelle Mitarbeiter auf ihn angesetzt hatten. Fünfzig!

Wieder daheim, am späten Abend, klettert Wolfgang Lötzsch im Wohnzimmer auf einen Stuhl und klopft gegen den Querbalken in der Zimmerdecke. Es klingt hohl, und als er die Tapetenverkleidung abreißt, findet er dahinter zwei voll funktionstaugliche Wanzen.

In den folgenden Wochen ist Wolfgang Lötzsch viel unterwegs in Chemnitz. Bei Roland Kaiser, bei Karl-Heinz Koschmieder, bei Bernd Egert und vielen anderen, die Berichte geschrieben haben und deren Namen er in der Akte gefunden hat, wird er vorstellig. Warum haben sie die Berichte geschrieben? Diese Frage stellt er allen und hofft auf Erklärungen, die er versteht. Dass die Schreiber zur Mitarbeit gezwungen wurden. Dass sie nicht wussten, was mit ihren Berichten passiert. Dass sie Angst hatten. Dass sie keine Wahl hatten. Aber die meisten erklären sich nicht. Sie schweigen, manche komplimentieren ihn einfach hinaus, und am Ende hat sich nicht ein Einziger bei Wolfgang Lötzsch entschuldigt.

Ein paar Monate später macht Wolfgang Lötzsch noch einmal einen Termin im Jagdschänkenweg. Noch einmal lässt er sich die Akte vorlegen, noch einmal studiert er akribisch Seite um Seite. Und gerade ist er in das Protokoll einer Abhöraktion vertieft, da stutzt er plötzlich. Auf einem Zettel hat ein Inoffizieller Mitarbeiter seine Beobachtungen über Wolfgang Lötzsch notiert, handschriftlich mit blauer Tinte.

Den Decknamen dieses IM weiß er nicht zuzuordnen: »Wolfgang Lindner«. Ganz ähnlich hieß ja in jungen Jahren einer seiner Trainer. Wolfram Lindner aber kann es gewiss nicht sein. Doch wer war es dann?

Es sind nur ein paar Worte, hingeworfen auf einen Zettel, die Wolfgang Lötzsch immer wieder so konzentriert liest. Er starrt auf das kleine Papier in der Akte und denkt bei sich, dass er diese Schrift doch kennt. Nur woher?

Die Frage lässt ihm keine Ruhe, auch wenn er weiterblättert, andere Papiere liest und sich in Vermerke vertieft. Woher kennt er diese Schrift? Am Abend fährt er nach Hause, die Kopien seiner Akte stehen auf dem Beifahrersitz seines Wagens. 1.500 Seiten, in vier Ordnern gesammelt. Und als er in den Chemnitztalweg einbiegt, fällt ihm endlich siedend heiß ein, woher er die Schrift auf dem Zettel kennt.

Damenrad im Schulausscheid

Wolfgang Lötzsch ist sechs Jahre alt, als er das erste Mal auf einem Rad sitzt. Die ersten Tritte sind noch ungelenk, und eigentlich ist das Damenrad seiner Mutter auch nicht für einen kleinen Jungen geeignet. Aber der Vater hat ihn nun einmal in den Sattel gesetzt, und nun fährt er schwankend die ersten Meter. Beinahe scheint es so, als würde er stürzen, aber Wolfgang fängt sich und das Rad. Dann fährt er Meter um Meter. Am Ende ist er gar nicht mehr herunterzubekommen vom Rad seiner Mutter. Nur ein paar Tritte in die Pedale, und schon hat er gemerkt, dass ihn das Radfahren glücklich macht – glücklicher als alles andere auf der Welt. Im Sattel zu sitzen, das Gesicht im Wind, die Sonne in den Speichen.

Seit diesem Tag, da ihm sein Vater hinauf geholfen hat, steigt Wolfgang Lötzsch nur noch vom Rad, wenn er unbedingt muss. Wenn die Schule ruft oder die Mutter zum Essen. Mittags ist es nun stets das gleiche Spiel. Kaum ist er aus der Schule zurück, wirft er den Ranzen in hohem Bogen in sein Zimmer, setzt sich aufs Rad und fährt davon. Das Chemnitztal saust er hinunter, die Leipziger Straße entlang. Oft fährt er allein bis zum Autobahnzubringer in Richtung Leipzig und kehrt erst dann um. Vielen Vereinsfahrern begegnet er dabei, die über den Jungen schmunzeln, der da so fleißig auf dem Damenrad in Richtung Zubringer strampelt. Anfangs ist er bei solchen Fahrten schnell aus der Puste, doch schon bald hält es ihn immer längere Strecken im Sattel.

Es sind glückliche Monate, glückliche Jahre. Weil ihn die Eltern fahren lassen und weil er merkt, wie er durch die endlosen Nachmittage im Sattel immer besser wird. Doch als der Sommer beginnt, sitzt er oft nicht auf dem Rad, sondern hängt am Radio. Denn dort bringen sie die Übertragungen von der Friedensfahrt: Das Etappenrennen durch die sozialistischen Länder, die Tour de France des Ostens, zieht auch Wolfgang Lötzsch in seinen Bann.

Anders als andere sportliche Großereignisse, die ebenfalls als Konkurrenz zu westlichen Veranstaltungen geplant wurden, ist die Friedensfahrt Mitte der sechziger Jahre in der DDR längst zum sportlichen Mythos geworden. Wenn die Etappen der Rundfahrt durch Sachsen und durch das Erzgebirge führen, dann säumen Hunderttausende begeisterter Zuschauer die Straßen. So groß soll die Euphorie gewesen sein, dass sich kein Baum mehr finden ließe, an dem man unauffällig einem menschlichen Bedürfnis hätte nachgehen können, notieren die Zeitungen beeindruckt.

Wie so viele andere Jungen kennt auch Wolfgang Lötzsch die Namen derer auswendig, die da vorneweg fahren: Er kennt den DDR-Fahrer Klaus Ampler, den Russen Gennadi Lebedjew und Jan Smolik aus der Tschechoslowakei. Und er kennt vor allem Dieter Wiedemann, seinen Cousin und sein großes Idol.

Wiedemann ist Radsportler, ein wirklicher Radsportler im Nationalkader. Dritter wird er bei der Friedensfahrt 1964. Kein Zweifel, Dieter Wiedemann ist einer der besten Straßenfahrer der noch jungen DDR, er steht vor einer großen Karriere. Bis er sich anlässlich eines Rennens in Gießen entschließt, im Westen zu bleiben, und von heute auf morgen in der DDR als Hochverräter gilt.

Die Familie Lötzsch erfährt von der Flucht erst nur bruchstückhaft – durch vereinzelte Andeutungen aus der Verwandtschaft. Es ist eine heikle Sache, denn auch entfernt verwandt zu sein mit einem, der geflohen ist, ist in der DDR der sechziger Jahre höchst verdächtig. Schließlich liegt ein Brief von Wiedemann im Postkasten, mit westlicher Briefmarke und den besten Wünschen. Und Alfred Lötzsch sagt: »Gut hat er das gemacht!«

Für Wolfgang Lötzsch ist das alles noch weit weg. Natürlich bleibt Wiedemann sein Idol, da sind Dreizehnjährige treu. Und dann dreht er das Radio noch einmal lauter, wenn sich die Stimme des Reporters knarzend aus dem Röhrengerät meldet und vom erbitterten Kampf der Fahrer an der steilen Wand von Meerane berichtet – jenem unvermittelten Anstieg direkt hinter einer Linkskurve, der die Fahrer auf nur 1,1 Kilometern so unglaublich ins Schwitzen bringt. Das wäre es doch, sagt er zu sich, selbst einmal mitzufahren, dabei zu sein im großen Pulk der Friedensfahrer – am Hinterrad der Stars, umjubelt von Hunderttausenden an der Strecke. So wie Ampler und all die anderen.

Doch noch ist das große Etappenrennen nur im Radio zu hören und sehr weit weg von der Chemnitztalstraße in Karl-Marx-Stadt. Da trifft es sich gut, dass auch die Oberschule Furth anlässlich der Friedensfahrt 1965 einen kleinen Schulausscheid fährt. Es ist ein harmloses Rennen, lediglich ein paar Kilometer misst die Strecke, auf der die Jungen der Schule um die Wette strampeln sollen. Und nur wenige Schüler haben Rennräder mit schmalen Reifen und echten Rennlenkern.

Wie viele andere steht auch Wolfgang Lötzsch mit seinem Tourenrad auf der Straße – mit Schutzblechen, einer Klingel und einer Rücktrittbremse. Und doch, das merkt er schnell: Er kann mithalten mit den kräftigeren Mitschülern auf den schnellen Rädern. So stark tritt er in die Pedale, so wuchtig ist sein Antritt, dass er am Ende stolzer Zweiter des Schulausscheides wird.

Erst einige Minuten später kommen viele der vorher noch so selbstbewussten Konkurrenten ins Ziel und stützen sich enttäuscht auf die Lenker ihrer blitzend neuen Rennräder. Zweiter, das ist doch etwas, denkt sich Wolfgang Lötzsch, aber das nächste Mal möchte ich gewinnen. Und ohne es zu merken, ist er endgültig und für immer dem Radsport verfallen.

Doch es muss sich etwas ändern. Er ist doch jetzt ein junger Radsportler, aber noch immer muss er seine Trainingsrunden auf einem alten Tourenrad drehen. Wenn er das Rad aus der Einfahrt schiebt, schämt er sich für den klobigen, schweren Stahlrahmen und den altertümlich gebogenen Lenker.

Da trifft es sich gut, dass Wolfgang Lötzsch am 18. Dezember Geburtstag feiert: Das ist nah an Weihnachten und eine gute Voraussetzung für ein großes Geschenk von den Eltern. Doch die machen es spannend, und erst, als er ins Wohnzimmer darf, wo bereits die Lichter des Weihnachtsbaumes brennen, macht sein Herz einen großen Sprung. Denn am Sofa lehnt sein erstes Rennrad.

Genau 643 Ost-Mark hat das Rad der Marke »Diamant« die Eltern gekostet. Es hat eine Zehn-Gang-Schaltung, schmale Reifen und keine Schutzbleche. In der Nacht findet Wolfgang Lötzsch kaum Schlaf. Er kann es nicht erwarten, die Füße in die Pedalschlaufen zu stecken und loszufahren – den Glücksberg hinunter, die Leipziger Straße entlang, zum Autobahnzubringer. Am nächsten Morgen fährt er früh los und dem Sonnenaufgang entgegen. Wie leicht es sich nun fährt, ohne den wuchtigen Ballast des stählernen Tourenrades. Wie gut es sich doch anfühlt, auf einem richtigen Rad zu sitzen.

Die Eltern betrachten die Begeisterung des Sohnes mit gemischten Gefühlen. Nachmittags ist Wolfgang kaum noch daheim, die Schularbeiten werden nur noch nebenher erledigt.