cover

Über das Buch:

 

August, die Luft über der Provence flirrt in drückender Hitze. Capitaine Roger Blanc und sein Kollege Marius Tonon werden in die Camargue gerufen: Ein schwarzer Kampfstier ist ausgebrochen und hat einen Fahrradfahrer mit den Hörnern aufgespießt. Ein bizarrer Unfall, so sieht es zunächst aus. Bis Blanc ein Indiz dafür entdeckt, dass jemand das Gatter absichtlich geöffnet hat. Der Tote ist Albert Cohen, Reporter eines Politmagazins, Modeintellektueller aus Paris, Fernsehberühmtheit. Er war in der Camargue, um einen großen Artikel über Vincent van Gogh zu schreiben. Doch was kann das mit dem Anschlag zu tun haben? Während ein fröhlicher Bautrupp das alte Dach von seiner halb verfallenen Ölmühle abträgt, aber kein neues eindeckt, stößt Blanc bei seinen Ermittlungen auf Cohens unvollendete Reportage, die gar nicht so harmlos ist, wie sie zunächst aussieht – und auf eine alte Geschichte, die jeder, aber auch wirklich jeder vergessen will. Mit seinem zweiten Fall kommt Blanc seiner neuen Heimat ein Stück näher. Doch der Preis, den er dafür zahlen muss, ist hoch.

Über den Autor:

Cay Rademacher

© Francoise Rademacher

 

Cay Rademacher, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Bei DuMont erschienen seine Kriminalromane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: ›Der Trümmermörder‹ (2011), ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Seine Provence-Krimiserie umfasst: ›Mörderischer Mistral‹ (2014), ›Tödliche Camargue‹ (2015), ›Brennender Midi‹ (2016), ›Gefährliche Côte Bleue‹ (2017), ›Dunkles Arles‹ (2018) und ›Verhängnisvolles Calès‹ (2019). Außerdem erschien 2019 der Kriminalroman ›Ein letzter Sommer in Méjean‹. Cay Rademacher lebt mit seiner Familie in der Nähe von Salon-de-Provence in Frankreich.

 

Mehr über das Leben im Midi erfahren Sie im Blog des Autors: Briefe aus der Provence

CAY RADEMACHER

TÖDLICHE
CAMARGUE

Ein Provence-Krimi
mit Capitaine Roger Blanc

 

 

 

 

 

Karte Provence

La loi cruelle de l’art est que les êtres meurent.

Marcel Proust

Blut auf Asphalt

Capitaine Roger Blanc hatte in zwanzig Dienstjahren bei der Gendarmerie noch nie so viel Blut gesehen: Ein toter schwarzer Kampfstier blockierte die Straße, ein dunkler Koloss, in dessen linker Flanke mindestens zwei Dutzend Neun-Millimeter-Parabellumgeschosse steckten. Einige Meter dahinter lag die Leiche eines Mannes mit schrecklich aufgeschlitztem Leib. Das Blut von Tier und Mensch hatte sich auf der hitzeweichen, nach Teer stinkenden Straße vermischt und war zu einer braunen, rissigen Kruste eingetrocknet.

Obwohl es schon später Nachmittag war, stand die Sonne wie eine giftige Blume hoch über dem Horizont. Ein verbeultes, weißes Straßenschild wies auf eine abzweigende Route départementale hin, die nach Saint-Gilles führte. Irgendwoher kenne ich den Ortsnamen, dachte Blanc flüchtig, doch in der Hitze wollte ihm nicht einfallen, wann er ihn schon einmal gehört hatte. Jemand hatte auf das Blechschild gefeuert, vor langer Zeit, in die Durchschusslöcher hatte sich längst der Rost gefressen. Die Straßen wanden sich als schmale, graue Bänder durch eine Welt aus Salz, Sand und zähem, hartem Gras. Camargue.

Brackwasser funkelte, bleierne Spiegel, so groß wie Seen und flach wie Pfützen. Manche Seen leuchteten chemieblau, andere glänzten hellrot wie verdünnte Wasserfarbe. An ihren sumpfigen Rändern quollen gelblich-weiße Schaumblasen auf. Das Gras war kniehoch, jeder Halm scharf wie ein Dolch. Ein leichter Westwind, der keine Kühlung brachte, bewegte die Halme auf und nieder, auf und nieder. Libellen tanzten über dem Wasser, elegante, rosafarbene Schemen staksten durch den flirrenden Horizont. Flamingos, registrierte Blanc erstaunt. Ein einziges Mal hatte er diese Vögel zuvor gesehen, vor Ewigkeiten im Zoo von Vincennes, als sein Nachwuchs noch klein und seine Ehe intakt gewesen war.

Grelle Reflexe, die sich wie Nadeln in seine Augen bohrten, lenkten seine Aufmerksamkeit wieder auf das makabere Schauspiel zu seinen Füßen. Sonnenstrahlen wurden von einer Stahluhr zurückgeworfen – einer Stahluhr am Handgelenk des Mannes, der von dem Kampfstier auf die Hörner genommen worden war. Seine Leiche lag etwa fünf Meter neben der des erschossenen Tieres.

Blanc beugte sich zu einem Mann von Mitte fünfzig hinunter, zwischen eins siebzig und eins achtzig groß, schlank, gebräunte Haut. Eine eckige, ultraleichte Sonnenbrille verbarg die obere Hälfte seines Gesichts, langes, grauweißes Haar quoll unter einem Helm hervor, der aussah, als hätte ihn ein Designer von Computerspielen im 3-D-Drucker gebastelt. Der Tote steckte in schwarzen Radlershorts und einem Funktions-T-Shirt in Kobaltblau und Neongelb. Allerdings war von diesen Farben nicht mehr viel zu erkennen, denn der Kampfstier hatte den Fahrradfahrer mit einem Horn im Unterleib getroffen und seinen Schädel offenbar nach oben gerissen, sodass die Spitze wie ein Schlachtermesser den Rumpf vom Bauchnabel bis fast zum Halsansatz aufgerissen hatte. Die Wundränder waren gezackt, der Dünndarm quoll aus der Öffnung heraus und sah aus wie ein blässlicher Gartenschlauch. Blanc erkannte die Spitze einer gebrochenen Rippe und mehrere Organe, die er lieber nicht allzu genau zuordnen wollte. Satte Schmeißfliegen brummten über dem Toten. Der Geruch von Blut und Halbverdautem mischte sich mit dem Gestank von Brackwasser. Ihn schwindelte, rasch richtete er sich auf.

Blanc blickte sich um. Trotz seiner Sonnenbrille musste er die Augen zusammenkneifen. Auf einem Stück Land, das eine Handbreit höher lag als die Umgebung, glänzte eine fette, grüne Weide. Ein starker Zaun aus eckigen Holzbalken, die von Eisenpfosten gehalten wurden, umschloss das Terrain, zu dem nur ein einziges Gatter Zugang bot, ein hölzernes Tor mit massivem Stahlrahmen. Dieses Gatter stand weit offen.

Blanc blickte wieder auf den Toten. Auf ein teuer aussehendes Mountainbike, das vielleicht zehn Meter weiter geschleudert und mit dem Vorderrad bis in den Entwässerungsgraben neben der Straße gerutscht war. Auf den Stier, der seine Beine ausgestreckt hatte wie ein Bettler seinen Arm, seine schwere, lilafarbene Zunge hing aus dem Maul, seine Hörner, jedes so lang wie der Arm eines Mannes, hatten im Todeskampf helle Rillen in den Asphalt gezogen, die Seite seines massigen Leibes war von den Kugeln aufgerissen.

Ein älterer, stark schwitzender Brigadier trat auf ihn zu. »Ronchard« stand auf seinem Namensschild.

»Haben Sie den Stier erschossen?«, fragte Blanc.

»Ja, mon Capitaine. Ein Zeuge hat den Unfall gemeldet. Mein Kollege und ich waren die Ersten vor Ort und sahen den Toten.« Ronchard deutete auf einen zweiten Brigadier, der mit einer Kompaktkamera Fotos von der Straße und dem Opfer schoss. Er hielt den Apparat dabei so weit von seinem eigenen Auge entfernt, als fürchte er, dass er jeden Augenblick explodieren könnte. Blanc bezweifelte, dass er auch nur ein brauchbares Bild der Unfallstelle zustande bringen würde.

»Aber neben dem Opfer stand noch immer der Kampfstier«, fuhr Ronchard fort. »Wir haben uns erst nicht aus dem Auto getraut. Mit unseren Dienstpistolen wollte ich dem Tier lieber nicht gegenüberteten, der besteht aus einer halben Tonne Muskeln und Knochen. Wir hatten aber zufällig eine UMP9 im Wagen, weil wir gerade vom Schießstand zurückgekommen waren. In meiner Freizeit bin ich Jäger und, eh bien …« Er brach ab, lachte freudlos. »Das war nicht gerade ein Blattschuss. Ich habe das Seitenfenster runtergekurbelt und vom Fahrersitz aus das ganze Magazin leer geschossen.«

Blanc blickte wieder zum Stier hinüber und nickte. »Vielleicht bekommen Sie ja den ausgestopften Kopf als Trophäe, Ronchard. Mal was anderes als ein Fasan.«

»Damit komme ich auf jeden Fall in die Zeitung. Ich kann mich nicht erinnern, dass je zuvor ein Tourist in der Camargue von einem Stier auf die Hörner genommen worden ist.«

Blanc deutete auf das offene Gatter. »War das Tor schon offen, als Sie angekommen sind, Ronchard?«

»So offen wie der Hosenstall eines Exhibitionisten.«

»Der Kampfstier hat auf einer Weide gegrast, die nicht mehr abgesperrt war«, sinnierte Blanc. »Warum war das Gatter nicht geschlossen? Und seit wann stand es offen? Bien, jedenfalls fährt auf der Landstraße zufällig ein Radfahrer mit seinem VTT vorbei …«

»Diese Tiere sind zum Kampf gezüchtet worden, mon Capitaine. Sie sind extrem aggressiv und sehr schnell. Vielleicht hat sich der Bulle gestört oder bedroht gefühlt. Vielleicht war ihm auch bloß langweilig und heiß, mit schwarzem Fell unter dieser Sonne. Vielleicht haben ihn die Bremsen stärker gereizt, das sind monströse Biester hier. Auf jeden Fall muss das Tier den Radfahrer gesehen haben. Der Weg war frei. Da hat der Bulle den Kopf gesenkt und ist losgestürmt. Volltreffer. Das wird es morgen auf die Seiten von La Provence schaffen.«

»Vielleicht sogar bis auf Seite eins«, murmelte Blanc düster und zog dem Opfer die Sonnenbrille vom Gesicht. »Ronchard, haben Sie sich den Toten bereits näher angesehen? Kennen Sie ihn?«

Der Brigadier hüstelte. »Helm und Brille verbergen ja ziemlich viel. Und außerdem war ich noch nicht wirklich nahe dran.«

»Sie müssen die lächerliche Radfahrermontur ignorieren. Denken Sie sich den Toten in Designerjeans und elegantem, dunklem Jackett. Dazu ein Hemd, so weiß, dass es in den Augen schmerzt, und stets einen Knopf zu weit geöffnet. So trat der Herr hier nämlich öfters im Fernsehen auf.«

Es war Donnerstag, der 4. August, und der siebte Tag einer Hitzewelle, die sich anfühlte, als hätte Gott den Midi aus Europa herausgeschnitten und in die Sahara verpflanzt. Im Radio wurden jeden Tag Höchstwerte von fünfunddreißig Grad prognostiziert – eine politische Maßnahme, vermutete Blanc, um die Leute nicht zu beunruhigen. Denn würde die Temperaturanzeige in seinem klapprigen Renault Espace noch funktionieren, so würde sicher ab jedem Vormittag bis weit in den Abend hinein auf dem kleinen Display eine »40« leuchten.

Er hatte sich am Mittwoch früher abgesetzt, um das Dach der alten Ölmühle, die er seit einigen Wochen bewohnte, zu inspizieren. Die gewölbten Terrakottaschindeln waren jedoch von der Sonne so aufgeheizt worden, dass man Handschuhe hätte anziehen müssen, um sie zu berühren. Nach wenigen Minuten hatte Blanc deshalb, schweißüberströmt und dehydriert, den Rückzug über die wackelige Holzleiter angetreten, die er in einem Schuppen neben dem Haus gefunden hatte. Da er aber unvorsichtig genug gewesen war, mit bloßem Oberkörper hinaufzusteigen, kam er mit verbrannten Schultern wieder herunter. Später, als ihn das Ziehen und Brennen zwischen Hals und Oberarmen um den Schlaf brachte, verfluchte er seinen Leichtsinn: einmal Nordfranzose, immer Nordfranzose.

So hatte Blanc am Donnerstagmorgen vor dem antiquierten Monitorklotz seines Rechners gehockt und auf die Muster des Bildschirmschoners gestarrt. Da unter der Hitze selbst die Zerstörungslust der Gewohnheitskriminellen verdampft war, gab es wenig zu tun. Er hatte versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen, was nicht einfach war, denn der Stuhl war zu klein für seinen fast zwei Meter langen Körper. Der schäbige Betonklotz im Zentrum von Gadet hatte zwar eine Klimaanlage, doch war sie unterdimensioniert und seit Jahren nicht gewartet worden, sodass den sirrenden Metallkästen bloß Wellen feuchtwarmer, nach Schimmel riechender Luft entflossen. Die Gendarmen waren gezwungen, hin und wieder die Fenster zu öffnen, um zu lüften, auch wenn dann die Glut hineindrängte, als hätte man Backofentüren aufgeklappt.

Blanc hatte, wie immer, dunkle Jeans und ein schwarzes T-Shirt getragen und gespürt, wie selbst die leichte Baumwolle auf seinen verbrannten Hautstellen scheuerte.

Seinem Partner war es nicht besser gegangen. Lieutenant Marius Tonon hatte ebenfalls apathisch auf seinen Monitor gestarrt und sich nicht geregt. Allerdings hatte ihn kein Sonnenbrand geplagt. Die olivenfarbene Haut des massigen, untersetzten Gendarmen war längst unempfindlich gegen die Sonnenstrahlen geworden. Doch er hatte ständig geblinzelt, um seine Lider lagen entzündete Ringe, geplatzte Äderchen hatten winzige rote Spinnennetze in seine Augäpfel gesetzt.

Blanc hatte mit seinem Kollegen mittags im »Le Soleil« von Gadet im Schatten der Platanen gegessen und gesehen, wie Tonon einen Pastis gekippt hatte, »gegen den Durst«. Und danach noch einen. Und anschließend hatte der Wirt kommentarlos die übliche Karaffe Rosé auf den Tisch gestellt.

Als sie später wieder im Büro dösten, waren Blanc und Tonon zusammengezuckt, als das Telefon geläutet hatte. »Merde«, hatte Blanc gemurmelt, als er auf dem Display die Nummer seines Chefs erkannte.

Commandant Nicolas Nkoulou thronte in seinem Büro am gegenüberliegenden Ende des Ganges. Seine makellose, hellblaue Uniform kontrastierte wirkungsvoll mit einer goldgefassten Brille und seiner schokoladenfarbenen Haut, auf der nicht ein Schweißtropfen perlte. Er hatte Blanc mit einem kurzen und Tonon mit einem etwas längeren Blick bedacht und für einen Augenblick so ausgesehen, als würden ihm ganz andere Worte aus dem Mund rutschen wollen als die, die er eigentlich an sie richten musste. Doch er hatte sich zusammengenommen und einen Zettel über seinen ansonsten leeren Schreibtisch geschoben.

»Das ist eben reingekommen. Scheint sich um einen«, der Commandant räusperte sich, »bizarren Unfall zu handeln. Ein Fahrradfahrer, ein Stier und eine riesige Sauerei. Sehen Sie sich das pro forma an.«

»Putain, was meint der Kerl mit ›pro forma‹?«, hatte Tonon geflüstert, als sie die Tür zum Chefbüro wieder hinter sich geschlossen hatten.

»Dass wir diesen Job machen sollen, weil allen anderen zu heiß ist«, hatte Blanc geantwortet und sich um einen Streifenwagen gekümmert. »Wie lange brauchen wir bis zur Camargue?«

Sein Kollege verdrehte die entzündeten Augen. »Hast du eigentlich jemals auf eine Landkarte geguckt?«

»Die einzige Landkarte, die ich auswendig kenne, ist der Metroplan von Paris.«

»Willkommen in der Wirklichkeit.«

Als er hinaus ins gleißende Licht trat, streifte sich Blanc die helle Stoffbinde mit dem Aufdruck »Gendarmerie« über den linken Oberarm. Selbst das tat seiner Haut weh. »Hätte nicht gedacht, dass ich mich in diesem schimmeligen Betonkasten wohler fühlen würde als im Freien«, brummte er und blickte zur Gendarmeriestation zurück, in der hinter einem Fenster eine Sichtblende leicht schwankte. Wahrscheinlich ein feixender Kollege. Merde.

»Du wirst dich in der Camargue wie in deiner Heimat fühlen: Sie ist salzig, platt und langweilig. Bloß ein bisschen heißer als der Norden.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass bei mir zu Hause durchgedrehte Stiere über die Straßen toben«, erwiderte Blanc und schwenkte die Meldung.

Mit einem Ächzen ließ sich sein Kollege in den Beifahrersitz fallen. Er fummelte am Display, bis »Radio Nostalgie« durch den nicht mehr ganz taufrischen Renault Mégane schwebte. Patricia Kaas. »Reste sur moi«.

»Bin gespannt, ob es ein provenzalischer oder ein spanischer Kampfstier war«, sagte Tonon und passte seine Worte dabei unbewusst der Melodie des Liebesliedes an, sodass es wirkte, als singe er den Text mit. Blanc irritierte das, und er zwang sich, auf die Straße zu gucken.

»Stier ist Stier«, erwiderte er und rollte vom Parkplatz der Gendarmerie. Kein Grund, sich zu beeilen.

Tonon warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Das würdest du nicht sagen, wenn du Stierkämpfer wärst. In der spanischen Corrida geht es um Leben und Tod. Meistens wird das Tier am Ende abgestochen, klar. Aber manchmal gewinnt auch der Bulle. Spanische Stiere sind so gezüchtet, dass ihre Hörner abgesenkt sind – so können sie dich besser treffen.«

»Das ist nur fair.«

»Provenzalische cocardiers hingegen«, fuhr Tonon ungerührt fort, »sind kleiner als die spanischen Tiere, nervöser, schneller, beweglicher – und sie haben nach oben gerichtete Hörner.«

»Schön für den Torero.«

»Bei uns heißt der ›raseteur‹. Denn seine Aufgabe ist es, dem Stier Bänder zwischen den Hörnern abzureißen, sehr schmale Bänder an der Wurzel des Horns, direkt über dem wuchtigen Schädel. Ein normaler Mensch würde da niemals freiwillig hinfassen. Ein raseteur schwenkt kein rotes Tuch, er fuchtelt nicht mit einem Säbel rum und läuft nicht durch die Arena wie ein tuntiger spanischer Gockel. Ein raseteur ist unbewaffnet bis auf einen crochet, der aussieht wie ein zu groß geratener Schlagring mit Widerhaken. Damit zerreisst er die Bänder an den Hörnern – wenn er geschickt genug ist und nahe an den Stier herankommt. Ein raseteur ist weiß gekleidet und flink auf den Beinen, sehr flink. Deshalb heißt das Spektakel bei uns ›course camarguaise‹, es ist eher ein Rennen als ein Kampf. Das kann trotzdem blutig enden, tut es aber nicht so oft, und wenn, dann nur für den Menschen. Das ganze Frühjahr über und dann wieder im Herbst finden in den Arenen wie in denen von Arles oder Istres Kämpfe statt, manchmal auf spanische Art, meistens jedoch auf provenzalische. Selbst die besten Rindviecher enden übrigens irgendwann auf dem Schlachthof. Ihr rotes Fleisch schmeckt nach Wild.«

»Alle deine Gedanken enden in der Küche«, tadelte Blanc milde. »Wenn es so viele Biester gibt, warum werden dann so selten Fahrradfahrer aufgespießt?«

Tonon lachte. »Weil es so viel Platz gibt, dass sich normalerweise jeder aus dem Weg gehen kann. Die Camargue ist zweitausend Quadratkilometer groß: Sümpfe, Weiden, Reisfelder. Saintes-Maries-de-la-Mer am Mittelmeerufer mit Stränden, Zigeunermusik und glücklichen Touristen. Saint-Gilles ist ein Kaff mit einer riesigen Kirche. Aigues-Mortes eine Art mittelalterliches Disneyland. Zwischen diesen drei Orten ist es sehr einsam: Mitten in der Einöde stehen ein paar Höfe, wo sich Pariser und Engländer auf den berühmten weißen Camarguepferden die Eier aufscheuern. Das sind die kleinen, weiß getünchten cabanes, in denen früher die gardians lebten, die Cowboys der Camargue, die mit schwarzem Hut und Dreizack die Stiere hüten und die sich diese Hütten längst nicht mehr leisten können. Da leben jetzt die Pariser und Engländer und kühlen ihre Eier nach dem Ausritt. Rinder streifen frei durch die Einöde. Die Kampfstiere stehen aber auf abgetrennten Weiden hinter starken Zäunen. Da draußen bist du als Radfahrer normalerweise allein mit Tausenden blasierter Flamingos.«

»Klingt, als wärst du ein großer Freund der Camargue.«

»Wer es mag.«

Blanc bog auf die Route départementale 113 ein, die sich Kilometer um Kilometer zwischen Feldern und Zypressenhecken geradeaus durch die Landschaft fraß. Er kam sich vor, als rollte er die schier endlose Startbahn eines Flughafens entlang, ohne jemals abzuheben. Er war froh, dass kurz vor Arles der Verkehr dichter wurde, denn sonst wäre er am Lenkrad eingedöst. Sein Kollege deutete auf ein Verkehrsschild mit der Aufschrift »Saintes-Maries« und sagte müde: »Da raus, dann immer weiter auf der Straße. Irgendwann müssten wir den Schlamassel sehen.«

Einige Minuten später drang der Streifenwagen in eine andere Welt ein und querte einen Ozean aus Gras und silbrigem Wasser. Blanc erkannte eine cabane etliche Hundert Meter neben der Straße. Die Hütte war mit eingedunkeltem Stroh gedeckt und so weiß getüncht, dass die Wände blendeten. Die Nordseite war schmal, abgerundet und fensterlos. Er hatte inzwischen den gnadenlos eisigen Mistral kennengelernt und konnte sich vorstellen, warum die Hütten diesen Böen in dieser ungeschützten Weite eine möglichst windschlüpfrige Seite entgegenhielten. Es schien kein Weg zu der cabane im Sumpf zu führen, und er fragte sich, wie man von der Straße aus dorthin gelangte. Neben dem Bauwerk waren einige weiße Pferde lose an ein Holzgatter gebunden. Paulette Aybalen, die neben der verfallenen Ölmühle lebte, die Blanc bewohnte, hatte auch Camarguepferde auf ihrem Land stehen. Sie ritt manchmal alleine, manchmal mit ihren Töchtern durch die Wälder jenseits der Mühle. Eine wilde, attraktive Frau. Eine Frau … Blancs Gedanken schweiften zu Geneviève und der Frage, warum sie ihn verlassen hatte. Ob sie noch immer mit ihrem neuen Liebhaber in der Karibik Urlaub machte? Ob sie wieder in Paris war, mit ihm? In seinem Appartement aus dem Fenster sah, in seiner Küche kochte, abends in sein Bett sank? Er wurde unaufmerksam und wäre beinahe in einem Entwässerungsgraben gelandet, als die Straße nach etlichen Kilometern plötzlich einen Schwenk machte.

»Die Camargue ist besser als Valium«, kommentierte Tonon, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte. »Kaum bist du hier, gehen deine Gedanken fliegen. Woran hast du gerade gedacht?«

Blanc war zu heiß, um sich rasch eine unverbindliche Antwort auszudenken. »An meine Frau«, erwiderte er.

»An deine Exfrau.«

»Noch sind wir nicht geschieden.«

»Träum weiter. Weint sie dir noch nach, oder hat sie schon einen neuen Kerl?«

»Sie macht gerade Urlaub mit ihm in der Karibik.«

»Dann wird deine Ex unter den Palmen garantiert jeden Tag an dich denken.« Tonon schlug ihm so fest auf die Schulter, dass Blanc dem Graben schon wieder gefährlich nahe kam. »Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung: einmal Flic, nie wieder Flic! Keine Frau, die sich einmal mit einem Gendarmen eingelassen hat, wird diese Erfahrung ein zweites Mal machen wollen. Schlag sie dir also aus dem Kopf!«

»Wir haben zwei Kinder.«

»Erwachsen?«

»Sie dürfen schon wählen. Aber manchmal benehmen sie sich, als wären sie noch im Kindergarten.«

»Eh bien. Sie haben dich in Paris abgesägt und in die tiefste Provinz versetzt. Deine Frau hat dich sitzen lassen. Und deine Kinder wollen nichts mehr von dir, außer hin und wieder etwas Geld. Das klingt nach idealen Bedingungen für einen Neustart.«

Blanc schlug auf das Lenkrad. »Meine Karriere ist am Arsch. Und ich fahre durch einen Sumpf, um mir den einzigen Fahrradfahrer Frankreichs anzusehen, der bescheuert genug war, sich von einem Ochsen entleiben zu lassen! Das nennst du ›Neustart‹?«

»Nach jedem Tiefpunkt geht es wieder aufwärts. Das ist Physik.«

Blanc blickte seinen übergewichtigen, erschöpften, seit Jahrzehnten nicht mehr beförderten Kollegen an und verkniff sich eine Antwort. Er bremste ab, weil sich vor ihm eine Kolonne von rund ein Dutzend Wagen gebildet hatte, die sich hinter einem Wohnmobil mit niederländischem Kennzeichen staute. Dessen Fahrer zockelte mit vierzig Stundenkilometern durch die Weite. Jedes Mal, wenn auf der Gegenfahrbahn kein Fahrzeug zu sehen war, überholten ihn ein, zwei Autos. Als die Reihe an ihn kam, zwängte sich Blanc rasch an dem trägen, weißen Koloss vorbei, obwohl ihm eine Gruppe von grellbunt ausstaffierten Rennradfahrern entgegenrauschte. Einer zeigte ihm den Mittelfinger.

»Plattes Land. Schön für Radfahrer«, murmelte Blanc und überholte die nächsten zwei Radler, ein übergewichtiges, mittelaltes Paar auf Mountainbikes.

»Man muss sich bloß vor Kampfstieren und verrückten Autofahrern in Acht nehmen«, erwiderte Tonon.

Blanc verzichtete auf eine Antwort und deutete kurz darauf nach vorne, wo rhythmisches Blaulicht pulsierte und ein Uniformierter mit einer Kelle den Verkehr über eine Spur leitete, während die andere durch Bänder abgesperrt war. »Wir sind da«, verkündete er.

Zehn Minuten später stand er zusammen mit Brigadier Ronchard vor dem schrecklich zugerichteten Toten und erkannte, dass er auf einen Prominenten blickte.

»Albert Cohen«, murmelte Blanc.

Ronchard zwang sich, genauer hinzusehen. »Tatsächlich«, pflichtete er nach einigen Augenblicken bei, unter der Hitzeröte war sein Gesicht fahl geworden. »Ich hätte darauf gewettet, dass es ihn irgendwann in Afghanistan oder Syrien erwischt, aber nicht gerade in der Camargue. Was hat der hier gesucht?«

»Vielleicht hat er an einer Reportage über Rindvieh gearbeitet«, erwiderte Blanc düster. Cohen war ein bekannter Reporter des Wochenmagazins L’Événement und der bestaussehende Mann im kleinen Zirkel der Pariser Modeintellektuellen. Blanc, der bis zu seiner Kaltstellung als Korruptionsermittler gearbeitet hatte, kannte eher die schmutzigen Hinterhöfe der Hauptstadt-Clique als die glänzenden Fassaden. Was ihn anging, so war Cohen ganz Fassade: Er hatte von ihm gehört, doch war der Journalist bei den Flics niemals in irgendeinen Verdacht geraten.

Cohen war in den Achtzigern durch sozialkritische Reportagen bekannt geworden. Blanc erinnerte sich noch gut an einen Text über nordafrikanische Drogendealer in der banlieue, einem der wenigen Magazinbeiträge, die sich über die Jahre in seinem Kopf hatten verankern können. Cohen hatte Preise bekommen und war gelegentlich im Fernsehen aufgetreten. Doch ab einem bestimmten Punkt, Blanc wusste weder wann noch warum, war Cohen nicht mehr hin und wieder, sondern ständig im Fernsehen präsent gewesen und hatte zu allem und jedem Stellung bezogen. Er schrieb weiterhin für L’Événement, aber fiel dort nicht länger mit Reportagen auf, sondern mit Kommentaren und Essays. Er hatte dafür plädiert, dass sich Frankreich in jede Krise der Welt einmischen sollte, am besten mit Invasionstruppen: Libyen, Mali, der Kongo, Syrien – es schien kein Land zu geben, das sicher war vor Cohens Interventionsaufrufen. Einmal hatte er sogar angedeutet, dass man mit Gewalt die Freiheit Tibets erzwingen solle, was zu Verstimmungen in Peking und damit zu einer mittleren Panik am Quai d’Orsay geführt hatte.

Tonon war zu ihnen getreten, nachdem er lange auf das erschossene Tier geblickt hatte. »Das war ein provenzalischer Kampfstier«, verkündete er knapp. Dann starrte er äußerlich ungerührt auf den Toten. »Wenigstens hat er nicht lange leiden müssen.«

Blanc war sich nicht ganz sicher, ob sein Kollege damit tröstende Worte zum Hinscheiden des Radfahrers oder zu dem des Stieres finden wollte. Er erzählte seinen beiden Kollegen, was er über Cohen wusste – wenn auch nicht alles.

Albert Cohen hatte sich in den letzten Jahren immer stärker in die Innenpolitik eingemischt. Bei der letzten Präsidentschaftswahl hatte er offen für einen Kandidaten geworben, der jedoch vernichtend verloren hatte. Dann war er plötzlich ein paarmal zusammen mit Staatssekretär Jean-Charles Vialaron-Allègre aufgetreten. Der gehörte der anderen Partei an, war ein Hardliner im Innenministerium und deshalb populär. Ein aufsteigender Stern am Pariser Firmament. Und leider der Politiker, der Blanc kaltgestellt und in den Midi versetzt hatte.

Nun lag ein Freund jenes Politikers, vor dem er sich am meisten in Acht nehmen musste, mit herausgequollenem Gedärm auf einer Landstraße in der Camargue. Blanc fürchtete, dass sich Vialaron-Allègre in diesen bizarren Todesfall einmischen und dabei vielleicht noch ganz andere Dinge herausfinden würde. Aber das alles konnte er den Gendarmen selbstverständlich nicht sagen.

»Gibt es Zeugen?«, fragte er ohne große Hoffnung. Zu seinem Erstaunen nickte Ronchard.

»Der Autofahrer, der uns über Handy gerufen hat.«

»Er hat den Unfall beobachtet?«

Die Gesichtsfarbe des Brigadiers wechselte ins Dunkelrötliche. »Nicht direkt.«

Blanc seufzte. »Holen Sie ihn trotzdem her, Ronchard.«

Der Gendarm ging zu einem verbeulten, blassroten Renault Kangoo am Straßenrand, auf dessen Flanken »Patrick Girel, Électricien, Arles« prangte, dazu eine liebevoll ausgemalte Gestalt, die wie Super Mario aussah und ein Bündel gewaltiger Blitze in der Faust hielt. Blanc dachte an die Ruine, die er bewohnte, und war einen Moment lang versucht, die Telefonnummer des Elektrikers abzuschreiben, doch dann überlegte er es sich anders: Wollte er wirklich die Erneuerung aller Stromleitungen einer blitzeschleudernden Comicfigur anvertrauen?

Der Mann, den ihm der Brigadier vorstellte, hatte allerdings nur eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem Werbeemblem: Patrick Girel war Anfang dreißig, schon kahl und etwas dicklich. Aus den Seitentaschen seiner Arbeitshose ragten die Spitzen von isolierten Schraubenziehern, Zangen und diversen Messgeräten heraus.

»Monsieur Girel, was haben Sie gesehen?«

»Einen Stier, der nicht da war, wo er hingehörte: Er hat mitten auf der Straße gestanden. Ich war auf dem Rückweg von einem Kunden und hab das Tier erkannt. Als ich näher kam, habe ich dann …«, er rang um Worte, »diesen Herren hier gesehen.« Er deutete mit der Rechten ungefähr in Richtung des Toten, sah aber nicht hin. Seine Hand zitterte leicht.

Blanc nickte verständnisvoll. »Der Radfahrer hat also schon tot auf der Straße gelegen, als Sie angekommen sind?«

»Er hat sich jedenfalls nicht mehr bewegt.«

»Den Angriff des Kampfstieres haben Sie nicht gesehen? Nicht einmal am Horizont, als Sie noch weiter weg waren? Vielleicht haben Sie bloß Bewegungen ausgemacht und deren Bedeutung nicht erkannt? Immerhin ist das Land so flach wie eine Tischplatte.«

»Sie sind nicht von hier, mon Capitaine

»Habe ich eine dumme Frage gestellt?«

Girel lächelte verlegen. »Das haben Sie jetzt gesagt. Die Luft über der Camargue ist nachmittags so heiß, dass alles flirrt und flimmert. Ich fahre hier fast täglich von Arles aus zu den Höfen und nach Saintes-Maries. Wenn ich da dauernd auf den Horizont starren würde, hätte ich längst Augenkrebs. Nein, es ist besser, man konzentriert sich schön auf die Straße vor sich. Dann sieht man alles rechtzeitig, sogar ausgebrochene Stiere.«

»Sie sagen ›ausgebrochen‹. Sie sind also sicher, dass das Tier sonst immer auf der Weide war?«

»Das Rindvieh stand da seit mehr als einem Jahr. Ich bin so oft vorbeigefahren, dass ich ihm das Du anbieten konnte.«

»Das Gatter war stets verschlossen?«

Girel zögerte einen winzigen Augenblick. »Das schon«, erwiderte er und klang, als fühlte er sich nicht wohl.

»Aber?«

»Der Platz vor dem Gatter ist eine der wenigen Flächen, an denen man auf dieser Straße rechts rausfahren kann. Meistens läuft da ja ein Entwässerungsgraben entlang, oder man rutscht gleich in den Sumpf. Aber vor dem Gatter ist der Boden fest.«

Blanc blickte zur beschriebenen Stelle. Er sah staubigen, hellen Boden, in dem Reifenprofile eingegraben waren, darüber einige ziemlich klein wirkende Abdrücke. Die Hufe des Stieres, vermutete er.

»Da parken immer wieder Touristen und fotografieren«, fuhr Girel fort. »Manche stellen sich mit riesigen Teleobjektiven hin und nehmen Flamingos auf. Und andere«, der Elektriker zuckte mit den Achseln, »die knipsen den Stier. Manchmal sind sie dabei, eh bien, etwas laut und machen Zirkus.«

»Zirkus?«

»Wedeln mit den Armen, strecken die Zunge raus. Einmal hat einer sogar ein rotes Badetuch geschwenkt. Ein Torero in Badehose. Der hätte ziemlich blöd ausgesehen, wenn das Tier wirklich wütend geworden wäre.«

»Wurde der Bulle denn nicht aggressiv?«

»Oh, der war aggressiv. Perfekt trainiert, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber nicht dumm, ganz und gar nicht. Der wusste, dass er das Gatter nicht aufbekam. Der starrte die Touristen bloß an, schnaubte und scharrte mit den Hufen. Als wüsste er, dass er posieren muss.«

»Doch wenn das Gatter offen gewesen wäre …«

»… dann hätte der Stier das sofort kapiert.« Girel nickte. »Wenn Sie mich fragen: Der Monsieur da war ein Tourist, der das Gatter aufgemacht hat, um für ein Foto noch ein bisschen näher ranzukommen. Und dann hat er gemerkt, wie verdammt schnell so ein Rindvieh sein kann. Er will zu seinem Rad zurückrennen, schafft es aber nicht mehr, Ende der Geschichte.«

Blanc dachte daran, dass der tote Cohen von vorne aufgeschlitzt worden war und nicht hinterrücks verletzt, wie es bei einer Flucht der Fall gewesen wäre. Dass keine Kamera zu sehen war. Dass sein Mountainbike weggeschleudert im Graben lag, als sei er während der Fahrt und frontal von dem Kampfstier attackiert worden. Doch das musste er dem Elektriker nicht alles erklären.

»Haben Sie sonst noch etwas gesehen?«

Girel schüttelte den Kopf und machte eine nonchalante Geste mit der Hand. »Ein Auto, vielleicht hundert Meter die Straße hinunter, hinter dem Stier. Es war hell, weiß vielleicht oder gelb oder beige. Aber mehr habe ich nicht erkannt. Das Auto hat beschleunigt, dann war es weg.«

In dieser Sekunde vergaß Blanc die Hitze und den Gestank nach Brackwasser und Blut und das Gesumm der Schmeißfliegen. Sein Kopf war plötzlich klar. »Der Wagen ist davongefahren?«, vergewisserte er sich. »Aber er hat sich jenseits des Stieres befunden? Das heißt, er fuhr in die gleiche Richtung wie Sie, war aber schon irgendwie an dem Tier und dem Toten vorbeigekommen?«

Girel stutzte und lächelte dann verlegen. »Wird wohl so sein, mon Capitaine. Er ist Richtung Arles gefahren, ja. Und er ist eindeutig hinter dem Stier gewesen, mindestens schon einige Hundert Meter. Er ist ziemlich schnell gefahren.«

»Unterlassene Hilfeleistung«, kommentierte Tonon halblaut. »Typisch für die Leute hier: Mir ist alles scheißegal. Da liegt einer in seinem Blut auf der Straße, aber da wendet man lieber und haut ab, als sich zu melden.«

»Haben Sie gesehen, dass der helle Wagen auf der Straße gewendet hat?«, fragte Blanc.

Girel schüttelte den Kopf. »Ich habe den Kampfstier gesehen. Dann den Toten. Das Auto so aus den Augenwinkeln. Das ist alles.«

»Das ist nichts«, sagte Tonon.

Blanc hob beschwichtigend die Rechte. Dann spürte er auf dem Unterarm einen Schmerz und schlug mit der Linken auf seine Haut. Zu spät. Er hatte zwar eine Bremse getötet, die so groß wie sein Daumen war, doch hatte sie ihn schon gebissen. Die Stelle schwoll sofort rötlich an und juckte. »Wann haben Sie die Gendarmerie gerufen?«, fragte er verärgert und unterdrückte den Drang, sich wie manisch zu kratzen.

Girel blickte mit Kennermiene auf den Einstich und zuckte dann mit den Achseln. »Nachmittags«, versicherte er. »Ich konnte früh Feierabend machen und …«

»Der Anruf von Monsieur Girels Handy ist um 15.01 Uhr bei uns registriert worden«, warf Brigadier Ronchard beflissen ein.

»Das ist doch schon mal was«, stellte Blanc zufrieden fest. Er entließ Girel und erstarrte plötzlich. Aus der Richtung von Arles näherte sich mit hoher Geschwindigkeit ein Auto der Unfallstelle.

Ein helles Auto.

Eine Sekunde lang war Blanc so nervös, dass er unwillkürlich nach seiner Pistole tastete, die unvorschriftsmäßig im Hosenbund steckte. Dann löste sich seine Anspannung in Wiedersehensfreude auf. Bei dem Wagen handelte es sich um einen zerkratzten, älteren Jeep Cherokee, dessen Achtzylinder so heiser klang, dass ihn nur ein tauber Prüfer durch die letzte contrôle technique gewunken haben konnte. Der Geländewagen stoppte erst im letzten Moment vor der Gendarmerieabsperrung. Eine Frau von Mitte dreißig öffnete lässig die Fahrertür, ihre Züge waren hinter einer bizarr geformten, vierzig Jahre alten Sonnenbrille verborgen.

»Schön zu sehen, dass ich nicht der Einzige bin, der den Sommer durcharbeiten muss!«, rief Blanc und trat zum Jeep. »Willkommen auf dem Schlachtfeld, Doktor Thezan.«

Fontaine Thezan, médecin légiste am Hospital von Salon-de-Provence, küsste ihn auf beide Wangen und umhüllte ihn dabei für einen Augenblick mit einer Duftwolke aus teurem Parfum und Marihuana. Blanc hatte sich längst an ihren Drogenhauch gewöhnt und war der Gerichtsmedizinerin in dieser Situation sogar dankbar dafür, dass sie ihn ein paar Sekunden lang vor den anderen Gerüchen abschirmte. Er blickte kurz Richtung Beifahrersitz, auf dem sich ein gelangweilter Mann lümmelte. Seine verwuschelten Haare waren zwischen zwei riesigen weißen Kopfhörern eingeklemmt, die zu einem iPad führten, das er auf den Knien balancierte. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck der britischen Flagge, war mindestens zehn Jahre jünger als Doktor Thezan und wirkte nicht wie ihr Assistent. Sie machte keine Anstalten, ihren Begleiter vorzustellen, sondern griff sich ihre Instrumententasche, ging ohne Eile zum Toten und streifte sich dabei Schutzhandschuhe über.

Blanc kannte die Medizinerin nur von der Arbeit und wusste nichts über ihr Privatleben. Also fragte er nicht nach ihrem Begleiter, sondern ließ sie ihre Arbeit machen. Ihre Bewegungen waren präzise und professionell, und doch kam es ihm so vor, als würde sie das Opfer mit äußerster Behutsamkeit, ja mit einer seltsamen Zärtlichkeit betasten. Sie drehte den Körper nach einiger Zeit auf die Seite, anschließend löste sie vorsichtig den Helm vom Kopf und zog die zerfetzten Reste des Trikots vom Oberkörper. Cohens Augen waren geschlossen, sein Mund war verzerrt. Doch Blanc, der der Ärztin über die Schulter blickte, konnte am Kopf weder Hämatome noch offene Wunden erkennen.

»Schwere innere Verletzungen. Schwere Blutungen«, murmelte Fontaine Thezan, als sie sich endlich wieder aufrichtete.

»Jetzt, wo Sie es sagen, erkenne ich es auch«, erwiderte Blanc.

»Passen Sie auf, dass Sie keinen Hitzschlag bekommen. Oder einen anderen Schlag, mon Capitaine.« Die Gerichtsmedizinerin streifte sich die Handschuhe ab. Sie kramte in ihrer Tasche herum und holte eine Tube heraus, aus der sie ein farbloses Gel drückte, das sie ungefragt auf Blancs Unterarm rieb. Er lächelte dankbar, denn es kühlte seinen Bremsenbiss.

»Sieht so aus, als seien Lunge, Magen und Leber getroffen worden«, fuhr Doktor Thezan ungerührt fort. »Den genauen Befund gebe ich Ihnen, nachdem ich den Mann auf dem Tisch hatte. Ich brauche auch die beiden Stierhörner«, ordnete sie an und wandte sich dabei an Ronchard, der nun noch unglücklicher dreinblickte.

»Bin mal gespannt, ob ich Drogen nachweisen kann«, verkündete Fontaine Thezan.

Blanc sah sie erstaunt an. »Wie kommen Sie darauf? Nur weil Sie das Opfer ein wenig abgetastet haben?«

»Weil ich Paris Match lese«, erwiderte die Gerichtsmedizinerin und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Ich schaue meinen Patienten nicht nur in die Eingeweide, sondern auch ins Gesicht. Ich habe Monsieur Cohen durchaus erkannt, mon Capitaine. Und offenbar habe ich im Gegensatz zu Ihnen vor zwei oder drei Wochen in ›Paris Match‹ gelesen, dass er einen leichten Herzinfarkt gehabt haben soll. Er ist für eine Zeit lang in einem Reha-Zentrum irgendwo in der Bretagne gewesen. Doch die Journalisten waren indiskret und haben auch etwas von Kokainmissbrauch geschrieben. Nach dem Klinikaufenthalt ist er jedenfalls zu seinem Verleger in den Süden gereist, um sich in der Provence weiter zu erholen.«

»Diese Kur hat definitiv nicht funktioniert.«

»Das wird den Verleger freuen«, warf Tonon ein. »In Paris entlassen sie gerade eine Legion Journalisten, weil niemand mehr Zeitungen liest. Jetzt muss der Verleger einen teuren Prominenten weniger feuern.«

»Klingt doch schon mal nach einem guten Mordmotiv«, erwiderte Blanc, nur halb im Scherz.

Nun, da die Gerichtsmedizinerin fertig war, streifte auch er sich Handschuhe über und tastete den Toten vorsichtig ab. Keine Papiere, kein Geld. In einer Tasche der Radlerhose fand er eine halb aufgebrauchte Salbe zur Linderung von Bremsenbissen. Nicht dumm, dachte er, Cohen fuhr nicht zum ersten Mal durch die Camargue. Die andere Tasche zeigte die typische Ausbeulung eines Handys. Blanc fischte ein iPhone heraus, neuestes Modell, kein Headset. Girel könnte also doch recht gehabt haben: Cohen hielt an, öffnete das Gatter, wollte mit dem iPhone ein paar Schnappschüsse machen. Das Gerät hatte die Attacke wie durch ein Wunder ohne eine einzige Schramme überstanden. Es war mit einem Code gesperrt, sodass Blanc nicht prüfen konnte, ob Cohen vor seinem Tod geknipst hatte. Er würde es seiner Kollegin Fabienne Souillard überlassen, den Speicher des Handys zu knacken. Mal sehen, ob es dort Bilder eines wütenden Kampfstieres zu sehen gab.

Sonst trug der Tote nichts bei sich, nicht einmal einen Schlüssel. Am Rahmen des Mountainbikes waren eine fast volle Wasserflasche sowie eine kompakte Luftpumpe befestigt. Alles sah so aus, als habe Cohen bloß eine kurze, sportliche Runde durch die Camargue drehen wollen. Doch Girels Bericht über das davonfahrende Auto wollte nicht aus seinem Kopf.

Als die Gerichtsmedizinerin eine halbe Stunde später ihre Tasche auf der Rückbank des alten Jeeps verstaute und anschließend begann, ein Formular über ihre ersten Beobachtungen auszufüllen, raste ein 3er BMW heran und wäre beinahe in den Geländewagen gekracht. Die Limousine schimmerte silbermetallic, und alle Seitenfenster waren schwarz verdunkelt. Der Fahrer machte sich nicht die Mühe, den Motor auszustellen, als er die Tür aufriss und aus dem Auto stürzte. Es war ein hagerer, mittelgroßer Mann zwischen vierzig und fünfzig – jener Typ, dachte Blanc sofort, der fast immer leise war, aber sich in zerstörerische Rage steigern konnte, wenn er provoziert wurde. Wie jetzt. Er hielt einen schmalen, nach billigem Tabak stinkenden Zigarillo in seiner zitternden Linken. Er trug eine Jeans und ein schwarzes, langärmliges Hemd, das bis hinunter zu den Manschetten mit goldenen Stickereien verziert war.

»Aurélien Férréol«, flüsterte Ronchard, »der Züchter des Kampfstiers. Wir haben ihn angerufen.«

Der Mann ging mit großen Schritten bis zu dem toten Tier und starrte lange auf den Kadaver. Dann eilte er zu Blanc. Dem toten Radfahrer widmete er keinen Blick.

»Tassou war vier Jahre alt!«, rief er. »Es hat mich ein Vermögen gekostet, den Stier so weit zu bringen. Der kämpft seit zwei Jahren und ist schon drei Mal zum meilleur taureau gewählt worden, zum besten Stier einer Veranstaltung. Er war wieder bereit für die Arena in diesem Herbst. Nächsten Monat ist die course camarguaise in Pélissanne, die Plakate sind schon gedruckt, merde! Und da kommen Sie und knallen Tassou einfach ab! Connards! Ich bringe Sie vor Gericht!«

»Dann stehen wir möglicherweise Seite an Seite vor einem Richter, Monsieur Férréol«, erwiderte Blanc ungerührt. »Denn Sie tragen die Verantwortung für dieses Tier.« Er sprach sehr höflich, doch maß er den Züchter mit einem kühlen Blick.

Férréol wich einen Schritt zurück, starrte Blanc an, starrte das erste Mal auf den Toten, starrte danach wieder auf Blanc. Ein Mann, der verunsichert wurde, wenn man seinen Ausbrüchen angstfrei entgegentrat.

»Das Gatter entspricht allen Vorschriften«, erwiderte er defensiv.

»Das Gatter steht offen.«

»Dann finden Sie verdammt noch mal heraus, wer es geöffnet hat!«

»Das werde ich«, versprach Blanc. »Wo waren Sie in der letzten Stunde, Monsieur Férréol?«

Der Züchter schwieg verblüfft. »Sie verdächtigen ausgerechnet mich?«, rief er schließlich empört.

»Bitte beantworten Sie meine Frage.«

»Putain, ich war auf einer offiziellen Sitzung des Club Taurin«, erklärte Férréol und deutete auf sein besticktes Hemd, auf dessen linker Brustseite ein Vereinsabzeichen prangte. »Sehen Sie das nicht? Ich bin der Vizepräsident.«

Blanc schüttelte den Kopf. Er hatte noch nie ein derartiges Kleidungsstück gesehen.

»Die Vereinigung der raseteurs, der Züchter und aller Freunde des Stierkampfes«, fiel Marius ein. »Sie organisiert die jährlichen Kampfprogramme. Das Hemd ist so etwas wie ihre Tracht.«

»Wir hatten eine Versammlung in Alleins«, fuhr Férréol fort. »Seit heute Morgen.«

Blanc nickte Marius zu, eine Geste, die bedeutete: Überprüf das später!

»Wann waren Sie zuletzt hier?«

Férréol zuckte mit den Achseln. »Ich muss nicht ständig hier sein. Der Bulle kann ja gut auf sich aufpassen.« Er dachte nach. »Vor zwei Tagen. Und ich habe mich nicht auf die Weide gewagt, sondern bin schön draußen geblieben.«

Blanc schloss die Augen. Es gab keinen offensichtlichen Grund zur Annahme, dass der Züchter log. Und wenn seine leicht nachprüfbare Aussage stimmte, dann hatte er ein betonhartes Alibi. »Gab es Drohungen?«, fragte er.

Férréol sah aus, als würde er Blanc am liebsten einen Kinnhaken verpassen. »Gegen mich? Ich habe keine Feinde, aber viele Freunde hier«, stieß er hervor.

»Keine Erpressung? ›Sie schicken mir fünftausend Euro, oder ich lasse den Stier frei!‹ So etwas. Oder«, er erinnerte sich plötzlich an einen Fall, der im Vorjahr in Paris für Aufsehen gesorgt hatte, »vielleicht von militanten Tierschützern? Es gibt ja auch Menschen, die von Stierkämpfen nicht so begeistert sind.«

»Die grünen Spinner lassen Hühner aus dem Käfig, aber selbst die sind nicht so blöd und wagen sich an einen Bullen heran. Und außerdem laufen die meisten manades sowieso frei durch die Camargue.«

»Manades?«, fragte Blanc.

»Die Rinderherden. Die schwarzen Rinder in der Camargue sind die letzten echten wilden Tiere in Europa. Die haben keinen Bauern nötig, der sie in den Stall treibt und ihnen den Euter massiert. Höchstens mal einen gardian, der die Herde zusammentreibt. Ansonsten streifen sie durch den Sumpf und die Crau, so frei, wie Gott sie schuf. Selbst die Kühe kalben draußen.«

»Aber dieser Stier hier stand auf einer Weide.«

»Ich habe ihn dort für den Kampf trainiert. Und so kurz vor der neuen Saison sollte Tassou nichts mehr zustoßen, merde

»Wo wohnen Sie?«, wollte Blanc schließlich wissen. »Falls wir noch weitere Fragen haben.«

»Und damit Sie wissen, wohin Sie den Scheck schicken müssen. Ich stelle Ihnen das Tier in Rechnung.« Er zückte aus der bestickten Hemdtasche eine flache, silberne Box und reichte Blanc eine Visitenkarte. Schweres Papier, zwei eingeprägte Kampfstiere als eine Art Wappen über dem Namen, eine Adresse in Saint-Gilles.

»Der Züchter wird dich nicht zum Rinderbraten einladen«, murmelte Marius, während sie zusahen, wie Férréol in seinem BMW davonbrauste.

Blanc schritt anschließend noch einmal die ganze Unfallstelle ab. Er hielt vor dem Gatter an und ging in die Hocke. Vorsichtig berührten seine Fingerspitzen den sandigen Boden. Er roch Erde, Salz und Vieh. Die meisten Spuren schienen verwittert zu sein. Am Rande der Fläche entdeckte er zwei breite Striche. »Da hat es jemand eilig gehabt, von hier fortzukommen«, murmelte er. »Das waren durchdrehende Reifen.«

»Pass auf, dass du nicht durchdrehst«, erwiderte Marius. »Diese Sonne bekommt niemandem gut.«

Blanc ignorierte den Einwurf und kniete sich vor den Spuren hin: unmöglich, ein Profil zu erkennen. Sie hatten nichts, um jemals das Auto identifizieren zu können, das hier davongebraust sein musste. Die Spuren waren an den Seiten ausgefranst. »Der war so schnell, dass er beim Anfahren sogar geschleudert ist«, vermutete Blanc.

»So schnell sollten wir jetzt auch sein, um nach Gadet zurückzufahren. Ich verdurste.«

Blanc, noch immer auf Knien, schaute plötzlich zum offenen Gatter. Ein kleiner, silbriger Blitz hatte von dort den Rand seiner Netzhaut getroffen. Er blickte genauer hin. Ein Funkeln, ein Sonnenreflex, wie von einem Glassplitter im Staub.

Dort lag aber kein Glas.

Ein mas in der Camargue

»Lass dir mit dem Verdursten noch etwas Zeit«, murmelte Blanc, während er aufstand. »Da vorne liegt etwas im Dreck.«

»Putain«, entfuhr es Marius.

Blanc eilte bis zum geöffneten Gattertor und klaubte direkt unter dem Flügel ein fingerlanges Stück schwarzen Leders aus dem Staub. Ein Ende war ausgefranst, am anderen hing ein Dorn aus Metall – jener Dorn, der die Sonne reflektiert hatte.

»Sieht aus wie der Teil einer Schnalle«, warf Ronchard ein, der neugierig näher gekommen war.

»Von einer Armbanduhr«, behauptete Blanc.

»Oder es war Teil einer Tasche. Meine Tochter hat Handtaschen, die eigentlich nur noch aus Bändern und Schnallen bestehen.«

»Trägt sie die auch in der Camargue spazieren?«

Ronchard schwieg.

Blanc lächelte. »Ein Armband«, wiederholte er für sich. Es gab einmal eine Phase in seinem Leben, da hatte er die Muße und die Kraft für ein Hobby gefunden: die Kinder nicht mehr klein, aber auch noch nicht groß, seine Ehe in so sicheren Bahnen, dass er dachte, erst der Tod würde sie scheiden, das Appartement in Paris beruhigend weit abbezahlt. Da begann er in seiner kargen Freizeit, sich für mechanische Geräte zu interessieren. Ihn hatte einfach irgendwann die alte Kunstfertigkeit fasziniert, komplizierteste Apparate nur mittels Federn und Zahnrädern so zu bauen, dass sie ohne Batterien und Ladegeräte und tausend Kabel funktionierten. Er hatte vom Überstundengeld einiger Nachtschichten eine alte Leicaflex SL erstanden und Schwarz-Weiß-Fotos vom Eiffelturm gemacht. Die Abzüge hatte er selbst entwickelt, ein Kollege von der Spurensicherung hatte ihm seine private Fotolaborausrüstung geschenkt. Ein geschiedener Kollege mit älteren Kindern – es hätte ihm eine Warnung sein sollen. Die alte Kamera und die Laborgeräte mussten irgendwo in dem Kram vergraben sein, den er nach der Trennung von Geneviève in sein Auto gestopft und gen Süden transportiert hatte.

Blanc hatte sich auf den Trödelmärkten auch nach Armbanduhren umgesehen. Heuer, Rolex, Jaeger-LeCoultre – die Schweizer Manufakturen waren ihm so geläufig geworden wie anderen die Namen von Bars. Er hatte Sammlerzeitschriften gekauft und auch das eine oder andere Buch. Aber er hatte nie eine Uhr erstanden. Was hätten die Kollegen gedacht, wenn ausgerechnet ein Korruptionsermittler eines Tages mit einer Omega Speedmaster am Handgelenk zur Arbeit erschienen wäre?