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WERNER SKRENTNY

JULIUS HIRSCH. NATIONALSPIELER. ERMORDET.

BIOGRAFIE EINES JÜDISCHEN FUSSBALLERS

VERLAG DIE WERKSTATT

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Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt, Göttingen

ISBN 978-3-89533-859-5

KAPITEL 1

Vom Land in die Stadt \\\ Liberales Baden \\\ Geburtsort Nervenheilanstalt lllenau \\\ „Dem l. Gott danken“

Julius Hirsch kommt am 7. April 1892 zur Welt. Allerdings nicht in seiner Heimatstadt Karlsruhe, sondern andernorts, wovon zu berichten sein wird.

Die Familie des späteren Fußball-Nationalspielers war vom Land in die Stadt gezogen. Es waren die Pogrome des Mittelalters gewesen, die die Juden einst zum umgekehrten Prozess gezwungen hatten. Erst seit 1862 galt für sie in Baden mit der uneingeschränkten Gleichberechtigung die Freizügigkeit und damit auch die Möglichkeit, sich wieder in den Städten anzusiedeln. Baden, das liberale Großherzogtum, war der erste deutsche Staat, der diese Rechte gewährte.

Karlsruhe, seit 1806 Residenz der badischen Großherzöge und sogenannte Beamtenstadt, erschien dabei nicht unbedingt als Anziehungspunkt für Zuwanderer vom Land. Als attraktiver galt Mannheim, der lebendige Handelsplatz samt seinem wirtschaftlichen Aufschwung infolge Industrialisierung und Hafen. Aber wie auch immer: Die Hirschs zogen nach Karlsruhe.

„Die Gräber meiner Ahnen“

Bei den Vorfahren der Familie tauchen angesichts der oben geschilderten Entwicklung die Dörfer Obergrombach und Untergrombach bei Bruchsal in Nordbaden als Geburts- und Sterbeorte auf. Heinold (Heino) Hirsch, der Sohn des Nationalspielers, hat diese Orte in jungen Jahren um 1934 einmal besucht und in einem Schulaufsatz in der NS-Zeit seine Erinnerungen festgehalten: „Ein herrlich gelegener, stiller Waldfriedhof bei Untergrombach birgt die Gräber meiner Ahnen väterlicherseits. Leider hat der Einfluss der Witterung die Schrift fast ganz unleserlich gemacht. Übrigens hätten die Namen auch keinen großen Wert, da die Juden erst ab 1812 Familiennamen annehmen mussten, und zwar innerhalb kurzer Zeit, wodurch sich auch die vielen wunderlichen Namen erklären, die bei Juden häufig vorkommen.“

Auf dem Jüdischen Friedhof von Obergrombach, den Heinold Hirsch um 1934 aufgesucht hat, werden 1938/39 in der NS-Zeit 1.800 Grabsteine umgeworfen und entfernt. 1992 hat man etwa 700 davon geborgen und zurück auf den Friedhof gebracht.

Geburtsort Achern bzw. Illenau

Der Großvater von Julius Hirsch, Raphael Hirsch, war Landwirt in Weingarten bei Karlsruhe. Er wurde einer der ersten Agenten der Feuerversicherung Colonia, 1839 als Kölnische Feuer-Versicherungs-Gesellschaft vom Bankhaus Sal. (d.i. Salomon) Oppenheim jr. & Cie gegründet. Auch der Vater von Julius Hirsch, Berthold Hirsch, wurde 1848 im badischen Weingarten, damals zugehörig zum Amt Durlach, geboren.

Als Berthold Hirsch am 23. Februar 1874 „Fräulein Emma Erlanger aus Buchau am Federsee im Königreich Württemberg“ heiratet, ist er bereits in Karlsruhe als Kaufmann in der Textilbranche ansässig. Emma Hirsch, geb. Erlanger, ist bei der Eheschließung 24 Jahre alt. Sie stammt aus dem erwähnten Buchau (heute Bad Buchau) in Oberschwaben, dessen jüdische Gemeinde kurz nach Emmas Geburt im Jahr 1850 828 Angehörige zählt – das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung des Ortes. Emmas Eltern Marx Erlanger und Pauline zählen sieben Kinder. Der Geburtsname von Pauline übrigens ist Einstein – und der Vater Hermann des späteren Nobelpreisträgers Albert Einstein stammt wie sie aus Buchau.

Die berufliche Laufbahn von Emma Hirsch, der Mutter von Julius, lässt sich recht präzise nachzeichnen: Schulbesuch in Buchau bis zum 14. Lebensjahr, anschließend als Hilfe bei Verwandten im Kurort Homburg vor der Höhe in Hessen (heute Bad Homburg) beschäftigt, vermutlich in einem Modegeschäft. „Ein lebhafter Geist mit Witz und Humor begabt“, vermerkt ihre Patientenakte in der Illenau (die auch Quelle für weitere Zitate ist). Emma Erlanger wird Directrice und kehrt, 20 Jahre jung, zurück nach Buchau, wo sie ein Damenhut-Geschäft eröffnet, „in welchem sie sich in Folge Geschmacks und guter Manieren eine große Kundschaft erwarb“. Enkel Heinold beschreibt seine Großmutter 1938 in einem weiteren Schulaufsatz als „schöne, stattliche Frau, die wie mein Großvater Benjamin (Anm.: d.i. Berthold Benjamin Hirsch) in der Welt weit herumkam. Sie war zur Ausbildung als Modistin in Paris und eine lebenstüchtige Frau.“

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Die neu erbaute Häuserzeile Kaiserstr. 164-172 entstand auf dem Terrain des ehemaligen Langenstein’schen Gartens. Ins Gebäude nr. 166 zog die Tuchhandlung Gebrüder Hirsch ein.

Beruflich kommt auch Ehemann Berthold in der badischen Residenz Karlsruhe voran. Die Textilbranche ist eine jüdische Domäne, und die Tuchhandlung Gebrüder Hirsch – Teilhaber sind neben Berthold noch dessen Brüder Albert und Bernhard – lässt sich schließlich in der Kaiserstraße 166 nieder, bis heute die Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Berthold Hirsch ist beruflich viel unterwegs; seine Reisen dauern bis zu vier Wochen, und als Unterkünfte nutzt er noble Hotel-Etablissements.

Sieben Kinder, 14 Schwangerschaften

Bevor Emma Hirsch 1892 Julius das Leben schenkt, bringt sie sechs Kinder zur Welt: Anna (1877), Rosa (1878), Hermann (31.7.1879), Leopold (14.11.1880), Max (1887) und Raphael (unbekannt). Zwischen 1874, dem Zeitpunkt der Heirat, und 1890 werden weitere sieben Kinder geboren. Die ersten beiden, 1874 und 1875, sind Fehlgeburten. Emma erholt sich danach in Griesbach im Schwarzwald, ein dreiviertel Jahr lang ist sie bettlägerig. Zwei Kinder sterben früh an Schwäche und Durchfall. Es ereignen sich zwei weitere Fehlgeburten, und ein Kind kommt 1889 infolge von Diphterie ums Leben. Als Emma Hirsch am 10. Oktober 1891 in der Klinik untersucht wird, ist sie erneut schwanger.

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Zur Goldenen Hochzeit der Eltern von Julius Hirsch 1924 wurde dieser Stammbaum erstellt.

Dies sind 14 Schwangerschaften im Zeitraum von 18 Jahren. Nach einer weiteren Entbindung 1883 erleidet die Frau drei Wochen später während einer Erholungsreise in ihren Heimatort Buchau einen Schlaganfall. Zurück bleibt eine Sprachstörung. Ein weiterer, diesmal leichterer Schlaganfall trifft sie 1887. Ihre Persönlichkeit verändert sich infolge der Krankheit, und ein Professor diagnostiziert Paralysis incipiens (eine beginnende Lähmung). Im Erholungsort Triberg im Schwarzwald wird sie 1889 vier Wochen lang behandelt, und auch den August 1891 verbringt die Frau zur Erholung im Schwarzwald. „Viele häusliche deprimierende Ereignisse, Todesfälle und Krankheiten“ (Patientenakte der Heilanstalt Illenau) führen schließlich zur Diagnose: „Demenz nach Schlaganfall“.

Emma Hirsch, sie ist damals 40 Jahre alt, wird am 10. Oktober 1891 nachmittags auf Anraten des praktischen Arztes Dr. Lyon Seeligmann aus Karlsruhe in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern aufgenommen. Illenau, das steht für „Verrückte“, wie man damals psychiatrische Patientinnen und Patienten bezeichnete. Noch in jungen Jahren des Autors in Württemberg hieß es bei entsprechendem Verdacht: „Der kommt noch nach Zwiefalten!“ In Baden haben sie dafür Wiesloch und eben die Illenau in Achern im Mittelbadischen genannt.

Diese weit verbreitete und vorurteilsbeladene Ansicht, die unter „Volksmund“ firmiert, lässt den damaligen Standard der Nervenheilkunde außer Acht, der sich auch in den vorbildlichen Behandlungsmethoden der Illenau niederschlug. Die moderne Heilanstalt genoss als großräumiges „Landasyl“ mit Freiräumen, Gärten und Feldern europaweit einen ausgezeichneten Ruf, und viele Patientinnen und Patienten konnten als geheilt entlassen werden.

Die Patientenakten der Anstalt kann man heute im Staatsarchiv Freiburg einsehen. Wir werden uns hier auf biografische Angaben beschränken, denn die detaillierte Krankengeschichte von Emma Hirsch ist für dieses Buch nicht von Belang.

„Ein kräftiger Knabe“

Emma Hirsch bleibt vom 10. Oktober bis 23. Dezember 1891 in der Illenau. Ehemann Berthold holt sie ab, als im Ludwig-Wilhelm-Stift in Karlsruhe eine erneute Entbindung vorgesehen ist. Diese findet nicht statt: Es muss eine Fehldiagnose vorgelegen haben. Am 10. Januar 1892 kehrt Emma Hirsch in die Illenau nach Achern zurück, und am 7. April wird dort ihr Sohn Julius, das jüngste Kind der Familie, geboren. Sie wird ihn, wie die anderen Kinder zuvor, nicht stillen können: Das erledigen Ammen.

Die Patientinnenakte berichtet unter dem Datum 7. April 1892: „Die Patientin, welche seit ihrer zweiten Aufnahme auf Gravidität (Anm.: Schwangerschaft) in Rücksicht auf die Schwierigkeit der Untersuchung nicht wieder untersucht worden ist, da das Gutachten des Geheimrats Molitor, Karlsruhe, eine Schwangerschaft ausschloss, kommt heute früh 9 ½ Uhr mit einem kräftigen Knaben nieder. (…) Geburt verläuft normal. (…) Am 9. April Kind zur Hebamme gegeben.“

Julius Hirsch, der Neugeborene, wird 47 Jahre später aus ganz anderen Gründen als Patient in die Illenau zurückkehren. In seinem Aufnahmeprotokoll werden die Ärzte den Geburtsort Achern bzw. Illenau dann mit einem roten Ausrufezeichen versehen.

Emma Hirsch bleibt noch bis August 1892 dort. Ihr Ehemann Berthold schreibt am 27. November 1893 „An die Direction der Grossherzoglichen Badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau“: „(…) habe ich die Ehre Ihnen hiermit die erfreuliche Mitteilung zu machen, dass es meiner l. Frau sehr gut ergeht.(…) Die häusliche Arbeit, die Umgebung und die nach Kräften genossene Schonung, auch der tägliche Aufenthalt in freier Luft, hat dazu beigetragen, dass jetzt meine l. Frau wieder vollständig gesund ist, wofür ich dem l. Gott nicht genug danken kann.“

KAPITEL 2

„Karlsruhe, Deutschlands Fußballmetropole“ \\\ Sportpresse-Anfänge \\\ Hirsch erlebt Oxford, einen Zuschauerrekord und schließt Freundschaft mit Gottfried Fuchs

„Karlsruhe, Deutschlands Fußballmetropole“? Aus heutiger Sicht würde man diesen Begriff bestimmt nicht mehr wählen. Lang, sehr lang, ist das her in einer Zeit, in der sich Fernsehzuschauer wie der Autor angesichts des Einwurfs von ARD-„Sportschau“-Moderator Reinhold Beckmann anno 2011 wie Zeitzeugen auf dem Altenteil vorkommen müssen: „Wer weiß eigentlich noch, dass der 1. FC Saarbrücken in der Bundesliga spielte?“ (Anm.: Erstmals war das 1963/64.)

Jedoch: Anfang des 20. Jahrhunderts genoss Karlsruhe diesen Ruf der „Fußballmetropole“, dank der beiden Deutschen Meister Phönix Karlsruhe und Karlsruher FV. Doch bereits in den 1920er Jahren galten beide Klubs als „Altmeister“, eine Bezeichnung, die später auf den Nürnberger „Club“ und Schalke 04 überging. Heute ist dieser Begriff nicht mehr gebräuchlich, obwohl es dafür reichlich Kandidaten geben würde.

„Aus Deutschlands Fußballmetropole“ war denn auch ein Beitrag der „Illustrierten Sportzeitung“ aus München vom 19. Mai 1910 betitelt:

„Wer fragt, wo in Deutschland Fußball gespielt wird, dem wird der Eingeweihte immer in erster Linie den Namen der badischen Residenzstadt Karlsruhe nennen. Durch die fast leidenschaftliche Hingabe vieler Anhänger des Fußballspiels während einer langen Reihe von Jahren ist das anfangs auch in Karlsruhe verkannte Fußballspiel so hoch gekommen, dass heute dort fast kein erstklassiges Wettspiel ohne die Teilnahme Tausender stattfindet.

Das Schöne ist, dass die Zuschauer aus allen Bevölkerungsschichten sich zusammensetzen. Da sehen wir Soldaten mit ihren Mädels am Arm, dort Mitglieder des Fürstenhauses; auch alle Altersstufen sind vertreten, die Schuljugend und ergraute Männer. Arm und reich, jung und alt werden durch das Fußballspiel begeistert. Das will etwas heißen in einer Stadt, deren gesellschaftliches Leben als steif und spießbürgerlich bezeichnet wird.“

Ähnliches wiederholte die Zeitschrift im selben Jahr: „Einige Tausend Einwohner der badischen Residenz verbringen den Sonntag-Nachmittag regelmäßig bei den Fußball-Wettkämpfen. Die Ligameisterschaftsspiele sind zu Ereignissen geworden, welche im öffentlichen Leben der Stadt viel bemerkt werden. Seit in Deutschland Associations-Fußball gespielt wird, hört man von den vollendeten Leistungen Karlsruher Mannschaften. Karlsruhe ist die Wiege des deutschen Fußballsportes.“

Fußballpate Walther Bensemann

Der Pate an dieser Wiege – oder besser: „Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte“, so der Titel des biografischen Romans von Bernd-M. Beyer (der zwischenzeitlich in Karlsruhe so geläufig ist, dass ihn die Nachkommen von Zeitzeugen zitieren!) – hieß Walther Bensemann (1873-1934). Bensemann, eine der herausragenden Persönlichkeiten deutscher Fußballgeschichte, lebte ab 1889 als Schüler in Karlsruhe, hatte den sogenannten Associations-Fußball in der badischen Residenz eingeführt und gilt als (Mit-)Begründer des Karlsruher Fußball-Vereins (KFV). Wann immer später von der Fußballhochburg Karlsruhe berichtet wurde, oft auch aus Bensemanns Feder, nahm der jüdische Pädagoge die Hauptrolle ein. Von Karlsruhe und dessen früher Fußballtradition hat Walther Bensemann zeitlebens nie gelassen.

Auch 1910 wurde er wieder einmal erwähnt, in Erinnerung an die 1890er Jahre, „als Bensemann zum ersten Male einen freien Platz in Karlsruhe mit Tuch umspannen ließ, um 10 Pfg. Eintritt zu erheben“. Ein Vergleich mit damals zeige „drastisch, wie mächtig die Fußballbewegung in Karlsruhe sich ausgedehnt hat“, denn die Eintrittspreise würden nun 50 Pfennige bis drei Mark betragen. Gebe es wie 1910 an einem Tag zwei Ligabegegnungen in der Stadt, „so laufen viele Zuschauer nach Beendigung des einen Spieles im Sturmschritt zu dem beträchtlich entfernten anderen Platz, um auch das andere Spiel anzusehen“.

Das Fazit des Beitrags: „Zweifellos ist die Ausdehnung einer solchen Bewegung sehr erfreulich und gewiss fördernswert, nachdem dieselbe für alle Beteiligten den Aufenthalt in frischer Luft mit sich bringt.“ Ja, derlei hat man vor einiger Zeit von älteren Männern nach einem miserablen Spiel auf der inzwischen leider abgegangenen Spielstätte von Concordia Hamburg gehört: „Wenigstens waren wir an der frischen Luft!“

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Fußball-Pioniere in der badischen Residenz: Vermutlich von 1894 stammt dieses Foto der Karlsruher Kickers; sitzend ganz links Ivo Schricker, im Zentrum Walther Bensemann mit Ball.

„Spießbürgerstadt ohne Kaffeehaus-Konzerte“

Auch in der heutzutage vor allem vom lokalen „Hamburger Abendblatt“ proklamierten „Weltstadt“ an Alster und Elbe zollte man seinerzeit „Karlsruhes Fußballverhältnissen“ Respekt.

In den „Mitteilungen des SC Germania“ (Hamburg), einem Vorläufer des Hamburger SV, berichtet stud. mach. Alfred Lohse im März 1912: „Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die badische Hauptstadt eine so hervorragende Stellung in dem deutschen Fußballwesen einnimmt. Karlsruhe ist trotz seiner 130.000 Einwohner eine Spießbürgerstadt in des Wortes wahrster Bedeutung. Nach einigem Suchen findet man da zwei größere Café, aber ohne Konzert. In Hamburg ist das Caféleben jetzt meist unzertrennlich vom Fußballspiel geworden.“

Dass der Fußball in der badischen Residenz eine dominierende Rolle spiele, liege am „fast gänzlichen Fehlen weiterer Sportsarten“. Auch gebe es „kein charakterloses Hin- und Herlaufen der Mitglieder zwischen den einzelnen Vereinen. Pekuniär stehen diese dank der großen Zuschauermengen tadellos da.“ „Die Vereine in K.“, die „nach Art studentischer Korporationen“ auftreten würden, „führen dem Publikum wirklich einwandfreies und faires Spiel vor und besitzen fußballerzogene junge Leute und nicht eine Horde halbgebildeter Schüler, oder, was noch schlimmer, eine Reihe gänzlich ungebildeter Schlag- und Faustballspieler.“

Vor allem Studenten würden beim Karlsruher FV, dem Stammverein von Julius Hirsch, und Phönix spielen, FV Beiertheim („rüde Kampfesnaturen“) und FC Mühlburg – ebenso wie Phönix ein Gründungsverein des heutigen Karlsruher SC – sich dagegen aus den gleichnamigen Arbeitervierteln zusammen setzen. Für KFV und Phönix spreche auch die Möglichkeit, dort den Tennissport zu pflegen.

Noch 1924 preist die Zeitschrift „Fußball“ geradezu hymnisch das Auftreten des Karlsruher FV: „ein einfach feiner Dress, schwarze Hosen, weißes bauschiges Hemd und mit einem Vereinswappen über dem Herzen. Dicke, graue Wollstümpfe, die oben in die schwarzroten KFV-Farben ausliefen und dort zu dicken Wulsten umgedreht wurden.“ Elegante Kleidung, ungewöhnliche Intelligenz und Eigenart hätten die Spieler ausgezeichnet, die „im gesellschaftlichen und beruflichen Leben erste Posten“ innegehabt hätten.

Die Sportzeitung aus der Amalienstraße

Es passt ins Bild, dass Karlsruhe sogar eine eigene Fachzeitschrift für den Fußballsport besaß. Es war die „Süddeutsche Sportzeitung“, verlegt von Karl Bonning in der Amalienstraße 55. Leider sind von dieser Zeitschrift heute nur wenige Jahrgänge überliefert. Auf die erhältlichen Exemplare musste der Autor lange Monate warten, denn zu Recht waren sie beim Buchbinder in Behandlung. 1907 jedenfalls meldete diese Karlsruher „Illustrierte Wochenschrift für die Gesamtinteressen aller sportlichen Spiele. Fußball, Lawn-Tennis, Athletik, Hockey etc. Alleiniges amtliches Organ des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine. Offizielles Organ des Deutschen Fußball-Bundes“ bereits den dritten Jahrgang.

Obwohl als Lehrer in England ansässig, war auch in diesem Blatt der umtriebige einstige Karlsruher Fußball-Pionier Walther Bensemann mit ausführlichen Beiträgen präsent. 1907 verhinderte er sogar die Abspaltung des bedeutenden Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine vom DFB. Den entsprechenden Dringlichkeitsantrag des Karlsruher FV, der mit 247 gegen 189 Stimmen positiv ausging, hatte er initiiert und dabei auch gleich den VSFV-Vorstand gestürzt. Dem neuen Vorstand gehörte Bensemann als Verbindungsmann zum DFB an („Bundesbevollmächtigter“). Allerdings nicht lange, denn er hatte nun mal seine Prinzipien.

Hier nun kommt – Fußball-Hochburg Karlsruhe eben – ein anderer Pionier ins Spiel, zuständig für die Sportpresse und bislang genauso wenig gewürdigt wie andere seiner Kollegen aus jenen frühen Jahren. Eugen Seybold hieß er, sein Name steht für die heute nicht mehr existente langjährige Fachzeitschrift „Der Fußball“ aus München.

Über Sport schreiben und den Sport auch betreiben, das war damals oft eins. Der Stuttgarter Kaufmann Seybold siedelte 1901 ins bayerische Landau in der Pfalz über, begründete im März 1902 die Landauer Fußballgesellschaft (LFG), deren Vorsitzender er war, und 1903 den Verband Pfälzer Vereine für Bewegungsspiele (erster Fußballmeister: FC 1900 Kaiserslautern). Es wären jetzt noch mehr seiner Meriten aufzuzählen, und natürlich war Eugen Seybold auch Fußballer und Leichtathlet.

Seine Laufb ahn als Schrift-leiter der „Süddeutschen Sportzeitung“ in Karlsruhe endete mit dem 12. August 1907. Uneins mit dem Verleger Karl Bonning, trat er zurück (oder wurde entlassen). Sein „erster Versuch zur Schaff ung einer Zeitung, die dem süddeutschen Sport bereits einige Dienste geleistet hat“, war gescheitert. Dass als Seybolds Nachfolger der Vorsitzende des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine, Max Dettinger vom 1. FC Pforzheim, inthronisiert wurde, wollte Bensemann nicht akzeptieren: Funktionär und gleichzeitig Redakteur, hier lag ein Interessenkonflikt vor. Bensemann trat zurück und opponierte z. B. in der „Berliner Zeitung“ heftig gegen die Karlsruher Verhältnisse, was auf vielen Seiten der „Süddeutschen Sportzeitung“ nachzulesen ist.

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Zum „Fest-Kommers“ für den Deutschen Fußball-Meister Karlsruher FV lud der Verein am Samstag, 25. Juni 1910, in den Festsaal des „Hotel Friedrichshof“ (Karl-Friedrich-Str. 28) der Brauerei Sinner Grünwinkel in Karlsruhe.

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Großer Andrang auf dem KFV-Platz, der in der damaligen Fußballhochburg Karlsruhe auch eine Tribüne besaß.

Bei dieser „Süddeutschen Sportzeitung“ aus Karlsruhe hatte Bensemann aber auch Einiges gelernt, was ihm später als Herausgeber des „kicker“ zugute kommen sollte. Der Vertrieb der „Sportzeitung“ war sehr professionell organisiert: Am Mittwoch erschien sie, erhältlich in den Karlsruher Kiosken an der Hauptpost, am Karlstor und bei der Germania. Ausgelegt war sie zudem – eine kleine Karlsruher Lokalkunde – im „Café Bauer“, „Hotel Erbprinz“, „Restaurant Prinz Karl“, „Restaurant zum Moninger“ (das Stammlokal des KFV), „Reformrestaurant Richard Kirsten“, „Hotel Tannhäuser“, „Restaurant zum Goldenen Kreuz“, „Wiener Café Zentral“, „Gasthof zur Rose“ und „Restauration zur Tanne“.

Als Walther Bensemann am 14. Juli 1920 die „Illustrierte Fussball-Wochenschrift für Deutschland und die Schweiz“ unter dem Namen „Der Kicker“ (genau der!) erstmals herausgab, schmückten den Titel zwei Mannschaftsbilder „Aus Karlsruhe’s Glanzzeit“: die Karlsruher Kickers von 1894 (mit Bensemann) und der KFV von 1899. Blättert man die Seite um, kommt auch der Phönix von 1909 bildlich zu Ehren.

Karlsruher Inserenten begleiteten den Start der seinerzeit in Konstanz erscheinenden Fachzeitschrift: die Buchdruckerei Leo Wetzel (Amalienstraße 55, wo die „Süddeutsche Sportzeitung“ erschien), Café Odeon, Import Export W. Kaier (Nuitsstraße 14), Photo/Sport-Ausrüstungen Alb. Glock (Kaiserstraße 89), Sport Beier (Kaiserstraße 174 – Artur Beier, „der Sportsmann kauft beim Sportsmann“, diesem Fußballpionier von Phönix widmete Bensemann oft wohlwollende Zeilen), Druckerei Friedrich Pampel (Viktoriastraße 17).

Auch Eugen Seybold, der ehemalige Schriftleiter der „Süddeutschen Sportzeitung“, hat die Karlsruher Jahre nie vergessen. Im Oktober 1911 legte er eine „Probenummer“ von „Der Fußball. Wochenschrift zur Förderung des Rasensports“ auf, woraus eine langjährige Erfolgsgeschichte werden sollte. Es geschah in München-Schwabing, dort, wo auch der FC Bayern entstand. Sucht man heute die damalige „Fußball“-Adresse Kaulbachstraße 88 auf, so findet man tatsächlich noch das ehemalige Verlagsgebäude (heute Privatwohnungen) samt Gewerbehof vor. Eine kleine und erfolgreiche „Fußball-Archäologie“…

Aus der Kaulbachstraße in München-Schwabing kam 1911 auch die Analyse deutschen Fußballspiels inklusive einer Bensemann-Würdigung, denn Letzterer war aus alter Karlsruher Verbundenheit mit Herausgeber Seybold ein wesentlicher Mitarbeiter des „Fußball“:

„In Karlsruhe hat man dank des opferfreudigen Wirkens eines Walther Bensemann schon sehr frühe (Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts) wirklich gute Spiele gesehen. Als Bensemann damals gemeinsam mit Schulkameraden das Associationsspiel einführte, ermöglichte er (neben der Anschaffung der Spielgeräte) kostspielige Reisen von Mannschaften zu Besuchen und Gegenbesuchen. Keine andere Stadt in Deutschland hat so viele hochklassige Fußballkämpfe gesehen. In keiner anderen deutschen Stadt hat die Jugend so bequem Gelegenheit, Fußball zu spielen. Und da Karlsruhe, die Fußballmetropole Deutschlands, zum Südkreis gehört (in dem Stuttgart, Freiburg und Pforzheim unter ähnlichen günstigen Bedingungen das Fußballspiel spielen können) (Anm.: gemeint sind die Stuttgarter Kickers, FC Freiburg, 1. FC Pforzheim), so hat sich mit der Zeit ein Kreis von Elitemannschaften gebildet.“

Pionier Walther Bensemann zog im „Fußball“ bereits 1911 unter dem Titel „Der Ausblick in die Zukunft“ ein frühes Fazit seines Lebens: Etwa 35 Vereinen und Verbänden habe er innerhalb von 24 Jahren angehört. Der Verband Süddeutscher Fußball-Vereine habe ihn bereits vor zwölf Jahren mit einem Bann belegt. „In der alten Fußballmetropole Karlsruhe verkehre ich schon jahrelang bei keinem Sportverein.“ Er habe in all den Jahren mehr Differenzen gehabt als irgendein anderer. „Meine Finanzen sind im Sport nicht besser geworden. Ich bereue nichts.“

So war es, und die Karlsruher Fußball-Legende inszenierte sich von nun an weiterhin gerne selbst. In „Fußball und Olympischer Sport“, so 1913 der neue Zeitschriften-Titel aus München-Schwabing, schaltete Bensemann eine Anzeige zur „Karlsruher Jubiläumsfeier 1914“. Denn 25 Jahre war es her, seit im September 1889 dort der Associationssport begründet worden war. Das provisorische Festkomitee bildeten Artur Beier, der spätere FIFA-Generalsekretär Dr. Ivo Schricker, beruflich in Kairo ansässig – und Walther Bensemann. Ob die Feier im „Hotel Viktoria“ tatsächlich stattfand, ist ungewiss: Am ausgewählten 1. August begann der Erste Weltkrieg.

Oxford-Gastspiel mit Zuschauer-Rekord

Der kleine Exkurs, der die große Bedeutung der frühen Fußball-Metropole Karlsruhe beleuchtet, soll mit einem Ereignis beendet werden, bei dem der junge Julius Hirsch sicherlich Augenzeuge gewesen ist. Erneut ist es Walther Bensemann, der für eine Premiere sorgt. Er verpfl ichtet für einen Werktag (!), es ist Montag, der 8. April 1907, Anstoß 16 Uhr, den Oxford University Association Football Club (O. U. A. F. C.) für das einzige Gastspiel in Süddeutschland beim Karlsruher FV. Stadtrat Leopold Kölsch lobt den Organisator: „Für die Einführung des schönen Fußballsports muss die Stadt Karlsruhe Herrn Bensemann dankbar sein.“

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Bereits am 19. Februar 1907 kündigte die „Süddeutsche Sportzeitung“ aus Karlsruhe das sensationelle Gastspiel von Oxford beim Karlsruher FV an, das Fußballpionier Walther Bensemann vermittelt hatte.

Am Sonntag vor dem Spiel, gegen 23 Uhr, fi nden sich zahlreiche Karlsruher am Hauptbahnhof ein, um den Zug aus Prag mit den Fußballern aus Oxford zu empfangen. Doch bis die eintreff en, zeigt die Uhr Mitternacht. Erstaunlich und wegweisend im jungen Fußball-Land Deutschland: Die Stadt Karlsruhe und ihr Fremdenverkehrsamt übernehmen die Kosten der Veranstaltung, ebenso das Frühstück für die Gäste am Montag um elf Uhr vormittags. Zuvor erleben die Engländer eine „Wagenfahrt durch die Stadt“. Nach dem Spiel ist um 18.30 Uhr das „Diner“ im „Hotel Erbprinz“ angesetzt, es schließt sich der „Kommers“ im „Café Bauer“ an, bei dem die Artilleriekapelle Nr. 14 aufspielt, und um Mitternacht steigen die Engländer wieder in den Zug.

Das Sensationelle am Oxford-Gastspiel ist die Zuschauerzahl: 3.000 kommen zum KFV, Zuschauerrekord für Deutschland, „in agitatorischer Hinsicht der Beweis, dass wir unserem Sport die gebührende Wirkung verschaffen können“ („Süddeutsche Sportzeitung“). „Ein feines Publikum aus den ersten Gesellschaftsklassen“ wird registriert (die Arbeiter gehen werktags um 16 Uhr noch ihrem Beruf nach, der Achtstundentag gilt erst ab 1918), und so viele Damen wie sonst nur beim Pferderennen. Prinz Max von Baden, „Seine Großherzogliche Hoheit“, nimmt auf der neu errichteten Tribüne in der Hofloge Platz. Bensemann stellt ihm die englischen Spieler vor und hebt die politische Bedeutung des Freundschaftsspiels hervor. Ein Hoch auf „den König von Großbritannien und Irland und Kaiser von Indien“, Eduard VII., wird ausgebracht und ein weiteres auf den deutschen Kaiser Wilhelm II. Neben Max von Baden findet sich weitere Prominenz ein: Staatsminister Alexander Freiherr von Dusch, Ministerialpräsident Freiherr von Marschall, der preußische Gesandte Karl von Eisendecher, dazu Generäle, Offiziere und sogar der Professor und Kunstmaler Hans Thoma, Direktor der Karlsruher Kunsthalle.

Innerhalb des umfangreichen Programms wird natürlich auch Fußball gespielt. Oxford gewinnt mit 3:0, und der damals 15-jährige KFVJugendspieler Julius Hirsch wird bestimmt zugesehen haben. Der andere spätere jüdische Nationalspieler, Mittelstürmer Gottfried Fuchs, wirkt an diesem Tag erstmals in der 1. Mannschaft des KFV mit („der neueingestellte Fuchs“).

Die „Holz-Füchse“

Vom Land in die Stadt: Den Weg der Vorfahren von Julius Hirsch beschritten auch die von Gottfried Fuchs, der am 3. August 1889 in Karlsruhe geboren wurde. Auch in seiner Familiengeschichte tauchen Untergrombach und Obergrombach auf. Die Großeltern Hirsch (dies ist der Vorname!) und Fanni Fuchs waren um 1871/72 aus dem Dorf Weingarten bei Karlsruhe, woher auch die Hirschs kamen, in die Residenzstadt gezogen. Dr. Richard Fuchs, Gottfrieds Bruder, hat das nacherzählt: „In Karlsruhe hatten die Urgroßeltern (Anm.: er meinte die Großeltern) ein Haus gekauft. (…) Jahrzehnte später, als reiche Leute, haben sich die Füchse nicht immer gerne an die Tatsache erinnern lassen, dass sie als arme Zuwanderer im ‚Dörfle’ angefangen hatten. Erst die folgende Generation kommt dazu, stolz zu sein auf den bescheidenen Beginn der Familie.“

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Eine dynamische Fußballszene nahm der unbekannte Fotograf hier auf: Fritz Tscherter treibt das Leder voran, im Vordergrund ist Gottfried Fuchs zu sehen, hinten Julius hirsch. Die Partie KFV – VfR Mannheim endete 1912 mit 9:1.

„Das Dörfle“ wurde ursprünglich für die beim Schlossbau beschäftigten Handwerker errichtet. Später galt es als Armenviertel der Stadt und Heimat der Tagelöhner. In der NS-Zeit werden von dort die Sinti und Roma deportiert. Seit dem 19. Jahrhundert ist „das Dörfle“ ein Ort der Prostitution, und noch heute beherbergt es am östlichen Ende der Zähringer Straße das kleine Rotlichtviertel der Großstadt.

Die Fuchs verlegten sich auf den Holzhandel – eine ausgezeichnete Entscheidung. Denn nach der Reichsgründung 1871 und der bereits zuvor fortschreitenden Industrialisierung entwickelt sich eine rege Bautätigkeit. Karlsruhe wächst und wächst: 1865 sind es 30.000 Bewohner, ein Vierteljahrhundert später fast 73.500. 1900 werden bei der Volkszählung 97.183 Bewohner registriert, davon sind 67 Prozent zugezogen. Bald darauf ist Karlsruhe die 34. deutsche Großstadt, als es die Grenze von 100.000 Einwohnern überschritten hat.

Wie der Tuchhandel der Brüder Hirsch, so florieren angesichts dieser Entwicklung auch die Geschäfte der Familie Fuchs. Die Fuchs-Söhne gründeten wie erwähnt in sehr jungen Jahren die Holzhandel-Firma H. Fuchs Söhne (HFS; das H steht für den Vater Hirsch Fuchs). Sie expandiert bald von Karlsruhe nach Stuttgart und Straßburg, damals Teil des Deutschen Reiches. Um die Jahrhundertwende ist sie auf 46.000 qm im Karlsruher Rheinhafen ansässig, samt Säge- und Hobelwerk sowie Parkettfabrikation. HFS wird die bedeutendste Holzhandlung Südwestdeutschlands, und 1920 meldet das Karlsruher Adressbuch: „H. Fuchs Söhne, Holzhandlung, Hobel- und Sägewerk, Bureau, Lager und Werk am Rheinhafen, Hansastr. 5, Tel. 9, 57, 909 (Anm.: drei Telefon-Anschlüsse!), Ein- und Ausfuhr ausländischer Hölzer.“

Der „Fußball-Millionär“

Gottfried Fuchs’ Lebensweg ist vorgezeichnet: Geschäfte und noch einmal Geschäfte. In Karlsruhe wird die wohlhabende und weitverzweigte Familie den Beinamen „die Holz-Füchse“ erhalten. Dazu werden auch jene Familienmitglieder gezählt, die gar nichts mit der Holzbranche zu tun haben. Gottfried Fuchs wird auf seine berufliche Laufbahn u. a. in London und Düsseldorf vorbereitet, und in diesen Städten hat er auch das Fußballspiel kennengelernt, das ihn berühmter machen sollte als seine beruflichen Erfolge. Später wird man ihn den „Fußball-Millionär“ nennen. Ob zu Recht oder Unrecht, werden wir in diesem Buch noch hinterfragen müssen. Für sein Können auf dem Rasen ist er allerdings finanziell nie honoriert worden.

Beim Oxford-Spiel für den KFV ist Gottfried Fuchs 17 Jahre jung und hat das fußballerische Knowhow neben dem Engländerplatz nach der Schule in Karlsruhe bereits andernorts erworben. Er hat mit dem Düsseldorfer FC 1899 (heute: Düsseldorfer SC 99) 1906/07 die Meisterschaft von Nordrhein und anschließend die Westmeisterschaft (5:1 gegen BV 04 Dortmund, 3:1 gegen Kölner FC 99, 7:0 gegen Kasseler FV) gewonnen. Danach gastiert er mit den Rheinländern u. a. in Frankfurt/M. und Offenbach: „Gegen Germania Frankfurt schoss unser lieber Fuchs das hundertste Tor in dieser Spielzeit!“ (Vereinschronik 1924). Ungeachtet des einmaligen Auftritts beim KFV gegen Oxford tritt Fuchs für den Düsseldorfer FC bereits am 21. April 1907 in Duisburg wieder an. Es ist sein Debüt in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft, und beim 1:8 gegen Viktoria Hamburg (heute SC Victoria) erzielt er den Ehrentreffer. Der DFC hat damals nach dem Feldverweis seines Torhüters nur noch zehn Mann auf dem Platz.

Gottfried Fuchs gehört in Düsseldorf einem Team an, das zur Hälfte aus Engländern besteht: Rapier, Miller, Kirby, Leak und die Brüder Briggs mit Namen. „Wir sind um der Engländer willen seinerzeit stark angefeindet worden“, berichtet die Vereinschronik. „Für die Hebung der Spielstärke unseres Vereins und damit zur Belehrung Anderer war das Mitspielen der Engländer aber von großer Bedeutung.“

Gelernt hat Fuchs von den Briten auch die Fairness: Als beim Stand von 0:0 in einem späteren Punktspiel des Karlsruher FV gegen Wiesbaden ein Strafstoß für seine Mannschaft gegeben wird, bittet er den Unparteiischen, die seiner Ansicht nach falsche Entscheidung zurückzunehmen. Und als man ihm nach einer anderen Begegnung einen Lorbeerkranz verleiht, zupft er die einzelnen Blätter heraus und verteilt sie an die Mitspieler.

Fuchs selbst datiert diese Zeit in einem Brief, den er 1955 an seinen früheren Kölner Gegenspieler Peco Bauwens, den späteren DFB-Präsidenten, schickt, auf 1905 und 1906: „Dies waren die Zeiten, als Düsseldorf sich unter dem Spielführer Leak mit der Engländermannschaft des FC Ratingen vereinigt hatte.“

Im Rahmen seiner beruflichen Ausbildung ist Fuchs dann in London tätig, die Töchter Anita und Natalie bestätigen dies, und vermutlich hat er auch dort Fußball gespielt. 1908 läuft er erneut für Düsseldorf auf: „Mit Hilfe unseres eigens aus London herbeigeeilten Gottfried Fuchs schlagen wir die Hanauer (Anm.: 1. Hanauer FC 1893) mit 3:0, sehr zum Leidwesen der zahlreichen hiesigen Hanauer Kolonie. Eine unvergessliche Kabinettleistung von Fuchs war es, einem Hanauer den Ball vom Fuße wegzuköpfen und dann das erste Tor zu schießen.“ (Vereinschronik des DFC)

Gottfried Fuchs, womöglich fußballerisches Vorbild von Julius Hirsch, wird dessen lebenslanger Freund, der sich auch viele Jahre später an das letzte Wiedersehen der beiden in Paris erinnern wird. Hirsch und Fuchs werden gemeinsam beim Karlsruher FV spielen, sie gehören der süddeutschen Auswahl und der deutschen Nationalelf an.

KAPITEL 3

1909: „Und dann kam meine Entdeckung…“ \\\ Und Townley sagt: „Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!“

Julius Hirsch wird 1902, er ist damals zehn Jahre alt, Mitglied des Karlsruher FV. Auf einem Mannschaftsbild sieht man ihn mit anderen Jungen, denn der Verein unterhält schon früh Jugendmannschaften und auch eine Altherren-Mannschaft. Wie alles anfing mit Julius „Juller“ Hirsch im Fußballsport, ist glücklicherweise exakt dokumentiert. Sein damals 16-jähriger Sohn Heinold hat dies am 6. November 1938 im „Hausaufsatz No. 4“ – dem letzten Aufsatz im Realgymnasium Goetheschule in Karlsruhe vor seinem Verweis aus rassischen Gründen – unter dem Titel „Meine Ahnen“ festgehalten. Erzählt hat ihm alles der Vater, und so darf man den Aufsatz auch als dessen Bericht (in der Ich-Form als Aussage von Julius Hirsch) wiedergeben:

„Ich verschrieb mich schon früh dem Fußballspiel. Auf dem ‚Engländerle’ (Anm.: also der ‚Engländerplatz’ in Karlsruhe) verbrachte ich den ersten Teil meiner Jugend, trotz Schlägen und Strafen, die ich für meine abends so ‚sauberen’ Hosen und Strümpfe bekam. Man stellte anfangs den noch kleinen Knirps auf Linksaußen (also gewissermaßen kalt), und daraus entwickelte sich später der Linksaußen oder Linksinnen Deutschlands. Die Schule wurde natürlich durch diesen ‚Sport’ (man sagte das damals verächtlich) auch nicht gefördert, doch mein ‚Einjähriges’ brachte ich gut hinter mich und sagte dann der Schule ade.

Um diese Zeit spielte ich auch schon lang in der KFV-Jugend. Und dann kam meine Entdeckung. Bei einem Spiel gegen Freiburg fehlte der damals etwas schon alten Mannschaft des KFV ein Linksaußen gerade für einen Sonntag. Man kann es sich denken, ich hatte schon ein bisschen Herzklopfen, als ich zum erstenmal unter lauter so berühmten Namen spielte, aber bald spielte ich wie sonst und schoss auch ein Tor. Nach dem Spiel sagte der damalige Trainer Townley: ‚Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!’, und trotz der Einwendungen der ‚Alten’ verjüngte er dann langsam den KFV.“

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„Die Engländer-Spieler“ nannten sich die 1904 fotografi erten Karlsruher Buben nach dem „engländerplatz“, dem ersten Karlsruher Fußballplatz. Er war ursprünglich ein Feuerwehr-Übungsplatz und diente 1933-45 als „Skagerrakplatz“ für aufmärsche der Sa. Der heutige Bolzplatz nahe dem KSC-Fanprojekt-haus wurde um 90 Grad gedreht. Julius Hirsch sieht man auf der historischen Aufnahme sitzend als Zweiten von rechts.

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Der Jugendabteilung des KFV gehörte julius Hirsch 1906 an. Als 1. Schriftführer unterschrieb Rudolf Hirsch, der Brudervon julius.

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Das „Engländerplätzle“, wie es in den 1890er Jahren ausgesehen haben soll, malte Egon Itta zum 60. Geburtstag von Fußballpionier Walther Bensemann.

In der „Illustrierten Sportzeitung“ vom 6. März 1909 wird Hirsch nach dem 4:0 des KFV gegen den Deutschen Ex-Meister FC Freiburg – der Spieler ist 17 Jahre alt – „ein anerkennendes Lob“ zuteil. Als Torschütze aufgeführt ist er erstmals beim 4:0 gegen Alemannia Karlsruhe im Mai 1909.

Ein legendäres Stürmer-Trio

Hirsch und sein jüdischer Glaubensgenosse Fuchs wuchsen, wie in Kapitel 2 geschildert, in einen Verein hinein, der damals deutschen Spitzenfußball präsentierte. Die Reputation des KFV ging über Deutschland hinaus, so in der Spielzeit 1905/06 nach dem 7:0 über Union Sportive Parisienne: „Keine einzige französische Mannschaft wäre imstande, den Karlsruher Fußballverein zu schlagen. (…) Sie spielen eben für ihre Mannschaft und versuchen nie, wie in Frankreich, persönliche Heldentaten zu vollbringen.“ („Les Sports“, Nr. 506)

Und obwohl der KFV im Juni 1906 Slavia Prag 3:4 unterlegen war, hielt der Berichterstatter der „Deutschen Sport-Zeitung“ fest: „Ich habe mit noch vielen anderen den Eindruck mitgenommen, dass an diesem Tage der Fußballsport in Süddeutschland seine höchsten Triumphe gefeiert hat.“ Weitere sollten folgen, und Hirsch sollte daran entscheidenden Anteil haben.

„Wenn der Hirsch die Hos’ verliert, dann gibt’s ein Tor!“, sollen die Karlsruher Buben über den 1,68 Meter kleinen, schnellen und schwarzhaarigen Stürmer gesagt haben. Als „links wie rechts treffsicher“ galt der ursprüngliche Linksaußen, geistesgegenwärtig auf dem Spielfeld, trickreich, gewandt und torgefährlich. Später rückte er als Halblinker in den Innensturm, den er beim Karlsruher FV mit Förderer als Halbrechtem und dem Mittelstürmer Fuchs bildete – damals, vor dem Ersten Weltkrieg, eine Legende, und auch noch lange Zeit danach. Das Trio kombinierte auf engstem Raum und durfte sich auf präzise Flanken von Rechtsaußen Tscherter verlassen. „Lauter Intelligenzspieler, die ihre Kräfte rationell einzuteilen wussten und einen Stil prägten, der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland unerreicht blieb“ (KFV-Chronik). In der Überlieferung der Familie Fuchs gilt der KFV-Innensturm fälschlicherweise als

„Judensturm“. Geoffrey Fuchs (geb. 1926 in Karlsruhe) in „Leben danach“, S. 567: „Drei der Stürmer der Nationalmannschaft waren jüdisch, deshalb galten sie als Judensturm.“

Julius Hirsch, lange der Jüngste beim KFV, wuchs zu einer fußballerischen Persönlichkeit heran. Mit zunehmendem Alter rückte er in die Position des Spielmachers und war in jeder Hinsicht ein Vorbild, weshalb er nach dem Wechsel zur SpVgg Fürth auch dort, trotz des „Platzhirsches“ Burger, umgehend zum Spielführer avancierte. War Not am Mann, sprang er als Mittelstürmer ein oder wechselte noch innerhalb der Partie aufgrund geänderter Taktik auf eine andere Position. Dass seine Spielweise gelegentlich als „scharf “, das meint heute: hart, kritisiert wurde, hatte wohl mit dem bedingungslosen Einsatz für sein jeweiliges Team zu tun.

Der junge Hirsch hatte nach seinem Debüt 1909 noch viel vor sich im Fußball. In der Nationalmannschaft, als Olympia-Teilnehmer, zweimaliger Deutscher Meister mit unterschiedlichen Vereinen, Kronprinzen-Pokal-Gewinner mit Süddeutschland – und als Titelträger im jüdischen Sport nach 1933.

KAPITEL 4

1910: Der KFV wird endlich Meister, mit „Junior“ Hirsch und „Bill“ Townley \\\ Viermal Karlsruhe gegen Karlsruhe \\\ In die USA, über den Atlantik?

Der 1891 entstandene Karlsruher FV gehörte zu den Mitgründern des 1897 in der Karlsruher Studentenkneipe „Zum Landsknecht“ (Kreuzung Zirkel/Herrenstr.) aus der Taufe gehobenen Verbands Süddeutscher Fußball-Vereine (VSFV), der mitgliederstärksten regionalen Organisation im DFB. Im Jahr 1909 zählt er 256 Vereine mit 18.527 Mitgliedern, gefolgt von Westdeutschland (206/13.819).

Wer damals Süddeutscher Meister wurde, durfte eigentlich auch die Teilnahme am Endspiel um die Deutsche Meisterschaft erwarten. Und vermutlich wäre der Karlsruher FV bereits bei der Premiere 1903 auf dem Altonaer Exerzierplatz dabei gewesen, hätte es nicht im Vorfeld eine ziemlich dubiose Geschichte gegeben. Ursprünglich sollte die Halbfinal-Begegnung mit dem Deutschen Fußball-Club Prag in München stattfinden, doch Prag beanspruchte das Heimrecht, weil es dadurch höhere Einnahmen erwartete. Der DFB bestimmte daraufhin als Austragungsort Leipzig. In einem gefälschten Telegramm wurde den Karlsruhern allerdings eine Absage des Spiels mitgeteilt: der erste deutsche Fußball-Skandal, der nie aufgeklärt werden konnte. Das Endspiel trug infolgedessen der DFC Prag gegen den VfB Leipzig aus und unterlag 2:7.

1904 musste der KFV entgegen dem DFB-Reglement in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft auf einem nicht-neutralen Platz in Berlin-Friedenau gegen Britannia Berlin antreten. Er unterlag 1:6 und legte Protest ein, woraufhin der DFB den ganzen Wettbewerb ad acta legte. Der Grund, weshalb nie ein Endspiel um die Deutsche Meisterschaft in Kassel stattfand – vorgesehen war es für den 29. Mai 1904.

Im Jahr darauf, 1905, erreichten die Karlsruher endlich erstmals das Endspiel, doch gewann Union Berlin im Weidenpescher Park von Köln-Merheim mit 2:0. Mittelläufer beim KFV war der spätere Ägypten-Auswanderer und noch spätere FIFA-Generalsekretär Dr. Ivo Schricker, und Mittelstürmer war „Captain“ Rudolf Wetzler, dem die Mannschaft einige Spielkultur verdankte. Im erneuten Endspiel 1910 werden aus dieser Mannschaft noch Max Schwarze und Hans Ruzek dabei sein.