Heike Schroll

Giftweizen Ein Altmarkkrimi

Judith Brunners dritter Fall

Kriminalroman

eBook

alto-Verlag Berlin

Die vorliegende Kriminalerzählung ist frei erfunden. Jede Übereinstimmung von Personen und Örtlichkeiten wäre rein zufällig.

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Impressum

Schroll, Heike

»Giftweizen Ein Altmarkkrimi«

Judith Brunners dritter Fall

Kriminalroman

eBook-Version: (15.01) Okt 2015

Copyright © dieser Ausgabe by alto-Verlag Berlin

Copyright © 2013 by Heike Schroll

Umschlaggestaltung und Fotos: Bernd Schroll

Alle Rechte vorbehalten

© alto-Verlag Berlin 2013

ISBN 13: 978-3-944468-06-8 (epub)

ISBN 10: 3-944468-06-6 (epub)

Identische Taschenbuchausgabe:

alto-Verlag Berlin 2013

ISBN 13: 978-3-944468-02-0

ISBN 10: 3-944468-02-3

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Freitag

Altmark, Ende April 1987

~ 1 ~

Drei Leichen waren es diesmal.

Dagegen gab es prinzipiell nichts einzuwenden. Drei Leichen reichten auch aus. Der Auftrag erklärte sich durch die Umstände.

Und nun das!

Gestern, am späten Nachmittag, kurz nachdem Friedrich Renz seine nachgeschliffenen Instrumente endlich bei Waffen-Moritz hatte abholen können und zufrieden wieder in seinem Zuhause eingetroffen war, hatte ihn der neue Kreisarzt angerufen und um seine Hilfe gebeten. Im Gardelegener Krankenhaus waren seit ein paar Tagen die ohnehin begrenzten Kapazitäten für die Aufbewahrung von Leichnamen erschöpft und schon bei einem weiteren Todesfall hätten sie Probleme bekommen, die Körper kühl zu lagern. Der zuständige Arzt im Krankenhaus war plötzlich erkrankt, die Vertretung weilte auswärts auf Weiterbildung, und so war Dr. Renz wieder einmal gefragt worden, ob nicht er die nötigen Untersuchungen vornehmen, die Leichen freigeben und damit für eine Entspannung der Situation sorgen könnte. Natürlich hatte er sich bereit erklärt. Obwohl bereits seit einigen Jahren im Ruhestand, unterstützte der Rechtsmediziner gern und oft seine Kollegen im Krankenhaus, welches ihm dafür ein Büro und die Untersuchungsräume für seine Forschungen zur Verfügung stellte. Ganz ohne Arbeit mochte er nämlich noch nicht leben, obwohl sich die Herausforderungen des Alterns schon ab und zu deutlich bemerkbar machten.

Wenig später hatte ihn dann der Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin telefonisch über die drei zu erledigenden Fälle knapp ins Bild gesetzt: Ein Bauarbeiter, noch viel zu jung zum Sterben, wartete bereits seit dem Wochenbeginn. Ein schwerer Unfall mit dem Motorrad hatte ihn das Leben gekostet. Bei strömendem Regen war er auf seinem Heimweg von der Straße gerutscht und gegen einen Baum geprallt. Die Leute vom Rettungswagen konnten ihm nicht mehr helfen. Für die Verkehrspolizei war wohl alles klar, jedoch wünschten die Angehörigen aus versicherungstechnischen Gründen eine Leichenöffnung.

Die hochbetagte Frau, gestern in den frühen Morgenstunden verstorben, hatte einen Herzschrittmacher getragen, und da war eine Obduktion obligatorisch.

Der dritte Patient war ein älterer Mann, der stets sportlich und gesund gelebt hatte und dessen starkes Unwohlsein man sich nicht hatte erklären können. Noch vor Abschluss der ersten Untersuchungen war er gestern Nachmittag verstorben, nur wenige Stunden nach seiner Aufnahme. Auch in diesem Fall sollte die Obduktion Klarheit über die Todesursache bringen.

Alle drei Autopsien verhießen eigentlich nur Routine.

Sein Kollege hatte sich bei ihm für die Bereitschaft, dem Krankenhaus erneut uneigennützig zu helfen, bedankt und versprochen, alles gründlich vorbereiten zu lassen. Er sei auch im Hause, habe zwar kleinere Operationen durchzuführen, aber falls es Fragen geben würde, stünde er selbstverständlich zur Verfügung.

Ans Werk! Renz überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Er liebte die Herausforderung.

Daher stand für ihn von Beginn an fest, sich zuerst der anspruchsvollsten Aufgabe zu widmen. Sicher half ein Blick in die Patientenakten, eine Entscheidung zu treffen. Die Unterlagen gaben nicht viel mehr her, als er gestern schon am Telefon erfahren hatte. So war nach einigen Überlegungen klar: Unfall und Herzschrittmacher müssten warten. Dafür brauchte es auf keinen Fall einen Spezialisten mit seiner Erfahrung. Der alte Mann sollte es sein!

Renz ging zum Kühlraum und betrachtete die drei abgedeckten Körper auf den schmalen Rollliegen. Nach einem Blick auf die Rumpfkonturen wandte er sich der bauchigsten Leiche zu und fuhr sie langsam zum Untersuchungstisch. Bevor er den Leichnam mit den tausendmal geübten Handgriffen auf die Stahlplatte hinüberziehen würde, musste Renz noch das Abdecktuch entfernen. Mit einer Hand zog er den leichten Stoff schwungvoll beiseite und machte wirklich überrascht einen kleinen Schritt zurück.

»Was, zum Teufel, ist das denn?« Interessiert beugte er sich über den Körper. So etwas hatte er in seiner langen beruflichen Karriere noch nicht gesehen! Vor ihm lag ein Verstorbener, dessen Alter ungefähr zu seinem Auftrag passen könnte, doch mit erschreckend vielen, den gesamten Rumpf verunstaltenden Narben. Dazu bildeten die noch von Feuchtigkeit glänzenden, dunklen Haare aufdringlich nach einem waldimitierenden Badeschaum riechend einen extremen Kontrast. Und auf jeden Fall, das verriet ihm seine Nase weiterhin, war der Mann schon länger als ein paar Tage tot.

Kritisch blickte er sich um. In der Pathologie sah alles normal aus. Unbewusst steuerte Dr. Renz den erstbesten Sessel seiner kleinen Bürositzgruppe an, ließ sich fallen und grübelte, wie er mit diesem unerwarteten Problem umgehen sollte. Unmöglich, dass er da gestern etwas missverstanden hatte. Was für eine Erklärung ließ sich finden? Eine harmlose Verwechslung, die in einem Krankenhaus nicht völlig auszuschließen war? Ein böser Scherz missgünstiger Kollegen? Oder hatte er es gar mit einem kriminellen Delikt zu tun? Kopfschüttelnd stand er auf und griff erneut nach den drei Patientenakten. Ohne sich wieder zu setzen, verglich er die Aufzeichnungen. Dann war er sich gewiss: Diese bereits verwesende und eigenartig duftende Leiche gehörte einfach nicht hierher.

~ 2 ~

»Gib deinem Opa noch einen Kuss!«, verlangte Botho Ahlsens. »Nein? Du willst nicht? Na dann muss ich wohl ohne Abschied auf die Reise.«

Irgendetwas in der sonoren Stimme des Alten sagte dem kleinen Mädchen, dass es jetzt kurz sein amüsantes Spiel mit dem Plüschteddy unterbrechen sollte. Sie ließ sich auf den Arm nehmen und sabberte dem glücklichen Mann auf die frisch rasierte Wange.

»Bäh!« Angewidert verzog sie das Gesicht. Noch gehörte Ella zu den weiblichen Geschöpfen, die nicht mit einem teuren Aftershave zu beeindrucken waren.

»In spätestens drei Stunden bin ich wieder da! Ich spaziere heute rüber zum Ferchel und schaue, ob die Felder schon abgetrocknet sind.«

»Mach das! Mich interessiert auch, was du zu berichten hast. Pass bitte auf, dass du die Zeit nicht vergisst«, mahnte Astrid aus Erfahrung und nahm ihrem Onkel den kleinen Wonneproppen wieder aus dem Arm.

Die Sonne hatte schon mächtig Kraft und spendete mehr von ihrer ersehnten Wärme, als Botho

Ahlsens voraussehen konnte. Ihm wurde zunehmend heißer auf seiner kleinen Wanderung und so zog er seine Joppe aus und trug sie lässig über die Schulter gehängt. Es lag noch ein gutes Stück des Weges vor ihm.

Der Regen des Frühlings war über Wochen, und viel ergiebiger als in den letzten Jahren, gefallen. Die Wintergerste, die im Herbst gleichmäßig und kräftig auf den Äckern stand, sollte das nasse Wetter eigentlich unbeschadet überstanden haben, denn die Felder lagen zwischen dem Weg und dem entfernten Waldrand leicht hangaufwärts, sodass selbst die stärksten Niederschläge gut ablaufen konnten. Botho Ahlsens atmete erleichtert auf, als er seine Hoffnungen bestätigt sah: Ein regelmäßiges, sattes Grün lag über der sonst braunen Erde.

Auf dem fast pfützenfreien, breiten Landwirtschaftsweg zwischen Waldau und Wiepke war er gut vorangekommen. Spontan kam ihm die Idee, auf dem Rückweg über den Stakenberg nach Waldau zu wandern. Der Aufstieg würde zwar etwas beschwerlich werden, zumindest für Leute, die wie er fast siebzig Lenze erlebt hatten, doch könnte er bei dieser Gelegenheit einen kleinen Abstecher zu den Elf Quellen machen. Dort war es um diese Zeit im Jahr besonders schön. Das lebhafte Plätschern der kleinen Rinnsale unter den flirrenden Schatten der noch nahezu blattlosen Buchen erinnerte ihn jedes Mal an seine Kindheit, als er hier mit seinem Bruder Paul die neuesten Schiffsmodelle ihrer winterlichen Bastelarbeiten auf Wassertauglichkeit getestet hatte.

Ahlsens blieb kurz stehen und genoss das Panorama. Beiläufig registrierte er, dass linker Hand am Weg einige Utensilien aufgestapelt waren, die für die Reparatur der zahlreichen Weidezäune gebraucht wurden: Drahtrollen, Erdbohrer und Pfähle. Saftige Wiesen wechselten sich links, weit hinunter bis zur parallel zu seinem Wanderweg verlaufenden Landstraße, mit kleineren Waldstücken ab. Er lauschte. Außer dem Summen einiger Insekten und dem unermüdlichen Gezwitscher eines Zilpzalps war nichts zu hören. Das frische Grün an den Büschen und Sträuchern leuchtete in vielen verschiedenen Tönen und dazu schien die Sonne vom blank geputzten Himmel. »Herrlich!«, rief Botho Ahlsens laut aus.

Schon gestern hatte sein Enkelkind die warme Frühlingssonne genießen können und auf der großen Wiese im Gutspark erneut probiert, aufrecht umherzulaufen. Die kleine Ella wurde nun bald ein Jahr alt und war genau genommen nicht seine Enkelin, doch hatte er seine Nichte Astrid nach dem Tod ihrer Eltern wie seine Tochter großgezogen, und nun lebten sie schon viele Jahre einträchtig im Waldauer Gutshaus beieinander. Im letzten Sommer hatte Astrid entbunden und seitdem war ihr kleines Töchterlein auch in Botho Ahlsens Leben zum Mittelpunkt geworden.

Von Ellas Vater indes hielt er überhaupt nichts. Womöglich war Martin Bach sogar ein ganz brauchbarer Arzt, aber er war eben auch verheiratet! Lange hatte er mit Ehefrau und Kindern im Dorf gelebt. Zum Ende des letzten Winters war er endlich! mit seiner Familie von Waldau nach Bismark umgezogen, hielt aber die Praxis im Dorf vorerst für einen Tag in der Woche geöffnet. Wer sollte die Arbeit sonst auch machen? So schnell war ein Nachfolger nicht zu finden. In Waldau war man sich einig, dass eine tagweise geöffnete Arztpraxis immer noch besser sei, als bei kleinen gesundheitlichen Beschwerden extra nach Gardelegen oder Klötze fahren zu müssen.

Botho Ahlsens hingegen hatte einen Arzt seit Jahrzehnten nicht aufgesucht und gedachte unter diesen Umständen schon gar nicht, daran etwas zu ändern. Pah! Wenn er dem Kindsvater zufällig im Ort begegnete, wechselten sie nicht mehr als distanziert grüßende Blicke. Wenigstens zahlte Martin Bach zuverlässig den Unterhalt für das Kind und besuchte Astrid und Ella regelmäßig. Botho Ahlsens trachtete dann allerdings stets danach, diesen Treffen auszuweichen und suchte sich zumeist eine Aufgabe außerhalb des Gutshauses, denn er konnte Astrids hoffnungsvolle Blicke nur schwer ertragen. Glaubte sie wirklich an eine Zukunft mit diesem Mann? Wieder und wieder konnte sich Ahlsens über diese für ihn schwer zu akzeptierenden Verhältnisse ereifern.

Ohne es zu bemerken, war er dem Ziel seiner Wanderung bereits nahe gekommen: Die große, alte Eiche war gut zu sehen. Nach alten Überlieferungen bildete der Baum den Mittelpunkt des sagenumwobenen Dorfes Ferchel, das schon vor über fünf Jahrhunderten aufgegeben worden war.

Man erzählte sich, dass das alte Adelsgeschlecht der Quitzows daran die Schuld trug. Die Quitzows waren zu jener Zeit mächtige und wohl auch gefürchtete Feudalherren der Mark Brandenburg und ihr Drang nach Machterweiterung führte sie bei ihren Plünderungszügen bis in die Altmark. Die Menschen hatten damals unter mancher Fehde zu leiden, zumal die Quitzows nicht die einzigen rücksichtslosen und brutalen Raubritter in der Mark waren. In der Waldauer Chronik war vermerkt, dass die ganze Gegend vor ihnen zitterte und die Bauern oft beteten: »Vor Kökeritz und Lüderitz, vor Quitzows, Itzenplitz und Krachten, soll uns der Herrgott bewachten!«

Die Quitzows nutzten für ihre Raubzüge gern die alte Handels- und Heerstraße, die heute als Fernverkehrsstraße F 71 die Altmark durchquert. Jahrhunderte zuvor wurde sie als Nord-Süd-Verbindung von vielen Kaufleuten bevorzugt. Die Quitzows raubten Salz, das nach Norden geliefert werden sollte, oder nahmen den Händlern Stoffe und Gewürze ab, die sie dafür eingetauscht hatten. Auf dem Weg der Raubritter zurück in ihre Schlupfwinkel, von denen sich einige in den nahegelegenen Hellbergen befanden, lag das unglückliche Dorf Ferchel, das den Launen der manchmal erfolgstrunkenen oder eben enttäuschten Banditen schutzlos ausgeliefert war. Oft mussten die Bewohner froh sein, mit dem Leben davonzukommen, und ein jeder hatte wohl schon mehrfach erwogen, von hier wegzugehen.

Die Stadt Gardelegen, der als Hansestadt viel an einer regen und sicheren Handelstätigkeit lag, hatte sogar eine Reitertruppe aufgestellt, um die Kaufleute auf dem Handelsweg zu begleiten und zu schützen. Den bewaffneten Mannen gelang das recht wirkungsvoll und die Überfälle der Quitzows endeten immer öfter mit schmachvollen Niederlagen.

Einen dieser fehlgeschlagenen Raubzüge, im Jahre 1474, musste das Dorf Ferchel büßen; an ihm ließen die Raubritter ihren Frust und ihre Wut aus. Ihr Überfall wurde zum Gemetzel, als die Bauern sich wehrten: Männer wurden an der Dorfeiche aufgehängt, die Frauen geschändet und ermordet, die Häuser und Scheunen in Brand gesteckt schließlich brannte ganz Ferchel nieder. Nur wenige konnten sich retten und in die Wälder flüchten. Die überlebenden Bewohner des Dorfes hatten allerdings keine Kraft mehr, an dieser gefährlichen Ortslage einen Neuanfang zu wagen. Ihr Dorf war vernichtet. Die Menschen kamen bei Verwandten in Breitenfeld, Schwiesau oder Waldau unter.

Lediglich die mächtige Dorfeiche überstand die Feuersbrunst und zeugt nach Jahrhunderten noch immer von Ferchel und seinem tragischen Schicksal.

Eine Zeit lang hatte eine einfache, hölzerne Bank unter dem alten Baum die vereinzelten Wanderer zum Ausruhen eingeladen und auch Botho Ahlsens hatte diesen Rastplatz ab und zu genutzt. Vor ein paar Jahren schon war die Bank in sich zusammengefallen. Im letzten Herbst dann hatten Waldarbeiter einige ungerade gewachsene, doch recht dicke Baumstämme am Wegrand liegen lassen, die nun ersatzweise eine brauchbare Sitzgelegenheit boten.

Botho Ahlsens trug in seinen geräumigen Jackentaschen eine kleine Flasche Bier und zwei Schmalzbrote mit sich und freute sich auf die stärkende Rast. Schon von Weitem sah er auf einem der angesteuerten Buchenstämme, am hinteren Ende, etwas Schwarzes liegen. Beim Näherkommen erkannte er, dass es Fingerhandschuhe aus dunklem Leder waren. Wie in einem Schaufenster lagen sie ordentlich beisammen, mit den Daumen nach außen, die Innenflächen nach oben. Sie waren sauber, bestimmt noch neu und so groß, dass sie nur einem Mann gehören konnten. Botho Ahlsens sah sich um. Niemand war zu sehen. Von fern hörte er, wie sich aus

Richtung Wiepke ein Traktor näherte. Das waren bestimmt wieder die Landarbeiter aus Waldaus Nachbardorf, die den Weidezaun reparierten und weiteres Material antransportierten. Ihnen konnten diese Dinger nicht gehören, denn wie Arbeitshandschuhe sah das Paar auf keinen Fall aus. Und überhaupt, wer trug denn jetzt, Ende April, noch Wintersachen?

Von dem Rätsel angelockt, trat Botho Ahlsens ganz dicht heran und beugte sich hinunter. Dann weigerte sich sein Verstand zu glauben, was er vor sich sah: rohes Fleisch, Knochen! Das Bild formte sich nur schwer zu etwas Offensichtlichem. Selbst mit zusammengekniffenen Augen wurde es nicht besser. Er starrte auf abgetrennte Hände!

~ 3 ~

»Walter, du bringst mich ja um! Ich bekomme keine Luft mehr!« Laura Perch protestierte nicht ernsthaft gegen die herzliche Umarmung.

»So blass hast du schon vorher ausgesehen. Daran habe ich keinen Anteil.« Walter Dreyer ließ sie sacht los. Er war froh, dass der erste Vormittagszug in Gardelegen halbwegs pünktlich eingetroffen war, denn auf dem Bahnhof wollte er nicht länger als unbedingt nötig verweilen. Vor Wochen schon hatte sich der Waldauer Ortspolizist ein rotes Kreuzchen auf seinen Jahreskalender gemacht, um diesen für ihn wichtigen Termin nicht zu verpassen. Weitere Markierungen waren nicht hinzugekommen. In seinem Dorf führte er ein ausgeglichenes Leben. »Komm, gib mir den großen Koffer. Das Auto steht gleich da vorn.«

»Früher hast du mich zur Begrüßung hoch in die Luft gehalten und dich dann mit mir gedreht, weißt du noch?«, erinnerte Laura ihn und war bemüht, seinem forschen Schritt zu folgen.

Für seine vierundfünfzig Jahre machte Walter einen überaus dynamischen Eindruck. Nicht nur, dass er mit seinem vollen Haar, in das sich vereinzelte graue Strähnen verirrt hatten, deutlich jünger wirkte, hatten ihn der Verzicht auf Nikotin, viel Bewegung und vielleicht auch die Gene vor einigen äußeren Zeichen seines Alters bewahrt. Trotz des Gepäcks versuchte er, Laura einen Arm um die Schulter zu legen und schlug unternehmungslustig vor: »Machen wir das ruhig noch mal aber auf deine Verantwortung und vielleicht auch ohne den riesigen Anlauf, mit dem du immer auf mich zugestürmt kamst.« Hatte er doch gerade selbst bemerkt, dass er viel zu schnell lief. Nachsichtig sah er auf ihre eleganten Sandalen mit den bleistiftdünnen, hohen Absätzen.

»Kann es sein, dass wir beide dreißig Jahre jünger waren?«, merkte Laura an. »Lassen wir es zukünftig lieber beim Drücken.« Sie versuchte, sich ihren Rucksack wieder auf die Schulter zu schieben, und kämpfte dabei mit einem voluminösen, derben Stoffbeutel, gefüllt mit Reiseverpflegung, Lektüre und einigen Flaschen Wein.

»Wie ich sehe, hast du tatsächlich drei Wochen freibekommen«, kommentierte Walter die Anzahl der Gepäckstücke, als er sie in den Kofferraum hievte.

»Ja. Warum klingst du so erstaunt?«, fragte sie und stieg ein.

Walter fuhr los und nahm das Gespräch wieder auf. Er begründete grinsend seine Skepsis: »Na, eure große Feierei in der Hauptstadt! 750 Jahre! Versteh mich nicht falsch, ich freue mich immer, wenn du hier bist. Das weißt du. Doch ich hätte gedacht, zum Berliner Stadtjubiläum sind dort sämtliche Stadtarchivare unabkömmlich.«

Laura wusste, dass er dem ganzen Brimborium nichts abgewinnen konnte und sie nur etwas aufziehen wollte. Mit gespielter Empörung antwortete sie: »Das sind sie auch, Walter. Sehr

sogar. Aber nicht im Moment. Unsere Arbeit haben wir nämlich bereits erledigt! In den letzten Jahren schien es nichts Wichtigeres zu geben, als das große Fest vorzubereiten. Du würdest nicht glauben, was da alles zu tun war! Jetzt wäre es wohl etwas zu spät, um mit den Vorbereitungen anzufangen, meinst du nicht?«

»Na gut!«, räumte Walter ein. »Aber der normale Mann von der Straße, der nicht jahrelang forscht, sondern nur was über Berliner Geschichte erfahren will? Was macht der? Ich denke auch an die Zeitungsfritzen, das Fernsehen oder die vielen Touristen.«

»Oh. Darum kümmern sich andere. Da gibt es extra eingerichtete Dienststellen mit ganzen Geschwadern von in Geschichtspropaganda geschulten Leuten. Sogar unser Archiv musste zwei Mann dahin abgeben.« Dann hoffte Laura, ihn etwas aufziehen zu können: »Das wird dir gefallen: Einige Archiv-Kolleginnen machen sogar beim großen Festumzug mit, und du wirst nicht glauben, wo auf dem Wagen von Miss Berlin!«

»Eine Archivarin ist Miss Berlin?« Das konnte sich Walter beim besten Willen nicht vorstellen.

Laura konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen, als sie ihn anblickte. »Natürlich nicht!«

Walter machte ein ebenso abschätziges Gesicht, wie Laura es bei anderen schon öfter gesehen hatte. Auch seine Anschauung war ähnlich: »Und überhaupt eine Miss! Das hat uns wirklich noch gefehlt! Närrisch! Aber was sagtest du, machen deine Kolleginnen auf dem Wagen?«

Laura prustete los: »Sie geben die Sittenpolizei! ... Es muss ein kurioses Bild abgeben, ich weiß. Die knapp bekleidete Miss schmust verführerisch mit einem riesigen, braunpelzigen Berliner Bären! Und zu ihren Füßen laufen einige Mädchen, wohl als Kontrast zur ihr sittsam bis oben hin zugeknöpft, mit knielangen Röcken und unschuldig winkend nebenher. Ein riesiger Spaß für alle!«

Walter lachte mit. »Was für ein Theater!«

»Gute Zusammenfassung!«, stimmte ihm Laura vorbehaltlos zu. »So sollte man das Ganze tatsächlich sehen. Als Theater Brot und Spiele waren immer schon beliebt. Deswegen hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, mich jetzt für ein paar Wochen zu verdrücken. Und wenn es dann bei den Feierlichkeiten im Sommer richtig hoch hergeht, bin ich ja wieder vor Ort.«

»Schön.« Walter nickte. »Und was hast du nun vor in deinem Urlaub?«

»Nichts.«

»Nichts? Hervorragend! Dann könnten wir beide ...«

Abrupt wurde Walter von Laura unterbrochen: »Warte! Mir fällt gerade wieder ein, Judith hatte mich gebeten, ihr bei einer Recherche behilflich zu sein. Das will ich unbedingt erledigen. Aber sonst habe ich nichts vor.«

Judith Brunner, Polizeihauptkommissarin, wohnte bereits gut ein Jahr, seit sie in Gardelegen die Leitung der Kreisdienststelle der Volkspolizei übernommen hatte, in Lauras Haus zur Miete. Beinahe waren die Leute in Waldau ein wenig stolz, dass eine in der Region so bedeutende Person in ihrem Dörfchen wohnen wollte.

Ein halbes Jahr vor ihrem zunächst als Zwischenlösung gedachten Einzug hatten sich Laura Perch und Judith Brunner während einer Mordermittlung kennengelernt. Beide Frauen waren etwa im gleichen Alter, Mitte dreißig, beruflich engagiert; auch ihre private Lebenssituation sah ähnlich aus: ledig, kinderlos, Großstädter mit einem Hang zum Landleben. Durchaus zufrieden damit, war aus anfänglicher Sympathie rasch eine Freundschaft geworden.

Ohne Zögern hatte Laura Judith nach deren Versetzung den Vorschlag gemacht, dauerhaft bei ihr einzuziehen. Laura nutzte das von den Großeltern geerbte Haus ohnehin nur als Wochenend- und Urlaubsdomizil und war froh, dass es nun eine Dauerbewohnerin hatte und sie nicht mehr ständig ihre Freunde und Nachbarn bitten musste, während ihrer Abwesenheit nach dem Rechten zu sehen.

Judith Brunner hingegen schätzte neben dem ruhigen Wohnen in Waldau auch die Distanz

zu ihrem Arbeitsort. Die stressfreie Autofahrt am Morgen gestattete es ihr, sich in Ruhe auf den kommenden Tag einzustellen, und zum Feierabend gelang es ihr auf der knapp halbstündigen Rückfahrt zumeist, einiges von der Last der Polizeiarbeit hinter sich zu lassen.

Die Wohngemeinschaft der beiden Frauen erwies sich einfach als ideale Lösung und das nicht nur in einer Hinsicht! Lauras Haus war nämlich nur durch eine leer stehende Kate von Walters Anwesen getrennt. Ihr war es unter diesen Wohnverhältnissen natürlich nicht verborgen geblieben, dass zwischen Walter und Judith eine innige Zuneigung entstanden war und sie sich ineinander verliebt hatten. Laura freute sich für die beiden und stand ihnen vorbehaltlos bei. Denn sollte dieses intime Verhältnis irgendwann offenbar werden, würde der Dorftratsch bei Weitem das kleinere Problem sein ein Liebesverhältnis zwischen einer Vorgesetzten und einem ihr unterstellten Ortspolizisten würde in Polizeikreisen erfahrungsgemäß auf breite Ablehnung stoßen, von Judiths beruflicher Zukunft mal ganz abgesehen. Also balancierten die beiden Polizisten zwischen einem öffentlichen, rein nachbarschaftlichen Leben mit dienstlichem Hintergrund und einem heimlichen Zusammensein als Liebespaar.

Laura war entspannt; die Fahrt verlief ganz nach ihrem Geschmack. Walter fuhr extra etwas langsamer, damit sie ihr Fenster herabkurbeln und den angenehmen Fahrtwind genießen konnte. Trotzdem wollte sie kaum ein Auto überholen. Hinter Wiepke nahmen sie dann die direkte Landstraße nach Waldau.

Walter wusste natürlich von Judiths Ansinnen um Lauras Hilfe, ließ sich davon aber nicht beirren: »Wenn du damit fertig bist, könnten wir dann vielleicht zusammen meine Bibliothek aufräumen?« Walter nahm sich das jedes Mal vor, wenn er ein Buch suchte oder zurückstellte, schaffte es aus irgendwelchen Gründen, über die er nicht weiter nachdenken wollte, jedoch nie, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Er hoffte, mit Lauras Unterstützung hätte sein Vorhaben bessere Erfolgsaussichten.

Laura jedoch lehnte kategorisch ab: »Auf keinen Fall! Das ist ja nun wirklich eine Winterarbeit! Das machen wir irgendwann, wenn es draußen kalt und dunkel ist. Jetzt will ich im Garten werkeln und ... Halt!!!«, schrie sie aus voller Kehle.

Es schien, als sei der riesige Traktor hinter dem Gebüsch auf der linken Straßenseite hervorgesprungen, so plötzlich schoss das gewaltige Fahrzeug mitten auf die Fahrbahn und legte sich dermaßen auf die Seite, dass es umzukippen drohte.

Nur mit viel Glück gelang es Walter Dreyer gerade noch, seinen Wagen auf dem schmalen, abschüssigen Seitenstreifen zum Stehen zu bringen und bei dem riskanten Bremsmanöver keinen Schaden zu nehmen. Verdutzt sah er durch seine Windschutzscheibe, wie ein Mann, ohne die Maschine abzustellen, aus dem Fahrerhaus des Treckers heraussprang und, die Arme schwenkend, brüllend auf ihn zustürzte: »Anhalten!!!«

Das hatte Walter längst getan; sogar den Motor hatte er dabei abgewürgt. Als er eilends aus dem Wagen steigen wollte, stellte er fest, wie ihm der Schreck die Glieder lähmte. Er machte ein paar Schritte auf den Mann zu und erkannte Ludwig Wenzel, einen Bauern aus Wiepke.

»Was? Du?«, Wenzel starrte erst Walter und dann Walters Wagen an, als er schnaufend zum Stehen kam. Und rief mit viel zu lauter Stimme: »Was machst du denn im Graben?«

Walter war perplex: »Das fragst du mich? Warum fährst du wie ein Irrer mit deinem Trecker umher?«

»Ich muss zur Polizei!«, brüllte Wenzel ihn weiter an.

»Ludwig, ich bin die Polizei, auch wenn ich nicht immer in Uniform herumlaufe«, erinnerte ihn Walter Dreyer sachlich und hoffte, dass der Treckerfahrer sich etwas beruhigte.

Es klappte. Der Mann holte tief Luft, um dann bedeutungsvoll zu sagen: »Hinten, an der Fercheler Eiche, da liegen Handschuhe.«

Laura hatte sich ebenfalls von ihrem Schreck erholt. Neugierig geworden, gelang es ihr, trotz

der Schräglage des Autos auszusteigen. Auch sie vernahm diesen Satz. Doch ihr erging es wie Walter, dem sich der Sinn dieser banalen Mitteilung absolut nicht erschloss, schon gar nicht im Zusammenhang mit der Hysterie des Mannes. Handschuhe? Was für Handschuhe?

»Nun reiß dich mal zusammen! Was ist los, Ludwig?«, beharrte der Waldauer Ortspolizist und sah Wenzel auffordernd an. War der Mann krank? Nach Alkohol roch er jedenfalls nicht. »Na?«

»Du musst mitkommen, Walter! In den Dingern stecken noch die Hände.«

»Wie bitte? Stell doch mal den Trecker ab!« Dreyer war sich wirklich nicht sicher, ob er eben richtig gehört hatte. »Was hast du gesagt?«

Wenzel bekräftigte die Worte, als hätte er die Absurdität seiner Mitteilung nicht selbst erkennen können: »Ja! Hände! Der alte Ahlsens hat sie gefunden. Er wartet dort und ich soll die Polizei holen.«

»Das hat er zu dir gesagt?«, vergewisserte sich Dreyer.

Wenzel nickte bekräftigend.

Botho Ahlsens würde das nicht veranlassen, wenn es nicht nötig wäre, davon war Walter Dreyer überzeugt. Er kannte den Mann seit Jahrzehnten als besonnenen und integren Menschen. An Wenzels seltsamem Bericht konnte also tatsächlich etwas dran sein! Er blickte in Richtung Ferchel und wies den Bauern an: »Stell deinen Trecker an die Seite, wir fahren mit meinem Auto hin.«

Wenzel wusste nicht, ob der Vorschlag ernst gemeint war. Zweifelnd blickte er auf das nicht gerade geländetaugliche Fahrzeug des Polizisten. Dann nickte er wider besseren Wissens und bemerkte: »Nur zu, es sind ja deine Achsen!«

~ 4 ~

Judith Brunner betrat ihr frisch renoviertes Büro. Schnell öffnete sie alle Fenster, um statt des Farbgeruchs die wohltuende Frühlingsluft hereinzulassen.

Es hatte mehrere Monate gedauert, bis sich der zuständige Mitarbeiter bei der Gebäudeverwaltung davon überzeugen ließ, dass die Räume der Kreisdienststelle der Polizei nicht in dem beklagenswerten Zustand bleiben konnten, in dem Judith sie seinerzeit vorgefunden hatte. Erst, als sie sich keinen anderen Rat mehr wusste und zu den abgenutzten Formeln von besseren Arbeits- und Lebensbedingungen, von anstehenden Volkswahlen und Bürgernähe gegriffen hatte, war etwas passiert. Und nun waren immerhin der Empfangs- und Eingangsbereich, der Warteraum und die erste Etage, in der sich auch ihr Büro befand, hergerichtet und teilweise neu möbliert worden. Für das kommende Jahr waren ihr sogar für weitere Räume entsprechende Gelder in Aussicht gestellt worden. Ihrer Hartnäckigkeit in dieser Frage wusste man in der Verwaltung nichts mehr entgegenzusetzen.

Wahrscheinlich würde Judith sich an den bloßen, nun weißen Wänden und den vorhanglosen Fenstern erst einmal einige Wochen erfreuen, bevor sie über eine Raumgestaltung nachzudenken bereit war, denn nach den abscheulichen Tapeten und Gardinenschals, die bis vor einigen Tagen den ziemlich großen Raum verunzierten, war der neue Anblick eine Wohltat für Augen und Seele.

Den Schreibtisch ihres Vorgängers hätte sie notfalls auch weiter benutzt, doch als er gegen ein neueres Modell ausgetauscht wurde, protestierte sie nicht allzu laut. Einzig der größere

Besprechungstisch aus altem Holz war vom ursprünglichen Mobiliar noch geblieben. Die angeschafften Stühle genügten praktischen Anforderungen und insgesamt gefiel Judith diese eher spartanische Ausstattung ihres Büros recht gut.

Als das Telefon klingelte, hallte es sogar ein wenig.

»Hauptkommissarin Brunner«, meldete sie sich.

»Guten Morgen. Hier ist Renz.«

Judith Brunner würde diese Stimme auch ohne Vorstellung erkennen. Sie war ihr seit Jahren vertraut, denn sie hatte mit dem Rechtsmediziner schon in der Magdeburger Polizeibehörde bei vielen Fällen zusammengearbeitet. In Gardelegen waren sie sich dann wieder begegnet, und Judith Brunner hatte bei ihren Ermittlungen in der Altmark erneut von Dr. Renz’ Hilfsbereitschaft und Gründlichkeit profitieren können.

»Hallo. Es ist wirklich ein schöner Morgen.« Und da Dr. Renz nicht zu den Leuten gehörte, die für einen belanglosen Schwatz anriefen, fragte sie sofort: »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich fürchte, ich benötige Ihre Hilfe.«

Judith Brunner horchte sofort auf, denn es konnte sich bei einem Anliegen von Dr. Friedrich Renz weder um eine Bagatelle noch um eine eitle Wichtigtuerei handeln. »Oh. Ich hoffe, es ist Ihnen nichts geschehen?«

»Danke, nein. Mir geht es gut. Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht in Aufregung versetzen. Es geht um ein Problem hier im Krankenhaus. Ich habe es eben erst festgestellt. Leider ist es mir allein nicht gelungen, eine plausible Erklärung zu finden.« Nach einer kurzen Pause ergänzte er: »Nun hoffe ich, Sie können mir helfen.«

Es war ganz sicher keine medizinische Angelegenheit, die ihn so beschäftigte. Judith Brunner beeilte sich zu versichern: »Gern. Was ist denn passiert?«

Ohne Zögern sagte Dr. Renz: »Nun ich habe hier eine falsche Leiche gefunden.«

»Pardon?« Gehört hatte Judith schon, was Dr. Renz da sagte, der Satz verlangte aber nach einigen erklärenden Worten. »Eine falsche Leiche?«, echote sie.

»Schon die ganze Woche über fehlen in der Pathologie die Leute und ich helfe ein wenig aus. Vor mir liegt nun jemand auf dem Tisch, der eindeutig nicht zu der mir beschriebenen Person passt und auch nicht zu der Akte, die die Krankenhausverwaltung zu dem verstorbenen Patienten hergeschickt hat. Und bevor Sie fragen: Die anderen Toten, die sich hier befinden, passen zu ihren Akten. Das habe ich schon überprüft.«

»Die anderen Toten? Wie viele haben Sie denn?« Judith Brunner verdrängte das Bild von einem Keller voller Leichen.

»Insgesamt drei. Das ist nicht ungewöhnlich für ein Kreiskrankenhaus«, beeilte sich Dr. Renz zu versichern. Dann fuhr er fort: »Eine Verwechslung in der Pathologie ist auszuschließen. Und die Schwester in der Patientenregistratur teilte mir auch sehr bestimmt mit, sie hätte keinen Fehler gemacht; ich hätte genau die Patientenakte bekommen, die von der Inneren Medizin zu dem Mann geführt worden war.«

Judith Brunner dachte einen Moment über das Gesagte nach und schwieg.

Noch ehe sie eine weitere Frage formulieren konnte, fuhr Dr. Renz fort: »Was mich beunruhigt, ist natürlich nicht, dass eine Leiche verwechselt wurde. Dazu praktiziere ich schon zu lange und kann mit einigen fast filmreifen Anekdoten aufwarten.«

Bei Judith wuchs die Spannung. »Sondern?«

»Was mich in Unruhe versetzt, sind bestimmte Merkmale an der Leiche, die auf ein Schicksal hindeuten, welches Grund genug für einen absichtlichen Identitätswechsel sein könnte, und natürlich die Art und Weise, wie ich die Leiche fand.«

»Und hier kommt die Polizei ins Spiel?«, vermutete Judith.

»Richtig, Frau Hauptkommissarin. Ich bin erfreut, dass Sie sich so hervorragend mit den Vorschriften zur Leichenschau auskennen. Der Tote hat viele Narben, zwar älteren Datums,

trotzdem tippe ich auf Schussverletzungen. Diesem Mann ist zu Lebzeiten etwas Schreckliches widerfahren.«

»Das klingt in der Tat beunruhigend. Und die Patientenakte hätte das dokumentieren müssen?«, fragte sie.

»Das auch. Sicher. Aber die Akten sind nicht immer so vollständig, wie das wünschenswert wäre.«

»Ach ja?«, meinte Judith Brunner ironisch, denn diesen Makel kennzeichneten auch polizeiliche Ermittlungsakten, wie sie in einigen Fällen hatte erfahren müssen.

»Mein Anruf hat noch andere Gründe, doch ehe ich am Telefon weiter ins Detail gehe, wollte ich Sie eigentlich bitten, bei mir vorbeizukommen, um Ihnen die ganze Situation vor Ort zeigen zu können. Ich möchte nichts übersehen, aber auch kein grundloses Aufsehen erregen. Ihr professioneller Rat würde mir schon helfen, die Angelegenheit hinsichtlich ihrer Konsequenzen besser einordnen zu können. Rein verfahrenstechnisch, meine ich.«

Judith Brunner versprach, sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus zu machen. Noch konnte sie nicht ahnen, dass sie es bald mit einem ihrer verwirrendsten Fälle zu tun bekommen würde.

~ 5 ~

Walter Dreyers neuer Passagier hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als bedürfe es tatsächlich seiner wegweisenden Hilfe; dabei gab es nur diesen Sandweg, um die Stelle am Ferchel zu erreichen, zu der sie nun im Schritttempo unterwegs waren.

Laura hatte widerspruchslos die Rückbank besetzt. Sie war gespannt, was sie wohl zu sehen bekommen würden. Handschuhe? Hände? Den Treckerfahrer aus Wiepke kannte sie nicht, dazu war sie dort viel zu selten unterwegs. Ein wenig sonderlich kam er ihr schon vor.

Ludwig Wenzel hatte sich mittlerweile wieder gefasst und wurde in Gesellschaft sogar recht munter. »Das sieht vielleicht eklig aus!«, kündigte er an, nun heftig mit der Sensation, die er zu bieten hatte, prahlend, und blickte interessiert zu Laura auf den Rücksitz. Ob diese nett anzusehende Person, auf jeden Fall aus der Stadt, wie er sofort mutmaßte, den Anblick aushalten würde? Eigentlich hatte er selber ja auch noch nichts Genaues gesehen, trotzdem gelang es ihm, seinen Bericht fantasievoll auszuschmücken.

Walter Dreyer sah auf dem geraden Weg schon von Weitem eine hoch aufragende Gestalt stehen.

Botho Ahlsens wartete geduldig, kam ihnen dann aber doch, als er das Auto erkannte, ein paar Schritte entgegen.

Nach langen Minuten holperiger Fahrt hatten sie ihn erreicht. Walter Dreyer stieg aus und gab ihm die Hand. »Guten Tag.«

»Das ging aber rasch«, staunte Ahlsens, »so schnell hatte ich gar nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Ein Glücksfall«, erklärte Dreyer, »wir sind« er überlegte nach einem passenden Begriff für Wenzels Treckeranschlag »auf der Straße zufällig aufeinandergestoßen. Ich habe Laura vom Zug abgeholt.«

»Astrid hat erwähnt, dass sie heute kommt«, sagte Botho Ahlsens und rief winkend zum Wagen: »Herzlich willkommen!« Er kannte Laura schon, seit sie gemeinsam mit seiner Nichte im Kindergarten gespielt hatte, und über all die Jahre fühlte er eine warmherzige Zuneigung für die junge Frau.

Laura stieg aus und umarmte ihn.

Nach dieser unbeschwerten Begrüßungszeremonie forderte Walter Dreyer Ahlsens mit berechtigter Ungeduld auf: »Zeigen Sie doch mal, was Sie gefunden haben.«

»Das wird Ihnen nicht gefallen, fürchte ich«, schickte Ahlsens voraus, als er in Richtung der Buchenstämme wies.

Dreyer ließ sein Auto samt Mitfahrern stehen, und schweigend gingen die beiden Männer den kurzen Weg, bis sie an den hinteren Baumstämmen ankamen. Das Schwirren der Insekten war schon zu hören, noch ehe Walter Details erkennen konnte. Als er dann direkt davor stand, konnte er es immer noch nicht recht glauben, so irreal war der Anblick: In den schwarzen Lederhandschuhen waren tatsächlich die Schnittflächen von Handgelenken zu sehen. Zumindest nahm Walter Dreyer das an, denn seine anatomischen Kenntnisse waren nicht sonderlich ausgeprägt. Instinktiv verscheuchte er die Fliegen, die in der Wärme des prallen Sonnenlichts den Verlockungen der Verwesung nicht widerstehen konnten. Dann wandte er sich nachdenklich ab und sah sich lange aufmerksam um.

»Hier ist niemand«, teilte Ahlsens mit. »Ich hab die Gegend genauestens im Auge behalten und die ganze Zeit niemanden gesehen oder gehört, obwohl ich anfangs schon dachte, da beobachtet mich einer.«

»Zwei Hände«, überlegte Dreyer laut, »wo ist der Rest?«

»Gute Frage«, stimmte ihm Ahlsens zu, »das habe ich mich auch schon gefragt, während ich hier wartete. Ein unangenehmer Gedanke übrigens, wenn man hier so allein rumsitzt.«

»Und Sie hatten das Gefühl, beobachtet zu werden?« Walter sah erneut über die weiten Felder zum Waldrand hinauf.

»Na, Sie kennen das doch sicher auch. Selbst mich alten Mann erwischt es von Zeit zu Zeit, im Wald oder in der Dämmerung, und auch nur, wenn ich allein unterwegs bin ... Aber da ist sicher nichts dran, dass man Blicke spüren kann«, sprach Ahlsens sich Mut zu.

Dreyer bekannte: »Na klar kenne ich das, vermute jedoch, dass unsere Instinkte für dieses Gefühl verantwortlich sind. Also: Ich würde erst einmal davon ausgehen, dass Sie tatsächlich beobachtet wurden. Diese Handschuhe liegen hier noch nicht lange. Es sieht alles ziemlich, ähm, frisch aus.« Er sah auf seine Uhr. Halb elf. »Vielleicht sollten gerade Sie das da finden?«

»Ich? Wieso denn?!« Ahlsens war entsetzt.

»War nur so ’ne Idee«, lenkte Dreyer rasch ein. Doch dann begründete er seine Vermutung: »Es ist doch irgendwie eigenartig, finden Sie nicht? Die Dinger sind nicht zu übersehen. Würden sie schon länger so daliegen, hätte irgendein Raubvogel oder ein anderes Tier sich wenigstens einen der Handschuhe schnappen können, hätte mal dran gezerrt oder sonst etwas verändert, doch nein, sie liegen beide exakt so positioniert, dass man nicht an ein zufällig vergessenes Paar glauben kann und einfach an ihnen vorbei geht. Dieses schauerliche Arrangement wäre nach kurzer Zeit zerstört gewesen, glauben Sie mir.«

Ahlsens dachte nach. »Ich bin von Waldau gekommen. Da kann man diese Stelle schon von da hinten sehen«, wies er auf den von ihm zurückgelegten Weg. »Da war niemand. Ich habe nur den Trecker fahren gehört.«

Walter Dreyer versuchte, sich die Situation vorzustellen. Also war der Wenzel hier in der Gegend unterwegs gewesen. Ob dem was aufgefallen war? Und mit wem hatte er heute Morgen am Zaun gearbeitet? Eine heftige Unruhe ergriff ihn. Wenn in den Handschuhen tatsächlich menschliche Körperteile stecken sollten, war keine Zeit zu verlieren. »Ich werde jetzt meine Vorgesetzte in Gardelegen anrufen«, teilte er entschlossen mit.

Dass ihn ein Telefonat auch unter diesen Umständen in Hochstimmung versetzte, ahnte niemand. Allein der Gedanke, gleich mit Judith zu sprechen und ihre Stimme zu hören, ließ sein Herz schneller schlagen.

Walter Dreyer sah Botho Ahlsens direkt an. »Ich muss Sie bitten, noch ein wenig hier zu

bleiben. Ich lasse Ihnen den Wenzel zur Gesellschaft da. Nach Wiepke geht’s am schnellsten und ich erledige dort rasch den Anruf. Laura nehm ich lieber mit, aber wir kommen sofort wieder her, versprochen!«

Dreyer blickte nochmals auf den sonderbaren Fund. Wofür mochte diese makabre Inszenierung der Auftakt sein?

~ 6 ~

Judith Brunner hatte sich am Krankenhauseingang ausgewiesen und war dann von einer molligen Schwester in den Keller mitgenommen worden, die ohnehin dort einige Gewebeproben zur Untersuchung abgeben wollte. Im Gehen unterhielten sich die Frauen über das warme Wetter, ein Thema, das in diesen Tagen alle Menschen für sich einnahm. Judith Brunner war der Weg zur Pathologie nur zu gut bekannt, dennoch freute sie sich über die nette Begleitung.

Dr. Friedrich Renz erwartete sie schon hinter der großen Glastür, die zu den diversen Untersuchungsräumen und Laboren führte, und geleitete Judith Brunner zu seinem Büro. Er rückte ihr einen Sessel zurecht und bat sie, Platz zu nehmen. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee und ofenfrischem Gebäck, was Judith Brunner nicht verwunderte, denn sie kannte die stilvolle Lebensart des Rechtsmediziners. Und als sie auf das kleine Tischchen sah, entdeckte sie sogar noch frische Sahne. »Ich hatte gar nicht erwartet, so verwöhnt zu werden. Dankeschön!«, lächelte sie Dr. Renz an.

»Wenn ich Sie schon mit so unerfreulichen Dingen wie falschen Leichen behellige, Frau Brunner, dann müssen Sie mir das bitte zugestehen«, gab er eloquent zurück. Renz schenkte ihr den Kaffee ein und sie bediente sich an den verführerisch duftenden Plätzchen.

Judith Brunner schätzte den Kavalier der alten Schule, mehr noch, sie mochte diesen Mann, der schon in seiner aktiven Zeit in Magdeburg über das Maß hinaus, das seinesgleichen zugestanden wurde, als exzentrisch galt. Das bezog sich im Übrigen nicht auf den zynischen oder gedankenlosen Umgang mit den anvertrauten Leichen, wie das oft in Fernsehfilmen oder Büchern kolportiert wurde. Nein, sein Ruf resultierte aus dem Anspruch, jenseits allen Zeitgeistes anderen gegenüber überaus höflich und aufmerksam zu sein, Frauen die Tür aufzuhalten, ihnen in den Mantel zu helfen, oder ihnen wie eben ihr eine Sitzgelegenheit anzubieten. Sie kannte ausreichend Kollegen, die ohne diese zivilisierten Gesten auskamen und meinten, sich so emanzipieren zu müssen. Außerdem bemerkte Judith heute wieder einmal, wie es Dr. Renz durch seine verinnerlichten Manieren gelang, jegliche Aufregung oder Anspannung zu kaschieren.

Die Kaffeetasse in der Hand, deutete Dr. Renz mit einem Blick dezent auf drei Akten, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Die Unterlagen selbst sind, soweit ich das bei meiner ersten Durchsicht erkennen konnte, ordentlich geführt. Und bei zweien gibt es auch keine Bedenken die gehören zu den Leuten, die ich nach einer eingehenden Musterung einstweilen wieder in den Kühlraum gebracht habe. Den falschen Mann, wenn ich das so sagen darf, habe ich mir bisher nur äußerlich gründlich angesehen. Ich vermute aber schon jetzt, ich sollte hier keine der üblichen Krankenhausobduktionen durchführen. Wahrscheinlich haben wir es mit einem unbekannten Toten zu tun« dabei sah er die Hauptkommissarin demonstrativ an »und auf jeden Fall, denke ich, sind die Umstände seltsam genug, dass die Polizei hier entscheiden sollte.« An dieser Stelle machte Dr. Renz eine kleine Pause. »Denn bevor ich mit meiner

Arbeit anfange, brauche ich Gewissheit, ob hier eine Autopsie am Opfer eines Verbrechens vorzunehmen ist, denn da gelten ja andere Regeln, wie Sie wissen.«

Ohne Regung hatte Judith während dieser Bemerkungen mit Genuss ein mit Zitronencreme gefülltes Blätterteigröllchen verputzt. Aufmerksam sah sie nun den Rechtsmediziner an: »Gut. Ich habe Ihr Problem verstanden. Dann zeigen Sie mir am besten erst einmal die Leiche.«

Beide gingen durch die breite Tür einer Glaswand zu dem Stahltisch, der am hinteren Ende des Obduktionsraumes, und damit am weitesten von der gemütlichen Sitzgruppe entfernt, stand.

Dr. Renz begann: »Ich schätze diesen Mann auf Mitte sechzig, Anfang siebzig; sein Zahnstatus entspräche diesem Alter und die anderen äußeren Merkmale auch.«

Dieser Einschätzung konnte sich Judith Brunner nach kurzer Betrachtung der Leiche durchaus anschließen. Und eingedenk der vielen Narben auf Brust und Bauch des Toten wurde ihr klar, dass er sie hatte dazubitten müssen. Das waren keine Alltags- oder Sportverletzungen, auch keine Operationsnarben. »Wie kann so etwas passieren?«

»Das Streumuster ist typisch«, meinte Dr. Renz, »diese Narben können eigentlich nur von Schüssen aus einer Schrotflinte stammen. Der Zahl der dabei entstandenen Wunden nach wurde er von wenigstens zwei Ladungen getroffen. Zumindest ist das meine erste Vermutung. Aber das lässt sich noch genauer feststellen. Er muss damals Hilfe bekommen haben, sonst hätte er das nicht überlebt.«

»Damals? Wann könnte das denn passiert sein?«, wollte Judith Brunner wissen.

Dr. Renz wiegte den Kopf: »Das ist lange, lange her. Das Narbengewebe ist alt. Und so laienhaft, wie das behandelt wurde ... Die Schnitte und Nahtstellen waren an manchen Stellen wohl schlimmer als die eigentlichen Wunden der Schussverletzung. Ich denke, er wurde bereits mit dreißig oder vierzig angeschossen.«

»Und, was schätzen Sie, wie lange ist der Mann schon tot?« Zwangsläufig hatte Judith Brunner schon genügend Leichen gesehen, um zu erkennen, dass diese hier älter als die üblicherweise in Krankenhäusern liegenden Toten war.

»Mindestens sechs, sieben Tage. Kommt darauf an, wo er sich in dieser Zeit befand. Ende letzter Woche war es noch recht kühl. Wer weiß? Im Freien kann er unmöglich gelegen haben, es gibt keinerlei Spuren von Insektenbefall oder Tierfraß. Sauber ist er auch.« Hier unterbrach er abrupt und teilte Judith Brunner dann leicht verunsichert mit: »Sein Haar war noch feucht, als ich ihn entdeckte. Offenbar wurde er erst kurz zuvor gewaschen.«

Jetzt fiel Judith Brunner auch der Duft des Bademittels auf, den sie bisher neben dem Verwesungsgeruch nicht wahrgenommen hatte. »Oh, das ist aber wirklich eigenartig, nicht wahr?«

Das Telefon klingelte.

Dr. Renz ging in sein Büro zum Schreibtisch. Er hörte im Prinzip nur zu. Außer einem »Aha« und einem »Das hatte ich befürchtet« war nichts zu vernehmen. Mit einem »Vielen Dank!« legte er auf und teilte Judith Brunner mit: »Hier im Krankenhaus fehlt kein Patient. Dieser Mann wurde demnach von außerhalb hierher gebracht.«

Judith Brunner zog die ersten Schlüsse: »Irgendjemand hat unseren Toten mehrere Tage lang wahrscheinlich geschützt aufbewahrt, dann vor Kurzem gewaschen und in die Pathologie des Krankenhauses geschafft. Er sollte also gefunden werden!«

»Da stimme ich Ihnen zu und würde sogar noch weiter gehen: Jemand war um das Wohl des toten Körpers besorgt. Ob das allerdings derjenige war, der ihn vorher aufbewahrt hat?«

»Was meinen Sie?«

»Na, es könnte jemand die Leiche gefunden haben und will nicht in die Sache verwickelt werden. Denkbar auch, der Mann lag bereits in einem Sarg oder war sogar schon beerdigt. Und jemand wollte unbedingt, dass er noch untersucht wird. Das könnte die kürzliche Waschung der schon verwesenden Leiche erklären.«