Adrian Daub

Pop Up Nation

Innenansichten aus dem Silicon Valley

Nah, und schwer zu fassen

»Experience occurs continuously, because the

interaction of live creature and environing conditions is

involved in the very process of living. […] In contrast with

such experience, we have an experience when the material

experienced runs its course to fulfillment.«

John Dewey, Having an Experience, 1934

Amerika-Erklärer haben in Deutschland eigentlich immer Konjunktur. Seit einiger Zeit richten sie ihr Augenmerk bevorzugt auf die amerikanische Westküste. Bild-Chef Kai Dieckmann kam für ein Jahr in die Bay Area. Philipp Rösler war vor seiner Abwahl ein häufiger Gast. Der SPIEGEL hatte eine Zeit lang sogar einen eigenen Korrespondenten im Silicon Valley. In den Firmen Kaliforniens müssen sich die Reporter von Bild, FAZ und ZEIT fast auf die Füße treten, während sie ihre Erfahrungsberichte vorbereiten.

Das Ganze mutet für uns Quasi-Einheimische des digitalen Tals immer ein wenig absurd an. Wenn wir Vorschläge machen sollen, was deutsche Amerika-Besucher hier recherchieren könnten, können wir immer nur gegenfragen: Was für eine Erfahrung sucht ihr überhaupt?

Unsere Besucher suchen zuerst einmal ein Tal, und schon diese Erwartung wird enttäuscht. Auch als ich zum ersten Mal hierherkam, stellte ich mir ein auf zwei Seiten von Anhöhen umgebenes Tal vor und begriff erst später, dass mit »Silicon Valley« einfach die Niederungen an der Bucht von San Francisco gemeint sind. Wo genau es anfängt und wo es aufhört, geographisch, aber auch kulturell, hat sich niemals mit Sicherheit sagen lassen. Irgendwo zwischen South San Francisco und San Mateo sind die Autoschlossereien und Reinigungsbetriebe plötzlich weg, und man fährt an Glaskästen mit Logos vorbei, die man von seinem Smartphone kennt – als stünden unsere Alltagsbildschirme überlebensgroß am Highway. San Francisco gehört vor allem dank der Technologiebranche in dieses Tal, geographisch nicht. Und das Tal selber, das zwar an der Bucht kein Tal mehr ist, aber sich tatsächlich als Santa Clara Valley in die Hügel schlängelt, hat nur am Nordzipfel mit Silikon zu tun – der Rest ist landwirtschaftlich, berühmt unter anderem als Knoblauchhauptstadt der USA. Tatsächlich wird nur 30 Meilen entfernt von Apples Hauptquartier alljährlich die Miss Gilroy Garlic Queen gekrönt, derzeitige Amtsinhaberin: Bridget Brown, 18.

So schwer das berühmte Tal auf der Landkarte zu finden ist, die Signifikanten des Silicon Valley findet man leichter: die Parkplätze, auf denen nur Prius- und Tesla-Limousinen stehen und die Valet-Parken anbieten; junge Menschen, die am Straßenrand auf unmarkierte Busse mit Ledersitzen warten; Cafés in San Francisco, in denen wirklich jeder auf dem neusten MacBook herumtippt. Aber für so etwas allein bräuchte man beim besten Willen nicht nach Kalifornien zu fliegen – das gibt es im Prenzlauer Berg zumindest ähnlich auch. Oder man gebe auf Google Maps »1 Infinite Loop« oder »1 Hacker Drive« ein und klicke auf Street View, und voilà.

Die Geheimnisse hingegen, denen Dieckmann, Rösler und die vielen anderen auf der Spur gewesen sein mögen, als sie ihre Flüge nach San Francisco antraten, haben sie wahrscheinlich auch vor Ort nicht lüften können. Man darf auf Apples Campus am »Infinite Loop« überall hin, man darf überall reinschauen – bis man dann plötzlich nicht mehr darf, und dann hilft auch keine Freundschaft, kein Überredungsversuch, kein wichtiger Titel aus dem fernen Europa. Wenn es um die Milliarden geht, die hier erscheffelt werden, dann bleiben die Firmen des Silicon Valley vom kleinsten Start-up bis zu den Mammuts von Cupertino verständlicherweise absolut zugeknöpft.

Was den Firmen hier im Silicon Valley fehlt, ist das Halböffentliche der alten Industriezweige – ihre Testautos, Wolkenkratzer, Aktionärsversammlungen und selbst ihre Schleckerentführungen, alles oszillierend irgendwo zwischen Firmengeheimnis und Öffentlichkeit. Bei den neuen Techfirmen dagegen sind selbst die »Leaks«, dank derer traditionell irgendein Reporter ein Prototyp des je neuen iPhone in einer Bar findet, bevor es der Öffentlichkeit vorgestellt wird, eine kalkulierte Werbemaßnahme, und nicht Blick hinter den Vorhang.

Dieckmann, Rösler, sie kommen alle mit den Fragestellungen der alten Wirtschaft nach Kalifornien und sehen dementsprechend wenig. Aber welche Fragestellung wäre besser geeignet? Das ist erstaunlich schwierig zu beantworten, sogar für die Herren des Silicon Valley selbst. Es fehlen die Bilder und Ikonen, seien sie real oder fiktiv, die die Umwälzung fassbar machen könnten: Charles Foster Kane auf seinem Zeitungsberg; Henry Fords Amazonasstädte; der Zeppelin über dem Empire State Building.

Die Revolution vollzieht sich fast unsichtbar. Ihre Vorboten sind weißlackierte Busse, mit denen die Tech-Angestellten privat und kostenlos zu ihrer Arbeit gekarrt werden, Yelp-, Square- oder Apple Pay-Aufkleber an Burritobuden und lilafarbene Schnauzbärte an Privatautos, wie sie Ubers Hauptkonkurrent Lyft als freakigeres Taxi-Zeichen verwendet. Die Protagonisten der Revolution wiederum sehen aus wie unauffällige Tennislehrer aus dem Club Med. In Kleidung und Kaufverhalten ähneln selbst noch die Tech-Millionäre der zu unspektakulärem Wohlstand gekommenen Gegenkultur – Flip Flops und Kapuzenpullover standen einmal für Surfladenbesitzer oder Biorestaurateure, heute dagegen für möglichen Web-Reichtum.

Und auch mit ihren Stiftungen, mit denen sich dominante Wirtschaftszweige in den USA schon immer in die Geographie der Städte eingegraben haben, halten sich die Tech-Barone noch zurück, auch wenn das Benioff Hospital und das Zuckerberg Trauma Center in diesem Jahr einen Anfang gemacht haben. Die Sportstadien heißen immer noch nach AT&T und Levi’s Jeans. Auch mit Werbung im öffentlichen Raum ist die Branche diskret – ein Logo an der Glasfassade, ein paar Werbetafeln, damit ist es schon getan. Nah ist es auf diese Weise, das Silicon Valley, und dennoch schwer zu fassen.

Das macht sich auch an der Universität Stanford, Kaderschmiede und schlechtes Gewissen des Silicon Valley in einem, auf erstaunliche Weise bemerkbar. Denn unsere Studenten wollen das Silicon Valley fassen, sie wollen begreifen, was um sie herum geschieht. Entgegen der gängigen Vorstellung bilden wir ja nicht nur die Web-Milliardäre von morgen aus, sondern auch Schriftsteller, Journalisten, und Geisteswissenschaftler, jene also, die das, was die andere Hälfte einmal treiben wird, darstellen, kritisieren und verstehen helfen sollen. Es ist viel über die Schwierigkeiten gesprochen worden, die der Technologieboom des Silicon Valley den Geisteswissenschaften bereitet. Für unsere Studenten ist das Silicon Valley aber auch eine wahrhaft geisteswissenschaftliche Herausforderung: Wie nähert man sich seiner neuen Realität berichtend an?

Gerade sein atemberaubender Erfolg macht Silicon Valley so schwer fassbar. In Deutschland nimmt man meist nur entweder die Unkenrufe oder die Heilsverheißungen wahr. Beide Wahrnehmungen gelten aber, und zwar gleichzeitig. Viele in San Francisco stehen dem scheinbar unaufhaltsamen ökonomischen Aufstieg der eigenen Region fassungslos gegenüber. Der Erfolg nimmt selbst für die Erfolgreichen apokalyptische Dimensionen an. Programmierer sind intelligente Leute, sie sehen, dass die Kurssteigerungen ihrer Firmen, der Wert ihrer Wohnungen, jedes Wort ihres Neusprech absurde Dimensionen annehmen. Aber was bringen solche Einsichten, wenn der Rest der Welt dem Kaiser immer neue Kleider kauft?

Es fehlt die Vorstellung eines Ziels, aber auch die Vorstellung eines möglichen Endes. Alle – die Immobilienmakler, Banker, Reporter, die Investoren des Silicon Valley selbst – sagen, dass der ununterbrochene Boom der kalifornischen IT-Industrie eine Blase sei, dass es so einfach unmöglich weitergehen könne. Aber keiner vermag zu sagen, wie es einmal zu Ende gehen wird. Wenn die Quartalszahlen vorliegen, wenn Gewinnausschüttungen anstehen, dann übertreffen die Dimensionen immer noch einmal das Vorjahr. Schon heißt es, erst ein neues großes Erdbeben in San Francisco werde dem Boom ein Ende bereiten – Silicon Valley sei von gesellschaftlichen Kräften nicht mehr zu zügeln, nur noch Naturgewalten könnten das.

Mit den grands récits der Moderne wollen sie nichts zu tun haben; aber postmodern sind die Herren von Silicon Valley dennoch nicht. Ihr Ansatz ist grundsätzlich disrupt, wörtlich übersetzt: stören, unterbrechen, zersetzen. Erzählen, erinnern, bewahren, das sollen doch bitte die anderen. Die Start-ups dagegen, ob sie einen Dollar wert sind oder einhundert Milliarden, wollen erst einmal nur aufmischen. Selbst ein beliebter Pizzabäcker in San Francisco heißt »Pizza Hacker« – er hat seinen eigenen Ofen entwickelt, um das Pizzabacken zu zerrütten und zu revolutionieren.

Paradoxerweise führt der Kult der disruption