Tove Jansson

REISEN mit
leichtem GEPÄCK

Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer

Urachhaus

INHALT

Briefwechsel

Der achtzigste Geburtstag

Das Ferienkind

Fremde Stadt

Die Frau mit den geliehenen Erinnerungen

Reise mit leichtem Gepäck

Der Lustgarten

Shopping

Der Wald

Der Tod des Sportlehrers

Die Möwen

Das Gewächshaus

Impressum

BRIEFWECHSEL

Dear Jansson san

Ich bin ein Mädchen aus Japan.

Ich bin dreizehn Jahre und zwei Monate alt.

Am achten Januar werde ich vierzehn.

Ich habe eine Mutter und zwei kleine Schwestern.

Ich habe alles gelesen, was Sie geschrieben haben.

Wenn ich es gelesen habe, lese ich es noch einmal.

Dann denke ich an Schnee und daran, dass man allein sein darf.

Tokio ist eine sehr große Stadt.

Ich lerne Englisch und studiere sehr ernsthaft. Ich liebe Sie.

Ich habe einen Traum: so alt zu werden wie Sie und so klug wie Sie.

Ich habe viele Träume.

Es gibt ein japanisches Gedicht, das heißt Haiku.

Ich schicke Ihnen ein Haiku auf Japanisch.

Es handelt von Kirschblüten.

Wohnen Sie in einem großen Wald?

Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen schreibe.

Ich wünsche Ihnen eine gute Gesundheit und ein langes Leben.

Tamiko Atsumi

Dear Jansson san

Mein neuer Geburtstag heute ist sehr wichtig.

Ihr Geschenk ist mir sehr wichtig.

Alle bewundern Ihr Geschenk und das Bild einer kleinen Insel, wo Sie wohnen.

Es hängt über meinem Bett.

Wie viele einsame Inseln gibt es in Finnland?

Darf jeder, der will, dort wohnen?

Ich will auf einer Insel wohnen.

Ich liebe einsame Inseln und ich liebe Blumen und Schnee.

Aber so schreiben, wie die sind, kann ich nicht.

Ich studiere sehr ernsthaft.

Ich lese Ihre Bücher auf Englisch.

Auf Japanisch sind Ihre Bücher nicht genauso.

Warum ist da ein Unterschied?

Ich glaube, dass Sie glücklich sind.

Passen Sie sehr gut auf Ihre Gesundheit auf.

Ein langes Leben wünscht Ihnen

Tamiko Atsumi

Dear Jansson san

Eine lange Zeit ist vergangen, fünf Monate und neun Tage sind vergangen, in denen Sie mir nicht geschrieben haben.

Haben Sie meine Briefe bekommen?

Haben Sie die Geschenke bekommen?

Ich habe Sehnsucht nach Ihnen.

Sie müssen verstehen, dass ich sehr ernsthaft studiere.

Jetzt erzähle ich Ihnen von meinem Traum.

Es ist mein Traum, in andere Länder zu reisen und die Sprachen der anderen Länder zu sprechen und sie zu verstehen.

Ich will mit Ihnen reden können.

Ich will, dass Sie mit mir reden.

Sie sollen mir sagen, wie man beschreibt, dass keine anderen Häuser zu sehen sind und dass niemand auf der Straße kommt.

Ich will verstehen, wie man über den Schnee schreibt.

Ich will zu Ihren Füßen sitzen, um zu lernen.

Jetzt schicke ich ein neues Haiku.

Es handelt von einer sehr alten Frau, die in weiter Ferne blaue Berge sieht.

Als sie jung war, hat sie die Berge nicht gesehen.

Jetzt hat sie keine Kraft, um dorthin zu kommen.

Es ist ein schönes Haiku.

Ich bitte Sie, vorsichtig zu sein.

Tamiko

Dear Jansson san,

Sie wollten eine große, lange Reise machen, jetzt sind Sie mehr als sechs Monate gereist.

Ich glaube, Sie sind wieder zurückgekommen.

Wohin sind Sie gereist, meine Jansson san, und was haben Sie auf Ihrer Reise gelernt?

Vielleicht haben Sie Ihren Kimono mitgenommen.

Er hat die gleichen Farben wie der Herbst und der Herbst ist die Zeit für Reisen.

Aber Sie haben so oft darüber geredet, dass die Zeit kurz wird.

Meine Zeit wird lang, während ich an Sie denke.

Ich will genauso alt werden wie Sie und ausschließlich große, kluge Gedanken haben.

Ihre Briefe bewahre ich an einem geheimen Ort in einem sehr schönen Kästchen auf.

Bei Sonnenuntergang lese ich sie aufs Neue.

Tamiko

Dear Jansson san,

Einmal, als Sie mir geschrieben haben, war es in Finnland Sommer und Sie haben auf der einsamen Insel gewohnt.

Sie haben mir erzählt, dass Sie auf Ihrer Insel sehr selten Post bekommen.

Dann bekommen Sie wohl viele Briefe von mir auf einmal?

Sie sagen, dass Sie es gut finden, wenn die Schiffe vorbeifahren und nicht anhalten.

Aber jetzt wird es Winter in Finnland.

Sie haben ein Buch über Winter geschrieben, Sie haben meinen Traum beschrieben.

Ich möchte eine Geschichte so schreiben, dass jeder seinen eigenen Traum versteht und wiedererkennt.

Wie alt muss man sein, um eine Geschichte zu schreiben?

Aber ohne Sie kann ich sie nicht schreiben.

Jeder Tag ist ein Tag des Wartens.

Sie haben gesagt, Sie sind so müde.

Sie arbeiten, und es gibt zu viele Menschen.

Aber ich will der Mensch sein, der Sie tröstet und Ihre Einsamkeit beschützt.

Das hier ist ein trauriges Haiku von einem, der zu lange auf seine Liebste wartete.

Sie sehen, was das für ein Ende nahm!

Aber es ist nicht sehr gut übersetzt.

Ist mein Englisch nicht besser geworden?

Für ewig Tamiko

Geliebte Jansson san, danke!

Ja, so ist es, man braucht nicht alt genug zu werden,

man fängt einfach an, eine Geschichte zu schreiben,

weil man muss, über das, was man weiß und kennt, oder

auch über das, wonach man sich sehnt,

über den eigenen Traum, das Unbekannte.

Oh geliebte Jansson san. Dass man sich nicht darum

kümmern soll, was die anderen meinen und verstehen.

Während man erzählt, hat es nämlich nur mit der Erzählung

und einem selbst zu tun. Dann ist man auf die richtige

Art einsam.

Jetzt gerade weiß ich alles darüber, wie es ist, eine Person

zu lieben, die weit weg ist, und ich werde schnell

darüber schreiben, bevor sie sich nähert.

Ich schicke wieder ein Haiku, es handelt von einem

kleinen Bach, der im Frühling so fröhlich wird, dass alle

zuhören und Lust bekommen. Ich habe keine Zeit,

es zu übersetzen.

Hör mir zu, Jansson san, und schreibe mir, wann ich

kommen soll. Ich habe Geld gesammelt und ich glaube,

ich kriege ein Reisestipendium. Welcher Monat ist der beste

und schönste für unsere Begegnung?

Tamiko

Dear Jansson san

Vielen Dank für Ihren sehr klugen Brief.

Ich verstehe, dass der Wald in Finnland groß ist, und das Meer ist auch groß, aber Ihr Haus ist sehr klein.

Es ist ein schöner Gedanke, dass man einem Schriftsteller nur in seinen Büchern begegnen sollte.

Ich lerne immerzu etwas.

Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und ein langes Leben.

Ihre Tamiko Atsumi

Meine Jansson san

Es hat den ganzen Tag geschneit.

Ich werde über den Schnee schreiben können.

Heute ist meine Mutter gestorben.

Wenn man in Japan die Älteste in einer Familie geworden ist, kann man nicht fortreisen, und das will man auch nicht.

Ich hoffe, Sie verstehen mich.

Ich danke Ihnen.

Das Gedicht ist von Lang Shih Yian, der einst ein großer Dichter in China war.

Es wurde von Hwang Tsu-Yii und Alf Henriksson in Ihre Sprache übersetzt.

»Der Wildgänse Schreie sind schrill,

hergetragen von dumpfen Winden.

Viel Schnee bringt der Morgen und

das Wetter ist wolkig und kalt.

Nichts in meiner Armut habe ich,

dir zum Abschied zu schenken

als die blauen Berge, die dir überall folgen.«

Tamiko

DER ACHTZIGSTE GEBURTSTAG

I

Als wir ankamen und Jonne die großen Limousinen vor Großmutters Treppe sah, sagte er sofort, dunkler Anzug wäre angebracht gewesen.

»Stell dich nicht an, Schatz«, sagte ich. »Bleib ganz ruhig. Großmutter ist nicht so. Die Leute, die hierherkommen, die haben Samthosen an und was weiß ich nicht alles, Bohemiens gefallen ihr.«

»Das ist es ja gerade«, sagte Jonne, »ich bin kein Bohemien, ich bin ganz normal, ich habe kein Recht, an einem Achtzigsten Samthosen zu tragen. Und ich treffe deine Großmutter heute zum ersten Mal.«

Ich sagte: »Wir packen es aus, bevor wir reingehen, das ist höflicher. Großmutter packt nur an Weihnachten gern selbst Pakete aus.«

Das mit dem Geschenk war nicht ganz einfach gewesen. Großmutter hatte angerufen und gesagt: »Kindchen, du bringst doch hoffentlich deinen Jüngling mit, damit ich ihn mir anschauen kann, aber besorg jetzt bitte kein unnötiges teures Geschenk. Mittlerweile habe ich das meiste und außerdem einen besseren Geschmack als die Mehrzahl meiner Nachfahren. Und wenn ich sterbe, möchte ich kein allzu großes Chaos hinterlassen. Überlegt euch nur etwas ganz Schlichtes, Liebevolles. Und versucht ja nicht, etwas zu finden, das mit Kunst zu tun hat, denn das schafft ihr nicht.«

Wir überlegten hin und her. Großmutter hält sich für den Gipfel an unkomplizierter Toleranz, dabei belastet sie die Verwandtschaft in Wirklichkeit mit anspruchslosen Wünschen, die bei allem Freisinn recht lästig werden können. Eine stilvolle Schale aus dickem Glas zum Beispiel, das wäre so einfach gewesen, aber nein, da ist man dann bürgerlich und kein bisschen liebevoll. Natürlich habe ich Jonne so einiges über Großmutter und ihre Malerei erzählt, und Jonne ist beeindruckt. Zu Hause haben wir eine ihrer frühen Skizzen, aus San Gimignano, wo Großmutter auf ihrer ersten Stipendienreise landete, also bevor sie durch die Bäume, die sie malt, berühmt wurde. Sie sprach oft von San Gimignano. Und ich wollte immer wieder von Neuem hören, wie glücklich sie in diesem italienischen Städtchen mit all den viele Türmen gewesen war, wie sie sich stark und befreit gefühlt hatte, als sie bei Sonnenaufgang aufwachte, um zu arbeiten, eine Signorina hatte ihren Gemüsekarren durch die Stadt gerollt und Großmutter hatte das Fenster geöffnet und auf das, was sie haben wollte, gedeutet, und sie verstanden sich sofort und lachten, und es war warm und alles war schrecklich billig, und dann ging Großmutter mit ihrer Staffelei hinaus … Jonne gefällt diese Geschichte auch. Und neulich, da ist was Unglaubliches passiert: Jonne ist losgezogen und hat auf eigene Faust in einem Gemischtwarenladen ein Bild aus San Gimignano entdeckt. Und damit hatten wir Großmutters Geschenk. Im Laden sagten sie, es sei eine Lithografie vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Wir fanden das Bild nicht besonders gut, aber immerhin.

»Jonne«, sagte ich, »jetzt gehen wir rein. Sei ganz natürlich, das gefällt ihr.«

In der Türöffnung zu Großmutters Atelier stand eine lange Reihe Gratulanten, ein paar kleine Kusinen flitzten raus und rein und nahmen die Mäntel ab, nach und nach wurden wir in den großen luftigen Raum geschleust, der von Großmutters Trabanten prachtvoll geschmückt und hergerichtet worden war. Ich peilte Großmutter an, steuerte in ihre Richtung und drückte Jonnes Arm kurz fest an mich, um ihn zu beruhigen. Gedämpfte Hintergrundmusik war zu hören, nichts Klassisches, vermutlich etwas, dessen erlesene Auswahl Großmutters geheime Signatur trug.

Wir gingen auf sie zu. Sie hatte sich mit ihrer üblichen, bewusst kalkulierten Nonchalance gekleidet, die weißen Haare lagen wie zufällig in leichten Locken um ein aufmerksames, höfliches Gesicht mit sehr klaren und spöttischen Augen.

»Das hier ist Jonne«, sagte ich. »Jonne. Großmutter.«

»Willkommen«, sagte sie. »Aha, das hier ist also Jonne. Du bist Finne, nicht wahr?«, fuhr sie fort und betrachtete ihn mit mildem Blick. »Wie wirst du nur in so einer alten, dickköpfigen Familie klarkommen, wo man nur Schwedisch spricht? Und wie war das wieder, seid ihr verheiratet oder nicht? Ist das unter Dach und Fach?«

»Unter Dach schon, aber nicht unter Fach«, antwortete Jonne mutig, und Großmutter lachte, und ich wusste, dass er ihr gefiel. Sie sagte: »Und? Wo habt ihr das Geschenk?«

Sie musterte das Bild aus San Gimignano ausgiebig und bemerkte, nun, da habt ihr euch ja wirklich Mühe gegeben, und fügte mit einem blitzschnellen Lächeln hinzu: »Ich habe dasselbe Motiv gezeichnet. Aber besser.« Mit einer kleinen Geste, die sowohl Abfertigung als auch geheimes Einvernehmen ausdrückte, ging sie weiter.

Dominiert wurde der große Raum von Großmutters Modelltisch, der, von dem Brokattuch aus Barcelona bedeckt, üppig bestückt war mit allerlei Köstlichkeiten, von Oliven bis zur Sahnetorte, jüngere Nachkommen liefen mit Vasen hin und her, die sie bereits am Morgen mit Wasser gefüllt hatten, die Gäste standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich fieberhaft, und jeder erhielt ein Glas Champagner. Über dem Ganzen segelte Großmutter wie ein Bild von Chagall und verteilte einen gleichsam neutralen Segen, kam und ging und gab hie und da kurze Bemerkungen von sich. Aber ich merkte genau, dass sie sich davor hütete, die Gäste einander vorzustellen. Nicht die geringste Andeutung von nachlassendem Gedächtnis – stellt euch bitte selbst vor, liebe Freunde. Wie soll es mir nur jemals gelingen, so frei zu werden wie Großmutter!

Das Atelier wurde unentwegt von rennenden und schreienden Kindern durchquert, doch die schienen Großmutter nicht im Geringsten zu irritieren, sie überließ es einfach den Müttern, sich um das zu kümmern, was sie da zustande gebracht hatten.

Jonne und ich setzten uns an einen Tisch mit vielen Leuten und merkten erst zu spät, dass wir an den falschen Tisch geraten waren; es war ein Tisch für jene, die Großmutter als die Intellektuellen bezeichnete und die ausschließlich miteinander zu verkehren pflegten. Was die Intellektuellen so machten, wusste ich nicht. Ich versuchte verzweifelt, mir irgendeine Bemerkung auszudenken, und schließlich, nach langem Schweigen, wandte ich mich an einen Herrn mit Spitzbart und sagte, das abendliche Licht im Atelier sei ungewöhnlich schön. Zu meiner Erleichterung begann er sich über die Bedeutung des Lichts auszulassen und ging dann zur Idee der Perzeption über, es dauerte allerdings lange, bis ich begriff, dass er Kunstkritiker war. Zum Glück schien er nichts anderes zu erwarten, als dass man ihm zuhörte, ich nickte nachdenklich und sagte ja natürlich und wie wahr. Ab und zu blickte ich zu Jonne hinüber, der gegenüber saß und unglücklich aussah. Er war neben einem dieser Genies gelandet, die nur schweigen und kein bisschen hilfreich sind. Trotzdem war ich ein bisschen stolz darauf, dass mein Jonne in eine Familie mit künstlerischem Ursprung geraten war, in eine Familie, wo man ein Fest von erstaunlicher Dimension wirklich zu organisieren verstand.

Mit der Zeit gelang es Jonne, aufzustehen und zu mir herüberzukommen. »Machen wir uns auf den Heimweg?«, zischte er mir ins Ohr.

»Ja«, sagte ich, »bald.«

Genau in diesem Moment kamen sie herein, drei Herren von undefinierbarem Äußeren. Irgendwie wirkten sie leicht verlottert – nein, fleckig, verwischt. Aber Bohemiens waren sie absolut nicht, langhaarig zwar, aber eher auf die Art älterer Herrschaften. Sie machten eine große Nummer aus ihrem Auftritt, verneigten sich tief vor Großmutter und küssten ihr die Hand. Großmutter geleitete sie an einen leeren Tisch ganz hinten am Fenster, dann erhielt jeder von ihnen ein Glas Champagner. Innerhalb kürzester Zeit gelang es einem dieser Herren, sein Glas fallen zu lassen, worauf er völlig außer sich geriet, Großmutter lächelte nur, obwohl ich ja wusste, wie viel ihr ausgerechnet diese Gläser bedeuteten, Hochzeitsgläser, glaube ich. Es wurde noch mehr Kaffee und Kuchen serviert, aber die neuen Herren erhielten weiterhin Champagner. Wir übrigen dagegen nicht. Inzwischen hatte Jonne begonnen, langsam an den Wänden entlangzuwandern und dabei alles, was dort hing, gründlich in Augenschein zu nehmen, bis er unauffällig den Tisch der neuen Herren erreicht hatte, der gute Jonne, er begriff ja nicht, dass dies der Tisch der Versager war. Wie dem auch sei, jetzt schien er sich wohlzufühlen, endlich.

Einer der Herren ging zum Whiskytisch und holte sich eine ganze Flasche, auf dem Rückweg erwies er Großmutter eine tiefe Reverenz. Ihr leichtes Lächeln wirkte eventuell etwas ermüdet.

Mein Kritiker war ein Stück von mir abgerückt und unterhielt sich jetzt sehr lebhaft, offenbar ging es immer noch um die Idee der Perzeption. Ich stand auf und schlich diskret zu Jonne hinüber; Gesprächen folgen zu müssen, die ich nicht richtig verstand und die mich nicht interessierten, fand ich nämlich deprimierend. Einer der Herren, er hatte einen grauen Schnauzbart, hob sein Glas und sagte: »Und dann schreibt er so, wie er über dich schreibt, Juksu, hol’s der Teufel.«

»Ja«, sagte Juksu. »Und nur sieben Zentimeter.«

»Hast du es nachgemessen?«

»Ja, mit dem Maßband. Genau sieben Zentimeter – so wie beim Erbswurst kaufen. Da weiß man, was man kriegt. Und ohne Bild. Aber diese Anfänger, die hat er mit Bild gebracht, ist ja klar.«

»Wahrscheinlich ist er so alt, dass er es nötig hat, sich bei den Jungen einzuschmeicheln«, warf der dritte Herr ein. »Ja, hol’s der Teufel.«

»Aber man kann nicht alles im Leben verlangen«, sagte der mit dem Schnauzer.

»Nein.«

Ruhig und bedächtig setzten sie ihr Gespräch fort, es klang, als wären sie es gewohnt, sich miteinander zu unterhalten, hätten aber das Interesse am Diskutieren verloren. Sie stellten etwas fest. Sie sprachen zum Beispiel nicht über Perzeption, ihr Gespräch drehte sich eher um erhöhte Mieten oder irgendeinen Wettbewerb, der ungerecht entschieden worden sei, allerdings könne man ja nicht erwarten, dass …

Aber immer, wenn Großmutter im Laufe ihrer charmanten Rundwanderung in die Nähe kam, wurden sie lebhaft und chevaleresk.

Jonne gab keinen Mucks von sich, aber ich sah, dass er fasziniert war. Keiner von ihnen schenkte uns besonders viel Beachtung, aber sie sorgten dafür, dass unsere Gläser gefüllt waren und rückten freundlich zusammen, damit ich am Tisch Platz fand. Ihre Art zu reden war beruhigend, wir saßen wie auf einer geschützten Insel, und keiner von ihnen fragte, was wir denn so machten, sie ließen uns anonym sein. Das Fest ringsum glitt davon, im Zimmer war es ziemlich dunkel geworden. Die Kinder waren verschwunden. Auf einmal schaltete jemand das Deckenlicht an und gleichzeitig wurden die Pirogen hereingetragen.

Der mit dem Namen Juksu stand auf, dann erhoben wir uns alle, und irgendwie gelangten wir als geschlossene Gruppe in den Flur. Nach unglaublichen Verneigungen und Bücklingen und den aufrichtigsten Liebenswürdigkeiten an Großmutter nahmen wir den Aufzug nach unten. Vorher gelang es ihr noch, mir zuzuflüstern: »Lade sie nicht zu euch ein. Die sind zu dritt, und das könnt ihr euch nicht leisten.« Aber bestimmt hat sie gesehen, dass Juksu ihre Whiskyflasche im Mantel stecken hatte.

II

Es war kalt, als wir auf die Straße hinaustraten. Und sehr still. Keine Autos und keine Menschen und dieses seltsame Halblicht, das die Frühlingsnacht mit sich bringt. Nach ziemlich langem Schweigen stellten wir uns einander vor. Es waren Keke und Juksu, und der mit dem Schnauzbart hieß Vilhelm.

»Vielleicht sollten wir ein paar Schritte tun?«, schlug Vilhelm vor. »Am besten stadteinwärts. Aber nicht ins übliche Lokal.«

»Nein«, sagte Keke. »Dorthin nicht. Die sind nicht mehr nett. Wir setzen uns irgendwo hin, und dann sieht man weiter.« An mich gewandt fragte er, sehr freundlich: »Wie lange wohnt ihr schon zusammen?«

»Seit zwei Monaten«, sagte ich. »Oder fast zweieinhalb.«

»Und das geht gut?«

»Ja, das geht sehr gut.«

Vilhelm sagte: »Wir könnten ja zu unserer Spezialstelle. Dort gibt es Zeitungen.«

Das war unten im Hafen vor den Hallen, jeder von uns griff sich eine Zeitung als Sitzunterlage aus der Abfallkiste und damit setzten wir uns auf die Kai-Kante. Der große Platz war ganz leer.

»Jetzt genehmigen wir uns erst mal einen Kurzen«, sagte Juksu zu Jonne. »Aber Gläser haben wir keine, falls deine Frau Gemahlin das gestattet. Du sagst nicht besonders viel? Geht es dir gut?«

»Sehr gut«, antwortete Jonne.

Eigentlich sollte ich gar nicht dabei sein, dachte ich. Ich wandte mich an Vilhelm und bemerkte höflich: »Hier ist es richtig nett. Ich finde Leute erholsam, die nichts so besonders ernst nehmen.«

»Du bist sehr jung«, sagte Vilhelm. »Aber du hast eine erstaunliche Großmutter.«

Wir prosteten uns zu, und unversehens begann Jonne sehr erregt zu reden: »Ich habe gehört, worüber ihr gesprochen habt – dass man hier im Leben nicht alles erwarten kann, aber man muss doch wohl trotz allem etwas erwarten dürfen, ich meine, etwas Unglaubliches erwarten, von sich selbst und von den anderen … Man muss hoch zielen, weil es ja trotzdem immer weiter unten trifft, wenn Sie verstehen, was ich meine – wie mit Pfeil und Bogen …«

»Natürlich, ganz klar«, sagte Keke beruhigend. »Du hast absolut recht. Schaut mal, jetzt kommen sie herein. Ich mag Boote.« Wir genehmigten uns wieder einen und betrachteten die Fischerboote, die sich langsam auf den Kai zubewegten. Zwei Politurtrinker kamen angewandert. »Hallo, Keke«, sagte der eine. »Entschuldigung, wie ich sehe, habt ihr Gäste. Hast du Zigaretten?«

Jeder bekam eine, dann zogen sie weiter. Oben am Frühlingshimmel ruhte der Dom wie ein weißer Traum über dem leeren Platz. Helsinki war unbeschreiblich schön, ich hatte bisher noch nie gesehen, wie schön die Stadt ist.

»Die Nikolaikirche«, sagte Juksu. »Alles müssen sie verändern. Der Dom, idiotisch, das sagt gar nichts.« Er ließ die leere Flasche ins Wasser gleiten und erwähnte nebenbei, die könnten ja nicht einmal mehr anständige Lyrik schreiben.

Dunkler als jetzt konnte die Nacht im Mai nicht mehr werden, Straßenlaternen benötigte sie allerdings keine.

»Erklärt mir bitte eins«, sagte ich, »was bedeutet Perzeption?«

»Wahrnehmung«, antwortete Vilhelm. »Dass man plötzlich etwas sieht und irgendeine olle Idee kriegt. Oder am besten eine neue.«

Ich fand es kalt und wurde plötzlich ärgerlich und sagte, achtzigste Geburtstage seien eigentlich ziemlich albern.

»Mein liebes Kind«, sagte Vilhelm, »das Fest war auf seine Art richtig und schön, aber jetzt ist das Fest vorbei. Jetzt sitzen nur wir noch hier und versuchen nachzudenken.«

»Worüber?«, fragte Juksu.

»Über uns. Über alles.«

»Was denkt Großmutter wohl jetzt?«

»Das weiß niemand.«

Vilhelm fuhr fort: »Zum Beispiel diese Sache mit ungefähr fünfzig pro Woche. Da müssen sie sich ja die Füße wundlaufen. Kein Wunder, dass sie nur noch die Jungen schaffen, diese Mistkerle.«

»Welche Mistkerle?«, fragte ich.

»Die Kritiker. Fünfzig Ausstellungen die Woche.«

»Und niemand fragt mehr nach unsereinem«, sagte Keke. »Man ist erledigt. Man hat seine Kritik gehabt.« Dann fuhr er fort: »Hier kriegt man ja einen kalten Hintern. Vielleicht sollten wir uns ein bisschen bewegen?«

Als wir am Ufer weitergingen, fragte er mich freundlich, was ich mir vom Leben erhoffe?

Ich zögerte kurz und antwortete: »Liebe. Vielleicht Geborgenheit?«

»Ja«, sagte er, »das ist natürlich richtig. An und für sich, wenigstens für dich.«

»Und Reisen«, fügte ich hinzu. »Ich habe solche Lust zu verreisen.«

Keke schwieg eine Zeit lang, dann sagte er: »Lust. Wie du siehst, habe ich ziemlich lange gelebt, also ziemlich lange gearbeitet, das ist ein und dasselbe. Und soll ich dir was verraten, in dem ganzen Spektakel kommt es einzig und allein auf eins an – nämlich darauf, Lust zu haben. Die Lust, die kommt und geht. Anfangs kriegt man sie gratis, im Unverstand, und vergeudet sie hemmungslos. Später wird sie zu etwas, das man mit Vorsicht behandelt.«

Es war schrecklich kalt, er ging zu langsam, und ich fror.

Dann fügte er hinzu: »Irgendwann sieht man das Bild nicht mehr. Ich glaube, die Zigaretten sind alle.«

»Keineswegs«, sagte Juksu. »Philip Morris, Großmutter hat sie mir in die Tasche gesteckt. Großmutter versteht ihr Geschäft.«

Keke gesellte sich zu den anderen, sie zündeten ihre Zigaretten an und gingen genauso langsam weiter.

Jonne und ich blieben etwas zurück, ich flüsterte ihm zu: »Hast du das hier satt? Sollten wir lieber nach Hause gehen?«

»Still«, sagte er. »Ich will hören, was sie sagen.«

»Sein Modellierton«, sagte Vilhelm gerade. »Den hat ein Amateur bekommen. Irgend so ein Scheißkerl, der die Nase vorn hatte, ein hergelaufener Niemand. Der Alte war noch keine zwei Tage tot, da kam dieser Dilettant angerannt und kaufte der Witwe den Ton ab, für ein Spottgeld. Und das war richtig alter Ton, man stelle sich vor, was für eine Qualität!«

»Jonne, warte kurz«, sagte ich. »Ich hab Sand in den Schuhen.« Aber Jonne ging weiter, zu ihnen hin.

Als er zurückkam, berichtete er hastig, der Modellierton werde mit der Zeit immer lebendiger, bei jeder Skulptur sei es derselbe Ton, er müsse stets feucht gehalten werden, und ein neuer Ton sei überhaupt nicht dasselbe, der lebe nicht …

Ich fragte, wer von ihnen eigentlich Bildhauer sei, doch das wusste er nicht.

»Sie haben nur darüber geredet, wie es ist, ein Bild zu sehen«, sagte er, »ich weiß nicht.« Er war sehr erregt und wollte wissen, ob wir nichts im Haus hätten, etwas, was man ihnen anbieten könnte, es sei ja nicht besonders spät, »und das hier«, sagte Jonne, »ist etwas, das wir nie mehr erleben werden, für mich ist das wichtig.«

Ich wusste, dass wir nicht viel anzubieten hatten, und das wusste Jonne auch, sehr gut sogar. Ein bisschen Anchovis und Brot, Butter und Käse, aber nur eine einzige Flasche Rotwein.

»Das geht gut«, sagte Jonne. »Wenn wir zwei nur so tun, als würden wir trinken, bleiben sie vielleicht ein Weilchen, das reicht bestimmt, meinst du nicht auch? Und es ist doch gleich um die Ecke.«

»Wir machen das«, sagte ich, und da lachte er.

Im Brunnspark war es sehr schön, alles wuchs und spross. Auf einmal war ich nicht mehr müde, ich wusste nur, jetzt war Jonne froh.

Wir blieben alle vor einer großen Vogelkirsche stehen, die voll erblüht kreideweiß durch die Frühlingsnacht leuchtete. Beim Betrachten des Baumes kam mir der Gedanke, dass ich Jonne nicht so geliebt hatte, wie ich ihn hätte lieben können, nämlich absolut.

Keke sah mich an und sagte: »Das da ist bloß ein Geschenk, das hat nichts zu bedeuten.«

Ich verstand ihn nicht. Wir gingen weiter.

Dann sagte er: »Deine Großmutter hat eigentlich nie etwas anderes gemalt als Bäume, Bäume aus ein und demselben Park. Zum Schluss wusste sie, was ein Baum ist, kannte die Idee des Baumes. Deine Großmutter ist sehr stark. Sie hat ihre Lust nie verloren.«

Natürlich hatte ich großen Respekt vor diesen Herren, die einzig und allein ihre verlorene Lust suchten und denen sonst nichts wichtig war, aber gleichzeitig machte ich mir Sorgen, ob wir genügend Kaffee im Haus hatten und ob es sehr unaufgeräumt war. Mir fiel ein, was bei uns an den Wänden hing, vielleicht waren unsere Bilder total unmöglich, lauter Sachen, die man einfach gern hat, ohne sie zu verstehen. Keke kam her und fragte, ob mir kalt sei.

»Nein«, sagte ich, »jetzt müssen wir nur noch diese Straße hinauf und dann sind wir da.«

»Deine Großmutter«, sagte Keke, »hat sie jemals über ihre Arbeit gesprochen?«

»Nein, hat sie nicht.«

»Gut«, sagte Keke, »das ist gut. In den Sechzigerjahren hat die Kritik sie fertiggemacht, aber sie ist trotzdem bei ihrem Stil geblieben. Weißt du, mein Kind – wie heißt du überhaupt?«

»Maj«, sagte ich.

»Na, das passt ja. Weißt du, damals galt nur das Informel, alle mussten das Gleiche machen.« Er sah mich an und als er merkte, dass ich keine Ahnung hatte, erklärte er: »Informel, das heißt ungefähr, unbegreiflich zu malen, nur Farbe. Das führte dazu, dass ältere, sehr gute Künstler sich in ihren Ateliers verkrochen und so wie die Jungen zu malen versuchten. Ängstlich wollten sie mithalten. Manchen gelang es, so halbwegs, und manche haben sich verirrt und nie mehr auf den richtigen Weg zurückgefunden. Aber deine Großmutter blieb bei ihrem Stil, und als alles vorbei war, hatte sie ihn immer noch. Sie war mutig, oder auch nur dickköpfig.«

Sehr vorsichtig bemerkte ich: »Aber vielleicht konnte sie einfach nicht anders arbeiten als auf ihre eigene Art?«

»Ausgezeichnet«, sagte Keke. »Sie musste einfach. Du tröstest mich.«

Als wir beim Hauseingang ankamen, sagte ich: »Seid jetzt bitte sehr leise, wir haben nämlich schwierige Nachbarn. Jonne, geh schon mal vor und hol, du weißt schon was, aus dem Kühlschrank.«

In der Wohnung stellte Jonne Rotwein und Gläser auf den Tisch, unsere Gäste machten es sich bequem und setzten ihre Unterhaltung fort. Licht brauchten wir keins, die Nacht war hell genug.

Etwas später erwähnte Jonne, er habe da etwas, das sie sich vielleicht anschauen könnten, und ich wusste, dass er ihnen sein Bootsmodell zeigen wollte. Daran arbeitet er seit zwei Jahren, jedes kleinste Detail ist von Hand gefertigt. Sie gingen ins Kabuff, wo Jonne das Deckenlicht anmachte. Ich hörte ein gedämpftes Gespräch, ließ sie aber in Ruhe und stellte den Kaffee auf.

Nach einiger Zeit kam Jonne in die Kochecke. »Sie haben gesagt, ich hätte die Lust«, flüsterte er. »Ich hätte eine Idee.« Er war sehr aufgewühlt und fuhr fort: »Aber das sei ja nicht ihre Idee, dieses Eine, wonach sie immer suchen.«

»Sehr schön!«, sagte ich. »Nimmst du den Kaffee, dann bringe ich den Rest.«

Als ich ins Zimmer kam, sprach Vilhelm gerade über die blühende Vogelkirsche, die wir unterwegs gesehen hatten. Er sagte: »Was soll man mit so was machen?«

»Lass sie blühen«, sagte Keke. »Aha, hier kommt unsere schöne Gastgeberin! Nicht wahr, man soll sie blühen lassen und einfach bewundern. Das ist eine Art zu leben. Der Versuch, sie noch einmal zu machen, ist eine andere Art. Das ist alles.«