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Über dieses Buch:

Die Wunderbar-Clique bekommt eine neue Mitbewohnerin: Rosi Rosini. Eigenwillig, fast schon ein bisschen verrückt – Rosi ist wirklich ein schräger Vogel: Sie hat ihr eigenes Buchstabensystem entwickelt, und beim Rechnen verwendet sie statt der Zahlen ihre eigenen Zeichen. Trotzdem verstehen Nina, Sakiko und Co. sich sofort richtig gut mit ihr. Aber dass man sich mit so viel Eigenart nicht nur Freunde macht, ist klar – und so ist Streit vorprogrammiert …

Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Bei jumpbooks erschienen Sissi Flegels Jugendbuch-Trilogie Internat Sternenfels mit den Einzelbänden Wilde Hummeln, Die Superhexen und Die Vollmondparty sowie folgende Kinderbücher:

Gruselnacht im Klassenzimmer

Bühne frei für Klasse Drei

Wir sind die Klasse Vier

Klassensprecher der Spitzenklasse

Klassensprecher auf heißer Spur

Klassensprecher für alle Fälle

Wir sind die Klasse Fünf

Klasse Fünf und die Liebe

Mutprobe zum Morgengrauen

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2001 Thienemann Verlag, Stuttgart/Wien

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-037-4

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Sissi Flegel

Internat Sternenfels

Band 3: Die Vollmondparty

jumpbooks

Internat Sternenfels

Internat Sternenfels ist ein besonderes Internat. Dort leben jeweils fünf bis acht Schülerinnen und Schüler verschiedener Altersstufen miteinander in einer Wohngemeinschaft. Immer ein Lehrer oder eine Lehrerin hat dort eine eigene kleine Wohnung und ist somit Vater- oder Mutterersatz. Gemeinsam benutzen die Lehrer und Schüler einen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Kochnische.

Eine der Wohngemeinschaften heißt Wunderbar, weil Andreas, der zuständige Lehrer, bei jeder sich bietenden Gelegenheit »wunderbar« sagt. Er ist fröhlich, unkompliziert, direkt – und er liebt seine Leute. Deshalb nennen sie ihn auch ihr Ein und Alles.

Außer seinen Schutzbefohlenen Aldo, Nina, Naomi, Sakiko und Cheerio sind auch noch ständig irgendwelche anderen Sternenfels-Leute in dem Gemeinschaftsraum der Wunderbar anzutreffen. Kein Wunder, denn nirgendwo sonst auf Sternenfels gibt's so guten Tee und nirgendwo sonst im ganzen Internat tobt so sehr das pralle Leben wie hier.

Aldo ist der Älteste in der Wohngemeinschaft und geht bereits in die Zehnte.

Seine Schwester Nina kam im letzten Herbst neu dazu und teilt mit der elfjährigen Irin Naomi das Zimmer. Die beiden sind in derselben Klasse.

Sakiko, die Tochter einer Japanerin und eines Deutschen, geht in die Siebte. Sie ist mit Irene aus einer anderen Sternenfels-WG befreundet.

Irene hat durch einen Unfall ein Bein verloren und erst im Internat wieder ein wenig von ihrer alten Selbstsicherheit und Lebenslust zurückgewonnen. Im nächsten Schuljahr darf sie endlich zu Sakiko in die Wohngemeinschaft umziehen. Bis dahin ist Irene tagsüber meist sowieso bei den Mädchen in der Wunderbar und abends trainiert sie seit einiger Zeit eisern mit Heiner aus der Elften.

Curt, von allen nur Cheerio genannt, macht als Fünfter die Mannschaft von Andreas komplett. Keiner ist am Computer so fit wie er, aber mit Zahlen steht er auf Kriegsfuß. Nur dem Einsatz von Nina und Naomi hat er es zu verdanken, dass er vor kurzem nicht vom Internat flog. Er war dabei erwischt worden, wie er sich heimlich den Computerausdruck der nächsten Mathearbeit beschafft hatte.

Ach ja, fast wäre Zilga nicht erwähnt worden, dabei ist sie kaum zu übersehen mit ihren rabenschwarzen Klamotten. Früher hatte sie außerdem noch schwarze Haare, die wie Spikes vom Kopf abstanden, dunkel umrandete Augen, ein weiß geschminktes Gesicht, blutrote Lippen und schwarz lackierte Fingernägel. Zilga besucht als Externe das Internat, das heißt, sie wohnt in der nahen Kleinstadt bei ihrer Oma und kommt jeden Morgen nach Sternenfels, um am Unterricht teilzunehmen. Sie hatte es bisher nicht leicht im Leben, doch zum Glück lernte sie Aldo kennen. Die beiden verliebten sich ineinander und die Liebe dauert und dauert. Deshalb ist Zilga inzwischen schon fast zum Dauergast in der Wunderbar geworden. Zum Ausgleich dafür beherbergt Zilgas Oma Naomis bissige Schildkröte Piccolo, da im Internat Sternenfels Haustiere streng verboten sind.

1

»Es ist Hochsommer, die Sonne knallt vom Himmel und ausgerechnet ich muss die Grippe haben«, krächzte Nina und kroch tief unter ihre Decke. Sie fror, gleichzeitig war ihr glühend heiß, der Hals tat weh, die Augen tränten und die Nase lief.

Naomi wickelte ein Hustenbonbon aus und hielt es ihr vor die Nase.

Cheerio fragte: »Willst du den neuesten Witz hören? Er geht so: Kommt ein Mann in 'ne Bar ...«

»Lasst mich in Ruhe!« Nina zog die Decke noch höher. »Macht die Tür hinter euch zu!«

»Dich hat's aber bös erwischt.« Naomi legte das Bonbon auf den Nachttisch. »Komm, Cheerio.«

Behutsam schlossen sie die Tür.

»Ach, da seid ihr ja!«, rief Andreas, Lehrer, Ersatzvater und Ein und Alles für die Leute in seiner Wohngemeinschaft, über den Flur. »Wie geht es Nina?«

»Schlecht«, antwortete Naomi. »Sie will nichts sehen und nichts hören.«

»Kann ich verstehen. Mir ging's genauso, als ich die Grippe hatte.« Er schnäuzte sich. »Ich muss mit euch reden. Wir treffen uns nach dem Abendessen in der Wunderbar.«

Wunderbar hieß nicht nur die WG, sondern auch das große gemeinschaftliche Wohnzimmer darin, mit der kleinen Kochnische. Sie war gleichzeitig Treffpunkt, Aufenthaltsraum und Mittelpunkt im Leben von Nina und Naomi, Sakiko, Cheerio, Aldo und deren Freunde.

»Worum geht's?«, wollte Naomi wissen.

»Um unsere Wunderbar«, antwortete Andreas knapp. »Am besten, ihr ladet auch Zilga, Irene, Raffi und Solveigh ein. Servus, bis später!«

»Die müssen wir nicht extra einladen, die kommen sowieso!«, rief Cheerio ihm nach und sagte zu Naomi: »Was meint er mit: ›Es geht um unsere Wunderbar‹? Wir haben nichts angestellt, es sind nur noch zwei Tage bis Schuljahresende – was will er nur von uns?«

Naomi runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Was Gutes kann's nicht sein, so, wie Andreas aussah und wie seine Stimme klang.«

Cheerio nickte bekümmert, hob die Schultern, als wäre ihm kalt, und verschwand in seinem Zimmer.

Nina schlief.

Sie verschlief den Vormittag, sie verschlief das Mittagessen, sie hörte nicht, wie Naomi, die mit ihr das Zimmer teilte, am Nachmittag hereinkam, eine Kanne Pfefferminztee und einen Teller mit belegten Broten neben ihr Bett stellte und den Gymnastikanzug und die Turnschuhe holte. Sie bemerkte auch nicht, dass Sakiko und Zilga nach ihr schauten und wieder leise verschwanden.

Erst als jemand eine Tür zuknallte, schreckte sie auf – und fühlte sich plötzlich viel gesünder.

Sie schniefte probehalber: Die Nase war ziemlich trocken.

Sie schluckte versuchsweise: Der Hals tat nicht mehr weh.

Sie hustete zur Probe: Alles in Ordnung.

»Super!«, rief sie ins leere Zimmer, lauschte, sprang aus dem Bett und schaute auf die Uhr. Kein Wunder, dass es so ruhig ist, dachte sie, alle sind beim Abendessen.

Was hab ich doch für einen Hunger, dachte sie erfreut, goss Tee ein, griff nach dem Teller mit Broten und machte es sich am Fenster gemütlich.

Kauend schaute sie auf den Hof hinunter. Der Brunnen plätscherte und die große Tanne warf einen langen Schatten. Jetzt hastete eine einsame Gestalt die wenigen Stufen zum Pavillon, in dem sich der Speisesaal befand, hinauf und verschwand darin.

Nina griff nach dem nächsten Brot und wackelte vergnügt mit den nackten Zehen. Morgen bin ich wieder dabei, dachte sie erleichtert und sprang auf, als nach wenigen Augenblicken absoluter Stille das Geräusch von Stühlerücken und Geschirrklappern durch die offenen Fenster bis zu ihr heraufdrang.

Sie schaute hinaus, entdeckte Naomi und Sakiko, pfiff gellend durch die Finger und winkte heftig.

Die beiden sahen auf, winkten zurück, rannten los und platzten wenig später ins Zimmer.

»Du bist ja wieder gesund!«, rief Sakiko.

»Wird auch Zeit«, fügte Naomi hinzu. »Du musst dich sofort anziehen. Wir treffen uns in der Wunderbar.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Andreas will mit uns reden.«

»Ich hab nichts ausgefressen«, stellte Nina fest und schlüpfte in die Sandalen. »Muss nur noch die Haare zusammenbinden. So.«

Dann marschierten sie los.

Zu ihrer Überraschung wartete Andreas bereits. Er hatte Saft und Kekse bereitgestellt und hielt nun die Tür auf »Bis auf Raffi und Irene sind alle da ... Ah, da kommen sie. Jetzt sind wir vollzählig.«

Nina, Naomi und Sakiko saßen auf dem Sofa. Aldo und seine Freundin Zilga teilten sich den einen Sessel, Cheerio und Solveigh den zweiten und Raffi und Irene setzten sich auf den Fußboden.

Andreas zog einen Stuhl heran und räusperte sich. »Tja, was ich zu sagen habe, ist ziemlich unangenehm. Für mich, für euch, aber auch für Herrn Siegmund, der einen Gruß bestellen lässt und euch bittet, zunächst in Ruhe zuzuhören, dann zu überlegen und erst ganz zum Schluss zu urteilen.«

»Himmel!«, rief Nina. »Ist eine Seuche ausgebrochen? Wird die Wunderbar geschlossen?«

»Oder kommst du nach den großen Ferien nicht mehr zurück, Andreas?«, wollte Cheerio wissen. »Das wäre ein Hammer!«

»Nein, nein, darum geht's nicht«, versicherte Andreas.

»Komm zur Sache«, piepste Raffi und wurde rot, als alle lachten. »Sagt meine Ma immer zu mir«, verteidigte er sich. Raffi war der Jüngste in ihrem Kreis. Zu Anfang des Schuljahres hatte er dermaßen unter Heimweh gelitten, dass er, um wieder nach Hause zu dürfen, zu den abwegigsten Methoden gegriffen hatte.

Schließlich hatte sich Irene seiner angenommen. Er war ihr Schützling geworden und nun hielt er es endlich auf Sternenfels aus.

Andreas sah ihn an, seufzte und meinte: »Es geht auch um dich, Raffi.«

»Um mich? Aber ich bin doch in einer anderen WG«, antwortete er verblüfft. »Darf ich zu euch ziehen? Mann, das wäre super!«

»Nein, leider nicht. Es ist so: Unser Direktor, Herr Siegmund, hatte Besuch von Eltern, die eine sehr, äh, schwierige Tochter haben.«

»Sie ist abartig«, stellte Zilga nüchtern fest. »Was ist es? Nimmt sie Drogen? Klaut sie? Ist sie magersüchtig? Fliegt sie von ihrer Schule?«

»Ja, sie muss ihre Schule verlassen. Aber nicht aus den Gründen, die du genannt hast, Zilga.«

»Wieso sonst? Etwas Schlimmeres gibt's doch nicht.«

»Es sind andere Gründe. Das Mädchen ist ... es ist sehr phantasievoll.«

»Phantasievoll?«, wiederholte Aldo gedehnt. »Das heißt im Klartext: Sie spinnt. Ist plemplem. Hat 'ne Meise. Was hat das mit uns zu tun?«

»Erstens: Sie spinnt nicht. Sie hat wirklich nur sehr viel Phantasie. Sie ...«

»Wie äußert sich das?«, fragte Naomi. »Normalerweise ist es doch gut, wenn man Phantasie hat. Dann schreibt man gute Aufsätze. Bei mir heißt es immer: ›Du könntest mehr Phantasie entwickeln, Naomi.‹« Wieder lachten alle. »Also was tut sie? Werd endlich konkret, Andreas. Oder darfst du keine Geheimnisse ausplaudern?«

»Es ist kein Geheimnis. Das Mädchen, Rosine heißt es, hat seine Lehrer ziemlich gestresst, nein, eigentlich hat es sie zur Weißglut getrieben. Rosine hat nämlich festgestellt, dass es leichter und spannender ist, alle Wörter kleinzuschreiben. Im Deutschen und in den Fremdsprachen. Zuerst musste sie alle Arbeiten nachschreiben. Das tat sie auch – jedoch ohne die Schreibweise zu verändern.«

»Echt? In den Klassenarbeiten?«, fragte Solveigh. Es war das erste Mal, dass sie den Mund aufmachte. Solveigh war schüchtern und meistens schwieg sie. »Dazu gehört Mut«, meinte sie bewundernd. »Ich würde das nie tun. Ich könnte das gar nicht.«

»Um die Sache kurz zu machen: Das Ende vom Lied war, dass sie schließlich keine Arbeiten mehr mitschrieb und deshalb in manchen Fächern keine Noten und kein vollständiges Zeugnis bekommen wird. Wie sollte man sie auch benoten können? Also muss sie nun das Schuljahr wiederholen, doch in ihrer alten Schule geht das nicht mehr. Wie gesagt, die Lehrer dort haben die Nase voll von ihr.«

»Aha«, folgerte Aldo weise. »Deshalb haben sich ihre Eltern nach einem Internat für schwierige Fälle umgeschaut und Sternenfels entdeckt.«

»Und weil Herr Siegmund ein Herz für hoffnungslose Fälle hat, hat er gesagt, er versucht's mit ihr, stimmt's? So war's bei mir auch«, sagte Cheerio.

»Herr Siegmund ist bereit, das Mädchen probeweise aufzunehmen. Allerdings nur, wenn sie versichert, sich der gängigen Rechtschreibung anzupassen«, antwortete Andreas.

»Das ist nett von ihm«, meinte Nina. »Und wo kommen wir ins Spiel? Ich meine, wir und die Wunderbar?«

Jetzt fuhr sich Andreas mit allen zehn Fingern durch die Haare. »Herr Siegmund hat sich sämtliche Wohngemeinschaften durch den Kopf gehen lassen und festgestellt, dass das Mädchen wohl am ehesten bei uns eine Chance hätte.«

»Hab ich mir gleich gedacht!«, rief Cheerio. »Wir gelten auch als verrückt und spinnert, stimmt's, Andreas?«

Der nickte. »Ist das ein Wunder? Nach allem, was ihr euch geleistet habt.«

»Wieso? Was habt ihr euch denn geleistet?«, wollte Raffi wissen.

»Och, eigentlich nichts Besonderes«, antwortete Nina ausweichend.

Aldo und Zilga lachten. »Nö, da gab's wirklich nichts Besonderes! Nur, dass Naomi sich eine bissige Schildkröte als Zimmer- und Schlaftier hielt, was streng verboten ist, und dass sie und Nina heimlich Judo lernten, um die Großen verprügeln zu können, und dass Cheerio ...«

»Willst du wohl den Mund halten!«, fuhr der dazwischen.

»Wieso? Ich wollte ja nur berichten, wie du uns jeden Tag ein Puzzlestückchen geschickt hast«, antwortete Zilga und zwinkerte ihm zu.

»Ach ja! Und was war mit euren Zauberkunststückchen und den Hexensprüchen? Und dem nächtlichen Abseilen und so?«

»Jetzt haltet aber den Mund!«, rief Aldo warnend.

Andreas grinste. »Ich sehe, Herr Siegmund hatte Recht: Das Mädchen könnte zu euch passen.«

»Vielleicht. Aber er hat etwas übersehen – bei uns ist zwar ein Bett frei, aber das ist für Irene reserviert«, sagte Naomi, die immer sehr geradlinig und praktisch dachte. »Im kommenden Schuljahr zieht sie zu uns; so ist das ausgemacht.«

2

»Stimmt! Nach den Ferien, zieht Irene hier ein.« Nina sprang auf. »Soll sich doch 'ne andere WG über diese saure Rosine den Kopf zerbrechen. Wir sind komplett. Sorry, alles besetzt.«

»Das sagte ich auch zu Herrn Siegmund. Ich erklärte ihm, dass das freie Bett in Sakikos Zimmer für Irene reserviert ist.«

Irene runzelte die Stirn. »Soll sich daran was ändern?«

»Ja«, antwortete Andreas bedrückt. »Herr Siegmund will etwas daran ändern. Er weiß, dass du dich um Raffi kümmerst, und schlägt vor: Du bleibst in deiner WG, Raffi zieht zu dir und diese Rosine bekommt das zweite Bett in Sakikos Zimmer.«

»Waaas« Das verschlug allen die Sprache.

»Ausgeschlossen. Ein Versprechen bricht man nicht«, sagte Naomi sachlich.

»Eben!«, rief Nina empört. »Man muss zu seinem Wort stehen!«

Solveigh schob die feinen blonden Haare hinters Ohr. »Wenn Irene nicht in eure WG zieht, kann ich statt der Neuen kommen. Das wäre schön.« Sie kuschelte sich eng an Cheerio.

»Langsam, langsam«, rief Zilga. »Andreas, bevor wir weiterdiskutieren, musst du uns sagen, ob wir eigentlich Entscheidungsfreiheit haben oder ob Herr Siegmund schon alles beschlossen hat und wir uns umsonst den Mund fusslig reden.«

»Wir können selbst entscheiden«, antwortete Andreas. »Herr Siegmund ist sich bewusst, dass er Irene ein Versprechen gegeben hat. Deshalb bittet er sie – und uns alle –, die Sache mit Rosine nochmals zu überdenken.«

»Warum soll immer ich solche Entscheidungen treffen?«, rief Irene hitzig. »Damals bei dir, Cheerio, rutschte ich auch ohne mein Zutun in den Schlamassel mit deinen Eltern. Damals hieß es: Entweder spenden sie mir Geld für ein neues Kunstbein, dann bleibst du auf Sternenfels, oder –«

Andreas hob die Hand. »Beruhige dich, Irene. Du sollst die Entscheidung nicht alleine treffen. Glaubst du vielleicht, ich bin glücklich über diese Sache? Jetzt, wo wir uns endlich zusammengerauft haben, sollen wir wieder von neuem beginnen. Nein, ich bin echt nicht begeistert.«

Raffi hob die Hand, langsam, zögernd. »Wenn Irene in die Wunderbar zieht, wo wohne dann ich?«, fragte er nachdenklich.

»Du bleibst in deiner alten WG«, antwortete Aldo. »Wo liegt das Problem?«

»Aber wenn Irene in ihrer WG bleibt, darf ich zu ihr ziehen. Ist das so?«, fuhr er fort.

»Ja, so ist das.«

Raffi nickte. »So ist das«, wiederholte er. Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen.

»Was ist, Raffi? Wir bleiben doch zusammen«, sagte Irene.

Raffi schüttelte den Kopf und schluchzte: »Stimmt nicht. Wenn du erst mal hier wohnst, hast du für mich keine Zeit mehr. Dann bist du immer mit Sakiko, Zilga, Nina und Naomi zusammen.«

»Du kannst jederzeit zu uns kommen«, meinte Andreas beruhigend. »Das weißt du doch.«

»Das ist was anderes.«

Irene fuhr ihm über die Haare. »Es ist was anderes«, wiederholte sie bedrückt. »Niemand weiß das besser als ich.«

»Ich wohne doch auch nicht in der Wunderbar«, warf Zilga ein. »Ich bin eine Externe.«

»Als Externe wohnst du aber auch nicht in einer anderen WG«, gab Naomi zu bedenken. »Du pendelst nur zwischen deiner Oma und uns. Das ist einfacher, als wenn du dich immer noch mit einer weiteren WG auseinander setzen musst.«

Sie schwiegen.

Raffi schniefte. Andreas reichte ihm ein Taschentuch, schaute auf die Uhr und meinte: »Raffi, du musst ins Bett. Du bist hier der jüngste.«

Gehorsam rappelte Raffi sich vom Boden auf und ging zur Tür. Klein, dünn und sehr verloren stand er da, drehte sich noch einmal um und fragte: »Kommst du mit, Irene?«

Schon wollte sie ihm folgen, da überlegte sie es sich anders. »Raffi, heute gehst du alleine. Morgen früh hole ich dich ab, ja?«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Er nickte. »Gute Nacht.«

Sie hörten seine Schritte auf der Treppe.

»Dass das klar ist, Irene«, sagte Aldo, »das Ganze ist nicht allein dein Problem. Es ist auch unseres. Wollen wir uns überhaupt auf eine Neue einlassen?«

Irene hob abwehrend die Hände. »Ich habe mich entschieden. Raffi ist noch längst nicht überm Berg. Er braucht mich.« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Und ich find's schön, dass er mich braucht. Ihm macht es nichts aus, dass ich nur ein Bein habe und nicht überall mitmachen kann.«

»Uns macht das auch nichts aus«, warf Zilga rasch ein. »Ja. Das sagt ihr. Aber ihr, ihr nehmt eben ... Rücksicht.«

»Na und? Warum stört dich das? Es wird immer Leute geben, die Rücksicht auf dich nehmen.«

»Stimmt. Genau das ist es ja.« Mühsam stand sie auf »Ich fand's aber anständig von Herrn Siegmund, dass er sich an sein Versprechen erinnert hat. Sag ihm das, Andreas. Bis morgen.«

Leise fiel die Tür ins Schloss.

»Mein Gott, wie ich diese Rosine hasse«, sagte Naomi. »Und Herrn Siegmund. Und dich, Andreas. Warum hast du nicht einfach gesagt, es geht nicht? Es war doch alles schon abgemacht.«

»Warum hast du nicht an mich gedacht, Andreas?«, fragte Solveigh.

Andreas rieb sich die Augen. Müde sagte er: »Ich denke, wir verschieben die Entscheidung. Noch einen Tag haben wir Zeit.«

Sie nickten.

Doch dann fragte Cheerio: »Warum eigentlich? Irene hat sich entschieden. So, wie ich sie kenne, bleibt sie dabei.«

»Stimmt«, bestätigte Solveigh eifrig. »Also ziehe ich zu euch. Ist doch besser als 'ne verrückte Neue.«

Andreas schaute in seinen leeren Saftbecher. »Das, liebe Solveigh, ist nicht meine Entscheidung. Das musst du mit Herrn Siegmund besprechen.«

Solveigh, zart, blond, sehr süß, legte ihre Arme um Cheerios Hals. »Hilfst du mir? Kommst du mit?«

Cheerio wurde rot und murmelte Unverständliches.

Zilga lachte spöttisch.

Da sagte Sakiko langsam und sehr betont: »Du fragst mich gar nicht, ob's mir recht ist, Solveigh. Was ist, wenn ich dich nicht in meinem Zimmer haben will?«

»Das ... das ... Du kannst doch nicht ... Aber es ist dir doch recht«, stammelte Solveigh.

»So? Hab ich das gesagt?« Sakiko stand auf, schritt zur Tür, öffnete sie und knallte sie mit Wucht hinter sich zu.

»Leute, geht ins Bett und versucht zu schlafen. Morgen sieht alles anders aus. Hoffentlich!« Andreas sammelte die Becher ein und stellte den Saft in den Kühlschrank. »Was ist nur aus unserer schönen Gemeinschaft geworden!«

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