Zur Frage des Terrorismus in Rußland

(1902)
Inhaltsverzeichnis
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Die Leipziger Volkszeitung hat in ihrer Montagsnummer das von der russischen Terroristengruppe aus Anlaß des Attentats auf den Charkower Gouverneur, Fürsten Obolenski, veröffentlichte Dokument zur Information der Leser mitgeteilt, wir können aber nicht umhin, zu bemerken, daß dieses Dokument sowie das bereits vor einiger Zeit gleichfalls von uns abgedruckte Manifest über die Konstituierung der terroristischen Organisation in uns mancherlei Bedenken hervorgerufen hat.

Sowenig es uns möglich ist, von Deutschland aus über die Einzelheiten der Parteitaktik unserer russischen Genossen mit voller Sicherheit ein Urteil zu fällen, sosehr liegt es andererseits in unserem Interesse, die Bahnen, welche die nun erwachte revolutionäre Bewegung im Zarenreiche wandelt, aufmerksam zu beobachten und uns über ihre jeweiligen Aussichten klare Rechenschaft abzulegen. Seit in letzten Jahren aus dem politischen „Ewigschneefeld“ des Zarenreiches ein warmer Frühlingswind zu wehen begann, seit das scheinbar Undenkbare zur Wirklichkeit geworden und eine revolutionäre Massenerhebung des arbeitenden Volkes die jahrhundertalte schwere Eisdecke des Absolutismus von unten aus zu sprengen unternahm, belebten sich von neuem die Hoffnungen aller Freiheitsfreunde in Westeuropa, d. h., genauer gesprochen, aller sozialistischen Parteien. Man faßte wieder Mut und Glauben, daß die bis dahin unlösbare Aufgabe der Stürzung der russischen Despotie doch noch in absehbarer Zeit ihrer Lösung entgegengeführt werden könnte, und daraus erklärt sich die warme Teilnahme und das gespannte Interesse, mit denen man die ungewohnten Nachrichten von den Arbeiterdemonstrationen, von den Massenaufzügen in den großen Städten Rußlands aufnahm. Aus allen diesen Einzelnachrichten mußte man den Eindruck eines tiefernsten, achtunggebietenden Kampfes zwischen dem russischen Proletariat und dem Absolutismus gewinnen. Nun will es uns aber scheinen, daß die letzten Nachrichten, die in der deutschen Presse von der terroristischen Partei erscheinen, eher geeignet sind, diesen Eindruck zu erschüttern, als zu befestigen.

Die Frage des Terrorismus in Rußland als einer Waffe im Kampfe mit der zarischen Übermacht kann von verschiedenen Gesichtspunkten angefaßt werden. Handelt es sich um individuelle Akte der Verzweiflung und des Opfermutes einzelner Freiheitskämpfer, um elementare Ausbrüche des zum äußersten getriebenen Volkszornes, dann gehört nur das echte Scharfmachergemüt einer „Post“ oder eine echt deutsche freisinnige Seele à la Tante Voß dazu, um solche reinen Abwehrakte als „Propaganda der Tat“, als Fürstenmord etc. zu verdammen. Jeder rechtlich denkende, politisch anständige Mensch muß den Verzweiflungsakten der von russischen Satrapen mit unmenschlicher Grausamkeit und mit Raffinement niedergetretenen Pioniere der Volksbefreiung seine tiefste Teilnahme, Achtung und Bewunderung zollen. Und da das Gefühl der Rechtlichkeit und der politische Anstand im besseren Sinne heutzutage in Deutschland so ziemlich in der klassenbewußten Arbeiterschaft ihre einzige Vertretung finden, so zeigte sich auch aus Anlaß der Diskussion über das Attentat auf den Wilnaer Gouverneur, v. Wal, daß die gesamte sozialdemokratische Fresse mit der Leipziger Volkszeitung einig war, als uns die freisinnige Vossische Zeitung wegen der „Verherrlichung“ des Attentäters mit freisinnigem Mut vor Fürsten thronen zu denunzieren versuchte.

Solchen spontanen individuellen Akten des Terrorismus gegenüber, wie im Falle des Studenten Karpowitsch, der den Minister Bogolepow getötet hat, oder des Wilnaer Arbeiters Leckert, ist auch die Frage von der Zweckmäßigkeit unangebracht. Sie wird erst berechtigt und notwendig, wenn wir die andere Art des Terrorismus vor uns haben, wie sie von der Gruppe der Sozialisten-Revolutionäre vertreten wird, den systematischen Terrorismus, den Terrorismus als zielbewußte Taktik einer bestimmten sozialistischen Organisation, angewendet zur Erzielung eines politischen Effekts. Vor einigen Monaten hatten wir nur mit der ersten Art der terroristischen Anschläge in Rußland zu tun und konnten lediglich unsere tiefe Sympathie für die heldenmütige Selbstaufopferung der Märtyrer des barbarischen Regimes aussprechen. In den letzten Monaten bekommen wir jedoch immer häufiger Nachrichten von einem speziellen terroristischen Komitee der Sozialisten-Revolutionäre, und da müssen wir uns fragen, ob dies auch in der heutigen Situation eine richtige Taktik unserer russischen Genossen ist.

Wir stehen nicht an, offenheraus zu sagen, daß wir dies bezweifeln. Der Terrorismus als System wird das absolute Regime in Rußland von selbst nicht stürzen. Das hat bereits das große Experiment der „Narodnaja Wolja“ bewiesen. Jeder weggeräumte Zar findet einen Nachfolger und jeder getötete Gouverneur desgleichen. Um das Regime zu fällen, muß an seine Wurzel die Axt gelegt werden, die Wurzel des Absolutismus aber, das ist der politische Stumpfsinn der Volksmasse. Abgesehen etwa von einer Kalamität der auswärtigen Politik, wie z. B. einem unglücklichen Krieg, der übrigens an sich nur die Mauern des Absolutismus erschüttern, aber nichts Positives zu erschaffen vermag, kann das Zarentum nur durch eine regelrechte zielbewußte Volkserhebung gestürzt werden, die aber ihrerseits nur durch eine dauernde aufklärende und organisatorische Arbeit vorbereitet werden kann. Die russische Sozialdemokratie hat diese Arbeit seit einigen Jahren unternommen, und die letzten Massendemonstrationen beweisen, wie fruchtbar der Boden und wie richtig die Taktik ist.

Ein systematischer Terrorismus kann nun, wie uns scheint, auf dieses schwierige und langwierige Werk der Organisation der Arbeitermassen störend wirken. Nicht deshalb etwa, weil er einen erwünschten Anlaß zu Repressalien und zur Reaktion bietet. Die Reaktion in Rußland kann nicht füglich ärger werden, und sie bemüht sich auch nicht darum, nach Anlässen zu suchen, weil sie eine ständige Einrichtung, weil sie die Norm im Zarenteiche ist. Aber der Terrorismus kann unseres Erachtens leicht die Massen verwirren und von der Bahn des langsamen alltäglichen politischen Kamp-Fes auf die leichtere Bahn der raschen gewaltsamen Einzelkämpfe drängen. Während ferner der Terrorismus naturgemäß den unmittelbaren Kampf in die Hände einer kleinen geschlossenen Gesellschaft von „Auserwählten" zu spielen bestrebt ist, ist es jetzt gerade eine Lebensfrage für die russische Revolution, der breiten Volksmasse klarzumachen, daß nur sie selbst, daß sie einzig und allein den Absolutismus zu besiegen imstande ist. Schließlich arbeitet der systematische Terrorismus auch darin dem organisatorischen Werk unter der Arbeiterklasse entgegen, daß er auch den Absolutismus durch Furcht vor einem geheimnisvollen, unsichtbaren und doch allmächtigen „Komitee“ zu Zugeständnissen zu zwingen sucht, während es gilt, dem Absolutismus, der diese „Komitee“schrecken bereits vor zwei Jahrzehnten glücklich überwunden hat, endlich einmal vor der Volksmasse als einem zielbewußten politischen Feinde Furcht einzuflößen.

Wir möchten noch die Bemerkung hinzufügen, daß ein an steh nebensächlicher äußerer Umstand uns die oben dargelegte Auffassung zu bestätigen scheint. Es ist dies das Brimborium, womit das russische Terroristenkomitee seine Tätigkeit umgibt, der Tamtam, die bereits fertigen Todesurteile, die den lebendig gebliebenen Verurteilten eingehändigt werden, die Pistolen mit eingravierten schrecklichen Worten, der schleunige detaillierte Bericht der Partei über das Verhalten des so schwer zugänglichen Eingekerkerten, ein Bericht, der den Eindruck erweckt, als ob er einfach auf Grund im voraus mit dem Attentäter verabredeter Erklärungen und Gesten abgefaßt wäre etc. Wir wollen den persönlichen Mut, die Überzeugungstreue, die Opferfreudigkeit des betreffenden russischen Revolutionärs, der das Attentat auf den Fürsten Obolenski versucht hat, deshalb gar nicht geringer einschätzen. Aber dies Drum und Dran des Attentats, besonders die Kommuniques des Terroristenkomitees machen unwillkürlich ein wenig den Eindruck einer terroristischen Spielerei, und die Spielerei gleich im Anfang der terroristischen Praxis wäre ein feines, aber sicheres psychologisches Symptom der Verkehrtheit der Taktik selbst.

Noch ein wichtiger Nebenumstand macht uns die politische Reife der russischen Terroristengruppe etwas verdächtig. In demselben Dokument in Sachen des Attentats auf Obolenski, das wir in unserer Montagsnummer abgedruckt haben, teilt die genannte Organisation mit, der eingekerkerte Attentäter hätte in seiner schriftlichen Aussage (die offenbar mit dem Komitee verabredet war) erklärt, daß die revoltierenden Bauern von der Terroristenpartei zum Kampfe aufgefordert worden wären. Nun mag es sicher stimmen, daß u. a. auch Flugblätter revolutionären Inhalts unter den Bauern verbreitet waren. Soviel man aber von den jüngsten ländlichen Revolten gehört hat und soviel uns die Verhältnisse dort überhaupt bekannt sind, waren die russischen Bauernaufstände reine Elementarbewegungen, durch äußerste Not und Hunger hervorgerufen, ohne jeden bestimmten politischen Charakter und vollends ohne bestimmten politischen Zweck. Die Sozialisten-Revolutionäre dürften also hier die eigene Rolle etwas übertrieben haben. Sind sie aber tatsächlich für die letzten Bauernrevolten, wenn auch zum kleinen Teil, mitverantwortlich, dann stellen sie sich selbst ein sehr ungünstiges politisches Zeugnis aus. Denn der Zweck so chaotischer und unorganisierter Revolten in einem so wenig vorbereiteten und entsprechenden Moment ist als bewußte politische Taktik einfach unverständlich. Und dieser Umstand muß im Verein mit der Art und Weise, wie der Terrorismus von dieser Gruppe praktiziert wird, ihre ganze Taktik des Leichtsinns verdächtig machen.

Wir versprechen uns selbstverständlich nicht, durch vorstehende Bemerkungen die Taktik der russischen Sozialisten zu beeinflussen, glauben aber, daß es heilsam wäre, wenn die deutsche Parteipresse, der ja Nachrichten von den russischen Genossen mitgeteilt werden, diesen kritisch gegenüberstehen würde, um sich über die Schicksale der russischen revolutionären Sache, die auch unsere Sache ist, klarzuwerden.

Zum Schluß möchten wir noch bei dieser Gelegenheit eine interessante Tatsache hervorheben. Während man bei uns daheim bekanntlich den „orthodoxen“ Marxismus der blanquistischen Neigungen verdächtigt und bekanntlich bei Marx selbst den Bazillus des Blanquismus entdeckt hat, sind in dem einzigen Lande, wo die blanquistische Taktik praktische Anwendung finden kann, in Rußland, es nicht „orthodoxe Marxisten“, die ihr das Wort reden. Im Gegenteil, die russische Sozialdemokratie, die von Wera Sassulitsch und anderen vertreten wird, verwirft den systematischen Terrorismus für den gegenwärtigen Augenblick mit aller Entschiedenheit. Ausgeübt und verfochten wird diese jedenfalls stark mit dem Blanquismus verwandte Taktik von derjenigen Gruppe der russischen Sozialisten, die gleich unseren deutschen Revisionisten einen Befreiungskrieg gegen das „marxistische Dogma“ führt.

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Zur Frage des Terrorismus in Rußland haben wir in unserem Leitartikel vom 27. August einige Bemerkungen gemacht und die Parteipresse zur kritischen Beurteilung der betreffenden Nachrichten aus Rußland aufgefordert.

Der Vorwärts vom 30. August bringt nun zu derselben Frage die folgende Notiz:

„Über ein russisches Terroristenkomitee, auf dessen ‚Auftrag’ hin das Attentat auf den Gouverneur von Charkow unternommen worden sei, wurden in der Presse in den letzten Tagen eingehende Berichte verbreitet. Ein ‚Augenzeuge’ gab z. B. nicht nur eine ganz genaue Schilderung der Vorgänge des Attentates, sondern auch über das Verhör des Verhafteten, das doch sicher unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden hat, wurden bis ins kleinste detaillierte Angaben gemacht. Wir haben von diesen Berichten keine Notiz genommen, weil sie uns zu deutlich den Stempel der Unwahrscheinlichkeit zu tragen schienen. Wenn ein terroristisches Komitee existiert, in dessen Auftrag politische Attentate in Rußland vollführt werden, so wird dasselbe sorgfältig vermeiden, sich durch Verbreitung derartiger Sensationsberichte in ein äußerst zweifelhaftes Licht zu setzen.“

Wir fühlen uns verpflichtet, da wir zuerst Bedenken über die gegenwärtige terroristische Taktik der russischen Sozialisten-Revolutionäre geäußert haben, ausdrücklich zu bemerken, daß von der politischen Zweifelhaftigkeit des Terroristenkomitees in Rußland für diejenigen, die mit den Verhältnissen bekannt sind, gar nicht die Rede sein kann. Sowohl die Existenz der terroristischen Kampforganisation der Sozialisten-Revolutionäre wie die makellose politische Ehrenhaftigkeit ihrer Mitglieder wie endlich das tatsächlich in ihrem Auftrag ausgeübte Attentat in Charkow können nicht im geringsten in Zweifel gezogen werden.

Was einzig und allein zweifelhaft erscheint, ist der Wert, die Zweckmäßigkeit der terroristischen Taktik, und wenn wir auf die etwas kindische Art und Weise hingewiesen haben, wie die russischen Terroristen ihre Tätigkeit zur Schau tragen, so galten uns diese Äußerlichkeiten lediglich als ein Symptom der Verfehltheit der Taktik selbst. Daß diese Äußerlichkeiten tatsächlich kein Zufall, sondern in näherem Zusammenhang mit der Inopportunität des systematischen Terrorismus in der heutigen Lage Rußlands stehn, werden wir vielleicht ein andermal näher darlegen.

Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie

(1904)
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Der russischen Sozialdemokratie ist eine eigenartige, in der Geschichte des Sozialismus beispiellose Aufgabe zuteil geworden: eine sozialdemokratische, auf proletarischen Klassenkampf zugeschnittene Taktik in einem absolutistischen Staate zu schaffen. Der übliche Vergleich der gegenwärtigen Verhältnisse in Rußland mit den deutschen zur Zeit des Sozialistengesetzes ist insofern hinfällig, als er die russischen Verhältnisse vom polizeilichen und nicht vom politischen Standpunkt ins Auge faßt. Die der Massenbewegung durch den Mangel an demokratischen Freiheiten in den Weg gelegten Hindernisse sind verhältnismäßig von untergeordneter Bedeutung: Die Massenbewegung hat es auch in Rußland verstanden, die Schranken der absolutistischen „Verfassung“ niederzurennen, und sich eine wenn auch verkrüppelte eigene „Verfassung“ der „Straßenunruhen“ geschaffen. Sie wird es auch fernerhin bis zu ihrem endgültigen Siege über den Absolutismus verstehen. Was die Hauptschwierigkeit des sozialdemokratischen Kampfes in Rußland bildet, ist die Verschleierung der bürgerlichen Klassenherrschaft durch die Gewaltherrschaft des Absolutismus, die der eigentlichen sozialistischen Klassenkampflehre notgedrungen einen abstrakten propagandistischen und der unmittelbaren politischen Agitation einen hauptsächlich revolutionär-demokratischen Charakter verleiht. Das Sozialistengesetz versuchte bloß, die Arbeiterklasse außerhalb der Verfassung zu stellen – mitten in einer hochentwickelten bürgerlichen Gesellschaft mit gänzlich bloßgelegten und im Parlamentarismus entfalteten Klassengegensätzen; darin bestand gerade der Wahnsinn, die Absurdität der Bismarckschen Unternehmung. In Rußland soll das umgekehrte Experiment vollzogen, eine Sozialdemokratie ohne die unmittelbare politische Herrschaft der Bourgeoisie geschaffen werden.

Dies hat nicht nur die Frage der Verpflanzung der sozialistischen Lehre auf den russischen Boden, nicht nur die Frage der Agitation, sondern auch die der Organisation ganz eigenartig gestaltet. In der sozialdemokratischen Bewegung ist auch die Organisation, im Unterschied von den früheren, utopistischen Versuchen des Sozialismus, nicht ein künstliches Produkt der Propaganda, sondern ein historisches Produkt des Klassenkampfes, in das die Sozialdemokratie nur das politische Bewußtsein hineinträgt. Unter normalen Bedingungen, das heißt dort, wo die entfaltete politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie der sozialdemokratischen Bewegung vorausgeht, wird die erste politische Zusammenschweißung der Arbeiter in hohem Maße schon durch die Bourgeoisie besorgt. „Auf dieser Stufe“, sagt das Kommunistische Manifest, ist „massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter... noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie.“ In Rußland ist der Sozialdemokratie die Aufgabe zugefallen, einen Abschnitt des historischen Prozesses durch bewußtes Eingreifen zu ersetzen und das Proletariat direkt aus der politischen Atomisierung, die die Grundlage des absoluten Regimes bildet, zur höchsten Form der Organisation – als zielbewußt kämpfende Klasse zu führen. Die Organisationsfrage ist somit für die russische Sozialdemokratie besonders schwierig, nicht bloß, weil sie sie ohne alle formalen Handhaben der bürgerlichen Demokratie, sondern vor allem, weil sie sie gewissermaßen wie der liebe Herrgott „aus nichts“, in der leeren Luft, ohne das politische Rohmaterial, das sonst von der bürgerlichen Gesellschaft vorbereitet wird, erschaffen soll.

Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet, ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz „unabhängigen Zirkel- und Lokalorganisation, die der vorbereitenden, vorwiegend propagandistischen Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für eine einheitliche politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist. Da aber der hervorstechendste Zug der unleidlich gewordenen und politisch überholten alten Organisationsformen die Zersplitterung und die völlige Autonomie, die Selbstherrlichkeit der Lokalorganisationen war, so wurde naturgemäß die Losung der neuen Phase, des vorbereiteten großen Organisationswerkes: Zentralismus. Die Betonung des zentralistischen Gedankens war das Leitmotiv der Iskra in ihrer dreijährigen glänzenden Kampagne zur Vorbereitung des letzten, tatsächlich konstituierenden Parteitags, derselbe Gedanke beherrschte die ganze junge Garde der Sozialdemokratie in Rußland. Bald sollte sich jedoch auf dem Parteitag und noch mehr nach dem Parteitag zeigen, daß der Zentralismus ein Schlagwort ist, das den historischen Inhalt, die Eigentümlichkeiten des sozialdemokratischen Organisationstypus nicht entfernt erschöpft, es hat sich wieder einmal herausgestellt, daß die marxistische Auffassung des Sozialismus sich auf keinem Gebiet, auch nicht auf dem der Organisationsfragen, in starren Formeln fixieren läßt.

Das uns vorliegende Buch des Genossen Lenin, eines der hervorragenden Leiter und Streiter der Iskra in ihrer vorbereitenden Kampagne vor dem russischen Parteitag, ist die systematische Darstellung der Ansichten der ultrazentralistischen Richtung der russischen Partei. Die Auffassung, die hier in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist die eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch unorganisierten, aber revolutionär-aktiven Milieu, andererseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei. Es genügt, zu bemerken, daß zum Beispiel das Zentralkomitee nach dieser Auffassung die Befugnis hat, alle Teilkomitees der Partei zu organisieren, also auch die persönliche Zusammensetzung jeder einzelnen russischen Lokalorganisation von Genf und Lüttich bis Tomsk und Irkutsk zu bestimmen, ihr ein selbst- gefertigtes Lokalstatut zu geben, sie durch einen Machtspruch ganz aufzulösen und von neuem zu erschaffen und schließlich auf diese Weise indirekt auch die Zusammensetzung der höchsten Parteiinstanz, des Parteitags, zu beeinflussen. Danach erscheint das Zentralkomitee als der eigentliche aktive Kern der Partei, alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Werkzeuge.

Lenin erblickt gerade in der Vereinigung eines so straffen Zentralismus in der Organisation mit der sozialdemokratischen Massenbewegung ein spezifisch revolutionär-marxistisches Prinzip und weiß eine Menge Tatsachen für seine Auffassung ins Feld zu führen. Doch untersuchen wir die Sache etwas näher.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Sozialdemokratie im allgemeinen ein starker zentralistischer Zug innewohnt. Erwachsen aus dem wirtschaftlichen Boden des seinen Tendenzen nach zentralistischen Kapitalismus und angewiesen in ihrem Kampfe auf den politischen Rahmen des zentralisierten bürgerlichen Großstaats, ist die Sozialdemokratie von Hause aus eine ausgesprochene Gegnerin jedes Partikularismus und nationalen Föderalismus. Berufen dazu, allen partiellen und Gruppeninteressen des Proletariats gegenüber im Rahmen eines gegebenen Staates die Gesamtinteressen des Proletariats als Klasse zu vertreten, hat sie überall die natürliche Bestrebung, alle nationalen, religiösen, beruflichen Gruppen der Arbeiterklasse zur einheitlichen Gesamtpartei zusammenzuschweißen, wovon sie nur in exklusiven, abnormen Verhältnissen, wie zum Beispiel in Österreich, notgedrungen eine Ausnahme zugunsten des föderalistischen Prinzips macht.

In dieser Beziehung war und ist es auch für die Sozialdemokratie Rußlands keine Frage, daß sie nicht ein föderatives Konglomerat einer Unzahl nationaler und provinzieller Sonderorganisationen, sondern eine einheitliche, kompakte Arbeiterpartei des russischen Reiches bilden müsse. Eine davon ganz verschiedene Frage ist jedoch die nach dem größeren oder geringeren Grade der Zentralisation und nach deren näherer Beschaffenheit innerhalb einer geeinigten und einheitlichen Sozialdemokratie Rußlands.

Vom Standpunkt der formalen Aufgaben der Sozialdemokratie als einer Kampfpartei erscheint der Zentralismus in ihrer Organisation von vornherein als eine Bedingung, von deren Erfüllung die Kampffähigkeit und die Tatkraft der Partei in direktem Verhältnis abhängen. Allein viel wichtiger als die Gesichtspunkte der formalen Erfordernisse jeder Kampforganisation sind hier die spezifischen historischen Bedingungen des proletarischen Kampfes.

Die sozialdemokratische Bewegung ist die erste in der Geschichte der Klassengesellschaften, die in allen ihren Momenten, im ganzen Verlauf auf die Organisation und die selbständige direkte Aktion der Masse berechnet ist.

In dieser Beziehung schafft die Sozialdemokratie einen ganz anderen Organisationstypus als die früheren sozialistischen Bewegungen, zum Beispiel die des jakobinisch-blanquistischen Typus.

Lenin scheint dies zu unterschätzen, wenn er in seinem Buche (S. 140) meint, der revolutionäre Sozialdemokrat sei doch nichts anderes als „der mit der Organisation des klassenbewußten Proletariats unzertrennlich verbundene Jakobiner“. In der Organisation und dem Klassenbewußtsein des Proletariats im Gegensatz zur Verschwörung einer kleinen Minderheit erblickt Lenin die erschöpfenden Unterschiedsmomente zwischen der Sozialdemokratie und dem Blanquismus. Er vergißt, daß damit auch eine völlige Umwertung der Organisationsbegriffe, ein ganz neuer Inhalt für den Begriff des Zentralismus, eine ganz neue Auffassung von dem wechselseitigen Verhältnis der Organisation und des Kampfes gegeben ist.

Der Blanquismus war weder auf die unmittelbare Klassenaktion der Arbeitermasse berechnet, noch brauchte er deshalb auch eine Massenorganisation. Im Gegenteil, da die breite Volksmasse erst im Moment der Revolution auf dem Kampfplatz erscheinen sollte, die vorläufige Aktion aber in der Vorbereitung eines revolutionären Handstreichs durch eine kleine Minderheit bestand, so war die scharfe Abgrenzung der mit dieser bestimmten Aktion betrauten Personen von der Volksmasse zum Gelingen ihrer Aufgabe direkt erforderlich. Sie war aber auch möglich und ausführbar, weil zwischen der konspiratorischen Tätigkeit einer blanquistischen Organisation und dem alltäglichen Leben der Volksmasse gar kein innerer Zusammenhang bestand.

Zugleich waren auch die Taktik und die näheren Aufgaben der Tätigkeit, da diese ohne Zusammenhang mit dem Boden des elementaren Klassenkampf es, aus freien Stücken, aus dem Handgelenk improvisiert wurde, im voraus bis ins Detail ausgearbeitet, als bestimmter Plan fixiert und vorgeschrieben. Deshalb verwandelten sich die tätigen Mitglieder der Organisation naturgemäß in reine Ausführungsorgane eines außerhalb ihres eigenen Tätigkeitsfeldes im voraus bestimmten Willens, in Werkzeuge eines Zentralkomitees. Damit war auch das zweite Moment des verschwörerischen Zentralismus gegeben: die absolute, blinde Unterordnung der Einzelorgane der Partei unter ihre Zentralbehörde und die Erweiterung der entscheidenden Machtbefugnisse dieser letzteren bis an die äußerste Peripherie der Parteiorganisation.

Grundverschieden sind die Bedingungen der sozialdemokratischen Aktion. Diese wächst historisch aus dem elementaren Klassenkampf heraus. Sie bewegt sich dabei in dem dialektischen Widerspruch, daß hier die proletarische Armee sich erst im Kampfe selbst rekrutiert und erst im Kampfe auch über die Aufgaben des Kampfes klar wird. Organisation, Aufklärung und Kampf sind hier nicht getrennte, mechanisch und auch zeitlich gesonderte Momente, wie bei einer blanquistischen Bewegung, sondern sie sind nur verschiedene Seiten desselben Prozesses. Einerseits gibt es – abgesehen von allgemeinen Grundsätzen des Kampfes – keine fertige, im voraus festgesetzte detaillierte Kampftaktik, in die die sozialdemokratische Mitgliedschaft von einem Zentralkomitee eingedrillt werden könnte. Andererseits bedingt der die Organisation schaffende Prozeß des Kampfes ein beständiges Fluktuieren der Einflußsphäre der Sozialdemokratie.

Daraus ergibt sich schon, daß die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf der mechanischen Unterordnung der Parteikämpfer unter ihre Zentralgewalt basieren kann und daß andererseits zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann. Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen

- auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kernes der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird – erscheint uns deshalb als eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen. Und Lenin hat seinen Standpunkt vielleicht scharfsinniger gekennzeichnet, als es irgendeiner seiner Opponenten tun könnte, indem er seinen „revolutionären Sozialdemokraten“ als den „mit der Organisation der klassenbewußten Arbeiter verbundenen Jakobiner“ definierte. Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse. Der sozialdemokratische Zentralismus muß also von wesentlich anderer Beschaffenheit sein als der blanquistische. Er kann nichts anderes als die gebieterische Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren einzelnen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein „Selbstzentralismus“ der führenden Schicht des Proletariats, ihre Majoritätsherrschaft innerhalb ihrer eigenen Parteiorganisation.

Schon aus der Untersuchung dieses eigentlichen Inhalts des sozialdemokratischen Zentralismus wird klar, daß für einen solchen heutzutage in Rußland die erforderlichen Bedingungen noch nicht in vollem Maße gegeben sein können. Es sind dies nämlich: das Vorhandensein einer beträchtlichen Schicht im politischen Kampfe bereits geschulter Proletarier und die Möglichkeit, ihrer Dispositionsfähigkeit durch direkte Ausübung des Einflusses (auf öffentlichen Parteitagen, in der Parteipresse usw.) Ausdruck zu geben.

Letztere Bedingung kann offenbar er mit der politischen Freiheit in Rußland geschaffen werden, die erstere aber – die Heranbildung einer klassenbewußten, urteilsfähigen Vorhut des Proletariats – ist eben erst im Werden begriffen und muß als der leitende Zweck der nächsten agitatorischen wie auch organisatorischen Arbeit betrachtet werden.

Um so überraschender wirkt die umgekehrte Zuversicht Lenins, der zufolge alle Vorbedingungen zur Durchführung einer großen und äußerst zentralisierten Arbeiterpartei in Rußland bereits vorhanden sind. Und es verrät wiederum eine viel zu mechanische Auffassung von der sozialdemokratischen Organisation, wenn er optimistisch ausruft, daß jetzt schon „nicht dem Proletariat, sondern manchen Akademikern in der russischen Sozialdemokratie die Selbsterziehung im Sinne der Organisation und der Disziplin not tue“ (S. 145), wenn er die erzieherische Bedeutung der Fabrik für das Proletariat rühmt, die es von Hause aus für „Disziplin und Organisation“ reif mache (S. 147). Die „Disziplin“, die Lenin meint, wird dem Proletariat keineswegs bloß durch die Fabrik, sondern auch durch die Kaserne, auch durch den modernen Bürokratismus, kurz, durch den Gesamtmechanismus des zentralisierten bürgerlichen Staates eingeprägt. Doch ist es nichts als eine mißbräuchliche Anwendung des Schlagwortes, wenn man gleichmäßig als Disziplin“ zwei so entgegengesetzte Begriffe bezeichnet, wie die Willen- und Gedankenlosigkeit einer vielbeinigen und vielarmigen Fleischmasse, die nach dem Taktstock mechanische Bewegungen ausführt, und die freiwillige Koordinierung von bewußten politischen Handlungen einer gesellschaftlichen Schicht; wie den Kadavergehorsam einer beherrschten Klasse und die organisierte Rebellion einer um die Befreiung ringenden Klasse. Nicht durch die Anknüpfung an die ihm durch den kapitalistischen Staat eingeprägte Disziplin – mit der bloßen Übertragung des Taktstocks aus der Hand der Bourgeoisie in die eines sozialdemokratischen Zentralkomitees – sondern durch die Durchbrechung, Entwurzelung dieses sklavischen Disziplingeistes kann der Proletarier erst für die neue Disziplin – die freiwillige Selbstdisziplin der Sozialdemokratie – erzogen werden.

Es erhellt weiter aus derselben Reflexion, daß der Zentralismus im sozialdemokratischen Sinne überhaupt nicht ein absoluter Begriff ist, der sich auf jeder Stufenleiter der Arbeiterbewegung in gleichem Maße durchführen läßt, sondern daß er vielmehr als Tendenz aufgefaßt werden muß, deren Verwirklichung gleichmäßig mit der Aufklärung und der politischen Schulung der Arbeitermasse im Prozeß ihres Kampfes fortschreitet.

Freilich kann das ungenügende Vorhandensein der wichtigsten Voraussetzungen für die Verwirklichung in vollem Maße des Zentralismus in der russischen Bewegung heutzutage in höchstem Maße störend wirken. Doch ist es unseres Erachtens verkehrt, zu denken, daß sich die noch unausführbare Majoritätsherrschaft der aufgeklärten Arbeiterschaft innerhalb ihrer Parteiorganisation vorläufig“ durch eine übertragene“ Alleinherrschaft der Zentralgewalt der Partei ersetzen lasse und daß die fehlende öffentliche Kontrolle der Arbeitermassen über das Tun und Lassen der Parteiorgane ebensogut durch die umgekehrte Kontrolle der Tätigkeit der revolutionären Arbeiterschaft durch ein Zentralkomitee ersetzt wäre.

Die eigene Geschichte der russischen Bewegung gibt viele Belege für den problematischen Wert des Zentralismus in diesem letzteren Sinne. Die allmächtige Zentralgewalt mit ihren fast unbeschränkten Befugnissen der Einmischung und der Kontrolle nach Lenins Ideal wäre offenbar ein Unding, wenn sie ihre Macht lediglich auf die rein technische Sehe der sozialdemokratischen Tätigkeit, auf die Regelung der äußeren Mittel und Notbehelfe der Agitation – etwa die Zufuhr der Parteiliteratur und zweckmäßige Verteilung der agitatorischen und finanziellen Kräfte – beschränken sollte. Sie hätte nur dann einen begreiflichen politischen Zweck, wenn sie ihre Macht auf die Schaffung einer einheitlichen Kampftaktik, auf die Auslösung einer großen politischen Aktion in Rußland verwenden würde. Was sehen wir aber in den bisherigen Wandlungen der russischen Bewegung? Ihre wichtigsten und fruchtbarsten taktischen Wendungen des letzten Jahrzehntes sind nicht etwa von bestimmten Leitern der Bewegung, geschweige von leitenden Organisationen „erfunden“ worden, sondern sie waren jedesmal das spontane Produkt der entfesselten Bewegung selbst. So die erste Etappe der eigentlichen proletarischen Bewegung in Rußland, die mit dem elementaren Ausbruch des Petersburger Riesenstreiks im Jahre 1896 einsetzte und die zuerst die ökonomische Massenaktion des russischen Proletariats inauguriert hatte. Desgleichen war die zweite Phase – die der politischen Straßendemonstrationen – ganz spontan durch die Petersburger Studentenunruhen im März 1901 eröffnet. Der weitere bedeutende Wendepunkt der Taktik, der ihr neue Horizonte zeigte, war der „von selbst“ ausgebrochene Massenstreik in Rostow am Don mit seiner ad hoc improvisierten Straßenagitation, den Volksversammlungen unter freiem Himmel, den öffentlichen Ansprachen, woran der kühnste Stürmer unter den Sozialdemokraten noch wenige Jahre zuvor als an eine Phantasterei nicht zu denken gewagt hätte. In allen diesen Fällen war im Anfang “die Tat“. Die Initiative und die bewußte Leitung der sozialdemokratischen Organisationen spielten eine äußerst geringe Rolle. Es lag dies jedoch nicht sowohl an der mangelhaften Vorbereitung dieser speziellen Organisationen für ihre Rolle – wenn dieses Moment in beträchtlichem Maße auch mitgewirkt haben mag – und erst recht nicht am Fehlen dazumal in der russischen Sozialdemokratie einer allmächtigen Zentralgewalt nach dem bei Lenin entwickelten Plane. Umgekehrt, eine solche hätte höchstwahrscheinlich nur dahin gewirkt, die Unschlüssigkeit der Einzelkomitees der Partei noch größer zu machen und eine Entzweiung zwischen der stürmenden Masse und der zaudernden Sozialdemokratie hervorzubringen. Dieselbe Erscheinung: die geringe Rolle der bewußten Initiative der Parteileitungen bei der Gestaltung der Taktik, läßt sich vielmehr auch in Deutschland und überall beobachten. Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht „erfunden“, sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. Die Rolle der sozialdemokratischen Leitung ist dabei wesentlich konservativen Charakters, indem sie erfahrungsgemäß dazu führt, das jedesmalige neugewonnene Terrain des Kampfes bis in die äußersten Konsequenzen auszuarbeiten und es bald in ein Bollwerk gegen eine weitere Neuerung größeren Stiles umzukehren. Die gegenwärtige Taktik der deutschen Sozialdemokratie wird zum Beispiel allgemein wegen ihrer merkwürdigen Vielgestaltigkeit, Biegsamkeit und zugleich Sicherheit bewundert. Das bedeutet aber nur, daß unsere Partei sich in ihrem Tageskampf wunderbar an den gegenwärtigen parlamentarischen Boden bis ins kleinste Detail angepaßt hat, daß sie das gesamte vom Parlamentarismus gebotene Kampfesterrain auszubeuten und den Grundsätzen entsprechend zu beherrschen versteht. Zugleich aber verdeckt bereits diese spezifische Gestaltung der Taktik so sehr die weiteren Horizonte, daß in hohem Maße die Neigung zur Verewigung und zur Betrachtung der parlamentarischen Taktik als der Taktik des sozialdemokratischen Kampfes schlechthin hervortritt. Bezeichnend für diese Stimmung ist zum Beispiel die Vergeblichkeit, mit der Parvus sich seit Jahren Mühe gibt, die Debatte über eine eventuelle Neugestaltung der Taktik für den Fall der Abschaffung des allgemeinen Wahl- rechtes in der Parteipresse in Fluß zu bringen, trotzdem eine solche Eventualität von den Führern der Partei durchaus mit bitterem Ernste ins Auge gefaßt wird. Diese Trägheit findet aber zum großen Teile ihre Erklärung darin, daß sich auch schwer in der leeren Luft der abstrakten Spekulation die Konturen und greifbaren Formen einer noch nicht existierenden, also imaginären politischen Situation darstellen lassen. Wichtig ist auch für die Sozialdemokratie jedesmal nicht das Vorausahnen und Vorauskonstruieren eines fertigen Rezeptes für die künftige Taktik, sondern die lebendige Erhaltung in der Partei der richtigen historischen Wertschätzung für die jeweilig herrschenden Kampfformen, das lebendige Gefühl für die Relativität der gegebenen Phase des Kampfes und für die notwendige Steigerung der revolutionären Momente vom Standpunkt des Endziels des proletarischen Klassenkampfes.

Es hieße aber den aus ihrem Wesen notwendigerweise entspringenden Konservatismus jeder Parteileitung gerade künstlich in gefährlichstem Maße potenzieren, wenn man sie mit so absoluten Machtbefugnissen negativen Charakters ausstatten wollte, wie es Lenin tut. Wird die sozialdemokratische Taktik nicht von einem Zentralkomitee, sondern von der Gesamtpartei, noch richtiger, von der Gesamtbewegung geschaffen, so ist für einzelne Organisationen der Partei offenbar diejenige Ellenbogenfreiheit nötig, die allein die völlige Ausnutzung aller von der jeweiligen Situation gebotenen Mittel zur Potenzierung des Kampfes sowie die Entfaltung der revolutionären Initiative ermöglicht. Der von Lenin befürwortete Ultrazentralismus scheint uns aber in seinem ganzen Wesen nicht vom positiven schöpferischen, sondern vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten.

Doppelt gewagt scheint ein solches Experiment gerade im gegebenen Moment für die russische Sozialdemokratie zu sein. Sie steht am Vorabend großer revolutionärer Kämpfe um die Niederwerfung des Absolutismus, vor oder vielmehr in einer Periode intensivster, schöpferischer Aktivität auf dem Gebiet der Taktik und – was in revolutionären Epochen selbstverständlich ist – fieberhafter sprungweiser Erweiterungen und Verschiebungen ihrer Einflußsphäre. In solchen Zeiten gerade der Initiative des Parteigeistes Fußangeln anlegen und ihre ruckweise Expansionsfähigkeit mit Stacheldrahtzaun eindämmen zu wollen hieße die Sozialdemokratie von vornherein für die großen Aufgaben des Moments in hohem Maße ungeeignet machen.

Aus den angeführten allgemeinen Erwägungen über den eigentümlichen Inhalt des sozialdemokratischen Zentralismus läßt sich freilich noch nicht die konkrete Fassung der Paragraphen des Organisationsstatuts für die russische Partei ableiten. Diese Fassüng hängt naturgemäß in letzter Instanz von den konkreten Umständen ab, unter denen sich die Tätigkeit in der gegebenen Periode vollzieht, und kann – da es sich in Rußland doch um den ersten Versuch einer großen proletarischen Parteiorganisation handelt – kaum im voraus auf Unfehlbarkeit Anspruch erheben, muß vielmehr auf jeden Fall erst die Feuerprobe des praktischen Lebens bestehen. Was sich aber aus der allgemeinen Auffassung des sozialdemokratischen Organisationstypus ableiten läßt, das sind die großen Grundzüge, das ist der Geist der Organisation, und dieser bedingt, namentlich in den Anfängen der Massenbewegung, hauptsächlich den koordinierenden, zusammenfassenden und nicht den reglementierenden und exklusiven Charakter des sozialdemokratischen Zentralismus. Hat aber dieser Geist der politischen Bewegungsfreiheit, gepaart mit scharfem Blicke für die prinzipielle Festigkeit der Bewegung und für ihre Einheitlichkeit, in den Reihen der Partei Platz gegriffen, dann werden die Schroffheiten eines jeden, auch eines ungeschickt gefaßten Organisationsstatuts sehr bald durch die Praxis selbst eine wirksame Korrektur erfahren. Es ist nicht der Wortlaut des Statuts, sondern der von den tätigen Kämpfern in diesen Wortlaut hinein- gelegte Sinn und Geist, der über den Wert einer Organisationsform entscheidet.

II

Inhaltsverzeichnis

Wir haben bis jetzt die Frage des Zentralismus vom Standpunkt der allgemeinen Grundlagen der Sozialdemokratie sowie zum Teil der heutigen Verhältnisse in Rußland betrachtet. Aber der Nachtwächtergeist des von Lenin und seinen Freunden befürworteten Ultrazentralismus ist bei ihm nicht etwa ein zufälliges Produkt von Irrtümern, sondern er steht im Zusammenhang mit einer bis ins kleinste Detail der Organisationsfragen durchgeführten Gegnerschaft zum – Opportunismus.

„Es handelt sich darum“, meint Lenin (S. 52), „vermittels der Paragraphen des Organisationsstatuts eine mehr oder minder scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer die Quellen des Opportunismus liegen, um so schärfer muß diese Waffe sein.“

Lenin erblickt auch in der absoluten Gewalt des Zentralkomitees und in der strengen statutarischen Umzäunung der Partei eben den wirksamen Damm gegen die opportunistische Strömung, als deren spezifische Merkmale er die angeborene Vorliebe des Akademikers für Autonomismus, für Desorganisation und seinen Abscheu vor strenger Parteidisziplin, vor jedem „Bürokratismus“ im Parteileben bezeichnet. Nur der sozialistische „Literat“, kraft der ihm angeborenen Zerfahrenheit und des Individualismus, kann sich nach Lenins Meinung gegen so unbeschränkte Machtbefugnisse des Zentralkomitees sträuben, ein echter Proletarier dagegen müsse sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde empfinden, er unterziehe sich all den derben Operationen der „Parteidisziplin“ mit freudig geschlossenen Augen. „Der Bürokratismus entgegen dem Demokratismus“, sagt Lenin, das ist eben das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie entgegen dem Organisationsprinzip der Opportunisten.“ (S. 151) Er beruft sich mit Nachdruck darauf, daß derselbe Gegensatz der zentralistischen und autonomistischen Auffassung in der Sozialdemokratie aller Länder bemerkbar wird, wo sich die revolutionäre und reformistische oder revisionistische Richtung entgegenstehen. Speziell exemplifiziert er mit den jüngsten Vorgängen in der deutschen Partei und mit der Diskussion, die sich um die Frage der Autonomie des Wahlkreises entsponnen hatte. Schon aus diesem Grunde dürfte eine Nachprüfung der Leninschen Parallelen nicht ohne Interesse und ohne Nutzen sein.

Vor allem muß bemerkt werden, daß in der starken Herausstreichung der angeborenen Fähigkeiten der Proletarier zur sozialdemokratischen Organisation und in der Verdächtigung der „akademischen“ Elemente der sozialdemokratischen Bewegung an sich noch nichts „Marxistisch-Revolutionäres“ liegt, vielmehr darin ebensoleicht die Verwandtschaft mit opportunistischen Ansichten nachgewiesen werden kann. Der Antagonismus zwischen dem rein proletarischen Element und der nichtproletarischen sozialistischen Intelligenz – das ist ja der gemeinsame ideologische Schild, unter dem sich der französische halbanarchistische Nurgewerkschaftler mit seinem alten Rufe: Méfiez-vous de politiciens!, das Mißtrauen des englischen Trade-Unionismus gegen die sozialistischen „Phantasten“ und endlich – wenn wir richtig orientiert sind – auch der reine „Ökonomismus“ der ehemaligen Petersburger Rabotschaja Mysl (Arbeitergedanke) mit ihrer Übertragung der trade-unionistischen Borniertbeit nach dem absolutistischen Rußland die Hand reichen.

Allerdings läßt sich in der bisherigen Praxis der westeuropäischen Sozialdemokratie ein unleugbarer Zusammenhang zwischen Opportunismus und akademischem Element sowie andererseits zwischen Opportunismus und Dezentralisationstendenzen in den Organisationsfragen bemerken. Löst man aber diese Erscheinungen, die auf einem konkreten historischen Boden entstanden sind, von diesem Zusammenhang los, um sie zu abstrakten Schablonen von allgemeiner und absoluter Gültigkeit zu stempeln, so ist ein solches Verfahren die größte Sünde wider den „Heiligen Geist“ des Marxismus, nämlich gegen seine historisch-dialektische Denkmethode.

Abstrakt genommen, läßt sich nur soviel feststellen, daß der „Akademiker“, als ein seiner Herkunft nach dem Proletariat fremdes, von der Bourgeoisie abstammendes Element, nicht im Einklang mit dem eigenen Klassenempfinden, sondern nur durch dessen Überwindung, auf dem Wege der Ideologie zum Sozialismus gelangen kann und deshalb eher zu opportunistischen Seitensprüngen prädisponiert ist als der aufgeklärte Proletarier, dem – wofern er den lebendigen Zusammenhang mit seinem sozialen Mutterboden, mit der proletarischen Masse, nicht verloren hat – sein unmittelbarer Klasseninstinkt einen sicheren revolutionären Halt gibt. In welcher konkreten Form jedoch diese Veranlagung des Akademikers zum Opportunismus erscheint, welche handgreiflichste Gestalt namentlich von Organisationstendenzen sie annimmt, das hängt jedesmal von dem konkreten sozialen Milieu der Gesellschaft ab, um die es sich handelt.

Die Erscheinungen im Leben der deutschen wie der französischen und der italienischen Sozialdemokratie, auf die sich Lenin beruft, sind aus einer ganz bestimmten sozialen Basis emporgewachsen, nämlich aus der des bürgerlichen Parlamentarismus. Wie dieser überhaupt der spezifische Nährboden der gegenwärtigen opportunistischen Strömung in der sozialistischen Bewegung Westeuropas ist, so sind auch die besonderen Tendenzen des Opportunismus zur Desorganisation aus ihm entsprossen.