Inhaltsverzeichnis

I. Was ist Nationalökonomie?
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III. Wirtschaftsgeschichtliches (I)
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IV. Wirtschaftsgeschichtliches (II)
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V. Die Warenproduktion
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VI. Lohnarbeit
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VII. Die Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaft
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I. Was ist Nationalökonomie?

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Die Nationalökonomie ist eine merkwürdige Wissenschaft. Die Schwierigkeit und der Streit der Meinungen beginnt schon bei dem ersten Schritt, den man auf ihr Gebiet tut, schon bei der allerelementarsten Frage: Was ist der eigentliche Gegenstand dieser Wissenschaft. Der einfache Arbeiter, der nur eine ganz vage Vorstellung davon hat, was die Nationalökonomie lehrt, wird seine Unklarheit der eigenen mangelhaften allgemeinen Bildung zuschreiben. Doch teilt er sein Mißgeschick diesmal in gewissem Sinne mit vielen gelehrten Doktoren und Professoren, die über die Nationalökonomie dickbändige Werke schreiben und Vorlesungen für die studierende Jugend an den Universitäten halten. So unglaubwürdig es klingt, so ist es doch Tatsache, daß die meisten Fachgelehrten der Nationalökonomie einen sehr verschwommenen Begriff davon haben, was der wirkliche Gegenstand ihrer Gelehrsamkeit ist.

Da es Brauch bei den Herren Fachgelehrten, mit Definitionen zu arbeiten, das heißt das Wesen der kompliziertesten Dinge in einigen wohlgeordneten Sätzen zu erschöpfen, so versuchen wir zur Probe von einem amtlichen Vertreter der Nationalökonomie zu erfahren, was diese Wissenschaft im Grunde genommen sei. Hören wir zunächst, was der Senior der deutschen Professorenwelt, der Verfasser einer Unzahl erschreckend dicker Lehrbücher über die Nationalökonomie, der Begründer der sogenannten "historischen Schule", Wilhelm Roscher, darüber zu sagen weiß. In seinem ersten großen Werke "Grundlagen der Nationalökonomie. Ein Hand und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende", das 1854 erschienen ist und seitdem 23 Auflagen erlebt hat, lesen wir im 2. Kapitel, Paragraph 16:

"Wir verstehen unter Nationalökonomik, Volkswirtschaftslehre, die Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft, des wirtschaftlichen Volkslebens (Philosophie der Volkswirtschaftsgeschichte nach von Mangoldt). Sie knüpft sich, wie alle Wissenschaften vom Volksleben, einerseits an die Betrachtung des einzelnen Menschen an; sie erweitert sich auf der anderen Seite zur Erforschung der ganzen Menschheit."

Verstehen nun die "Geschäftsmänner und Studierenden", was die Volkswirtschaftslehre ist? Es ist eben - die Lehre von der Volkswirtschaft. Was ist eine Hornbrille? Eine Brille in Horneinfassung. Was ist ein Packesel? Ein Esel, auf den Lasten gepackt werden. Ein höchst einfaches Verfahren in der Tat, um kleinen Kindern den Gebrauch zusammengesetzter Worte zu erläutern. Das Üble dabei ist nur, daß, wer vorher den Sinn der fraglichen Worte nicht verstand, auch nicht klüger wird, ob die Worte so oder anders gestellt werden.

Wenden wir uns an einen anderen deutschen Gelehrten, an den jetzigen Lehrer der Nationalökonomie an der Berliner Universität, der eine Leuchte der amtlichen Wissenschaft ist, berühmt "weit über die Lande, bis an das blaue Meer", an den Professor Schmoller. In dem großen Sammelwerk deutscher Professoren "Handwörterbuch der Staatswissenschaften", herausgegeben von Professor Conrad und Professor Lexis, gibt Schmoller in einem Aufsatz über die Volkswirtschaftslehre auf die Frage, was diese Wissenschaft sei, die folgende Antwort: "Ich möchte sagen, sie ist die Wissenschaft, welche die volkswirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ursachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher richtig definiert sei. Im Mittelpunkt der Wissenschaft stehen die bei den heutigen Kulturvölkern sich wiederholenden typischen Erscheinungen der Arbeitsteilung und -organisation, des Verkehrs, der Einkommensverteilung, der gesellschaftlichen Wirtschaftseinrichtungen, welche, an bestimmte Formen des privaten und öffentlichen Rechts angelehnt, von gleichen oder ähnlichen psychischen Kräften beherrscht, ähnliche oder gleiche Anordnungen oder Kräfte erzeugen, in ihrer Gesamtbeschreibung eine Statik der gegenwärtigen wirtschaftlichen Kulturwelt, eine Art durchschnittlicher Verfassung derselben darstellen. Von da aus hat die Wissenschaft dann die Abweichungen der einzelnen Volkswirtschaften voneinander, die verschiedenen Formen der Organisation da und dort zu konstatieren gesucht, hat gefragt, in welcher Verbindung und Folge die verschiedenen Formen vorkommen, und ist so zu der Vorstellung der kausalen Entwicklung der Formen auseinander und der historischen Aufeinanderfolge wirtschaftlicher Zustände gekommen; sie hat so zu der statischen die dynamische Betrachtung gefügt. Und wie sie in ihrem ersten Auftreten schon vermöge sittlich-historischer Werturteile zur Aufstellung von Idealen kam, so hat sie diese praktische Funktion stets bis auf einen gewissen Grad beibehalten. Sie hat neben der Theorie stets praktische Lehren fürs Leben aufgestellt."

Uff! Holen wir Atem. Wie war’s also? Gesellschaftliche Wirtschaftseinrichtungen – privates und öffentliches Recht – psychische Kräfte – Ähnliches und Gleiches – Gleiches und Ähnliches – Statistik – Statik – Dynamik – durchschnittliche Verfassung – kausale Entwicklung – sittlich-historische Werturteile ... Dem gewöhnlichen Sterblichen wird sicher bei alledem so dumm, als ging’ ihm ein Mühlrad im Kopfe herum. In seinem beharrlichen Wissensdrang und in blindem Vertrauen auf den professoralen Weisheitsborn wird er sich Mühe geben, den Galimathias zweimal, dreimal mit Anstrengung durchzunehmen, um irgendeinen greifbaren Sinn herauszufinden. Wir fürchten, es wird vergebliche Mühe sein. Es ist eben nichts als klingende Phrasen, als geschraubtes Wortgebimmel, was hier geboten wird. Und dafür gibt es ein untrügliches Zeichen: Wer klar denkt und die Sache, von der er spricht, selbst gründlich beherrscht, drückt sich auch klar und verständlich aus. Wer sich dunkel und verstiegen ausdrückt, wo es sich nicht um reine Gedankenbilder der Philosophie oder Hirngespinste der religiösen Mystik handelt, zeigt nur, daß er über die Sache selbst im unklaren ist oder aber der Klarheit aus dem Wege zu gehen Ursache hat. Wir werden später sehen, daß die dunkle und verwirrende Sprache der bürgerlichen Gelehrten über das Wesen der Nationalökonomie kein Zufall ist, daß in ihr vielmehr beides zum Ausdruck kommt: sowohl die eigene Unklarheit der Herren wie auch ihre tendenziöse, verbissene Abneigung gegen die wirkliche Aufklärung der Frage.

Daß die klare Bestimmung des Wesens der Nationalökonomie in der Tat eine strittige Frage ist, kann ein äußerer Umstand plausibel machen. Es ist dies die Tatsache, daß über das Alter der nationalökonomischen Wissenschaft die widersprechendsten Ansichten geäußert worden sind. Ein bekannter alter Geschichtsschreiber und ehemals Professor der Nationalökonomie an der Pariser Universität, Adolphe Blanqui – Bruder des berühmten Sozialistenführers und Kommunekämpfers Auguste Blanqui – beginnt zum Beispiel das erste Kapitel seiner 1837 erschienenen "Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung" mit folgender Inhaltsüberschrift: "Die politische Ökonomie (dies der französische Ausdruck für Nationalökonomie – R. L.) ist älter, als man denkt. Die Griechen und die Römer hatten bereits die ihrige." Andere nationalökonomische Geschichtsschreiber, wie zum Beispiel der ehemalige Dozent an der Berliner Universität Eugen Dühring, halten es für wichtig, umgekehrt zu betonen, die Nationalökonomie sei viel jünger, als man gewöhnlich denke, diese Wissenschaft sei eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden. Um auch sozialistische Urteile hierüber anzuführen, so macht Lassalle 1864 im Vorwort zu seiner klassischen Streitschrift wider Schulze-Delitzsch "Kapital und Arbeit" die folgende Äußerung:

"Die Nationalökonomie ist eine Wissenschaft, für die erst Anfänge existieren und die noch zu machen ist."

Hingegen hat Karl Marx seinem ökonomischen Hauptwerk "Das Kapital", dessen erster Band drei Jahre später, gleichsam als die Erfüllung der von Lassalle ausgesprochenen Erwartung erschienen ist, den Untertitel "Kritik der politischen Ökonomie" gegeben. Auf diese Weise stellt Marx sein eigenes Werk außerhalb der bisherigen Nationalökonomie, betrachtet diese als etwas Abgeschlossenes, Fertiges, an dem er seinerseits Kritik übt. Es ist klar, daß eine Wissenschaft, von der die einen behaupten, sie sei fast so alt wie die geschriebene Geschichte der Menschheit, die anderen, sie sei kaum anderthalb Jahrhunderte alt, die dritten, sie sei überhaupt noch erst in den Windeln, wieder andere aber, sie habe bereits abgelebt und es sei Zeit, sie kritisch zu bestatten - es ist klar, daß eine solche Wissenschaft ein ziemlich eigenartiges und verwickeltes Problem darstellt.

Ebenso übel wären wir aber beraten, wenn wir einen von den amtlichen Vertretern dieser Wissenschaft fragen würden, wie denn eigentlich die merkwürdige Tatsache zu erklären sei, daß die Nationalökonomie, wie das ja jetzt vorherrschende Meinung, erst so spät, kaum vor etwa 150 Jahren, entstanden sei? Der Professor Dühring zum Beispiel wird uns unter großem Wortschwall auseinandersetzen, daß die alten Griechen und Römer über nationalökonomische Dinge noch gar keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern bloß "unzurechnungsfähige", "oberflächliche", "allergewöhnlichste" Ideen aus der täglichen Erfahrung hatten, das Mittelalter aber überhaupt höchst "unwissenschaftlich" gewesen sei. Welche gelehrte Erklärung uns offenbar um keinen Schritt vorwärtsbringt, abgesehen davon, daß sie, zumal in ihren Verallgemeinerungen über das Mittelalter, auch ganz irreführend ist.

Eine andere originelle Erklärung bringt Professor Schmoller fertig. In demselben Aufsatz, den wir oben aus dem "Handwörterbuch der Staatswissenschaften" angeführt haben, gibt er das Folgende zum besten:

"Jahrhundertelang waren einzelne privat und sozialwirtschaftliche Tatsachen beobachtet und beschrieben, einzelne volkswirtschaftliche Wahrheiten erkannt, in den Moral- und Rechtssystemen wirtschaftliche Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten die einzelnen hierhergehörigen Teile sich erst vereinigen, als die volkswirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Leitung und Verwaltung der Staaten im 17. bis 19. Jahrhundert gelangten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unterweisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte, die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem selbständigen, durch gewisse Grundgedanken - wie Geld und Tauschverkehr, staatliche Wirt- schaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung - verbundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schriftsteller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft."

Faßt man der langen Rede kurzen Sinn zusammen, so erhalten wir die Belehrung: Einzelne nationalökonomische Beobachtungen, die lange Zeit zerstreut vorlagen, haben sich zu einer besonderen Wissenschaft zusammengeschlossen, als ein Bedürfnis der "Leitung und Verwaltung der Staaten", das heißt der Regierungen danach vorlag und als es zu diesem Zwecke nötig wurde, an den Universitäten die Nationalökonomie zu lehren. Wie wundervoll, wie klassisch ist diese Erklärung für einen deutschen Professor! Erst wird aus einem "Bedürfnis" der hochwohllöblichen Regierung heraus ein Katheder gegründet, auf dem ein diensteifriger Professor Platz nimmt; alsdann muß natürlich auch die entsprechende Wissenschaft geschaffen werden, denn was sollte der Professor sonst wohl lehren? Wer denkt da nicht an jenen Hofzeremonienmeister, der behauptete, die Monarchien müßten immer bestehenbleiben; denn gäbe es diese nicht, zu was wäre er, der Hofzeremonienmeister, auf der Welt. Doch der Kern der Sache: Die Nationalökonomie ist entstanden, weil die Regierungen der modernen Staaten diese Wissenschaft brauchten. Die Bestellung der Obrigkeit ist die eigentliche Geburtslegitimation der Nationalökonomie. Der Denkweise eines heutigen Professors, der als wissenschaftlicher Kammerdiener der jeweiligen Reichsregierung in ihrem Auftrage für eine beliebige Flottenvorlage, Zoll oder Steuervorlage "wissenschaftliche" Agitation treibt oder als Hyäne des Schlachtfeldes während eines Krieges chauvinistische Völkerverhetzung und geistigen Kannibalismus predigt, entspricht es nun freilich vollkommen, sich einzubilden, daß das Geldbedürfnis der Fürsten, die Interessen der "fürstlichen Schatzkammern", daß ein Kommandowort der Regierungen genügt, um selbst eine ganz neue Wissenschaft aus dem Boden zu stampfen. Für die übrige, nicht vom Fiskus besoldete Menschheit wird eine solche Vorstellung indes ihre Schwierigkeiten haben. Vor allem aber gibt uns auch diese Erklärung nur ein neues Rätsel auf. Denn nun müssen wir fragen: Was ist geschehen, daß um das 17. Jahrhundert herum, wie Professor Schmoller behauptet, die Regierungen der modernen Staaten plötzlich ein Bedürfnis verspüren, ihren lieben Untertanen nach wissenschaftlichen Grundsätzen das Fell über die Ohren zu ziehen, während sie dies jahrhundertelang zuvor mit gutem Erfolg ohne solche Grundsätze in altväterischer Weise besorgten? Sollten nicht auch hier die Dinge auf den Kopf gestellt werden und die neumodischen Bedürfnisse der "fürstlichen Schatzkammern" vielleicht selbst nur eine bescheidene Folge jenes großen geschichtlichen Umschwungs gewesen sein, aus dem die neue Wissenschaft der Nationalökonomie um die Mitte des 19. Jahrhunderts entsprossen ist?

Kurzum: Nachdem wir erst von den Zunftgelehrten nicht erfahren haben, was die Nationalökonomie eigentlich behandelt, wissen wir erst recht nicht, wann und weshalb sie entstanden ist.

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Eins steht jedenfalls fest: In all den Definitionen der bürgerlichen Gelehrten, die wir oben angeführt haben, ist stets die Rede von der "Volkswirtschaft". Nationalökonomie ist auch nur ein Fremdwort für Volkswirtschaftslehre. Der Begriff der Volkswirtschaft steht im Mittelpunkt der Ausführungen bei allen offiziellen Vertretern dieser Wissenschaft. Was ist nun eigentlich die Volkswirtschaft? Professor Bücher, dessen Werk über "Die Entstehung der Volkswirtschaft" sich in Deutschland wie im Auslande einer großen Berühmtheit erfreut, gibt darüber die folgende Auskunft:

"Die Gesamtheit der Veranstaltungen, Einrichtungen und Vorgänge, welche die Bedürfnisbefriedigung eines ganzen Volkes hervorruft, bildet die Volkswirtschaft. Die Volkswirtschaft zerfällt wieder in zahlreiche Einzelwirtschaften, welche durch den Verkehr miteinander verbunden und dadurch voneinander mannigfach abhängig sind, daß jede für alle anderen gewisse Aufgaben übernimmt und von anderen für sich solche Aufgaben übernehmen läßt."

Versuchen wir, auch diese gelehrte "Definition" in der Sprache gewöhnlicher Sterblicher zu verdeutschen.

Wenn wir zunächst von der "Gesamtheit der Einrichtungen und Vorgänge" hören, welche die Bedürfnisse eines ganzen Volkes zu befriedigen bestimmt sind, so müssen wir an alles mögliche denken: an Fabriken und Werkstätten, an Ackerbau und Viehzucht, an Eisenbahnen und Warenhäuser, nicht minder aber an Kirchenpredigten und Polizeiwachen, an Ballettdarbietungen, Standesämter und Sternwarten, an Parlamentswahlen, Landesväter und Kriegervereine, an Schachklubs, Hundeausstellungen und Duelle - denn alles dies und noch eine endlose Kette anderer "Einrichtungen und Vorgänge" dient heute dazu, "die Bedürfnisse eines ganzen Volkes zu befriedigen". Die Volkswirtschaft wäre dann alles zusammen, was zwischen Himmel und Erde vorgeht, und die Nationalökonomie würde eine Universalwissenschaft sein "von allen Dingen und noch einigen mehr", wie ein lateinisches Sprichwort sagt.

Die weitherzige Definition des Leipziger Professors muß offenbar eine Einschränkung erfahren. Wahrscheinlich wollte er nur von "Einrichtungen und Vorgängen" sprechen, die zur Befriedigung materieller Bedürfnisse eines Volkes dienen, oder richtiger; zur Befriedigung der Bedürfnisse durch materielle Dinge. Auch dann wäre die "Gesamtheit" noch reichlich zu weit gegriffen und würde wieder leicht ins Nebelhafte verschwimmen. Doch suchen wir uns darin, so gut wir vermögen, zurechtzufinden.

Alle Menschen brauchen, um leben zu können, Speise und Trank, ein schützendes Obdach, in kälteren Zonen Kleidung, ferner allerlei Gerätschaften zum täglichen Gebrauch im Hause. Diese Dinge mögen einfacher oder verfeinerter, spärlicher oder reichlicher bemessen sein, immerhin sind sie für jede menschliche Gesellschaft zur Existenz unentbehrlich und müssen deshalb von den Menschen - da gebratene Tauben nirgends in den Mund fliegen - ständig hergestellt werden. In allen Kulturzuständen kommen noch allerlei Gegenstände hinzu, die der Verschönerung des Lebens und der Befriedigung geistiger, sozialer Bedürfnisse dienen, sowie Waffen zum Schutze vor Feinden: bei den sogenannten Wilden Tanzmasken, Bogen und Pfeil, Götzenbilder, bei uns Luxusgegenstände, Kirchen, Maschinengewehre und Unterseeboote. Zur Herstellung dieser sämtlichen Gegenstände gehören wiederum verschiedenartige Naturstoffe, woraus, und verschiedene Werkzeuge, womit sie hergestellt werden. Auch jene Stoffe, wie Steine, Holz, Metall, Pflanzen usw., werden der Erdrinde durch menschliche Arbeit abgewonnen, und die Werkzeuge, die dabei benutzt werden, sind gleichfalls Produkte menschlicher Arbeit.

Wollen wir uns vorläufig mit dieser grob behauenen Vorstellung zufriedengeben, so könnten wir uns die Volkswirtschaft etwa so denken: Jedes Volk schafft ständig durch eigene Arbeit eine Menge zum Leben notwendiger Dinge - Nahrung, Kleidung, Baulichkeiten, Hausrat, Schmuck, Waffen, Kultgegenstände usw. -, desgleichen Stoffe und Werkzeuge, die für die Herstellung jener unentbehrlich sind. Die Art und Weise nun, wie ein Volk alle diese Arbeit verrichtet, wie es die hergestellten Güter unter seine einzelnen Mitglieder verteilt, wie es sie verbraucht und in ewigem Kreislauf des Lebens von neuem herstellt, all das zusammen bildet die Wirtschaft des gegebenen Volkes, eine "Volkswirtschaft". Das wäre so ungefähr der Sinn des ersten Satzes in der Definition des Professors Bücher. Doch gehen wir in der Erläuterung weiter.

"Die Volkswirtschaft zerfällt wieder in zahlreiche Einzelwirtschaften, welche durch den Verkehr miteinander verbunden und dadurch voneinander mannigfach abhängig sind, daß jede für alle anderen gewisse Aufgaben übernimmt und von anderen für sich solche Aufgaben übernehmen läßt." Hier stehen wir vor einer neuen Frage: Was sind das für "Einzelwirtschaften", in die jene "Volkswirtschaft", die wir uns erst mühsam zurechtgedacht haben, zerfallen soll? Das Nächstliegende ist wohl, daß wir uns darunter die einzelnen Hausstände, Familienwirtschaften zu denken haben. In der Tat besteht jedes Volk in den sogenannten Kulturländern aus einer Anzahl Familien, und jede Familie führt auch in der Regel eine "Wirtschaft" für sich. Diese Privatwirtschaft besteht darin, daß die Familie, sei es aus der Beschäftigung ihrer erwachsenen Mitglieder, sei es aus sonstigen Quellen, gewisse Geldeinnahmen bezieht, womit sie wiederum ihre Bedürfnisse an Nahrung, Kleidung, Wohnung etc. bestreitet, wobei, wenn wir an eine Familienwirtschaft denken, uns gewöhnlich im Mittelpunkt dieser Vorstellung die Hausmutter, die Küche, der Wäscheschrank und die Kinderstube erscheinen. Sollte die "Volkswirtschaft" in solche "Einzelwirtschaften" zerfallen? Wir geraten in eine gewisse Verlegenheit. Bei der Volkswirtschaft, wie wir sie uns eben konstruiert haben, handelt es sich vor allem um die Herstellung all jener Güter, die als Nahrung, Kleidung, Wohnung, Möbel, Werkzeuge und Stoffe zum Leben und zur Arbeit gehören. Im Mittelpunkt der Volkswirtschaft steht die Produktion. In den Familienwirtschaften hingegen handelt es sich nur um den Verbrauch der Gegenstände, die sich die Familie für ihr Einkommen fertig verschafft. Wir wissen, daß sich die meisten Familien in den modernen Staaten heutzutage fast alle Lebensmittel, Kleidung, Möbel usw. in den Läden, auf dem Markte fertig kaufen. In der Hauswirtschaft wird nur aus eingekauften Lebensmitteln die Speise zubereitet, oder es werden höchstens aus gekauften Stoffen Kleider verfertigt. Nur in ganz zurückgebliebenen ländlichen Gegenden findet man noch Bauernfamilien, die sich das meiste zum Leben durch eigene Arbeit in der Wirtschaft verschaffen. Freilich gibt es andererseits auch in den modernen Staaten viele Familien, die gerade zu Hause verschiedene Industrieprodukte in Massen herstellen: so die Hausweber, die Konfektionsarbeiter; es gibt auch, wie wir wissen, ganze Dörfer, wo man Spielzeug und dergleichen in der Hausindustrie verfertigt. Allein gerade hier gehört das von den Familien verfertigte Produkt ausschließlich dem Unternehmer, der es bestellt und bezahlt, nicht das geringste Stück davon geht in den eigenen Verbrauch, in die Wirtschaft der heimarbeitenden Familie über. Für die eigene Wirtschaft kaufen sich die Heimarbeiter aus ihrem kärglichen Lohn genauso alles fertig wie die anderen Familien. Wir kämen also mit dem Bücherschen Satz, die Volkswirtschaft zerfalle in viele Einzelwirtschaften, mit anderen Worten etwa zu dem Resultat: Die Herstellung der Existenzmittel eines ganzen Volkes "zerfällt" in lauter Verbrauch der Lebensmittel durch Einzelfamilien - ein Satz, der stark nach einem blühenden Unsinn aussieht.

Noch ein anderer Zweifel steigt auf. Die "Einzelwirtschaften" sollen nach Professor Bücher auch noch "durch den Verkehr miteinander verbunden" und voneinander gänzlich abhängig sein, da "jede für alle anderen gewisse Aufgaben übernimmt". Welcher Verkehr und welche Abhängigkeit mag damit gemeint sein? Ist es etwa der Verkehr freundschaftlicher und nachbarlicher Art, der zwischen verschiedenen Privatfamilien stattfindet? Doch was sollte dieser Verkehr wohl mit Volkswirtschaft, mit Wirtschaft überhaupt zu tun haben? Ist es doch, wie jede tüchtige Hausfrau behauptet, für die Wirtschaft und den Hausfrieden um so gedeihlicher, je weniger Verkehr von Haus zu Haus mit Nachbarn stattfindet. Und gar was die besagte "Abhängigkeit" betrifft, ist es gar nicht auszudenken, welche "Aufgaben" die Hauswirtschaft des Rentiers Meyer für die Wirtschaft des Gymnasialoberlehrers Schulze "und für alle anderen" übernommen haben soll. Wir sind offenbar ganz vom Wege abgeirrt und müssen die Frage von einem anderen Ende anfassen.

Die einzelnen Familienwirtschaften können es also augenscheinlich nicht sein, in die die "Volkswirtschaft" des Professors Bücher zerfällt. Sollten es nicht die einzelnen Fabriken, Werkstätten, landwirtschaftlichen Betriebe und dergleichen sein? Ein Umstand scheint zu bestätigen, daß wir diesmal auf richtiger Fährte sind. Es wird in allen diesen Betrieben auch wirklich verschiedenes hergestellt, produziert, was zur Erhaltung des ganzen Volkes dient, und es besteht andererseits auch wirklich Verkehr und gegenseitige Abhängigkeit unter ihnen. Eine Hosenknopffabrik zum Beispiel ist gänzlich auf die Schneiderwerkstätten angewiesen, in denen sie Abnehmer für ihre Ware findet, während die Schneider wiederum Hosen nicht gut ohne Hosenknöpfe verfertigen können. Andererseits brauchen die Schneiderwerkstätten Stoffe, und damit sind sie auf Woll- und Baumwollwebereien angewiesen, die ihrerseits von der Schafzucht und vom Baumwollhandel abhängen usw. usw. Hier können wir tatsächlich einen weitverzweigten Zusammenhang der Produktion bemerken. Zwar ist es etwas hochtrabend, von "Aufgaben" zu sprechen, die jeder dieser Betriebe "für alle anderen übernimmt", dieweil es sich um den ordinärsten Verkauf von Hosenknöpfen an Schneider, von Schafwolle an die Spinnereien und dergleichen handelt. Aber solche Blüten müssen wir nun einmal als unvermeidliches Professoralkauderwelsch hinnehmen, das die profitlichen Geschäftchen der Unternehmerwelt mit etwas Poesie und "sittlichen Werturteilen" zu umwinden liebt, wie Professor Schmoller so schön sagt. Allein hier steigen uns noch ärger Zweifel auf. Die einzelnen Fabriken, landwirtschaftlichen Betriebe, Kohlengruben, Eisenwerke sollen ebenso viele "Einzelwirtschaften" sein, in welche die Volkswirtschaft "zerfällt". Aber zum Begriff einer "Wirtschaft", wenigstens so wie wir uns die Volkswirtschaft vorgestellt haben, muß offenbar in einem gewissen Umkreis sowohl die Herstellung von Lebensmitteln wie ihr Verbrauch, sowohl Produktion wie Konsumtion gehören. In den Fabriken, Werkstätten, Gruben und Werken wird jedoch lediglich produziert, und zwar für andere produziert. Verbraucht werden hier nur die Stoffe, woraus, und die Werkzeuge, womit gearbeitet wird. Das fertige Produkt hingegen geht im Betriebe gar nicht in den Verbrauch ein. Nicht ein Hosenknopf wird von dem Fabrikanten und seiner Familie, geschweige von den Fabrikarbeitern, nicht ein Eisenrohr von dem Eigentümer der Eisenwerke in der Familie verbraucht. Ferner: Wie wir auch näher die "Wirtschaft" bestimmen wollen, immerhin müssen wir darunter etwas Ganzes, für sich einigermaßen Geschlossenes verstehen, eine annähernde Herstellung und Verbrauch der wichtigsten Lebensmittel, die zur Existenz des Menschen gehören. Die einzelnen heutigen Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe liefern aber, wie jedes Kind weiß, nur je ein einzelnes, höchstens ein paar Produkte, die zum menschlichen Unterhalt nicht entfernt ausreichen würden, ja, von denen die meisten noch gar nicht konsumierbar, erst ein Teil eines Lebensmittels oder ein Stoff dazu oder ein Werkzeug sind. Die heutigen Produktionsbetriebe sind eben lauter Bruchstücke einer Wirtschaft, die für sich allein vom wirtschaftlichen Standpunkt gar keinen Sinn und Zweck haben, die gerade dadurch schon dem ungeschulten Blick auffallen, daß sie jedes für sich gar keine "Wirtschaft", sondern nur ein formloses Splitterchen von einer Wirtschaft darstellen. Sagt man also, die Volkswirtschaft, das heißt die Gesamtheit der Einrichtungen und Vorgänge, die zur Befriedigung der Bedürfnisse eines Volkes dienen, zerfalle wieder in Einzelwirtschaften, als da sind: Fabriken, Werkstätten, Gruben etc., so könnte man ebensogut sagen, die Gesamtheit der biologischen Ein- richtungen, die zur Ausführung aller Funktionen des menschlichen Organismus dienen, ist der Mensch selbst, dieser zerfällt wieder in viele Einzelorganismen, als da sind: Nase, Ohren, Beine, Arme usw. In der Tat ist eine heutige Fabrik ungefähr in dem Maße eine "Einzelwirtschaft", wie die Nase ein Einzelorganismus ist.

So gelangen wir auch auf diesem Wege zu einer Absurdität - ein Beweis, daß die auf lauter äußerlichen Merkmalen und Wortspaltungen aufgebauten kunstvollen Definitionen der bürgerlichen Gelehrten augenscheinlich Grund haben, sich in diesem Falle um den wahren Kern der Sache herumzudrücken.

Versuchen wir selbst, den Begriff der Volkswirtschaft einer näheren Prüfung zu unterziehen.

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Man erzählt uns von den Bedürfnissen eines Volkes, von der Befriedigung dieser Bedürfnisse in einer zusammenhängenden Wirtschaft und auf diese Weise von der Wirtschaft eines Volkes. Die Nationalökonomie soll die Wissenschaft sein, die uns das Wesen dieser Volkswirtschaft erklärt, das heißt die Gesetze, nach denen ein Volk seinen Reichtum durch die Arbeit schafft, vermehrt, an die einzelnen verteilt, verbraucht und von neuem schafft. Es soll also das Wirtschaftsleben eines ganzen Volkes sein, was den Gegenstand der Untersuchung bildet, im Gegensatz zur Privatwirtschaft oder Einzelwirtschaft, was diese letztere immer bedeuten mag. So trägt auch in scheinbarer Bestätigung dieser Auffassung das 1776 erschienene epochemachende Werk des Engländers Adam Smith, den man den Vater der Nationalökonomie nennt, den Titel "Der Reichtum der Nationen".

Gibt es aber, so müssen wir vor allem fragen, in Wirklichkeit so etwas wie die Wirtschaft eines Volkes? Führen denn die Völker jedes einen besonderen Haushalt, ein geschlossenes wirtschaftliches Leben für sich? Die Ausdrücke "Volkswirtschaft", "Nationalökonomie" werden besonders in Deutschland mit Vorliebe gebraucht, so richten wir denn unsere Blicke auf Deutschland.

Durch die Hände deutscher Arbeiter und Arbeiterinnen werden alljährlich in der Landwirtschaft und Industrie ungeheure Mengen von allerlei Gebrauchsgütern produziert. Wird dies alles aber etwa zum Eigen- gebrauch der im Deutschen Reich wohnenden Bevölkerung hergestellt? Wir wissen, daß ein enormer und mit jedem Jahr wachsender Teil der deutschen Produkte nach anderen Ländern und Weltteilen, für andere Völker ausgeführt wird. Die deutschen Eisenwaren gehen nach verschiedenen benachbarten Ländern in Europa, ferner nach Südamerika, nach Australien; Leder und Lederwaren gehen aus Deutschland nach allen europäischen Staaten; Glassachen, Zucker, Handschuhe wandern nach England; Pelzfelle nach Frankreich, England, Österreich-Ungarn; der Farbstoff Alizarin nach England, nach den Vereinigten Staaten, nach Indien; Thomasschlacken, die als Düngemittel dienen, nach den Niederlanden, nach Österreich-Ungarn; Koks nach Frankreich; Steinkohle nach Österreich, Belgien, nach den Niederlanden, der Schweiz; elektrische Kabel nach England, Schweden, Belgien; Spielzeug nach den Vereinigten Staaten; deutsches Bier, Indigo sowie Anilin und andere Teerfarbstoffe, deutsche Arzneien, Zellulose, Goldwaren, Strümpfe, baumwollene und wollene Stoffe und Kleider, deutsche Eisenbahnschienen werden fast nach sämtlichen handeltreibenden Ländern der Welt verschickt.

Aber auch umgekehrt ist das deutsche Volk auf Schritt und Tritt bei der Arbeit wie im täglichen Verbrauch auf Erzeugnisse fremder Länder und Völker angewiesen. Wir essen Brot aus russischem Getreide und Fleisch von ungarischem, dänischem, russischem Vieh; der Reis, den wir verzehren, stammt aus Ostindien und aus Nordamerika; der Tabak aus Niederländisch-Indien und aus Brasilien; wir beziehen Kakaobohnen aus Westafrika, Pfeffer aus Indien; Schweineschmalz aus den Vereinigten Staaten; Tee aus China; Obst aus Italien, Spanien und aus den Vereinigten Staaten; Kaffee aus Brasilien, Zentralamerika und Niederländisch-Indien; Fleischextrakt aus Uruguay; Eier aus Rußland, Ungarn und Bulgarien; Zigarren von der Insel Kuba; Taschenuhren aus der Schweiz; Schaumweine aus Frankreich; Rindshäute aus Argentinien; Bettfedern aus China; Seide aus Italien und Frankreich; Flachs und Hanf aus Rußland; Baumwolle aus den Vereinigten Staaten, aus Indien, Ägypten; feine Wolle aus England; Jute aus Indien; Malz aus Österreich-Ungarn; Leinsaat aus Argentinien; gewisse Sorten Steinkohle aus England; Braunkohle aus Österreich; Salpeter aus Chile; Quebrachoholz zum Gerben aus Argentinien; Nutz- und Bauholz aus Rußland; Korkholz aus Portugal; Kupfer aus den Vereinigten Staaten; Zinn aus Niederländisch-Indien; Zink aus Australien; Aluminium aus Österreich-Ungarn und Kanada; Asbest aus Kanada; Asphalt und Marmor aus Italien; Pflastersteine aus Schweden; Blei aus Belgien, den Vereinigten Staaten, Australien; Graphit von Cey- lon; phosphorsalzigen Kalk aus Amerika und aus Algerien; Jod aus Chile ...

Vom einfachsten Nahrungsmittel des täglichen Gebrauches bis zu den ausgesuchtesten Gegenständen des Luxus und den notwendigen Stoffen und Werkzeugen stammt das meiste direkt oder indirekt, ganz oder in irgendeinem Bestandteil aus fremden Ländern, ist Produkt fremder Volksarbeit. Wir lassen somit, um in Deutschland leben und arbeiten zu können, fast sämtliche Länder, Völker, Weltteile für uns arbeiten und arbeiten unsererseits für alle Länder.

Um uns den enormen Umfang dieses Austausches zu vergegenwärtigen, werfen wir einen Blick auf die offizielle Statistik der Einfuhr und Ausfuhr. Nach dem "Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich" 1914 gestaltete sich der Gesamteigenhandel (das heißt ohne die nur über Deutschland zur Durchfuhr gelangenden fremden Waren) wie folgt:

Deutschland hat im Jahre 1913 eingeführt:

an Rohstoffen
an halbfertigen Waren
an fertigen Waren
an Nahrungs- und Genußmitteln
an lebenden Tieren

im ganzen
für 5.262 Millionen M
für 1.246 Millionen M
für 1.776 Millionen M
für 3.063 Millionen M
für    289 Millionen M


für 11.638 Millionen M

oder beinahe für 12 Milliarden Mark.

In demselben Jahre hat Deutschland ausgeführt:

an Rohstoffen
an halbfertigen Waren
an fertigen Waren
an Nahrungs- und Genußmitteln
an lebenden Tieren

im ganzen
für 1.720 Millionen M
für 1.159 Millionen M
für 6.642 Millionen M
für 1.362 Millionen M
für        7 Millionen M


für 10.891 Millionen M

oder beinahe für 11 Milliarden Mark. Zusammen beläuft sich der jährliche Außenhandel Deutschlands somit auf mehr als 22 Milliarden.

Dasselbe aber, was in Deutschland, ist in größerem oder geringerem Maße auch in den anderen modernen Ländern der Fall, das heißt gerade in jenen, mit deren Wirtschaftsleben sich die Nationalökonomie ausschließlich befaßt. Alle diese Länder produzieren füreinander, zum Teil auch für die entlegensten Weltteile, lassen sich aber auch ihrerseits auf Schritt und Tritt Erzeugnisse sämtlicher Weltteile bei Konsumtion wie bei Produktion zunutze kommen.

Wie soll man angesichts eines so enorm entwickelten gegenseitigen Austausches die Grenzen zwischen der "Wirtschaft" eines Volkes und der eines anderen ziehen, von ebenso vielen "Volkswirtschaften" sprechen, als wären es ökonomisch ganz für sich zu betrachtende Gebiete?

Nun, der zunehmende internationale Warenaustausch ist freilich keine Entdeckung, die etwa den bürgerlichen Gelehrten unbekannt wäre. Die offiziellen statistischen Erhebungen mit ihren alljährlich veröffentlichten Berichten haben die einschlägigen Tatsachen längst zum Gemeingut aller Gebildeten gemacht; der Geschäftsmann, der Industriearbeiter kennt sie überdies aus dem täglichen Leben. Die Tatsache des rapid zunehmenden Welthandels ist heute so allgemein bekannt und anerkannt, daß sie nicht mehr bestritten oder angezweifelt werden kann. Allein, wie wird diese Tatsache von den Fachgelehrten der Nationalökonomie aufgefaßt? Als rein äußerer loser Zusammenhang, als Ausfuhr des sogenannten "Überschusses" in den Erzeugnissen eines Landes über den eigenen Bedarf und als Einfuhr des zur eigenen Wirtschaft "etwa Fehlenden" - ein Zusammenhang, der sie durchaus nicht hindert, nach wie vor von der "Volkswirtschaft" und der "Volkswirtschaftslehre" zu sprechen.

So verkündet zum Beispiel Professor Bücher, nachdem er uns des langen und breiten über die heutige "Volkswirtschaft" als die höchste und letzte Entwicklungsstufe in der Reihe der geschichtlichen Wirtschaftsformen belehrt hat:

"Es ist ein Irrtum, wenn man aus der im liberalistischen Zeitalter erfolgten Erleichterung des internationalen Verkehrs schließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtschaft gehe zur Neige und mache der Periode der Weltwirtschaft Platz ... Gewiß sehen wir heute in Europa eine Reihe von Staaten, welche der nationalen Selbständigkeit in ihrer Güterversorgung insofern entbehren, als sie erhebliche Mengen ihrer Nahrungs- und Genußmittel aus dem Auslande zu beziehen genötigt sind, während ihre industrielle Produktionsfähigkeit weit über das nationale Bedürfnis hinausgewachsen ist und dauernd Überschüsse liefert, die auf fremden Konsumtionsgebieten ihre Verwertung finden müssen. Aber das Nebeneinanderbestehen solcher Industrie und Rohproduktionsländer, die gegenseitig aufeinander angewiesen sind, diese 'internationale Arbeitsteilung' ist nicht als Zeichen anzusehen, daß die Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung zu erklimmen im Begriffe steht, die unter dem Namen der Weltwirtschaft den früheren Stufen gegenübergestellt werden müßte. Denn einerseits hat keine Wirtschaftsstufe volle Selbstherrlichkeit der Bedürfnisbefriedigung auf die Dauer garantiert; jede ließ gewisse Lücken bestehen, die so oder so ausgefüllt werden mußten. Andererseits hat jene sogenannte Weltwirtschaft bis jetzt wenigstens keine Erscheinungen hervortreten lassen, die von denen der Volkswirtschaft in wesentlichen Merkmalen abweichen, und es steht sehr zu bezweifeln, daß solche in absehbarer Zukunft auftreten werden."

Noch kühner ist Protessor Büchers jüngerer Kollege Sombart, der schlankweg erklärt, daß wir nicht in die Weltwirtschaft hineinwachsen, sondern gar umgekehrt uns immer mehr von ihr entfernen: "Die Kulturvölker, so behaupte ich vielmehr, sind heute (im Verhältnis zu ihrer Gesamtwirtschaft) nicht wesentlich mehr, sondern eher weniger durch Handelsbeziehungen untereinander verknüpft. Die einzelne Volkswirtschaft ist heute nicht mehr, sondern eher weniger in den Weltmarkt einbezogen als vor hundert oder fünfzig Jahren. Mindestens aber ... ist es falsch, anzunehmen, daß die internationalen Handelsbeziehungen eine verhältnismäßig wachsende Bedeutung für die moderne Volkswirtschaft gewinnen. Das Gegenteil ist richtig." Professor Sombart ist überzeugt, daß "die einzelnen Volkswirtschaften immer vollkommenere Mikrokosmen (das heißt kleine abgeschlossene Welten - R. L.) werden und daß der innere Markt für alle Gewerbe den Weltmarkt immer mehr an Bedeutung überflügelt".

Diese funkelnde Narretei, die allen täglichen Wahrnehmungen des Wirtschaftslebens ungeniert ins Gesicht schlägt, unterstreicht aufs glücklichste jene verbissene Abneigung der Herren Zunftgelehrten gegen die Anerkennung der Weltwirtschaft als einer neuen Entwicklungsphase der menschlichen Gesellschaft - eine Abneigung, die wir uns wohl zu merken und deren verborgenen Wurzeln wir nachzugehen haben.

Weil also schon auf den "früheren Wirtschaftsstufen", zum Beispiel zu König Nebukadnezars Zeiten, "gewisse Lücken" im Wirtschaftsleben der Menschen durch den Austausch ausgefüllt wurden, so hat der heutige Welthandel gar nichts zu besagen, und es bleibt bei der "Volkswirtschaft". Dies die Meinung Professor Büchers.

Wie bezeichnend für die Roheit der geschichtlichen Auffassung eines Gelehrten, dessen Ruhm gerade auf angeblich scharfsinnigen und tiefen wirtschaftshistorischen Einblicken beruht! Den internationalen Handel verschiedenster, durch Jahrtausende getrennter Kultur und Wirtschaftsstufen bringt er einem abgeschmackten Schema zuliebe ohne weiteres unter einen Hut. Freilich, es gibt und gab keine Gesellschaftsform ohne Austausch. Die ältesten vorgeschichtlichen Funde, die rohesten Höhlen, die der "vorsintflutlichen" Menschheit als Wohnräume dienten, die primitivsten Gräber aus der Vorzeit, sie alle sind schon Zeugen eines gewissen Austausches der Produkte zwischen weit entfernten Gegenden. Der Austausch ist so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit, er ist seit jeher ihr ständiger Begleiter und ihr mächtigster Förderer gewesen. In dieser allgemeinen und in ihrer Allgemeinheit ganz vagen Erkenntnis ertränkt nun unser Gelehrter alle Besonderheiten der Epochen, der Kulturstufen, der Wirtschaftsformen. Wie in der Nacht alle Katzen grau sind, so sind im Dunkel dieser professoralen Theorie alle himmelweit verschiedenen Gestalten des Austausches ein und dasselbe. Der primitive Austausch einer Botokudenhorde in Brasilien, die hier und da gelegentlich ihre eigenartig geflochtenen Tanzmasken gegen kunstvoll verfertigte Bogen und Pfeile einer anderen Horde austauscht; die glänzenden Warenlager Babylons, wo die Pracht der orientalischen Hofhaltung aufgestapelt war; der antike Markt Korinths, wo am Neumond orientalische Linnen, griechische Tonwaren, Papier aus Tyrus, syrische und anatolische Sklaven für die reichen Sklavenhalter feilgeboten wurden; der mittelalterliche Seehandel Venedigs, der Luxusgegenstände für die europäischen Feudalhöfe und Patrizierhäuser lieferte - und der heutige kapitalistische Welthandel, der Orient und Okzident, Nord und Süd, sämtliche Ozeane und Weltwinkel in sein Netz gespannt hat, der alles - vom täglichen Brot und Zündholz des Bettlers bis zum ausgesuchtesten Kunstgegenstand des reichen Liebhabers, vom einfachsten Bodenprodukt bis zum kompliziertesten Werkzeug, von den menschlichen Arbeitshänden, der Quelle allen Reichtums, bis zu den Mordwerkzeugen des Krieges - jahrein, jahraus in ungeheuren Massen hin und her wälzt, das alles ist unserem Professor der Nationalökonomie ein und dasselbe: bloßes "Ausfüllen" "gewisser Lücken" im selbständigen Wirtschaftsorganismus! ...

Vor 50 Jahren erzählte Schulze von Delitzsch den deutschen Arbeitern, jedermann produziere heute zunächst für sich selbst die gewonnenen Produkte, aber "die er nicht für sich selbst gebrauche", gebe er "im Austausch gegen die Produkte der anderen hin". Die Antwort Lassalles auf diesen Unsinn bleibt unvergeßlich:

"Herr Schulze! Patrimonialrichter! Haben Sie denn gar keinen Begriff von der wirklichen Gestalt der heutigen gesellschaftlichen Arbeit? Sind Sie denn nie aus Bitterfeld und Delitzsch herausgekommen? In welchem Jahrhundert des Mittelalters leben Sie denn eigentlich noch mit allen Ihren Anschauungen? ... Haben Sie denn gar keine Ahnung davon, daß sich die heutige gesellschaftliche Arbeit gerade dadurch charakterisiert, daß jeder das produziert, was er für sich selbst nicht gebrauchen kann? Haben Sie gar keine Ahnung davon, daß dies seit der großen Industrie so sein muß, daß hierin die Form und das Wesen der heutigen Arbeit liegt und daß ohne die schärfste Festhaltung dieses Punktes keine einzige Seite unserer heutigen ökonomischen Zustände, keine einzige unserer heutigen ökonomischen Erscheinungen begriffen werden kann?

Nach Ihnen produziert also Herr Leonor Reichenheim auf Wüste-Giersdorf zunächst das Baumwollgarn, das er für sich gebraucht. Den Überschuß desselben, den ihm seine Töchter nicht mehr zu Strümpfen und Nachtjacken verarbeiten können, tauscht er aus.

Herr Borsig produziert zunächst Maschinen für seinen Familienbedarf. Die überschüssigen Maschinen verkauft er dann.

Die Trauermodenmagazine arbeiten zunächst vorsorglich für die Todesfälle in der eigenen Familie. Was dann, indem diese zu spärlich ausfallen, an Trauerstoffen noch übrigbleibt, tauschen sie aus.

Herr Wolff, der Eigentümer des hiesigen Telegraphenbüros, läßt zunächst die Depeschen zu seiner eigenen Belehrung und Vergnügen kommen. Was dann, nachdem er sich hinreichend an ihnen gesättigt, noch übrigbleibt, tauscht er mit den Börsenwölfen und Zeitungsredaktionen aus, die ihm dagegen mit ihren überschüssigen Zeitungskorrespondenzen und Aktien aufwarten! ...

Also: Das ist eben der unterscheidende, scharf festzuhaltende Charakter der Arbeit in früheren Gesellschaftsperioden, daß man damals zunächst für den eigenen Bedarf produzierte und den Überschuß abgab, das heißt vorherrschend Naturalwirtschaft trieb.

Und das ist wieder der unterscheidende Charakter, die spezifische Bestimmtheit der Arbeit in der modernen Gesellschaft, daß jeder nur produziert, was er durchaus nicht braucht, das heißt, daß jeder Tauschwerte produziert wie früher vorherrschend Nutzwerte.

Und begreifen Sie nicht, Herr Schulze, daß dies die notwendige und immer mehr um sich greifende 'Form und Art der Arbeitsverrichtung' ist in einer Gesellschaft, in welcher sich die Teilung der Arbeit so weit entwickelt hat wie in der modernen Gesellschaft?"

Was Lassalle hier Schulzen von dem kapitalistischen Privatbetrieb klarzumachen sucht, trifft heute mit jedem Tage mehr auf die Wirtschaftsweise so stark entwickelter kapitalistischer Länder zu wie England, Deutschland, Belgien, die Vereinigten Staaten, in deren Fußtapfen die übrigen Länder, eines nach dem anderen, treten. Und die Irreführung der Arbeiter durch den fortschrittlichen Patrimonialrichter aus Bitterfeld war nur viel naiver, aber nicht gröber als die tendenziöse Polemik eines Bücher oder eines Sombart heute gegen den Begriff der Weltwirtschaft.

Ein deutscher Professor liebt als pünktlicher Beamter in seinem Ressort die Ordnung. Der Ordnung zuliebe pflegt er auch die Welt hübsch sauber in die Schubfächer eines wissenschaftlichen Schemas einzuschachteln. Und genau wie er seine Bücher auf den Regalen aufstellt, so hat er auch die verschiedenen Länder auf zwei Regale verteilt: hier Länder, die Industrieprodukte herstellen und davon "einen Überschuß" haben; dort Länder, die Landbau und Viehzucht treiben und deren Rohprodukte jenen anderen Ländern mangeln. Daraus entsteht und darauf beruht der internationale Handel.

Deutschland ist eines der industriellsten Länder der Welt. Nach dem Schema müßte es den regsten Austausch mit einem agrarischen Großstaat wie Rußland führen. Wie kommt es nun, daß Deutschlands wichtigste Partner im Handel die beiden anderen industriellsten Länder: die Vereinigten Staaten von Amerika und England, sind? Der Austausch Deutschlands mit den Vereinigen Staaten belief sich nämlich 1913 auf 2,4 Milliarden Mark, mit England auf 2,3 Milliarden; Rußland kommt erst an dritter Stelle in Betracht. Und speziell was die Ausfuhr betrifft, so ist gerade der erste Industriestaat der Welt der größte Abnehmer für die deutsche Industrie: mit 1,4 Milliarden Mark Jahreseinfuhr aus Deutschland steht England an der Spitze und läßt alle anderen Staaten weit hinter sich. Das britische Reich mit seinen Kolonien aber nimmt ein ganzes Fünftel der gesamten deutschen Ausfuhr auf. Was sagt das professorale Schema zu diesem merkwürdigen Phänomen?

Hie Industriestaat - dort Agrarstaat, dies ist das starre Gerippe der weltwirtschaftlichen Beziehungen, mit dem Professor Bücher und die meisten seiner Kollegen operieren. Nun, Deutschland war in den sechziger Jahren ein Agrarstaat; es führte einen Überschuß an landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus und mußte sich mit den nötigsten Industriewaren von England versehen lassen. Seitdem hat es sich selbst in einen Industriestaat und in den mächtigsten Rivalen Englands verwandelt. Die Vereinigten Staaten machen dasselbe, was Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, in einer noch kürzeren Frist durch; sie sind gerade jetzt mitten im Wandel begriffen. Noch sind sie neben Rußland, Kanada, Australien und Rumänien das größte Weizenland der Welt, und noch waren nach der letzten Zählung (freilich aus dem Jahre 1900) ganze 36 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Zugleich aber schreitet die Industrie der Union mit beispielloser Geschwindigkeit vorwärts, so daß sie neben der englischen und der deutschen als gefährliche Nebenbuhlerin auftritt. Und wir geben einer hohen nationalökonomischen Fakultät die Preisaufgabe, zu definieren, ob die Vereinigten Staaten im Schema des Professors Bücher in der Rubrik Agrarstaat oder in der Rubrik Industriestaat unterzubringen seien. Rußland folgt langsam auf derselben Bahn und wird - sobald es die Fesseln einer veralteten Staatsform abgestreift hat - dank der ungeheuren Bevölkerung und dem unerschöpflichen Naturreichtum mit Siebenmeilenstiefeln das Versäumte nachholen, um vielleicht noch vor unseren Augen, die wir heute leben, als mächtiger Industriestaat Deutschland, England und der amerikanischen Union an die Seite zu treten, wo nicht sie zu überflügeln. Die Welt ist also nicht ein starres Gerippe, wie die Weisheit eines Professors, sondern sie bewegt sich, lebt, verändert sich. Der polare Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft, aus dem der internationale Austausch allein entspringen soll, ist also selbst ein fließendes Element; er wird immer weiter aus dem Kreis der modernen Kulturwelt an ihre Peripherie verdrängt. Was geschieht aber mittlerweile mit dem Handel innerhalb dieses Kulturkreises? Nach der Bücherschen Theorie müßte er immer mehr zusammenschrumpfen. Anstatt dessen wird er - o Wunder! - gerade zwischen den Industrieländern immer gewaltiger.