Ermattung oder Kampf?

(1910)
Inhaltsverzeichnis
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I

Inhaltsverzeichnis

Ich komme infolge meiner mündlichen Agitation mit erheblicher Verspätung dazu, dem Genossen Kautsky zu antworten. Wenn aber mein Artikel über den Massenstreik und meine Agitation im April auch nichts anderes erreicht bitten, als daß eine eingehende Diskussion über Probleme der Taktik in der Partei Platz gegriffen hat, daß das Verbot der Diskussion über den Massenstreik namentlich auch in unserem theoretischen Organ, der Neuen Zeit, durchbrochen ist, so könnte ich vollauf zufrieden sein. Es handelte sich nämlich in erster Linie darum, dem unbegreiflichen Versuch entgegenzutreten, eine öffentliche Diskussion in der Parteipresse über Fragen zu unterbinden, die das Interesse der weitesten Parteikreise aufs tiefste erregen. War doch mein Artikel über den Massenstreik nicht nur von unserem Zentralorgan Vorwärts, sondern auch von der Neuen Zeit, wo er zuerst akzeptiert und sogar schon gesetzt war, zuletzt aus dem Grunde abgelehnt worden, weil eine Diskussion über den Massenstreik in der Parteipresse nicht erwünscht wäre.

Das Verkehrte dieses Versuchs tritt erst dann im rechten Lichte hervor, wenn man in Betracht zieht, daß es sich durchaus nicht um eine vom Zaune gebrochene Diskussion, nicht um den Einfall einer einzelnen Person handelt, wie es der Genosse Kautsky hinstellt, indem er in seinem ganzen Artikel ausschließlich von mir und meiner Agitation spricht und seinen Artikel mit dem Satze beginnt: „Die Genossin Luxemburg hat durch einen Artikel in unserem Dortmunder Parteiorgan die Frage des Massenstreiks zur Diskussion gestellt.“ Ehe ich noch überhaupt mit meinem Artikel hervorgetreten bin, war die Frage des Massenstreiks bereits in einer ganzen Reihe wichtiger Parteizentren und Parteiblätter auf die Tagesordnung gestellt. Die Genossen in Halle, der Hessen-Nassauische Agitationsbezirk hatten in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. Die Genossen in Königsberg, in Essen, in Breslau, in Bremen hatten beschlossen, Vorträge mit Diskussionen über den Massenstreik zu veranstalten. In Kiel und in Frankfurt a. M. waren ja bereits halbtägige Demonstrationsmassenstreiks mit schönem Erfolg durchgeführt worden. Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband hatte in einer öffentlichen Versammlung in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, daß in den kommenden großen politischen Kämpfen den Bergarbeitern die führende Rolle zufallen würde; selbst unsere Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus hatten bereits mit dem Massenstreik gedroht. Wie sehr die Erörterung des Massenstreiks einfach der Stimmung und dem Bedürfnis der großen Masse der Parteigenossen entsprach, beweist der Umstand, daß mein Artikel so ziemlich von der gesamten preußischen Parteipresse und noch von einigen Blättern außerhalb Preußens nachgedruckt worden ist, beweist ferner der Umstand, daß in den sechzehn großen Versammlungen, die ich im April in Schlesien, in Kiel, in Bremen, in Frankfurt a.M., im rheinisch-westfälischen Industriebezirk und am 1. Mai in Köln abgehalten habe, die Losung des Massenstreiks überall ohne Ausnahme die stürmischste Zustimmung fand. Nur noch eine Losung ruft jetzt in den Parteimassen in Deutschland – wie ich feststellen konnte – eine gleich stürmische Zustimmung hervor: es ist dies die scharfe Betonung unseres republikanischen Standpunktes, einer Losung, mit der man leider gleichfalls weder im Vorwärts noch in der Neuen Zeit an die Öffentlichkeit treten kann, während ein Teil unserer Provinzpresse – von der Dortmunder Arbeiterzeitung bis zur Breslauer Volkswacht – auch in dieser Beziehung ihre Schuldigkeit tut.

So besteht also in den breitesten Massen der Partei eine so starke Kampfstimmung, ein so entschlossener Wille, nötigenfalls durch Massendruck auf der Straße den begonnenen Wahlrechtskampf zum Siege zu führen, und ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks, wie noch nie bis jetzt in Deutschland. Von dieser Stimmung im Lande ist nur ein Parteiblatt bis jetzt gänzlich unberührt geblieben – unser Zentralorgan, der Vorwärts, der bis auf den heutigen Tag nicht mit einer Silbe von der ganzen Massenstreikdebatte in der Parteipresse Notiz genommen hat, und eine Parteimitgliedschaft ist darüber in gänzlicher Unwissenheit – die Berliner Genossen, die ja durch den Vorwärts von der Stimmung und dem Geistesleben der Partei im Lande informiert werden sollen. Ja, das Zentralorgan geht in seiner strikten Befolgung der erhaltenen Direktive so eifrig zu Werke, daß es selbst aus Berichten über Versammlungen, die in Berlin abgehalten werden, jedes Wörtchen vom Massenstreik streicht; ist doch auch in der Einsendung, die der Vorwärts über die Massenversammlung in Frankfurt a. M. vom 17. April gebracht hatte – derselbe Bericht erschien offenbar „unredigiert“ in anderen Parteiblättern –, bezeichnenderweise der Satz: „Die Referentin löste mit der Propagierung des Massenstreiks stürmische Zustimmung der Versammelten aus“, sorgsam gestrichen worden. Aus dem Vorwärts schöpfte wohl auch der Genosse Kautsky seine Information über die Ansichten der Parteikreise im Lande, da er es für möglich hielt, unter solchen Umständen eine öffentliche Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, daß der Versuch gemacht wird, die öffentliche Erörterung des Massenstreiks zu verbieten, und schon das jedesmalige Scheitern dieser Versuche bis jetzt hätte meines Erachtens das Zwecklose eines solchen Beginnens genügend dartun sollen. Der Kölner Gewerkschaftskongreß hatte ja im Jahre 1905 die „Propagierung des Massenstreiks“ in Deutschland untersagt. Die Vorkonferenz der deutschen Parteigenossen in Österreich vor dem Salzburger Parteitag im Jahre 1904 hatte gleichfalls beschlossen, daß die Losung des Massenstreiks auf dem Parteitag nicht erörtert und nicht erwähnt werden solle. Beide Beschlüsse sind aber an dem einfachen Umstand gescheitert, daß die Sozialdemokratie keine Sekte ist, die aus einer Handvoll gehorsamer Schüler besteht, sondern eine Massenbewegung. in der Fragen, die sie im Innern erregen, so oder anders an die Öffentlichkeit treten müssen, ob man es will oder nicht.

Nicht der Versuch selbst, die Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden, ist es also, was im gegebenen Falle betrübend erscheint – dergleichen Verbote sind meines Erachtens eher mit heiterer Seelenruhe als mit Entrüstung aufzunehmen –, sondern die allgemeine Auffassung vom Massenstreik, die jenem Versuch zugrunde liegt. Hört man nämlich die Argumente, womit die Schädlichkeit einer öffentlichen Erörterung des Massenstreiks im gegenwärtigen Moment begründet wird, so könnte man glauben, die Lehren der russischen Revolution, der ganze reiche Schatz der Erfahrungen jener Periode, die für die Beurteilung des Massenstreiks und der proletarischen Kampftaktik überhaupt epochemachend war, seien spurlos vorübergegangen, und wir befinden uns noch in den schönen Zeiten der Debatten mit Domela Nieuwenhuis und Cornelissen.

Geschieht das – nämlich die Erörterung des Massenstreiks, sagt Genosse Kautsky – in der Öffentlichkeit, so ist das gleichbedeutend damit, daß man dem Gegner die schwachen Punkte der eigenen Position mitteilt. Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten.

Der Massenstreik wäre demnach ein schlau ersonnener Coup, der vom „Kriegsrat“. der Sozialdemokratie – also etwa vom Parteivorstand und der Generalkommission der Gewerkschaften – im verschlossenen Stübchen geheim ausgeheckt und womit der Feind – hier die bürgerliche Gesellschaft – überrumpelt wird. Gegen diese Auffassung habe ich bereits im Jahre 1906 meine ganze im Auftrag der Hamburger Genossen geschriebene Broschüre über den Massenstreik gerichtet, und ich kann nur wiederholen:

Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des „Propagierens“ das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen, rein anarchistischen Vorstellung aus, daß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen „beschlossen“ oder auch „verboten“ werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche „für alle Fälle“ zusammengeklappt bereithalten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann

Auf die aus dieser Auffassung geborenen Befürchtungen des Genossen Kautsky, die öffentliche Erörterung des Massenstreiks würde dem Feinde „die schwachen Punkte“ unserer Position verraten, kann ich nicht besser antworten als mit den Worten des Genossen Pannekoek, der die meisten schwachen Punkte der Kautskyschen Position bereits in der „Bremer Bürgerzeitung“ beleuchtet hat:

„Wie irreführend“ – schrieb Pannekoek – „dieser kriegstechnische Vergleich ist, beweist die Tatsache, daß die Partei nie etwas anderes getan hat, als vor der vollen Öffentlichkeit ihre starken und schwachen Punkte zu diskutieren. Das war nicht anders möglich, weil die Sozialdemokratie keine kleine geschlossene Gruppe, sondern eine Massenbewegung ist. Da ist mit geheimen Plänen nichts zu machen. Die Kraft und die Schwäche hängen hier von allgemeinen politischen und sozialen Verhältnissen ab, von denen nichts geheim zu halten ist, die durch Geheimhaltung nicht zu vergrößern oder zu verringern sind. Wie könnten wir da dem Feinde unsere Schwächen verraten? Er kennt sie so gut wie wir. Und wenn er sie nicht kennt, wenn er sich über unsere und seine Kraft einer Täuschung hingibt, so liegt auch dies in notwendigen historisch-sozialen Verhältnissen begründet, woran taktische Geheimhaltung nichts ändern kann.“

Aber Genosse Kautsky deutet noch andere schädliche Wirkungen einer öffentlichen Debatte an. „Ich würde es sehr Bedauern“ – schreibt er –, „wenn der Artikel der Genossin Luxemburg den Erfolg hätte, in der Parteipresse eine Diskussion zu entfachen, in der die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit eines Massenstreiks auseinander setzte. Sie mögen recht oder unrecht Haben, anfeuernd zur Aktion wirkt eine derartige Erörterung auf keinen Fall.“ Dies ist nun ein Standpunkt, der mir vollkommen unbegreiflich ist, und den die Sozialdemokratie bis jetzt noch nie vertreten hat. Wir haben die „Anfeuerung zur Aktion“ noch nie durch Illusionen und durch Vertuschung des wahren Sachverhalts vor den Massen zu erzielen gesucht. Haben die Gegner des Massenstreiks mit ihren Gründen für die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion recht, so ist es durchaus heilsam und notwendig, daß wir ihre Gründe hören und ihnen beipflichten. Haben sie unrecht, so ist es eben heilsam und notwendig, daß ihre Gründe öffentlich als unstichhaltig erkannt werden. Die eingehendste Erörterung kann da nur von Nutzen sein und zur Selbstklärung der Partei beitragen, und auf die Schwächen unserer Bewegung aufmerksam machen, uns die dringendsten praktischen Aufgaben der Agitation oder Organisation vor die Augen führen.

Hatte aber Genosse Kautsky hier gar die Gefahr im Auge, daß durch meine schriftliche und mündliche Agitation die Gewerkschaftsführer auf den Plan gerufen und ihre großen Kanonen gegen die Idee des Massenstreiks auffahren würden, so lag in dieser Befürchtung meines Erachtens eine Überschätzung der Macht der Führer, die wieder nur durch die etwas mechanische Auffassung des Massenstreiks als eines vom „Generalstab“ ausgeheckten und kommandierten Überrumpelungsplans erklärt werden kann. In Wirklichkeit sind die Gewerkschaftsführer gar nicht imstande, eine Massenstreikbewegung zu unterbinden, wenn diese sich aus den Verhältnissen, aus der Zuspitzung des Kampfes, aus der Stimmung der proletarischen Massen ergibt. Treten in solchen Situationen die Gewerkschaftsführer gegen die Bestrebungen der Masse auf, dann ist es nicht um die Stimmung der Masse, sondern um die Autorität der Gewerkschaftsführer geschehen. Tatsächlich herrscht bereits jetzt eine so lebhafte Kampfstimmung in der Arbeiterschaft, daß das öffentliche Auftreten des gewerkschaftlichen Generalstabs im Sinne des Bremsens nichts anderes zur Folge gehabt hätte, als das Erwachen der Kritik und des Protestes in den eigenen Reihen der Gewerkschaftsgenossen. Im Interesse der „Anfeuerung zur Aktion“ konnte also nichts wünschenswerter sein, als daß die Gewerkschaftsführer endlich mit ihren „großen Kanonen“ auf dem Plane erschienen, damit man sich ihre Argumente bei Lichte besehen und damit konstatiert werden konnte, wie sehr die Führer in ihrem Fühlen und Denken hinter den Massen zurückgeblieben sind. Daß Genosse Kautsky den Gewerkschaftsführern diese peinliche Mühe abgenommen hat, indem er selbst sich zuerst gegen die öffentliche Diskussion sträubte und, als dies vergeblich war, öffentlich auftrat, um seinerseits als Theoretiker des Radikalismus die Gedanken und das Interesse vom Massenstreik auf die kommenden Reichstagswahlen abzulenken, das wird sicher die lebhafte Genugtuung der Generalkommission der Gewerkschaften hervorgerufen haben, Ob es aber geeignet war, „anfeuernd auf die Aktion“ zu wirken, erscheint mir zweifelhaft.

Was hat also den Genossen Kautsky eigentlich veranlaßt, seinen Warnungsruf ertönen zu lassen? Welche Gefahren waren es, vor denen es die Partei zu retten galt? Dachte vielleicht irgend jemand daran, von heute auf morgen einen Massenstreik zu kommandieren, oder aber bestand die Gefahr, daß man in der Partei grundlose Illusionen in bezug auf die wundertätige Wirkung des Massenstreiks erweckte und damit die Massen leichtfertig in eine Aktion trieb, von der sie die Lösung aller Fragen mit einem Schlage erhoffen? Mir ist nichts Derartiges in den Versammlungen oder in der Presse bekannt geworden. Meinerseits ließ ich jedenfalls gar keine Zweifel nach dieser Hinsicht zu.

Ein aus der Pistole geschossener, durch einfaches Dekret der Partei eines schönen Morgens „gemachter“ Massenstreik – schrieb ich –, ist bloß kindische Phantasie, anarchistisches Hirngespinst. Ein Massenstreik aber, der sich nach einer monatelangen und an Dimensionen zunehmenden Demonstrationsbewegung gewaltiger Arbeitermassen ergibt, aus einer Situation, in der eine Dreimillionenpartei vor dem Dilemma steht: entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion bricht erfolglos in sich zusammen, ein solcher an dem inneren Bedürfnis und der Entschlossenheit der aufgerüttelten Massen und zugleich aus der zugespitzten politischen Situation geborener Massenstreik trägt seine Berechtigung wie die Gewähr seiner Wirksamkeit in sich selbst.

Freilich ist auch der Massenstreik nicht ein wundertätiges Mittel, das unter allen Umständen den Erfolg verbürgt. Namentlich darf der Massenstreik nicht als ein künstliches, sauber nach Vorschrift und nach Kommando anwendbares einmaliges, mechanisches Mittel des politischen Druckes betrachtet werden. Massenstreik ist bloß die äußere Form der Aktion, die ihre innere Entwicklung, ihre Logik, ihre Steigerung, ihre Konsequenzen hat, im engsten Zusammenhang mit der politischen Situation und ihrem weiteren Fortgang. Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne. Aber er ist ebenso sicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium. Und wenn der Weitere Verlauf, die Dauer, der unmittelbare Erfolg, ja die Kosten und die Opfer dieser Kampagne sich auch unmöglich mit dem Bleistift auf dem Papier im voraus, wie die Kostenrechnung einer Börsenoperation, aufzeichnen lassen, so gibt es nichtsdestoweniger Situationen, wo es politische Pflicht einer Partei, die Führerin von Millionen ist, mit Entschlossenheit die Parole zu geben, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärts treiben kann.

Und zum Schlusse sagte ich ganz deutlich, worauf es meines Erachtens ankommt:

Dennoch darf keinesfalls erwartet werden, daß eines schönen Tages von der obersten Leitung der Bewegung, vom Parteivorstand und von der Generalkommission der Gewerkschaften, das „Kommando“ zum Massenstreik ergeht. Körperschaften, die eine Verantwortung für Millionen tragen, sind in ihren Entschlüssen, die doch andere ausführen müssen, von Hause aus naturgemäß zurückhaltend. Überdies kann der Entschluß zu einer unmittelbaren Aktion der Masse nur von der Masse selbst ausgehen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein – dieser wegweisende Satz des Kommunistischen Manifestes hat auch noch die Bedeutung im einzelnen, daß auch innerhalb der Klassenpartei des Proletariats jede große entscheidende Bewegung nicht aus der Initiative der Handvoll Führer, sondern aus der Überzeugung und Entschlossenheit der Masse der Parteianhänger herrühren muß. Auch der Entschluß, den gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampf gemäß dem Worte des preußischen Parteitags „mit allen Mitteln“, also auch durch das Mittel des Massenstreiks zum Siege zu führen, kann nur durch die breitesten Parteischichten gefaßt werden. Es ist Sache der Partei- und Gewerkschaftsgenossen, in jeder Stadt und jedem Bezirk zu den Fragen der gegenwärtigen Situation Stellung zu nehmen und ihrer Meinung, ihrem Willen in klarer und offener Weise Ausdruck zu geben, damit die Meinung der organisierten Arbeitermasse als Ganzes sich Gehör verschaffen kann. Und ist das geschehen, dann werden auch unsere Führer sicher auf dem Posten sein, wie sie bis jetzt stets gewesen sind.

Die Hauptsache also, worum es sich handelte, war, daß die Massen sich mit der Frage des Massenstreiks befassen und dazu Stellung nehmen. Ob ein Massenstreik möglich, angebracht, notwendig, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben. Das Auftreten des Genossen Kautsky dagegen erscheint nun gerade vom Standpunkt der Marxschen Auffassung merkwürdig. Genosse Kautsky selbst baut seine ganze Theorie von der „Ermattungsstrategie“ darauf, daß wir zwar nicht jetzt, aber nach den Reichstagswahlen im nächsten Jahre in die Zwangslage kommen können, den Massenstreik anzuwenden. Genosse Kautsky gibt ferner selbst zu, daß „irgendein plötzliches Ereignis, sagen wir ein Blutbad nach einer Straßendemonstration“, den Massenstreik ganz spontan notwendig machen kann. Ja, er schreibt selbst zum Schlusse: „Seit dem Bestand des Deutschen Reiches waren die sozialen, politischen internationalen Gegensätze niemals so gespannt wie jetzt – nichts leichter möglich als Überraschungen, die noch vor den nächsten Reichstagswahlen zu gewaltigen Entladungen und Katastrophen führen, in denen das Proletariat zum Aufgebot aller seiner Kräfte und Machtmittel hingerissen wird. Ein Massenstreik unter solchen Umständen könnte sehr wohl imstande sein, das bestehende Regime hinwegzufegen.“

Ist dem aber so, ist auch nur eine Möglichkeit vorhanden, daß der Massenstreik in nächster Zukunft in Deutschland in Anwendung kommt, dann ergibt es sich von selbst, daß es unsere Pflicht ist, auch den Massen alle diese Eventualitäten vor die Augen zu stellen, jetzt schon in möglichst breiten Kreisen des Proletariats Sympathie für diese Aktion zu wecken, damit die Arbeiterschaft nicht überrumpelt wird, damit sie nicht blindlings, nicht unter einem Affekt, sondern mit vollem Bewußtsein, in sicherem Gefühl der eigenen Kraft und in möglichst gewaltigen Massen in die Aktion eintritt. Die Masse selbst soll eben für alle politischen Eventualitäten reif sein und selbst ihre Aktionen bestimmen, nicht aber „im gegebenen Moment“ auf den Taktstock von oben warten, „vertrauend ihrem Magistrat, der fromm und hebend schützt den Staat durch huldreich hochwohlweises Walten“, während es der Parteimasse stets geziemt, „das Maul zu halten“. Die Marxsche Auffassung besteht ja gerade in der Beachtung der Masse und ihres Bewußtseins als des bestimmenden Faktors bei allen politischen Aktionen der Sozialdemokratie. Im Geiste dieser Auffassung ist auch der politische Massenstreik – wie der ganze Kampf uni das Wahlrecht – schließlich doch nur ein Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation der breitesten Schichten des Proletariats. Wie man also an die Ausführung solcher Aktionen möglicherweise in der nächsten Zukunft denken und zugleich der Masse verbieten kann, sich mit diesem Problem zu befassen, als wenn es sich um das Spielen mit dem Feuer handelte, vor dem die Masse bewahrt werden müßte, ist gerade vom Standpunkt der Marxschen Lehre ganz rätselhaft, und alle moderne und antike Kriegsstrategie vermag dieses Rätsel nicht zu erklären.

II

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Im engsten Zusammenhang mit dieser Auffassung vom Massenstreik, als einer nach dem Taktstock des Generalstabs kommandierten Aktion, steht auch die peinliche Unterscheidung, die Genosse Kautsky in bezug auf die diversen Spielarten, Demonstrationsstreik, Zwangsstreik, ökonomischer Streik, politischer Streik, durchführt. Genosse Kautsky fordert, daß man sie streng auseinanderhalte, denn bei ungenügender Klarheit der Propaganda könnten die Massen uns falsch verstehen und anstatt des von uns beabsichtigten Demonstrationsstreiks unversehens einen unangebrachten „Zwangsstreik“ ausführen, die Vermengung aber ökonomischer Forderungen und sogar einer Bewegung für den Achtstundentag mit der Wahlrechtsbewegung könne diese letztere nur schädigen.

Nun mögen solche strengen Rubrizierungen und Schematisierungen des Massenstreiks nach Arten und Unterarten auf dem Papier gut bestehen und auch für den gewöhnlichen parlamentarischen Alltag ausreichen. Sobald jedoch große Massenaktionen und politische Sturmzeiten beginnen, werden diese Rubriken vom Leben selbst durcheinandergeworfen. Dies war zum Beispiel in höchstem Masse in Rußland der Fall, wo Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks unaufhörlich abwechselten und wo die unaufhörliche Wechselwirkung der ökonomischen und der politischen Aktion gerade das Charakteristische des russischen Revolutionskampfes und die Quelle seiner inneren Kraft ausmachte. Genosse Kautsky lehnt freilich das Beispiel Rußlands ab, weil „in Rußland damals die Revolution herrschte“. Da die russischen Vorgänge unter die Rubrik „Revolution“ gehören, sollen die Lehren der russischen Kämpfe für andere Länder keine Geltung haben. Aber je mehr wir auch in Deutschland Zeiten stürmischer Auseinandersetzungen des Proletariats mit der herrschenden Reaktion entgegengehen, um so mehr gelten auch die Erscheinungen der Revolutionären Situation für unsere Verhältnisse.

Doch brauchen wir nicht einmal nach Rußland zu blicken, um das Unzutreffende jenes leblosen Schemas einzusehen. Genau dasselbe zeigt uns nämlich auch die Geschichte des Wahlrechtskampfes in Belgien, wo weder Krieg noch Revolution stattfanden. Genosse Kautsky meint, „das Leben ist ... bisher so pedantisch gewesen“, den ökonomischen und den politischen Kampf streng auseinanderzuhalten, wenigstens „in den Wahlrechtskämpfen Westeuropas wären bisher das ökonomische und das politische Moment streng geschieden“ gewesen. Genosse Kautsky befindet sich im Irrtum.

Die belgische Wahlrechtsbewegung nahm ihren Anfang im Jahre 1886, und zwar von einem ganzen Sturm wirtschaftlicher Kämpfe. Zuerst war es ein elementarer Streik der Bergarbeiter, der das Signal zur Erhebung gab. Dem Bergarbeiterstreik folgten fast in allen Städten und Branchen andere Streiks, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen rein gewerkschaftlichen Kämpfen war in Belgien die Massenbewegung für das allgemeine Wahlrecht geboren. Den Lohnforderungen wurde bald überall die Forderung des allgemeinen Wahlrechts zugesellt und unter Benutzung der großen Erregung des wirtschaftlichen Kampfes konnte die junge belgische Sozialdemokratie am 15. August 1886 ihre erste Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel veranstalten. Dasselbe wiederholte sich auch später. Der große politische Massenstreik des Jahres 1891, der die Wahlrechtsvorlage der Regierung erzwungen hatte, ist im Zusammenhang mit dem Kampfe um den Achtstundentag, nämlich unter dem unmittelbaren Anstoß der Maifeier, entstanden und war das Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen. Es war wieder ein großer Lohnkampf der Bergarbeiter, dem Streiks in den Eisen- und Stahlwerken, sodann Streiks der Tischler, Zimmerer, Hafenarbeiter und anderer folgten. Aus diesen Branchenstreiks bildete sich unter der kühnen und festen Leitung der damaligen belgischen Parteiführer der erste Wahlrechtsmassenstreik, der auch den ersten Sieg errungen hat. Nachdem dieser politische Massenstreik angesichts der Konzession der Regierung beendet war, setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik noch fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhung zu erringen. Das ganze Jahr 1892 hindurch dauerte in der belgischen Industrie eine latente Krise, die eine große Erregung unter der Arbeiterschaft, mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen und Ende des Jahres eine umfangreiche Arbeitslosigkeit erzeugte. Am 8. November 1892, dem Tage der Kammereröffnung, organisierte die Partei in Brüssel in sämtlichen Fabriken einen Demonstrationsmassenstreik Im Dezember aber desselben Jahres nahm sich die belgische Sozialdemokratie der Sache der Arbeitslosen an und veranstaltete einige grandiose Demonstrationen der Arbeitslosen. So wurde in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der „Zwangsstreiks“, der wirtschaftlichen und der politischen Aktion der folgende große Wahlrechtsmassenstreik und der entscheidende Kampf im Jahre 1893 vorbereitet. Wenn Genosse Kautsky jetzt seltsamerweise auch diesen Sieg zu verkleinern sucht, indem er darauf hinweist, daß ja „Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht“ besitzt, so wäre diese allgemein bekannte Tatsache nur gegen den ein Argument, wer den politischen Massenstreik als ein wunderwirkendes Allheilmittel zur Erringung aller Siege mit einem Schlage, etwa nach anarchistischem Rezept, anpreisen würde. Vorläufig handelt es sich aber um die Tatsache, daß der Massenstreik jedenfalls ein vorzügliches Mittel war, dem belgischen Proletariat überhaupt den Zutritt zum Parlament und gleich bei den ersten Wahlen die Eroberung eines Fünftels aller Mandate zu ermöglichen, und daß bei dieser Wahlrechtsbewegung wirtschaftliche Kämpfe die hervorragendste Rolle gespielt, den Ausgangspunkt und die Basis des politischen Massenstreiks gebildet haben.

Aber auch unsere eigenen bisherigen Erfahrungen widersprechen der Annahme des Genossen Kautsky. Wir haben in diesem Augenblick den großen Kampf im Baugewerbe. Nach dem obigen Schema müßten wir diesen wirtschaftlichen Kampf von unserer Wahlrechtsbewegung streng scheiden, und am liebsten hätte ja dieser Kampf als schädlich im Interesse der Wahlrechtsbewegung womöglich vermieden werden sollen. In Wirklichkeit läßt sich jene Scheidung gar nicht durchführen, und sie wäre so ziemlich das Törichteste, was wir beginnen könnten. Im Gegenteil kommt man naturgemäß in jeder Wahlrechtsversammlung auf die Aussperrung im Baugewerbe zu sprechen, die Ausgesperrten bilden in jeder Versammlung und Demonstration einen Teil unseres Publikums, und unter dem Eindruck der Brutalität des Kapitals im Baugewerbe weckt jedes Wort der Kritik an den bestehenden Zuständen ein lebhafteres Echo in den Massen. Mit einem Worte: die Kraftprobe im Baugewerbe trägt dazu bei, die Kampfstimmung für das Wahlrecht zu erhöhen, und umgekehrt kommt die allgemeine Sympathie, die allgemeine Erregung der Massen im Wahlrechtskampf den Bauarbeitern zugute.

Desgleichen haben wir uns eigentlich schon gegen das Schema versündigt, indem wir den Wahlrechtskampf mit der Maifeier, also mit dem Kampfe um den Achtstundentag verknüpft haben, indem wir die Maifeier direkt zu einer Wahlrechtsdemonstration gestaltet haben. Allein jedermann versteht, daß diese Verknüpfung ein einfaches Gebot der sozialdemokratischen Taktik war, und daß gerade durch die Verbindung mit den Mailosungen des internationalen Sozialismus unser preußischer Wahlrechtskampf seinen richtigen Rahmen als proletarischer Klassenkampf erhalten hat.

Hier liegt eben der Schwerpunkt der Frage. Wollen wir unsere preußische Wahlrechtsbewegung im Sinne des bürgerlichen Liberalismus und in Bundesgenossenschaft mit ihm als einen nur politischen Verfassungskampf führen, dann ist allerdings eine strenge Scheidung dieser Bewegung von allen ökonomischen Kämpfen mit dem Kapital am Platze. Dann ist aber auch der streng politische Massenstreik von vornherein als eine halbe Maßregel zum Fiasko verurteilt, wie dies die Schicksale des belgischen Massenstreiks im Jahre 1902 dartun, die dem Genossen Kautsky vielleicht erklären können, warum „andererseits Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht besitzt“. Wollen wir hingegen den Wahlrechtskampf im Sinne rein proletarischer Taktik, das heißt als eine Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes führen, wollen wir ihn durch eine umfassende Kritik der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Klassenverhältnisse begründen und auf die eigene Macht und Klassenaktion des Proletariats allein stützen, dann ist es klar, daß eine „strenge Scheidung“ von wirtschaftlichen Interessen und Kämpfen des Proletariats zweckwidrig, ja unmöglich erscheint. Es hieße dann die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Massen lebt.

Genosse Kautsky redet hier gerade jener pedantisch-engherzigen Auffassung der Wahlrechtsbewegung das Wort, die uns ohnehin bereits geschadet hat. Als wir im Jahre 1908 und 1909 den ersten Demonstrationssturm in der preußischen Wahlrechtsbewegung erlebten, bekam die Arbeiterschaft eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu kosten. Eine grauenhafte Arbeitslosigkeit herrschte in Berlin und äußerte sich in erregten Arbeitslosenversammlungen und Demonstrationen. Anstatt nun diese Arbeitslosenbewegung mit in den Strudel des Wahlrechtskampfes zu lenken, anstatt den Ruf nach Arbeit und Brot mit dem Rufe nach gleichem Wahlrecht zu verbinden, wurde umgekehrt die Sache der Arbeitslosen von der Sache des Wahlrechtes auf das strengste geschieden, und der Vorwärts gab sich alle Mühe, die Arbeitslosen von den Rockschößen der Wahlrechtsbewegung öffentlich abzuschütteln. Nach dem Schema des Genossen Kautsky war dies ein weises Stück „Ermattungsstrategie“, nach meiner Auffassung war es ein Verstoß gegen die elementarste Pflicht einer wirklichen proletarischen Taktik und mit ein Mittel, die damalige Demonstrationsbewegung bald zum Stillstand zu bringen.

Indem Genosse Kautsky jetzt wieder die strenge Trennung der Wahlrechtsbewegung von den großen wirtschaftlichen Massenkämpfen befürwortet, stützt er theoretisch gerade jenen Geist in der Partei, aus dem heraus sich die Neigung unserer führenden Parteikreise erklärt, am liebsten Demonstrationen nur mit Organisierten zu veranstalten, jenen Geist, der die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver auffaßt, statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.

Mit einem Worte, Genosse Kautsky stützt theoretisch just die Vorurteile und Beschränktheiten in der Auffassung unserer leitenden Kreise, die ohnehin jeder größeren und kühneren politischen Massenaktion in Deutschland im Wege stehen, und die zu überwinden das dringende Interesse der jetzigen Wahlrechtsbewegung gebietet.

III

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Kommen wir zur Hauptsache.

Genosse Kautsky sucht die Frage, ob jetzt in Deutschland an einen Massenstreik gedacht werden könne, auf die breite Basis einer allgemeinen Theorie über Strategien zu stellen. Bis zum Pariser Kommuneaufstand sei für die revolutionären Klassen die „Niederwerfungsstrategie“ maßgebend gewesen, seitdem aber sei die „Ermattungsstrategie“ an ihre Stelle getreten. Dieser Ermattungsstrategie verdankte die deutsche Sozialdemokratie ihr ganzes Wachstum und ihre bisherigen glänzenden Erfolge, und wir hätten keinen Grund, jetzt mit einem Massenstreik diese siegreiche Strategie zu verlassen, um zur Niederwerfungsstrategie überzugehen. Die Auseinandersetzungen des Genossen Kautsky über die zwei Strategien und die Vorteile der Ermattungsstrategie sind offenbar der wichtigste Pfeiler seiner Argumentation. Namentlich verleiht Genosse Kautsky seiner Stellungnahme dadurch die größte Autorität, daß er seine „Ermattungsstrategie“ direkt zum „politischen Testament“ Friedrich Engels’ erklärt. Leider beruht hier die ganze Argumentation auf einem neuen Worte, einer neuen Etikette für alte, wohlbekannte Dinge. Legt man aber diesen neuen und irreführenden Namen auf die Seite, dann bat die Streitfrage mit Friedrich Engels sehr wenig zu tun. Was steckt, konkret gesprochen, hinter jener angeblichen „Ermattungsstrategie“, die Genosse Kautsky so preist, und der die deutsche Sozialdemokratie ihre bisherigen glänzenden Erfolge verdankt? Die Ausnutzung der parlamentarischen Mittel des bürgerlichen Staates zum täglichen Klassenkampf, zur Aufklärung, Sammlung und Organisation des Proletariats. Für diese „neue Strategie“ waren übrigens nicht erst seit der Pariser Kommune die Grundlagen gelegt, sondern namentlich in Deutschland schon fast ein Jahrzehnt früher durch die Agitation Lassalles, der darin, wie Engels sagt, nur ein Vollstrecker der Weisungen des Kommunistischen Manifestes war. Diese Taktik empfiehlt und begründet in der Tat Friedrich Engels in seinem berühmten Vorwort zu den Klassenkämpfen in Frankreich. Anstatt indes wie Genosse Kautsky allgemeine Schemata über Strategien aufzustellen, sagt Engels ganz deutlich, worin die von ihm empfohlene Taktik besteht, namentlich aber – gegen welche andere Taktik sie gerichtet ist. „Alle bisherigen Revolutionen liefen hinaus auf die Verdrängung einer bestimmten Klassenherrschaft durch eine andere; alle bisherigen herrschenden Klassen waren aber nur kleine Minoritäten gegenüber der beherrschten Volksmasse. Eine herrschende Minorität wurde so gestürzt, eine andere Minorität ergriff an ihrer Stelle das Staatsruder und modelte die Staatseinrichtungen nach ihren Interessen um.“ Da alle diese Umwälzungen eigentlich Minoritätsrevolutionen waren, so kamen sie auf dem Wege von Überrumpelungen zustande. Auf demselben Wege einer Überrumpelung durch eine revolutionäre Minorität hoffte man 1848 die sozialistische Umwälzung einleiten zu können.

„Die Geschichte“, sagt Engels, „hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klar gemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“, daß es „1848 unmöglich war, die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erobern“. Es wurde klar, daß erst im langen Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft die objektiven Grundlagen für die sozialistische Umwälzung und in einem langen, zähen täglichen Klassenkampf die Vorbereitung des Proletariats zu seiner Mission bei dieser Umwälzung erreicht werden könne. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie eintreten sollen. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit aber die Massen verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit einem Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt.“ Und nun hebt Engels als hervorragendste Waffe in diesem Sinne – die Benutzung des allgemeinen Stimmrechtes hervor. „Mit dieser erfolgreichen Benutzung des allgemeinen Stimmrechtes war – eine ganz neue Kampfweise des Proletariats in Wirksamkeit getreten, und diese bildete sich rasch weiter aus.“ Auf der anderen Seite zeigt Engels, wie sich gleichzeitig die Chancen für revolutionäre Überrumpelungen alten Stils auch äußerlich verschlechtert hätten. „Denn auch hier hatten sich die Bedingungen des Kampfes wesentlich verändert. Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet.“ Nachdem Engels die militärtechnische Seite des Barrikadenkampfes in den modernen Bedingungen beleuchtet hat, sagt er: „Dies Wachstum (der deutschen Sozialdemokratie, wie sie es dank der Ausnutzung des allgemeinen Wahlrechtes aufweist – R.L.) ununterbrochen im Gange zu halten, bis es dem herrschenden Regierungssystem von selbst über den Kopf wächst, das ist unsere Hauptaufgabe. Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris.“ Daher sucht die verzweifelte Bourgeoisie uns zu einem solchen zu verleiten. Beweis: die Umsturzvorlage.

Dies das „politische Testament“ von Friedrich Engels, wie es vor fünfzehn Jahren im Moment, wo die Zuchthausvorlage erschien, veröffentlicht wurde. Klar, deutlich, konkret kritisiert er den vormärzlichen utopischen Sozialismus, der durch einen Barrikadenkampf die Verwirklichung des Endziels einzuleiten gedachte, und stellt ihm den modernen sozialdemokratischen Tageskampf entgegen, der namentlich den Parlamentarismus ausnutzt.

Und nun frage ich: Was hat dieses „Testament“ von Engels in aller Welt mit der heutigen Situation und mit unserer Frage vom Massenstreik zu tun? Hat denn irgend jemand an eine plötzliche Einführung des Sozialismus durch den Massenstreik gedacht? Oder ist es irgend jemand eingefallen, auf einen Barrikadenkampf, auf „einen Zusammenstoß mit dem Militär auf großem Maßstab“ hinzuarbeiten? Oder endlich, gedachte vielleicht irgendein Mensch, gegen die Benutzung des allgemeinen Wahlrechtes, gegen die Ausnutzung des Parlamentarismus zu eifern?

Es ist klar: indem Genosse Kautsky das Engelssche „Testament“ gegen die Losung des Massenstreiks im heutigen preußischen Wahlrechtskampf ins Feld führt, ficht er wiederum, siegreich in der Luft gegen ein anarchistischer Gespenst vom Massenstreik, und es sind offenbar die eingefrorenen Trompetentöne Domela Nieuwenhuis’, die ihn plötzlich zu seinem Feldzug aufgescheucht haben. Andererseits wendet sich aber das Engelssche „Testament“, sofern es die veraltete Taktik der Überrumpelungen kritisiert, höchstens gegen den Genossen Kautsky selbst, der ja den Massenstreik als einen vom „Kriegsrat“ geheim ausgeheckten Überrumpelungsstreich auffaßt.

Wie wenig die vom Genossen Kautsky verteidigte „Ermattungsstrategie“ in Wirklichkeit mit dem „politischen Testament“ von Engels zu tun hat, beweist ein heiterer Umstand. Gleichzeitig mit dem Genossen Kautsky tritt in den Sozialistischen Monatsheften Ed. Bernstein gegen die Losung des Massenstreiks in der gegenwärtigen Situation auf. Mit denselben Argumenten, stellenweise in fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem Genossen Kautsky, will Bernsteins den Demonstrationsstreik vom „Zwangsstreik“ ebenso wie den gewerkschaftlichen Streik vom politischen streng geschieden wissen und wettert gegen jene „Spieler“, die die gefährliche Losung eines „Zwangsstreiks“ jetzt in die Massen werfen. Eine solche Taktik sei nicht angemessen „für Vertreter der Bewegung der Arbeiterklasse, die die Gewißheit ihres sozialen Aufstiegs in sich trägt, für die aber als das sicherste Mittel zur Verwirklichung dieses Aufstiegs sich in Deutschland die unablässige Organisationsarbeit bewährt“ habe. Es auf die Gefahren eines Massenstreiks ankommen zu lassen, „liege wahrhaftig kein Grund vor, wo die Deutsche Arbeiterbewegung auf dem bisher von ihr beobachteten Wege vielleicht langsam, aber stetig und sicher Schritt für Schritt vorwärts gekommen“ sei. Bernstein, nicht Engels, verteidigt hier die „Ermattungsstrategie“ des Genossen Kautsky. Diese Ermattungsstrategie bedeutet aber ganz etwas anderes als das Engelssche „Testament“.

Der Massenstreik, wie er gegenwärtig im preußischen Wahlrechtskampf zur Debatte steht, war und ist von keinem Menschen als Gegensatz zum Parlamentarismus, sondern als seine Ergänzung, ja, als Mittel, parlamentarische Rechte zu erringen, gedacht. Nicht als Gegensatz zum täglichen Werke der Schulung, Aufklärung und Organisierung der Massen, sondern als ein hervorragendes Mittel, gerade die Schulung, Aufklärung und Organisierung der proletarischen Massen zu fördern. Da Genosse Kautsky nun diesem so gedachten Massenstreik unsere altbewährte Taktik des Parlamentarismus entgegenstellt, empfiehlt er in Wirklichkeit vorläufig und für die gegenwärtige Situation einfach Nichtsalsparlamentarismus; nicht im Gegensatz zum utopischen Barrikadensozialismus. wie Engels, sondern im Gegensatz zur sozialdemokratischen Massenaktion des Proletariats zur Erringung und Ausübung politischer Rechte.

In der Tat weist uns Genosse Kautsky – dies der Grundpfeiler seiner Ermattungsstrategie – mit Nachdruck auf die kommenden Reichstagswahlen hin. Von diesen Reichstagswahlen sei alles Heil zu erwarten. Sie bringen uns sicher einen überwältigenden Sieg, sie werden eine ganz neue Situation schaffen, sie geben uns eine breitere Basis zum Kampfe, sie können allein die Bedingungen herstellen, unter denen wir an eine „Niederwerfungsstrategie“, will sagen einfach an eine Massenaktion denken können, sie werden „eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems“ bringen, sie geben uns jetzt schon „in der Tasche den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation“. Mit einem Worte, der Himmel der kommenden Reichstagswahlen hängt für uns Sozialdemokraten so voller Geigen, daß wir sträflich leichtsinnig wären, angesichts eines so sicher „in der Tasche“ steckenden zukünftigen Sieges durch den Wahlzettel jetzt an einen Massenstreik zu Denken.

Ich glaube nicht, daß es gut und angebracht ist, unseren künftigen Sieg bei den Reichstagswahlen in gar so leuchtenden Farben der Partei vorzumalen. Ich glaube vielmehr, daß es ratsamer wäre, uns auf die Reichstagswahlen, wie immer, mit allem Eifer und aller Energie, aber ohne übertriebene Erwartungen vorzubereiten. Wenn wir siegen und in welchem Maße wir siegen, werden wir ja erleben. Im voraus künftige Siege auskosten, liegt so gar nicht im Wesen ernster revolutionärer Parteien, und ich bin ganz der Ansicht des Genossen Pannekoek, daß es besser wäre, solche phantastischen Perspektiven, wie eine Verdoppelung unserer Stimmenzahl, gar nicht erst zu erwähnen.

Aber vor allem: was hat der künftige Reichstagswahlsieg mit der Frage des preußischen Wahlrechtskampfes heute zu tun? Genosse Kautsky meint, der Ausfall der Reichstagswahlen würde „eine ganz neue Situation“ schaffen. Worin jedoch diese neue Situation bestehen soll, ist zunächst unklar. Wenn wir nicht der phantastischen Hoffnung leben, daß wir plötzlich die Mehrheit der Mandate kriegen, wenn wir auf dem Boden der Wirklichkeit bleiben und selbst die Annahme von einem Wachstum unserer Fraktion auf etwa 125 Mann ins Auge fassen, so ist damit zunächst noch, durchaus keine Umwälzung in den politischen Verhältnissen gegeben. Wir bleiben immer noch eine Minorität im Reichstag, der eine geschlossene reaktionäre Mehrheit entgegensteht, und daß unser Wahlsieg auf die preußische Reaktion so überwältigend wirken würde, daß sie uns plötzlich das gleiche Wahlrecht in Preußen aus freien Stücken konzediert, glaubt Genosse Kautsky wohl selbst nicht. Die ganz „neue Situation“ kann also nur an einem bestehen – im Staatsstreich, in der Kassierung des Reichstagswahlrechtes. Dann, meint Genosse Kautsky, werden wir mit allen Mitteln, auch mit dem Massenstreik vorgehen. Die „Ermattungsstrategie“, die gegen eine größere Massenaktion für heute eifert, ist verknüpft mit einer Spekulation auf den Staatsstreich, der uns erst zu großen Aktionen befähigen soll. Nun hat diese Spekulation auf die Zukunft mit allen derartigen Spekulationen das gemein, daß sie eben – Zukunftsmusik ist. Tritt der Staatsstreich nicht ein, sondern wird das bisherige Fortwursteln im Zickzackkurs fortgesetzt – und Genosse Kautsky muß selbst zugeben, daß dieses Ergebnis der Reichstagswahlen das allerwahrscheinlichste ist –, so fällt auch die ganze Kombination mit der „neuen Situation“ und unseren großen Aktionen in sich zusammen. Suchen wir freilich unsere Taktik nicht auf die Reichstagswahlen und den Staatsstreich zuzuspitzen, wollen wir uns überhaupt nicht auf bestimmte Zukunftskombinationen einrichten, dann kann uns die Frage, ob wir mehr oder weniger Mandate bei den nächsten Wahlen erobern, ob der Staatsstreich dann erfolgt oder nicht, ziemlich kühl lassen. Tun wir nur in jedem Moment in der Gegenwart unsere Pflicht, um in jeder gegebenen Situation das Höchstmaß an Aufrüttelung und Aufklärung der Massen zu leisten und auf der Höhe der Situation und ihrer Anforderungen zu sein, dann werden wir bei jedem weiteren Gange der Ereignisse unsere Rechnung finden. Will man hingegen, wie Genosse Kautsky, eine ganze „Ermattungsstrategie“ für heute mit einer Aussicht auf Großtaten der „Niederwerfungsstrategie“ im nächsten Jahre begründen, wobei diese letztere auch noch erst von einem eventuellen Staatsstreich abhängig ist, dann beikommt unsere „Strategie“ eine leichte Ähnlichkeit mit derjenigen der kleinbürgerlichen Demokraten in Frankreich, die Marx Im Achtzehnten Brumaire so genial charakterisiert hat: Über die eigenen Halbheiten und Niederlagen in der Gegenwart pflegten sie sich mit der Hoffnung auf Großtaten bei der nächsten Gelegenheit zu trösten. „Über den 13. Juni vertrösteten sie sich mit der tiefen Wendung: Aber wenn man das allgemeine Wahlrecht anzugreifen wagt, aber dann! Dann werden wir zeigen, wer wir sind. Nous verrons.“

IV

Inhaltsverzeichnis

Andererseits kommt der Protest des Genossen Kautsky im Namen der „Ermattungsstrategie“, die alle ihre Hoffnungen auf die kommenden Reichstagswahlen setzt, reichlich spät. Nicht erst gegen die jetzige Erörterung des Massenstreiks hätte er seinen Mahnruf richten sollen, sondern bereits gegen die Straßendemonstrationen, ja gegen den ganzen Zuschnitt der Wahlrechtsbewegung in Preußen, wie sie durch den preußischen Parteitag im Januar eingeleitet worden ist. Auf diesem Parteitag schon ist der leitende Gesichtspunkt der ganzen Wahlrechtskampagne mit Nachdruck formuliert worden, nämlich, daß die preußische Wahlreform nicht durch parlamentarische Mittel – also weder durch die Tätigkeit innerhalb des Parlaments, noch durch noch so glänzende Parlamentswahlen – erreicht werden könne, sondern einzig und allein durch eine scharfe Massenaktion draußen im Lande. „Es gilt eine Volksbewegung größten Stiles auf den Plan zu rufen“, erklärte dort der Referent unter lebhaftem Beifall, „sonst werden die Entrechteten kläglich geäfft und betrogen werden. Und was noch schlimmer ist, wir selbst würden uns die Schuld daran zuzuschreiben haben, daß das Volk so betrogen wird.“

Dem Parteitag lagen bereits fünf Anträge – aus Breslau, Berlin, Spandau-Osthavelland, Frankfurt a. M. und Magdeburg – vor, die die Anwendung schärferer Mittel, der Straßendemonstrationen und des Massenstreiks, forderten. Die Resolution, die dann einstimmige Annahme fand, stellt die Anwendung im Wahlrechtskampf „aller zu Gebote stehenden Mittel“ in Aussicht, und der Referent gab ihr folgenden Kommentar in seiner Rede: „Meine Resolution hat ausdrücklich davon Abstand genommen, Straßendemonstrationen oder den politischen Massenstreik zu erwähnen. Aber diese Resolution soll bedeuten – ich wünsche, daß der Parteitag sie auch so auffaßt –, daß wir entschlossen sind, alle uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden.“ Wann diese Mittel zur Anwendung kämen, das hängt immer ab, „von dem Grade der Entflammung, der durch unsere Aufklärung und Aufrüttelung in den Massen hervorgerufen wird. Wir müssen das Hauptgewicht darauf legen, daß wir vor allem für diese Entflammung der Massen im Wahlrechtskampf zu arbeiten haben.“