cover

 

 

Ehrfurcht ist die Mutter aller Schreibblockaden. Das bekommt auch Geoff Dyer zu spüren, als er sein nächstes Buch angeht: eine Studie über sein Vorbild D. H. Lawrence, den Schöpfer der ›Lady Chatterley‹. Schon das Notizenmachen will nicht gelingen. Also versucht er es mit einem Roman. Den wollte er ohnehin schreiben. Aber wie soll er das schaffen, wenn er nicht einmal weiß, wo er wohnen will? Vielleicht könnte er mit seiner Freundin in Rom sesshaft werden. Oder ein wenig herumreisen. Aber auf der griechischen Insel Alonnisos ist es einfach zu ruhig zum Arbeiten. Und auf Sizilien will erst mal seine Abneigung gegen Meeresfrüchte verarbeitet werden …
›Aus schierer Wut‹ ist das Porträt eines Autors in einer Schaffenskrise – hochintelligent, sprachmächtig und so komisch, dass es einem vor Lachen die Tränen in die Augen treibt. Gleichermaßen beschwingt und übellaunig reist Geoff Dyer durch die Welt, erzählt von seiner Unfähigkeit, ein Projekt zu Ende zu führen, geschweige denn eines zu beginnen, und lässt doch wie durch ein Wunder dieses Buch vor unseren Augen entstehen. Über alles und nichts hat noch niemand so scharfsinnig, treffsicher und vergnüglich geschrieben.

autor

© Marzena Pogorzaly

Geoff Dyer ist der Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Sachbücher, darunter die viel gerühmte Jazz-Studie ›But Beautiful‹, ›Zona‹, eine Verneigung vor Andrej Tarkowskij, und ›Another Great Day at Sea‹ über seinen Aufenthalt auf dem Flugzeugträger USS George H. W. Bush. Bei DuMont erschien zuletzt sein Roman ›Sex in Venedig, Tod in Varanasi‹ (2012). Der u. a. mit dem Lannan Literary Award, dem E. M. Forster Award und dem Windham Campbell Prize for Nonfiction ausgezeichnete Schriftsteller lebt zurzeit in Los Angeles. ›Aus schierer Wut‹ erscheint erstmals in deutscher Übersetzung.

 

Stephan Kleiner, geboren 1975, lebt als freier Lektor und Übersetzer in München. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen T. C. Boyle, Keith Gessen, Chad Harbach, Michel Houellebecq und Hanya Yanagihara.

Geoff Dyer

AUS
SCHIERER
WUT

In D. H. Lawrence’
Schatten

Aus dem Englischen
von Stephan Kleiner

 

 

 

 

Per – seht ihr, ich kann doch Italienisch – Valeria

 

 

 

 

»Aus schierer Wut habe ich mein Buch über Thomas Hardy begonnen. Ich fürchte, es wird von allem, nur nicht von Thomas Hardy handeln – eigenartiges Zeug, aber nicht schlecht.«

 

D. H. Lawrence, 5. September 1914

 

 

 

 

»Nichtigkeiten werden endlos erklärt und für die Handlung Unentbehrliches überhaupt nicht.«

 

Gustave Flaubert über Victor Hugos Les Misérables

 

 

 

 

»Das alles muss als Aussage einer Romanfigur betrachtet werden.«

 

Roland Barthes

 

 

 

 

 

 

Im Rückblick erscheint es mir einerseits schwer zu glauben, dass ich so viel Zeit damit vergeudet, mich so restlos dabei verausgabt habe, darüber nachzugrübeln, wann ich mit meiner Studie über D. H. Lawrence anfangen würde; andererseits erscheint es mir ebenso schwer zu glauben, dass ich jemals damit angefangen habe, denn die Aussicht, diese Studie über D. H. Lawrence in Angriff zu nehmen, beschleunigte und vertiefte die zunehmende seelische Verwirrung, die sie eigentlich hätte verlangsamen und abmildern sollen. Ursprünglich als reine Ablenkung gedacht, nahm sie umgehend den abgelenkten, fahrigen Charakter dessen an, von dem sie mich hätte ablenken sollen – mir selbst. Sollte es, so sagte ich mir, sollte es mir gelingen, mich einer nüchternen – ich weiß noch, wie ich das Wort »nüchtern« in Gedanken wiederholte, bis es einen hysterischen, geradezu geisteskranken Klang annahm –, sollte es mir also gelingen, mich einer nüchternen akademischen Studie über D. H. Lawrence zu widmen, wäre ich gezwungen, mich zusammenzureißen. Das mit dem Widmen bekam ich hin, aber die Tätigkeit, der ich mich widmete – so erscheint es mir jedenfalls jetzt, da ich bis zum Hals in etwas stecke, das sich von der nüchternen akademischen Studie bereits meilenweit entfernt hat –, bestand darin, das Ding, das Buch auseinanderzureißen, das mich dazu hätte bringen sollen, mich zusammenzureißen.

Ich hatte vor Jahren beschlossen, eines Tages ein Buch über D. H. Lawrence zu schreiben, eine Hommage an den Schriftsteller, der in mir den Wunsch ausgelöst hatte, selbst Schriftsteller zu werden. Es war ein lang gehegter Traum, und auf die Erfüllung dieses lang gehegten Traumes bereitete ich mich unter anderem dadurch vor, dass ich nichts mehr von Lawrence las, um mich ihm zu einem zukünftigen Zeitpunkt mit vielleicht nicht wirklich taufrischem, aber doch zumindest nicht ganz und gar abgestandenem Blick zuwenden zu können. Ich wollte mich ihm nicht in passiver Weise wieder zuwenden, wollte nicht ziellos, zum bloßen Zeitvertreib ein Exemplar von Söhne und Liebhaber zur Hand nehmen. Ich wollte ihn zielgerichtet lesen. Nachdem ich Lawrence jahrelang gemieden hatte, trat ich als Nächstes in jene Phase ein, die man als die »Vorvorbereitungsphase« bezeichnen könnte. Ich besuchte Eastwood, seinen Geburtsort, ich las Biografien, ich häufte Bilder an, die ich in einer blauen, nicht mehr ganz neuen Heftmappe aufbewahrte, auf die ich mit resoluter schwarzer Tinte »D.H.L.: Fotos« geschrieben hatte. Ich machte mir sogar Notizen, bei denen ich Lawrence vage im Hinterkopf hatte und die zu einem durchaus beeindruckenden Stapel anwuchsen, doch diese Notizen, so ist mir heute bewusst, dienten nicht dazu, das Verfassen eines Buches über Lawrence vorzubereiten und zu vereinfachen, sondern dazu, es hinauszuschieben und zu verzögern. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Überall auf der Welt machen sich Menschen Notizen, um eine Tätigkeit hinauszuschieben, zu vertagen, zu ersetzen. Mein Fall war allerdings extremer, da ich mir nicht nur Notizen zu Lawrence machte, um das Verfassen einer Studie über – und Hommage an – den Schriftsteller hinauszuzögern, der in mir den Wunsch ausgelöst hatte, Schriftsteller zu werden, sondern weil diese Studie, die ich immer weiter hinausschob, ihrerseits den Zweck hatte, die Arbeit an einem weiteren Buch hinauszuschieben und zu vertagen.

Obgleich ich mir vorgenommen hatte, ein Buch über Lawrence zu schreiben, hatte ich mir auch vorgenommen, einen Roman zu schreiben, und die Entscheidung, das Buch über Lawrence zu schreiben, war zwar zu einem späteren Zeitpunkt gefallen, hatte die früher getroffene Entscheidung aber nicht vollständig aufgehoben. Anfangs hatte ich den überwältigenden Drang verspürt, beide Bücher zu schreiben, doch diese beiden Wünsche hatten sich gegenseitig so weit geschmälert, dass ich schließlich nicht mehr den Drang verspürte, auch nur eines von beiden zu schreiben. Beide gleichzeitig zu schreiben war unvorstellbar, und so schmälerten sich diese beiden überwältigend starken Vorhaben zunächst gegenseitig, um einander schließlich vollständig auszulöschen. Sobald ich daran dachte, den Roman zu schreiben, kam mir der Gedanke, es würde viel mehr Spaß machen, die Studie über Lawrence zu schreiben. Sobald ich anfing, mir Notizen zu Lawrence zu machen, wurde mir bewusst, dass ich damit wahrscheinlich meine Pläne durchkreuzte, den Roman zu schreiben, der mehr noch als jedes andere Buch, das ich je geschrieben hatte, augenblicklich geschrieben werden musste, bevor sich ein weiterer verschleppter Arbeitsanfall zwischen mich und das Vorhaben werfen konnte, etwas zu schreiben, das ich mir als einen Roman in Gestalt einer wortreichen, sub-bernhardschen Schimpftirade vorstellte. Es galt: jetzt oder nie. Also hörte ich auf, mir Notizen zu Lawrence zu machen, und begann, mir Notizen zu meinem Roman zu machen, womit ich meine, dass ich aufhörte, nicht an meinem Buch über Lawrence zu arbeiten, und anfing, nicht an dem Roman zu arbeiten, denn all das Hin und Her und die ganze Notizenmacherei führten dazu, dass ich mit keinem der beiden Bücher vorankam. Alles, was ich tat, war, zwischen zwei – leeren – Ordnern in meinem Computer hin und her zu wechseln, von denen einer zweckmäßig C:\DHL und der andere C:\ROMAN benannt war, wie ein Tischtennisball von einem zum anderen zu springen, bis ich, nachdem das anderthalb Stunden so gegangen war, den Computer ausschaltete, weil ich wusste, dass das Allerschlimmste war, mich selbst auf diese Art und Weise auszulaugen. Das Allerbeste war, gar nichts zu tun, einfach nur ruhig dazusitzen, aber natürlich fehlte mir dazu die Ruhe: Mir war vielmehr ganz und gar elend zumute, weil ich begriff, dass ich weder meine Studie über D. H. Lawrence noch meinen Roman schreiben würde.

Als ich es schließlich nicht mehr aushielt, stürzte ich mich Hals über Kopf in meine Studie über Lawrence, denn während mein Roman mich nur tiefer in mich selbst hineinführen würde, würde das Buch über Lawrence – eine nüchterne akademische Studie über Lawrence – den gegenteiligen Effekt haben, mich aus mir selbst herauszuholen.

Ich war froh, eine Entscheidung getroffen zu haben. Nun, da ich beschlossen hatte, mich Hals über Kopf in eines der beiden möglichen Bücher zu stürzen, die zu schreiben ich mir vorgenommen hatte, wurde mir klar, dass es eigentlich gar keine Rolle spielte, welches Buch ich schrieb, denn ein Buch, das geschrieben werden muss, findet immer seinen Weg. Wichtig war nur, die fürchterliche, lähmende Unsicherheit und Unentschlossenheit zu überwinden. Alles andere war besser als das. Doch »mich Hals über Kopf in die Studie über Lawrence zu stürzen« bedeutete in der Praxis, dass ich mir Notizen machte, bedeutete, dass ich mich vielmehr an das Lawrence-Buch heranschlich. So oder so war es ein Ding der Unmöglichkeit, »mich Hals über Kopf in die Studie über Lawrence zu stürzen« – noch so ein Satz, der seiner Bedeutung vollständig beraubt wurde, während er durch meinen Kopf kreiselte –, denn ich musste nicht nur entscheiden, ob ich meine Studie über Lawrence schreiben würde oder nicht, sondern auch, wo ich sie schreiben würde – falls ich sie schrieb. Falls und nicht wenn, denn als mich meine ursprüngliche euphorische Entschlossenheit verlassen hatte, erschien mir die Möglichkeit, den Roman zu schreiben, wieder als eine durchaus attraktive Option. Und selbst für den Fall, dass ich mich dagegen entschied, müsste ich mich noch immer entscheiden, wo ich leben wollte, denn ganz unabhängig davon, ob ich meine Studie über Lawrence schreiben würde oder nicht, würde ich irgendwo leben müssen – aber sollte ich ein Buch über Lawrence schreiben, dann ginge mit dieser Entscheidung eine ganze Reihe von Variablen einher, die ich gegeneinander würde abwägen müssen, wenn es darum ging zu entscheiden, wo ich leben sollte, selbst wenn die Entscheidung, wo ich leben sollte, ohnedies schon durch eine riesige Menge an Variablen verkompliziert wurde.

Einer der Gründe dafür, dass es unmöglich war, mit dem Lawrence-Buch oder dem Roman zu beginnen, war tatsächlich, dass mich die Entscheidung, wo ich leben sollte, so in Beschlag nahm. Ich konnte überall leben; alles, was ich tun musste, war, mich zu entscheiden – aber es war unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, weil ich überall leben konnte. Ich unterlag keinerlei Beschränkungen, und das verunmöglichte eine Entscheidung. Es ist leicht, sich zu entscheiden, wenn man eingeschränkt ist – durch eine Arbeitsstelle, durch schulpflichtige Kinder –, aber allein auf seine eigenen Wünsche zurückgeworfen zu sein macht das Leben erheblich schwieriger, um nicht zu sagen: unerträglich.

Nicht einmal Geld spielte eine Rolle, weil ich zu jener Zeit in Paris lebte, und nirgends auf der Welt hätte das Leben teurer sein können als in Paris. Der Wechselkurs wurde mit jedem Monat schlechter und Paris mit jedem Monat teurer. Das Geld spielte also doch eine Rolle, insofern als ich seinetwegen überall lieber gewesen wäre als in Paris, aber in Bezug auf die Entscheidung, wohin ich als Nächstes gehen, wohin ich umziehen sollte, war es nahezu irrelevant. Alles, was die finanzielle Lage – genauer gesagt: die Wechselkurslage – in Paris tat, war zu unterstreichen, dass ich, wenngleich ich geglaubt hatte, mich in Paris niedergelassen zu haben, nur auf der Durchreise war, auf einer extrem langsamen Durchreise. Das ist alles, was Engländer oder Amerikaner in Paris tun können: durchreisen. Auch wenn die Durchreise zehn Jahre dauert, ist man nichts weiter als ein Tourist. Du kommst, du gehst, die Kellner bleiben. Je länger ich blieb, desto stärker wuchs dieses Gefühl in mir, nur auf der Durchreise zu sein. Ich hatte darüber nachgedacht, ein Canal-Plus-Abonnement abzuschließen, um mich sesshafter zu fühlen, aber welchen Sinn hatte es, Canal Plus zu abonnieren, wenn ich aller Wahrscheinlichkeit nach in ein paar Monaten fortziehen würde? Mich sesshafter zu fühlen würde mir ganz offensichtlich nur gelingen, wenn ich mir einige Insignien der Beständigkeit zulegte, aber es kam mir immer sinnlos vor, mir ebendiese Insignien der Beständigkeit zuzulegen, die nur zu Fesseln geworden wären, wo ich doch in ein paar Monaten vielleicht umziehen würde, wahrscheinlich umziehen würde, mit ziemlicher Sicherheit umziehen würde, weil es nichts gab, was mich an diesem Ort hielt. Hätte ich mir einige Insignien der Beständigkeit zugelegt, wäre ich vielleicht geblieben, wo ich war, aber ich legte mir keine jener Insignien der Beständigkeit zu, weil ich wusste, dass mich in dem Moment, da ich mir solche Insignien zugelegt hätte, der Wunsch überkommen hätte zu gehen, weiterzuziehen, und dann hätte ich mich von diesen Insignien befreien müssen. Also blieb ich frei von den Insignien der Beständigkeit und damit ständig auf dem Sprung. Das war für mich die einzige Möglichkeit, an irgendeinem Ort zu bleiben: jederzeit auf eine nicht tatsächlich anstehende, aber potenzielle Abreise vorbereitet zu sein. Fühlte ich mich irgendwo heimisch, dann wollte ich fort, aber war ich zum Aufbruch entschlossen, dann konnte ich ewig bleiben, auch wenn mein Bleiben meine nervöse Unruhe noch verstärkte, denn wenn ich doch offenbar bliebe, welchen Sinn hatte es dann zu leben wie jemand, der nicht bleiben wollte, sondern lediglich auf der Durchreise war?

All diese Probleme wollte ich auf verschiedene Weisen angehen, entweder in vermittelter Form in der Studie über Lawrence oder ganz direkt in meinem Roman oder auch umgekehrt, aber es gab da noch eine zusätzliche praktische Schwierigkeit. Da ich immer eine gewisse Zeit fernab meines Wohnortes verbringen musste und die Miete meiner Pariser Wohnung so hoch war (und aufgrund des Wechselkurses Monat für Monat weiter anstieg), musste ich sie regelmäßig untervermieten (streng genommen eher unteruntervermieten, da ich selbst der Untermieter war), und weil man, wenn man seine Wohnung untervermietet, nicht zu viele persönliche oder wertvolle Gegenstände anhäufen möchte, die kaputtgehen könnten, lebt man irgendwann selbst in Verhältnissen, die man in erster Linie für jene geschaffen hat, an die man die Wohnung untervermietet: Man ist gleichsam sein eigener Untermieter. Das war es, was ich tat: Als mein eigener Untermieter (streng genommen Unteruntermieter) lebte ich in einer Wohnung, die sich durch das Fehlen all dessen auszeichnete, was sie zu meiner Wohnung im Sinne meines Zuhauses gemacht hätte. Ich hatte ein Komplott gegen mich selbst geschmiedet, mit dem Ziel, mir die schlimmste aller möglichen Welten zu schaffen, und ich fristete meine Tage in diesem nicht zu durchbrechenden Kreis der Unruhe, trat auf der Stelle, mit immer neuen Variablen, aber ohne jede Veränderung. Ich musste irgendetwas unternehmen, um diesen Kreislauf zu durchbrechen, und als Marie Merisnil, deren Untermieter ich war, mich wissen ließ, sie habe vor, die Wohnung aufzugeben und den fürchterlichen Jean-Louis zu heiraten, den ich verabscheute, obwohl er mir einmal einen eleganten blassblauen Pyjama geliehen hatte, als ich ein paar Tage lang ins Krankenhaus musste, entschied ich mich daher, einen Vertrag zu unterschreiben, der mich zum offiziellen Mieter (im Gegensatz zum illegalen Untermieter) machen würde. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich in der Wohnung bleiben wollte, in der ich, offen gestanden, während neunzig Prozent der Zeit meines Aufenthalts todunglücklich gewesen war, in der ich während neunzig Prozent meines Aufenthalts mit Grübeleien darüber beschäftigt gewesen war, ob ich a) überhaupt bleiben und b) einen Roman oder meine Studie über Lawrence anfangen würde, doch sobald die Hausverwaltung mir mitgeteilt hatte, man wolle die Wohnung nicht an mich vermieten – als Ausländer ohne Arbeit und geregeltes Einkommen war ich in meinen eigenen Augen so sehr wie in den Augen aller anderen ein wenig aussichtsreicher Bewerber –, wuchs in mir die Überzeugung, dass ich in dieser Wohnung bleiben musste, in der ich so unvergleichlich glücklich gewesen war, ja dass es tatsächlich keinen anderen Ort auf der Welt gab, an dem ich auf dieselbe Zufriedenheit hätte hoffen können. Schließlich erklärte sich mein reicher Freund Hervé Landry (»Schlaraffenlandry«, wie ich ihn nannte), der mehrere Häuser besaß, darunter eines auf der griechischen Insel Alonnisos, bereit, für mich zu bürgen. Die Hausverwaltung lenkte ein, und ich unterschrieb den Mietvertrag, der mich zum offiziellen locataire machte.

Ich war außer mir vor Freude. Vielleicht fünf Minuten lang. Dann begriff ich, dass ich mir eine überwältigende, um nicht zu sagen: lähmende Verantwortung aufgehalst hatte. Und die Frage, wo ich leben sollte, hatte ich nicht nur nicht beantwortet, nein, ich hatte sie gedeckelt, sodass meine Unentschlossenheit jetzt unter Hochdruck vor sich hin brodelte und mich in Stücke zu sprengen drohte. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich so schnell wie möglich aus dieser Wohnung hinausmusste, in der ich nicht eine einzige Sekunde lang Seelenfrieden verspürt hatte. Wenn ich hierbliebe, das wurde mir nun schlagartig bewusst, würde ich weder meinen Roman noch meine Studie über Lawrence schreiben. So viel war klar. Das Problem, der Haken an der ganzen Sache war, dass ich eine dreimonatige Kündigungsfrist hatte und daher vorausahnen musste, wie ich mich in drei Monaten fühlen würde, was äußerst schwierig war. Schön und gut, wenn ich heute beschloss, dass ich fortwollte, aber worauf es ankam, war doch, wie ich mich in drei Monaten fühlen würde. Man kann heute durch und durch zufrieden sein, sagte ich mir, und in drei Monaten Selbstmordgedanken haben, gerade weil man erkennen muss, welch enormer Fehler es gewesen ist, den Mietvertrag nicht drei Monate zuvor aufgekündigt zu haben. Andererseits, so sagte ich mir, kann man aber auch heute zutiefst verzweifelt und fest davon überzeugt sein, dass man nicht einen einzigen weiteren Tag in dieser Wohnung überstehen und es völlig unmöglich sein wird, mit dem Roman oder der Studie über Lawrence voranzukommen, um in drei Monaten zu begreifen, dass man nur durch das Ausharren an diesem Ort die Depression überleben würde, die einen unweigerlich befallen wird, sobald man die Wohnung aufgibt, wozu man durch die überstürzte Kündigung drei Monate zuvor gezwungen sein wird. So drehte ich mich immerfort im Kreis, ohne voranzukommen, traf irgendeinen Entschluss, nur um im nächsten Moment das Gegenteil zu beschließen. »Ich ertrage es nicht mehr«, sagte ich mir, so wie man sich eben »Ich ertrage es nicht mehr« sagt, um das Unerträgliche weiter ertragen zu können. Irgendwann ertrug ich es wirklich nicht mehr, nicht eine weitere Sekunde lang, und so schrieb ich an die Hausverwaltung und trennte mich offiziell von der Wohnung, unter dem Vorwand, »berufliche Gründe« machten eine Rückkehr nach England notwendig. Die Hausverwaltung schrieb zurück, man akzeptiere meine Entscheidung, die Wohnung aufzugeben. Ich schrieb zurück, berufliche Gründe zwängen mich nunmehr, in Paris zu bleiben; könnte ich eventuell von meinem Rücktritt von der Wohnung zurücktreten? Erleichtert, die Wohnung nicht anderweitig vermieten zu müssen, erklärte sich die Hausverwaltung bereit, mich weiter in der Wohnung wohnen zu lassen, die ich soeben aufgegeben hatte. Und so ging es weiter: Ich schrieb erneut, um die Wohnung »endgültig« aufzugeben. Sie schickten eine knappe Bestätigung. Ich schrieb zurück, um meine endgültige Entscheidung zu gehen in eine endgültige Entscheidung zu bleiben umzuwandeln, aber es war zu spät, ich musste gehen.

Nun, da ich gehen musste, sah ich mich mit der furchtbaren Aussicht konfrontiert, keinen Wohnort zu haben, mich umgehend für einen Wohnort entscheiden zu müssen, und da erst begriff ich, wie viel mir diese Wohnung bedeutete, wie sehr sie mir doch zur Heimat geworden war. Obwohl ich geglaubt hatte, kaum persönliche Gegenstände in der Wohnung zu haben, gab es plötzlich viele Dinge, für die ich einen neuen Platz finden musste. Tatsächlich hatte ich mir im Laufe der Jahre einige Insignien der Beständigkeit zugelegt. Ich hatte sogar eine erstaunlich große Menge an Möbeln, darunter einige wirklich schöne Stücke. Wohin sollte ich damit? Und was war mit mir? Wohin sollte ich mit mir? Rom war eine Möglichkeit. Laura, meine Beinahe-Ehefrau, hatte eine schöne Wohnung in Rom, und sie hatte schon des Öfteren vorgeschlagen, wir sollten gemeinsam dorthin ziehen, aber auch wenn man in Rom ganz wunderbar Zeit verbringen konnte, wusste ich, wie depressiv ich dort nach ein paar Monaten immer wurde, besonders im Winter. Und darüber hinaus wusste ich, wie sehr Rom mich, noch bevor es mich depressiv machte, ärgerte, vor allem wegen der völlig undurchschaubaren Öffnungszeiten der Geschäfte und der italienisch synchronisierten Filme. Dennoch war Rom eine Möglichkeit – oder wäre eine gewesen, hätte Laura nicht ihre Wohnung untervermietet. Sie war für sechs Monate nach Paris gekommen, einerseits um mit mir zusammen zu sein und andererseits weil ihr dieses wirklich schöne Stellenangebot über den Weg gelaufen war, doch jetzt war sie wieder in Rom und wohnte zur Untermiete bei jemand anderem, weil sie ihre eigene Wohnung untervermietet hatte. Dies ist der wahre Zustand der westlichen Zivilisation an der Schwelle des neuen Jahrtausends: Jeder wohnt bei jedem zur Untermiete, niemand weiß genau, ob er geht oder bleibt, hin- und hergerissen zwischen Siedlertum und Nomadendasein, enden wir alle als Untermieter. In den kommenden Wochen würde sie sich entscheiden müssen, ob sie ihre Wohnung weiter untervermietete oder selbst wieder dort einzog – und das hing teilweise von meinen Plänen ab, denn auch wenn wir es gewohnt waren, einen Großteil unserer Zeit getrennt voneinander zu verbringen, waren wir beide der Meinung, es sei an der Zeit, mehr Zeit zusammen zu verbringen, ja darüber nachzudenken, sowohl in emotionaler als auch alltäglicher Hinsicht »unser Leben miteinander zu teilen«. Wir hatten sogar schon ein gemeinsames Motto, das heißt beinahe, denn Lauras Version war »Zusammen für immer«, meine dagegen »Zusammen wann auch immer«. Laura gefiel die Vorstellung, gemeinsam »durch dick und dünn zu gehen«, während ich mich für das pessimistischere »Durch dünn und noch dünner« entschied. Ich war nur allzu bereit, diese semantischen Unterschiede beiseitezuschieben, denn wenn ich jemals mit meinem Buch über Lawrence vorankommen – und obendrein noch eine Chance auf das große Glück ergattern – wollte, dann, so wusste ich, würde ich mich mit einer Frau zusammentun müssen, so wie Lawrence mit Frieda. Außerdem war ich schon viel zu lange allein gewesen. Wenn ich noch mehr Zeit allein verbrächte, würde ich für den Rest meines Lebens allein bleiben. Selbst meine lähmende Unentschlossenheit war in erster Linie ein Symptom dafür, dass ich zu lange allein gewesen war. In einer Beziehung muss jede Entscheidung diskutiert und ausgefochten werden; ist man allein, gibt es niemanden, mit dem man irgendetwas diskutieren und ausfechten könnte. Um meine Einsamkeit erträglicher zu machen, hatte ich daher die Dynamik eines Pärchens internalisiert, das ohne Unterlass darüber streitet, wo man leben soll und was als Nächstes zu tun ist. Das Problem war, dass die Frau, mit der ich mich zusammentun wollte, ebenfalls chronisch entscheidungsunfähig war und allein aufgrund meiner noch gravierenderen Entscheidungsunfähigkeit das Gefühl hatte, die Art von Frau zu sein, die weiß, was sie will, und unbeirrbar ihren Weg geht. Wenngleich sie sich beispielsweise so häufig dafür aussprach, dass wir in Rom leben sollten, dachte sie stets auch darüber nach, in Paris, ihrer Lieblingsstadt, sesshaft zu werden, und sehnte sich regelmäßig nach Amerika zurück, wo sie aufgewachsen war.

Auch ich sehnte mich nach Amerika. Ich dachte an New York, wo ich gelebt hatte, an New Orleans, wo ich quasi gelebt hatte, und an San Francisco, wo ich gern einmal gelebt hätte und wo Laura aufgewachsen war, doch noch während ich an diese Orte dachte, wusste ich, dass ich niemals dort leben würde, am allerwenigsten in New Orleans, an das ich beinahe täglich voller Sehnsucht dachte. Obwohl ich so schöne Erinnerungen daran hatte, am Mississippi zu sitzen, wusste ich, dass ich niemals wieder in New Orleans leben würde. Obwohl ich mir jeden Tag mindestens einmal wünschte, wieder in New Orleans zu sein und am Mississippi zu sitzen, wusste ich, dass ich niemals wieder dort leben würde, und dieses Wissen gab mir das Gefühl, dass mein Leben vorbei war. Ich gehöre, dachte ich, zu den Menschen, die für den Rest ihres Lebens sagen werden: »Ich habe eine Zeit lang in New Orleans gelebt«, auch wenn ich eigentlich meinte, dass ich drei Monate dort verbracht hatte und vor Einsamkeit beinahe gestorben wäre, während ich an irgendeinem nutzlosen Roman herumtippte, weil ich mich durch das Schreiben weniger einsam fühlte.

Wo sollten wir also leben? Genauer gesagt – alte Gewohnheiten wie Einsamkeit und Egoismus lassen sich schwer abschütteln –: Wo war der beste Ort, an dem ich leben könnte, um mit meiner Studie über Lawrence voranzukommen? Einer der Gründe dafür, dass mich in Paris eine solche Unruhe befallen hatte, war, dass zwischen Paris und Lawrence nur eine entfernte Verbindung bestand. Paris ist ein ausgezeichneter Ort, um einen Roman zu schreiben, insbesondere einen Roman, der in Paris spielt, aber es ist kein guter Ort, um eine Studie über Lawrence zu schreiben. Er hatte Paris gehasst, hatte es sogar »die Stadt der furchtbaren Nacht« oder etwas in der Art genannt (die genaue Formulierung hatte ich irgendwo in meinen Notizen). Wenn ich jemals mit meiner Studie über Lawrence vorankommen wollte, wenn ich jemals auch nur den Hauch einer Chance haben wollte, mit meiner Studie über Lawrence voranzukommen, dann, so wusste ich, würde ich an einem Ort leben müssen, der eine starke Verbindung zu ihm hatte, einem Ort, an dem ich gleichsam die lawrenceschen Schwingungen spüren konnte: Sizilien zum Beispiel oder New Mexico, Mexiko, Australien. Möglichkeiten gab es zuhauf, weil Lawrence sich nicht hatte entscheiden können, wo er leben sollte. In den letzten Lebensjahren hatte er in seinen Briefen Freunde ständig gefragt, ob sie nicht einen Vorschlag hätten, wo er leben könnte. »Wo will man denn leben? Hast Du irgendeinen erhellenden Einfall dazu? Hast Du Dir westlich von Marseille ein Haus gekauft, wie Du es gesagt hattest? Wie ist es dort?« In diesem Fall hatte er William Gerhardie gefragt. Kurz darauf war es ein ehemaliger Nachbar aus Florenz gewesen: »Wo will man denn leben? Sagen Sie es mir, wenn Sie können! – Wie gefällt Ihnen London?« Dann war Ottoline Morrell an der Reihe gewesen: »Wo will man schließlich und endlich leben?«

Ich hatte diese Liste von Beispielen für Lawrence’ händeringende Suche nach einem Wohnort angelegt, weil sie mir in meiner eigenen Unsicherheit Trost spendete; entweder hatte sie mir Trost gespendet, oder sie hatte zu meiner Unentschlossenheit geführt, ich wusste es nicht genau. Es war unmöglich zu sagen. Wer konnte das schon wissen? Vielleicht war die Unmöglichkeit einer Entscheidung darüber, wo ich leben sollte, die ich als einen der Faktoren betrachtete, welche meiner Studie über Lawrence im Weg standen, in Wahrheit Teil meiner Vorbereitung darauf, sie zu schreiben.

Der einzige Ort, von dem ich wusste, dass ich meine Studie über Lawrence dort nicht würde schreiben können, war England, was sehr schade war, da es mich tatsächlich nach England zog. Ich dachte oft an das englische Fernsehen. Ich verspürte den Drang, wieder dort zu sein und fernzusehen, aber zurück nach England zu ziehen hätte bedeutet, zurück in das zu ziehen, was ich in meinen Notizen mit Lawrence’ Worten als den »weichen Kern meines Seins« bezeichnete. Im Ausland zu sein – ganz egal, wo im Ausland – hieß, mich an der Grenze meines Ichs zu befinden, an der Grenze dessen, was ich zu leisten vermochte. In England konnte ich beispielsweise Englisch sprechen, wohingegen ich in Rom in sprachlicher Hinsicht gestrandet gewesen wäre. Im Gegensatz zu Lawrence, der fließend Italienisch gesprochen hatte. Er hatte ein Talent für Sprachen gehabt (irgendwann hatte er sogar angefangen, sich mithilfe eines Grammatikbuchs selbst Russisch beizubringen), und auch wenn er behauptet hatte, Fremdsprachen zu hassen, war das doch zu einem späten Zeitpunkt seines Lebens gewesen, als er schon so viele gelernt hatte und es schlicht leid gewesen war, von einer in die andere zu wechseln. Ich für meinen Teil hatte in den ersten sechs Monaten meines Aufenthalts in Paris nicht einmal versucht, Französisch zu lernen, weil es mir unvorstellbar erschien, jemals eine Fremdsprache lernen zu können. Die intensivsten Beziehungen pflegte ich damals zu Katzen und Hunden, Wesen, mit denen ich einen Bund wortlosen Mitgefühls schließen konnte. Seitdem hatte ich einige Brocken Französisch aufgeschnappt, recht viele sogar und in jedem Fall genug, um in grammatikalischer Hinsicht ungewöhnliche Meinungen zu äußern. In der Tat gab es jetzt, nachdem ich monatelang bei den rudimentärsten Fragen ins Straucheln geraten war, jetzt, da ich an der Schwelle zum Aufbruch stand, nichts, was ich lieber tat, als Französisch zu sprechen. Nach meinen Maßstäben beherrschte ich die Sprache fließend, und diese verstümmelte Version eines fließenden Französisch zu sprechen war mir ein steter Quell der Freude. Das heißt, wenn ich nicht gerade wütend war – was häufig vorkam. Meiner Wut konnte ich auf Französisch keinen Ausdruck verleihen, und das frustrierte mich und machte mich wütend, und um dieser Frustration und Wut Ausdruck zu verleihen, musste ich auf Englisch zurückgreifen. In Rom würde ich wieder bei null anfangen müssen.

In Rom bestand keinerlei Chance, Italienisch zu lernen, weil Laura zweisprachig aufgewachsen ist und ein noch größeres Talent für Sprachen hat als Lawrence. Das war eines der ersten Dinge, die ich an Laura liebte. Dass ich mich in Laura und all ihre Sprachen verliebte, hatte in gewisser Weise vorweggenommen, dass ich es selbst eines Tages lieben würde, mich in fremden Sprachen, insbesondere auf Französisch, zu unterhalten. Lauras Methode, eine Sprache zu erlernen, besteht darin, Seifenopern in dieser Sprache zu schauen. Nach ein paar Folgen beherrscht sie die einfacheren Zeitformen aus dem Effeff, und nach einer Woche spricht sie die Sprache fließend. Dementsprechend ist sie eine sehr schlechte Italienischlehrerin, und ich wusste, dass ich, auch wenn ich sechs Monate lang in Rom Seifenopern schaute, noch immer kaum ein Wort Italienisch sprechen würde, denn obgleich mir die Vorstellung gefällt, verschiedene Fremdsprachen zu beherrschen, hasse ich alles, was mit Anstrengung verbunden ist. Im Laufe der Jahre hatte ich es mir abgewöhnt, irgendetwas zu tun, das auch nur die geringste Anstrengung erforderte, und somit war es ausgeschlossen, dass ich jemals Italienisch lernen würde, und extrem unwahrscheinlich, dass ich mit meiner Studie über Lawrence vorankommen würde, die eine massive, um nicht zu sagen: herkulische Anstrengung erforderte.

Ich quälte mich, ich haderte mit mir. Ich verkaufte meine Möbel, und meine Wohnung wurde mit jedem Tag weniger wohnlich. Laura drängte mich, zu einer Entscheidung zu kommen, weil sie entscheiden musste, was mit ihrer Wohnung passieren sollte. Würde ich nach Rom kommen oder nicht? Und warum eierte ich überhaupt so herum? Ich hätte verrückt sein müssen, um nicht nach Rom zu gehen, Rom liegt in Italien, dem Land, in dem Lawrence mehr Zeit verbracht hatte als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt; von dort aus ist es ein Katzensprung nach Sizilien, wo er gelebt hatte, und wenn ich auch nur die geringste Chance haben wollte, mit meiner Studie über Lawrence voranzukommen, war es wahrscheinlich der beste Ort.

Sobald ich ankam, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Für mich stand fest: Ich war bereit, mit meiner Studie über Lawrence zu beginnen. Das einzige Problem war die Hitze. Die Hitze war gewaltig, und nirgendwo in Rom war es heißer als in Lauras Wohnung. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, in ihre eigene Wohnung zurückzukehren, dass sie verdrängt hatte, wie heiß es dort sein würde. So ist das mit der Hitze. Unerträgliche Hitze kühlt im Laufe des Winters in der Erinnerung ab und wird zu etwas Attraktivem, Wünschenswertem. Jetzt war es fürchterlich heiß. Selbst das Licht war heiß. Wir versuchten, das Licht auf Abstand zu halten, aber es bohrte sich durchs Schlüsselloch, quetschte sich unter der Tür hindurch, hebelte noch den kleinsten Spalt in den Fensterläden auf. Ich war entschlossen, ich war bereit zu arbeiten – aber es war zu heiß zum Arbeiten. Es war so heiß, dass wir tagsüber dösten und nachts wach lagen und vergebens versuchten zu schlafen. Wir waren in einer Art Trancezustand. Dann rief in einer infernalischen Nacht Hervé an – die Verbindung war schlecht – und lud uns ein, den Sommer mit Mimi und ihm auf Alonnisos zu verbringen, von wo aus er sich meldete. »Was meinst du?«, fragte Laura, aber ich sah in ihren Augen, dass ihre Entscheidung schon gefallen war.

»Ich lerne Griechisch«, sagte sie. Sie hatte unbedingt in ihre Wohnung zurückkehren wollen, aber jetzt konnte sie gar nicht schnell genug wegkommen. Von meiner Warte aus waren sechs Wochen auf einer griechischen Insel, einer vergleichsweise kühlen griechischen Insel, eine vielversprechende Aussicht: die perfekte Zeit und der perfekte Ort, um mit meinem Buch über D. H. Lawrence zu beginnen. Das mache ich, sagte ich mir, ich fange auf Alonnisos mit meiner Studie über D. H. Lawrence an. Es war der perfekte Ort. Ich hatte alles, was ich brauchte, außer meiner Ausgabe der Complete Poems, die ich in Paris bei einem Freund zurückgelassen hatte. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte: Kurz bevor die British Council Library in Rom den Sommer über schloss, hatte ich mehrere Bände der Cambridge-Ausgabe von Lawrence’ Briefen ausgeliehen, mit denen ich eine ganze Zeit lang bestens versorgt sein würde. Ich hatte eine Biografie, anhand derer sich Daten überprüfen ließen, Exemplare einiger seiner Romane … es war perfekt. Hervé zufolge würden Laura und ich ein Zimmer für uns allein haben, wo ich morgens beginnen würde, meine Studie über D. H. Lawrence zu schreiben. Es war perfekt. Natürlich wäre es hilfreich gewesen, meine Ausgabe der Complete Poems dabeizuhaben, aber es war keine Voraussetzung dafür, mit der Studie anzufangen. Entscheidend war, dass ich wochenlang Zeit hatte und ungestört würde arbeiten können, ohne jede Ablenkung. Ich hätte Band 4 der Cambridge-Ausgabe von Lawrence’ Briefen aus der British Council Library ausleihen sollen, aber für den Anfang genügten Band 2 und 3, die ich ausgeliehen hatte, in jedem Fall. Was mich mehr störte, war, dass ich meine Ausgabe der Complete Poems nicht dabeihatte, des für meine Zwecke wohl mit Abstand wichtigsten Buches von Lawrence, ohne das ich mit meiner Studie über Lawrence nur wenige Fortschritte machen würde, sogar so wenige Fortschritte, dass es kaum Sinn hatte, überhaupt anzufangen. Mein Exemplar der Complete Poems war mit Notizen und Anmerkungen übersät, und ohne sie war ich wahrscheinlich besser beraten, auf Alonnisos einfach auszuspannen, meine Kräfte zu sammeln und meine Gedanken zu Lawrence zu ordnen, anstatt tatsächlich zu versuchen, irgendetwas zu Papier zu bringen. Mit einem Mal schien dieser Gedichtband, den ich bis vor zwei Wochen zwei Monate lang ständig bei mir gehabt und in dieser Zeit nicht ein einziges Mal aufgeschlagen hatte – daher der Entschluss, ihn in einem Karton im Haus eines Freundes in Paris zurückzulassen –, für jegliches Vorankommen unentbehrlich zu sein.

Glücklicherweise flog ein Freund dieses Freundes von Paris nach Rom, und er war bereit, mir mein Exemplar mitzubringen. Wir trafen uns im San Calisto, ich spendierte ihm einen Kaffee, und er gab mir das Buch. So einfach war das. Es war nicht bloß ein gutes Gefühl, am Vorabend unseres Fluges nach Alonnisos wieder mit meinem Exemplar der Complete Poems vereint zu sein: Es war ein Omen, ein unverkennbares Zeichen, dass ich in jenem Sommer mit meiner Studie über D. H. Lawrence beginnen sollte.

Als ich die Complete Poems wiederhatte, gingen Laura und ich heim, um zu packen. All die Bücher von und über Lawrence machten mein Gepäck unglaublich schwer. Es war eine Schwere, die nicht bloß in den Bereich der Lästigkeit, sondern ganz klar in den Bereich des Übergepäcks fiel. Ich nahm einige Bücher heraus, die ich nicht brauchte und nur eingepackt hatte, weil sie schmal waren – Mexikanischer Morgen, Die Apokalypse –, aber sie waren so leicht, dass es keinerlei Unterschied machte, und ich legte sie wieder in die Tasche zurück, aus der ich sie soeben herausgenommen hatte. Ich betrachtete das Exemplar der Complete Poems und war mir plötzlich sicher, wenn ich es nach Alonnisos mitnähme, würde es sechs Wochen lang unangetastet herumliegen, so wie es in Paris zwei Monate lang unangetastet herumgelegen hatte; aber wenn ich es nicht nach Alonnisos mitnähme, das wusste ich ebenso sicher, dann würde ich, sobald ich auf Alonnisos wäre, entscheiden, dass es unentbehrlich sei und ich ohne es nicht einmal mit meiner Studie über Lawrence würde anfangen können. Nehme ich es mit, brauche ich es nicht; nehme ich es nicht mit, werde ich ohne es nicht zurechtkommen, sagte ich mir, während ich meine Tasche packte und wieder auspackte, mein Exemplar der Complete Poems hineinlegte und wieder herausnahm. Nach einer Weile beschloss ich, die Complete Poems zurückzulassen, und packte die Penguin-Ausgabe der Selected Poems ein, was jedoch ein lachhafter Kompromiss war, da sich die Selected Poems vor allem dadurch auszeichneten, dass sich darin keines der Gedichte befand, die ich brauchte, also vor allem nicht die »Späten und letzten Gedichte«, insbesondere »The Ship of Death«. Ich stand vor der Wahl, entweder die enorm umfangreichen Complete Poems mitzunehmen oder gar nichts, und als ich erst einmal begriffen hatte, dass die eigentliche Frage gar nicht war, ob ich die Complete Poems zum Arbeiten brauchte oder nicht, war es eine recht einfache Entscheidung. Die Funktion der Complete Poems war die eines Talismans: Hatte ich sie dabei, würde ich mit meinem Buch beginnen können; hatte ich sie nicht dabei, dann würde ich ständig denken, dass ich sie zum Arbeiten brauchte, auch wenn ich es gar nicht täte, und wäre nicht in der Lage, mit meinem Buch über Lawrence zu beginnen. So betrachtet, waren die Complete Poems ein unentbehrlicher Teil meines Gepäcks. Ich hatte gar keine andere Wahl, als sie mitzunehmen; ob ich während der Arbeit hineinschauen würde oder nicht, spielte nicht die geringste Rolle. Damit legte ich die Complete Poems ganz oben auf den Stapel unverzichtbarer Bücher von und über Lawrence, zurrte das Seil, das sich schließmuskelartig um die Öffnung meines Rucksacks spannte, so fest wie möglich und stellte den Rucksack neben die Tür, wo er bei unserer frühmorgendlichen Abreise bereitstehen würde.

Bevor wir uns am Morgen auf den Weg machten, nahm ich mein Exemplar der Complete Poems heraus und fuhr ohne es nach Griechenland ab.

Eine weitere gute Entscheidung, wie sich zeigen sollte. Ich brauchte die Complete Poems nicht, denn als wir erst einmal unser Lager auf Alonnisos aufgeschlagen hatten, hatte ich ohnehin keinerlei Antrieb, mit meiner Studie über D. H. Lawrence anzufangen. Das Problem war gar nicht die Verfügbarkeit oder Nichtverfügbarkeit von Büchern, das Problem war Alonnisos selbst. Wir haben immer dieses Idealbild vom Leben auf einer Insel im Kopf, aber wirklich auf einer Insel zu sein ist fast immer höllisch. Lawrence war übrigens auch nicht allzu versessen auf Inseln. »Ich mag keine Inseln, vor allem keine kleinen«, entschied er auf der Île de Port-Cros. Eine Woche später verkündete er abschließend, so als hätte er beim ersten Mal bloß eine Meinung ausprobiert und sich erst jetzt richtig entschieden: »Ich mag keine kleinen Inseln.«

Ich auch nicht. Befindet man sich auf einer kleinen Insel, kann man an nichts anderes denken als daran, dass man dort nicht wegkommt, wenn man sie verlassen will, weil vielleicht die Insel, auf der man sich befindet, entweder zu groß ist und man auf eine kleinere will, oder weil die Insel zu klein ist und man auf eine größere will. Als wir mit der Flying-Dolphin-Fähre auf Alonnisos anlegten, erschien uns die Insel so schön, dass uns sechs Wochen zu kurz vorkamen, um diese Schönheit vollends auszuschöpfen. Hervés Haus hatte eine große, hübsche Terrasse mit perfektem Blick auf Meer und Himmel, eine Aussicht, wie man sie auf Plakaten sieht, die für Urlaube auf idyllischen griechischen Inseln werben.

»Das ist das Paradies«, sagte ich zu Laura, als wir, umgeben von Meer und Himmel, auf der Terrasse saßen. »Ich wünschte, wir könnten sechs Monate hierbleiben.« Nach einer Woche wirkten dann selbst vierzehn Tage unerträglich. Abgesehen davon, auf das Werbeprospektblau von Meer und Himmel zu schauen – das wir nach den ersten paar Tagen kaum noch wahrnahmen –, gab es nichts zu tun, und aus diesem Grund war es unmöglich zu arbeiten. Die beste Voraussetzung für das Schreiben, das begriff ich innerhalb weniger Tage nach unserer Ankunft auf Alonnisos, bestand darin, dass die Welt ständig an die Tür klopfte; unter solchen Voraussetzungen erzeugte die Arbeit, mit der man befasst war, eine Art Druck, eine Kraft, die die Welt auf Abstand hielt. Hier dagegen, auf Alonnisos, gab es nichts, das man hätte auf Abstand halten müssen, gab es keinen Anreiz, durch die Arbeit irgendwelchen Druck zu generieren, und so drang die äußere Leere nach innen und verströmte sich dort, wurde zu überwältigender Trägheit. Man konnte nichts weiter tun, als auf Meer und Himmel zu schauen, und nach einigen Tagen konnte man sich selbst dazu kaum mehr aufraffen.

Es war sinnlos, die Schuld an meiner Unfähigkeit anzufangen in der Tatsache zu suchen, dass ich mein Exemplar der Complete Poems in Rom gelassen hatte, denn ich hatte es bei mir in Alonnisos. Ja. Im letztmöglichen Moment, als das Taxi bereits unten vor dem Haus brummte, war ich noch einmal in die Wohnung hinaufgerannt, hatte mein Exemplar geholt und es den ganzen Weg bis nach Alonnisos geschleppt, wo es, genau wie vorhergesehen, unangetastet neben unserem Bett lag. Stattdessen las ich zu meiner eigenen Überraschung eines der Bücher, die Hervé mitgebracht hatte, einen Briefband von Rilke.

»Il faut travailler, rien que travailler.« Rilke war im Jahr 1902 nach Paris gegangen, um eine Monografie über Rodin zu verfassen, und diese Mahnung des Bildhauers hatte in dem siebenundzwanzigjährigen Dichter einen Wandel bewirkt. Brief für Brief wiederholte er Rodins mantraartige Aufforderung. Versenke dich in deine Arbeit: Lass das Leben von dir abfallen, widme dich der großen Arbeit. Il faut travailler, rien que travailler.

Ich stellte fest, dass ich die Worte wiederholte, wie Rilke sie wiederholt hatte, sie ausprobierte, mich an der Schlichtheit und Ergebenheit der Formel erfreute, mich darin aalte wie in einem heißen Bad. Doch in dieser Weise dabei zu verweilen war eine Flucht vor der Arbeit, so wie meine Lektüre eines dicken Bandes mit Rilke-Briefen eine Versuchung war, der ich nachgab. Ich hätte an meiner Studie über D. H. Lawrence arbeiten sollen, und stattdessen verbummelte ich die Zeit mit Rodins Worten. Il faut travailler, rien que travailler. Ich sollte mein Buch über D. H. Lawrence schreiben, sagte ich mir, alles andere sollte dahinter zurücktreten – aber wer kann schon sagen, wo diese Aufgabe beginnt und wo sie aufhört? Aus der Lektüre von Rilkes Briefen mag vielleicht noch ein großer Nutzen erwachsen. Und je mehr ich las, desto überzeugter war ich tatsächlich davon, dass ein besseres Rilke-Verständnis entscheidend für mein Lawrence-Verständnis war. Wäre ich nach Alonnisos gereist, um ein Buch über Rilke zu schreiben, dann hätte ich mit ziemlicher Sicherheit auf Hervés Terrasse gesessen und Bücher von Lawrence gelesen; so wie die Dinge lagen, bedeutete die Tatsache, dass ich eine Studie über D. H. Lawrence hätte schreiben sollen, dass ich dort saß und die Briefe Rilkes las, dem es, obgleich er der Verführung von Rodins Worten erlegen und von ihrer Wahrheit überzeugt gewesen war, schwerfiel, sie in die Tat umzusetzen. »Übrigens steht mein unbedingter Entschluß dahin, mich täglich und wo und unter was für äußeren Umständen es auch sei, für soundso viele Stunden einzuschließen … um der Arbeit willen […]« Was auch dahinstand, war seine Antwort auf die Frage, ob Arbeit und Müßiggang so einfach gegenübergestellt werden konnten:

… ich habe mich sooft gefragt, ob nicht gerade die Tage, da wir gezwungen sind, müßig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen? Ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist, die in untätigen Tagen in uns geschieht?

Das war nun ein Konzept, an dem ich augenblicklich Gefallen fand, ein Konzept, das mir wirklich ausgesprochen gut gefiel. So gut, dass Rilkes Briefe nach einigen Tagen den Weg der Complete Poems gingen und unangetastet auf unserem Nachttisch lagen. Auf Alonnisos blieb alles unangetastet, selbst mein Tennisschläger. Schreiben war auf Alonnisos unmöglich, lesen war unmöglich, und Tennis spielen war auch unmöglich. Laura war es unmöglich, beim Griechischlernen irgendwelche Fortschritte zu machen. Offen gestanden war es unmöglich, überhaupt irgendetwas zu tun. Ich hatte gedacht, nach der morgendlichen Arbeit an meinem Buch über Lawrence würde ich die Nachmittage damit verbringen, Tennis zu spielen, aber es gab keine Plätze, weshalb ich die Nachmittage, nachdem ich Morgen für Morgen damit verbracht hatte, mein Buch über Lawrence nicht zu schreiben und Rilke nicht zu lesen, damit verbrachte, nicht Tennis zu spielen. Als ich das letzte Mal auf einer griechischen Insel gewesen war, hatten regelmäßig erbitterte Matches zwischen den Touristen und den Einheimischen stattgefunden. Hier gab es keinen Fußball und kein Tennis. Ehrlicherweise gab es überhaupt nichts. Man konnte nichts tun, außer zu Mittag zu essen und von den schlangenverseuchten Felsen der plaka aus in das quallenverseuchte Meer zu springen. An unserem dritten Tag sahen wir dort eine Schlange. Laura und ich durchquerten das kleine Wäldchen, hinter dem die Felsen lagen, und wir sahen sie beide gleichzeitig. Mein ganzes Leben lang habe ich mich davor gefürchtet, eine Schlange zu sehen, und auf Alonnisos sah ich eine. Wir sahen sie beide gleichzeitig, machten auf dem Absatz kehrt und ergriffen die Flucht. Lawrence hatte in seinem weißen Pyjama ein Rendezvous mit seiner Schlange gehabt; wir rannten vor unserer davon. Ich war mir nicht einmal über den genauen Ablauf im Klaren: Entweder hatten wir sie reglos daliegen sehen, woraufhin sie sich, durch unsere panische Reaktion aufgeschreckt, plötzlich davongeschlängelt hatte, oder sie hatte uns gehört und war davongehuscht, und durch diese Bewegung hatten wir sie bemerkt. Es geschah alles zu schnell: Sie sah uns und flüchtete, wir sahen sie und flüchteten; wir hofften, sie niemals wiederzusehen, und ihr ging es vermutlich genauso. Nicht eben die Gemütslage, aus der heraus Gedichte entstehen.

Danach hatten wir kein gutes Gefühl dabei, auf den Felsen der plaka zu sitzen, denn auch wenn wir die Schlange im Wald gesehen hatten, waren es eigentlich die von der Sonne aufgeheizten Felsen der plaka, auf denen sich die Schlangen ebenso gern aalten wie wir – wie wir, bevor wir die Schlange gesehen hatten. Das Meer machte uns ohnehin nervös, wegen der Quallen, und nun machten uns auch noch die Felsen wegen der Schlangen nervös. Auch im Bett waren wir nervös. Wir lagen da und hörten gleitende, raschelnde Geräusche, die darauf schließen ließen, dass vor unserer Tür Dinge umherglitten und raschelten. Wir lagen wach und unterhielten uns darüber, was das für Dinge sein mochten.

»Ich hasse alles, was gleitet«, sagte ich.

»Ich hasse alles, was raschelt«, sagte Laura.

»Manche von denen rascheln und gleiten«, sagte ich. Es war eine idiotische Unterhaltung, und ein Teil von mir konnte nicht glauben, dass wir sie führten. Der andere Teil dagegen … der andere Teil konnte es auch nicht glauben, aber irgendwann hatten wir uns so müde geredet, dass wir schlafen konnten.

Morgens frühstückten wir gemeinsam mit Hervé und Mimi, eine Veranstaltung, die ganz im Zeichen summender