„Fertig!“

Mit diesem Ausruf endet es immer, wenn ich ein Buch geschrieben habe. Und so rief ich auch diesmal „Fertig!“ – allerdings leiser als sonst. Es war kurz vor Weihnachten, ich hatte mich hinter meinen Schreibtisch verkrochen und tagelang eine Geschichte geschrieben, die mir einige Wochen zuvor eingefallen war. In jedem Fall war alles am 22. Dezember fertig. Und dann ging es für mich in die Ferien. Doch die Geschichte von Julian hing mir noch lange nach. Es klingt vielleicht komisch, aber irgendwie tat er mir leid. Wie konnte ihm nur so viel Mist passieren? Ich überlegte sogar, die Geschichte noch einmal umzuschreiben.

Am Ende (mittlerweile waren die Ferien vorbei) ließ ich alles so, wie es war. Ich kam zu dem Schluss, dass einem solche Dinge passieren können, wenn man seinen Kummer und seine Wut zu lange hinunterschluckt. Julian hatte sich zu viel gefallen lassen und nicht „Stopp!“ gerufen, wenn ihn etwas nervte. Und dann … Aber lies jetzt selbst, was mit Julian geschah!

Einen herzlichen Gruß!

Armin Kaster

Über die Rechtsberaterin

Ulrike Hinrichs arbeitet als selbstständige Rechtsanwältin, Mediatorin und Coach in Hamburg und Berlin. Zudem ist sie Dozentin für Recht und Ausbilderin für Mediation.

Die Autorin engagiert sich für das ehrenamtliche Projekt des Berliner Anwaltsvereins „Anwälte gehen in die Schule“, bei dem sie ihm Rahmen von Schulbesuchen Jugendlichen zu Fragen rund um das Thema Recht Rede und Antwort steht.

Im Verlag an der Ruhr sind von Ulrike Hinrichs erschienen:

 ZuRecht finden. Lexikon und Rechtsratgeber für Jugendliche.

 Unsere Tochter nimmt nicht am Schwimmunterricht teil.
50 religiös kulturelle Konfliktfälle in der Schule und wie man ihnen begegnet.

Webseite der Autorin:

www.verhandlungsraum.de

„Hau ihn weg!“

Hannes fing an, zu lachen.

Doch Julian beachtete seinen älteren Bruder nicht. Ein kurzer Sprung, dann kam er wieder auf die Beine. Gerade war er mit einem Skater zusammengeprallt und dabei gestürzt.

Anfängerfehler. Mehr nicht.

„Hey, Julian, pass auf!“, rief Hannes.

Jetzt raste ein Auto auf Julian zu und hätte ihn fast erwischt.

„Das war knapp“, lachte Hannes und schlug Julian auf die Schulter.

„Nix passiert“, sagte Julian.

Mit ein paar Sätzen war er auf der anderen Straßenseite. Er musste über einen hohen Zaun klettern.

Dahinter lag eine Villa mit einer Auffahrt, die so breit wie ein Highway war. Überall wuchsen Blumen und exotische Pflanzen.

„Whoa!“, rief Julian.

Schnell sprang er über die Auffahrt zum Eingang der Villa und verschanzte sich hinter einer Marmorsäule.

„Und jetzt?“, fragte Hannes.

„Wart ab …“, erwiderte Julian.

In dem Moment flog die Tür auf und ein Mann mit einer riesigen Knarre trat ins Freie.

Er sah sich um. Aber Julian war hinter der Säule gut versteckt.

„Ich muss hinters Haus!“, sagte Julian.

Ein Weg führte neben der Villa in einen Garten mit Swimmingpool. Unter einem ausladenden Sonnenschirm lag eine Frau im Liegestuhl und schlürfte einen Drink. Julian betrat das Haus durch den Hintereingang.

„Alter, sieh dir das an!“ Hannes rückte näher. In der großen Eingangshalle befanden sich mehrere Statuen aus Gold. An der Decke hing ein gigantischer Kronleuchter. Und am Fuß der Treppe stand ein Tisch, auf dem ein schwarzer Koffer lag.

„Da sind die Juwelen drin“, sagte Julian.

Er wollte sich gerade den Koffer schnappen, als der Typ mit seiner Knarre ins Haus stürzte. „Schieß!“, rief Hannes.

Doch der Typ war schneller. Er drückte mehrmals ab und Blut spritzte durch die Eingangshalle. Julians Spieler fiel nach vorn und blieb zuckend in der eigenen Blutlache liegen.

Große, gelbe Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm:

Mission fehlgeschlagen!

„Mensch, Julian“, lachte Hannes und schlug seinem Bruder auf die Schulter. „Du bist und bleibst ein Loser.“

„Na, und?“, entgegnete Julian.

Er schob die Tastatur nach vorn und lehnte sich zurück.

Hannes stand in Trainingsklamotten neben ihm. Er war auf dem Weg ins Fitnessstudio. Bei genauer Betrachtung war Hannes fast doppelt so breit und einen Kopf größer als Julian. Außerdem hatte er seit zwei Wochen seinen Führerschein und fuhr ständig durch die Gegend. Er machte, was er wollte.

Und Julian?

Er war 15, Fahrradfahrer und ein mittelmäßiger Schüler.

Und gerade hatte er vor Hannes’ Augen die erste Szene seines neuen Computerspiels L.A. Fight vergeigt. Und zwar zum fünften Mal. Ein echt beschissenes Gefühl.

„Kannst du mal eben runterkommen?

Wir müssen den LKW abladen!“

Am Fuß der Treppe stand Julians Vater.

„Ich komme ja“, antwortete Julian.

Der Vater starrte auf einen Zettel.

„Laut Lieferschein müssten es 108 Heizkörper sein“, sagte er.

„Was???“ Julian fiel die Kinnlade runter. 108 Heizungen ausladen war keine leichte Sache. Er sah sich um, aber Hannes fuhr gerade vom Hof. Hanteln stemmen im Fitnessstudio. Es war typisch für Hannes, dass er sich im richtigen Moment verdrückt hatte und die anderen arbeiten ließ.

„Träumst du?“

Julians ältester Bruder Mike stand bereits vor dem LKW und stemmte den ersten Heizkörper.

„Was macht ihr mit dem Zeug?“, fragte Julian.

„Sind für das Heine-Gymnasium. Die bekommen eine komplett neue Heizungsanlage“, antwortete Mike und ging an Julian vorbei.

„Hier, junger Mann, nicht schlafen!“, rief der LKW-Fahrer und schob die nächste Heizung an die Laderampe.

„Oh mein Gott!“, stöhnte Julian, als er das Gewicht auf seinem Rücken spürte.

„Das musste ich in meiner Ausbildung jeden Tag machen“, sagte Julians Vater, der sich mühelos die nächste Heizung auf die Schulter legte und an ihm vorbei ins Lager lief.

„Ich bin aber noch Schüler!“, rief ihm Julian hinterher. Im Gegensatz zu Mike hatte Julian keine Lust, in dem Familienbetrieb zu arbeiten. Karl Hirschlander – Heizung und Sanitär stand auf der Tür und den Firmenwagen.

„Du könntest trotzdem mal ans Arbeiten denken, anstatt nur rumzuhängen“, entgegnete sein Vater.

Julian hörte so etwas nicht zum ersten Mal.

In den Augen seines Vaters war er faul.

Dabei ging er in die zehnte Klasse und würde vielleicht die Quali für die gymnasiale Oberstufe schaffen.

Ohne ein weiteres Wort stiefelte Julian mit der Heizung ins Lager. Nach einer halben Stunde waren alle Geräte verstaut.

„Wir können Essen“, meldete sich Julians Mutter aus der Küche. Mike und sein Vater liefen an Julian vorbei und setzten sich. Julian deckte mit seiner Mutter den Tisch. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Vater und Mike bedient wurden. Sie verdienten das Geld, von dem die Familie lebte. Hannes zahlte jeden Monat etwas von seinem Lohn, den er in der Tankstelle bekam. Damit durfte er im Haushalt weniger machen.

Julian kam sich dagegen wie das fünfte Rad am Wagen vor. Als müsste er dafür dankbar sein, hier leben zu dürfen. Für seinen Vater zählte Leistung. Und nur wer arbeitete, leistete was. Als Schüler hatte Julian schlechte Karten bei ihm.

„Julian?“, sagte seine Mutter. „Kannst du heute mal bitte bei Oma und Opa vorbeischauen?“

„Och nee ...!“, rief Julian.

Auch wenn er seine Großeltern mochte, fand er es bei ihnen todlangweilig. Mindestens einmal in der Woche besuchte er sie aber, weil seine Mutter ihn dazu drängte. Er hörte sich die alten Geschichten an und aß mit ihnen.

„Ich bin verabredet“, fügte er hinzu.

„Ist gut“, sagte die Mutter leise. Sie stellte mit enttäuschtem Gesicht die Schalen auf den Tisch.

„Hannes kann auch mal zu Oma und Opa“, sagte Julian.

„Wo ist der überhaupt?“, fragte Mike.

„Im Studio“, sagte die Mutter.

Der Vater schüttelte den Kopf. „Hat der auch mal was anderes im Kopf als seinen Körper?“

„Klar“, sagte Mike. „Den Körper seiner Freundinnen.“

Der Vater lachte.

„Nun fangt an, zu essen“, sagte die Mutter.

Ihr gefiel es nicht, wenn die Brüder schlecht übereinander sprachen.

Aber Hannes wechselte seine Freundinnen wirklich oft. Für Julian war er alles andere als ein Vorbild. Auch wenn er sich oft wünschte, etwas von Hannes’ Lockerheit zu haben.

„Und wie läuft es in der Schule?“, fragte der Vater und sah Julian an.

„Geht so …“, sagte Julian.

Es gefiel ihm nicht, wenn er ausgefragt wurde.

„Und was heißt das?“, bohrte der Vater nach.

„Alles o. k.“, murmelte Julian.

„Geht das auch genauer?“ Der Vater klang genervt.

In dem Moment klingelte das Handy.

„Hirschlander“, meldete sich die Mutter.

„Ja, er ist da. Moment mal.“

Sie wandte sich dem Vater zu.

„Ein Wasserrohrbruch in der Augustastraße. Könnt ihr das machen?“

Der Vater nahm das Telefon.

„Ja, hallo“, sagte er und lächelte. „Aber sicher, wir kommen sofort. Nein, das ist kein Problem.“

Julian beobachtete seinen Vater und wie er sich von einer auf die andere Sekunde verändert hatte. Sobald ein Kunde anrief, wurde er übertrieben freundlich und nett. So war es immer. Das Motto des Vaters lautete: „Der Kunde ist König“. Julian fand das verlogen. Fast schämte er sich für seinen Vater. Denn zu Hause war er oft ganz anders als gegenüber Fremden. Und wenn Julian eines nicht mochte, dann war das Schleimerei – vor allem, wenn es seinen Vater betraf.

„Wir reden heute Abend weiter“, sagte dieser beim Aufstehen. Er warf Julian einen kurzen Blick zu, in dem so etwas wie eine Drohung lag.