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INHALT

 

BESCHLEUNIGER

TECHNIK

Teilchenschleudern der Zukunft

Gerhard Samulat

Welches Forschungsgerät könnte den gigantischen Large Hadron Collider LHC demnächst ergänzen oder gar übertreffen?

INTERVIEW

»Da muss noch mehr sein!«

Joachim Mnich, Direktor für Teilchen- und Astroteilchenphysik am Deutschen Elektronen-Synchrotron, erwartet Überraschungen vom LHC.

PHYSIK VON MORGEN

QUANTENFELDTHEORIE

Was ist real?

Meinard Kuhlmann

Jenseits der klassischen Physik existieren Teilchen und Felder nur noch als Bündel von Eigenschaften wie Masse und Ladung.

QUANTENGRAVITATION

Vom Higgs zur Weltformel

Dieter Lüst

Das Higgs-Boson komplettiert das Standardmodell der Teilchenphysik. Lässt der LHC auch Fortschritte bei der Stringtheorie erhoffen?

SUBATOMARE STRUKTUREN

Das Innenleben der Quarks

Don Lincoln

Quarks und Leptonen besitzen keine Struktur – das ist herrschende Lehrmeinung. Aber es gibt Hinweise, dass es auch anders sein könnte.

THEORETISCHE PHYSIK

Supersymmetrie in der Krise

Joseph Lykken und Maria Spiropulu

Seit Jahrzehnten tüfteln Verfechter der Supersymmetrie an ihrer eleganten Theorie. Bestätigt sie sich jedoch nicht bald in Experimenten, steht ein Paradigmenwechsel bevor.

JENSEITS DES STANDARDMODELLS

Ultraleichten Teilchen auf der Spur

Joerg Jaeckel, Axel Lindner und Andreas Ringwald

Einige Physiker suchen extreme Leichtgewichte unter der Materie.

NEUTRINOFORSCHUNG

SELTSAME WECHSELWIRKUNGEN

Neue Physik mit Neutrinos

Martin Hirsch, Heinrich Päs und Werner Porod

Die seltsamen Teilchen lassen sich nur mit gewaltigem Aufwand aufspüren. Der Lohn dafür sind revolutionäre Erkenntnisse.

RIESENDETEKTOREN

Große Geheimnisse um kleine Teilchen

Marianne Göger-Neff, Lothar Oberauer und Stefan Schönert

Forscher enträtseln die letzten unbekannten Eigenarten der Neutrinos – und nutzen sie, um das All zu erkunden.

BAUSTEINE DES ATOMKERNS

LADUNGSRADIUS

Das Proton-Paradoxon

Jan C. Bernauer und Randolf Pohl

Zwei Präzisionstests lieferten verschiedene Werte für den Protonenradius. Dahinter könnte ein bisher unbekanntes Phänomen stecken.

KERNPHYSIK

Reise ins Innere des Neutrons

Timothy Paul Smith

Die ungeladenen Neutronen erscheinen beim atomaren Tanz wie unbeteiligte Zuschauer. Doch auch sie haben es in sich!

Titelmotiv: blaue Kugel: iStock / Ostap Bender [M]; gelbe Kugeln: iStock / Vladislav Ergardt; Hintergrund: Danush Naghib; Composing: Spektrum der Wissenschaft/Anke Heinzelmann

 

 

 

 

EDITORIAL

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Mike Beckers
Redakteur dieses Hefts

Beschleuniger brauchen Geduld

Wenn im Frühjahr 2015 die Wissenschaftler des Large Hadron Collider LHC den weltgrößten Teilchenbeschleuniger wieder hochfahren, werden sie den Eindruck haben, als arbeiteten sie mit einer ganz neuen Maschine. Während der zweijährigen Pause statteten die Forscherteams ihre hausgroßen Detektoren in den riesigen Kavernen mit neuen Bauteilen und besseren Programmen aus. Vor allem aber verdoppelt sich nun die Energie, mit denen die Teilchenstrahlen im 27 Kilometer langen Tunnel kollidieren. Der LHC reizt endlich seine Leistungsfähigkeit voll aus. Doch selbst dieser gigantische unterirdische Ring bei Genf wird nur ein Zwischenschritt bleiben. Physiker denken immer bereits an die nächste Riesenmaschine, kaum dass ein Projekt fertig gestellt wurde.

Im gleichen Tunnel schleuderte ab 1989 der Large Electron Positron Collider LEP Elektronen auf ihre Antiteilchen. Der LEP war noch im Bau, da überlegten die Forscher schon, welche Maschine ihm folgen würde – die ersten Konzepte für den LHC erstellten Arbeitsgruppen bereits 1984. Nun erst ernten die Teilchenphysiker mit dem LHC die erhofften Erkenntnisse. Das bisher wichtigste: 2012 entdeckten sie das Higgs-Boson. Peter Higgs erlebte dieses Ereignis rund 50 Jahre, nachdem er und andere Theoretiker das Teilchen erstmals vorhergesagt hatten.

Weitere Durchbrüche erfordern vielleicht einen noch längeren Atem. Selbst die Supersymmetrie, die lange als vielversprechendste Erweiterung des erfolgreichen Standardmodells galt, schwächelt. Den Physikern bleibt nichts übrig, als die bestehenden Theorien mit größtmöglicher Präzision zu überprüfen.

Hoffnung macht möglicherweise eine Geschichte aus den 1880er Jahren. Die Physiker Albert A. Michelson und Edward W. Morley erfanden hochpräzise Tests, mit dem sie die Eigenschaften des damals weithin akzeptierten Äthers überprüfen wollten. Relativ zu diesem Medium sollte sich das Licht bewegen. Doch sie stellten fest, dass der Äther gar nicht existierte. Erst dieser scheinbare Fehlschlag bereitete Einsteins spezieller Relativitätstheorie den Weg.

Wenn heute die Teilchenphysiker mit dem LHC ihre Lieblingserklärung testen, das Standardmodell, ist daher vielleicht sogar zu hoffen, dass sie einen Fehler finden, der durch keine geschickte Modifikation mehr auszubügeln ist. Aus dieser Krise könnte ein neues Weltbild hervorgehen, und aus dem Wunsch, eine bestehende Theorie zu präzisieren, eine vollkommen andere.

Möglicherweise bewertet auch eine der nächsten Generationen in der gleichen Weise unser Standardmodell, unsere Quantenphysik und unser Verständnis vom Universum, wie wir heute das ptolemäische Weltbild betrachten, in dem alle Himmelskörper die Erde auf hochkomplexen Bahnen umkreisten – als gewitzte, aber überbordend umständliche und von Grund auf falsche Weltsicht voller Flickwerk und Fehlannahmen. Doch bis dahin sind die heutigen Projekte genau so logisch und notwendig wie vor mehr als einem Jahrhundert die Experimente von Michelson und Morley. Gerade darum ist dieser Weg so aufregend: nicht trotz, sondern wegen all der Ungereimtheiten.

 

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TECHNIK

Teilchenschleudern der Zukunft

Kaum liefert der Large Hadron Collider erste Ergebnisse, zerbrechen sich Physiker bereits den Kopf, welches Forschungsgerät den gigantischen Ringbeschleuniger demnächst ergänzen oder gar übertreffen könnte. Sie haben für dieses Ziel gleich mehrere Pfeile im Köcher.

Von Gerhard Samulat

AUF EINEN BLICK

LINEARE PARTIKELKANONEN

1 Experimentalphysiker konzipieren bereits künftige Beschleunigergenerationen – denn Planung, Konstruktion und Bau großer Forschungsgeräte dauern oft Jahrzehnte.

2 Die nächste gigantische Partikelschleuder wird höchstwahrscheinlich nicht ringförmig sein wie der Large Hadron Collider, sondern ein Linearbeschleuniger, in dem Teilchen geradeaus laufend auf höchste Energien gebracht werden.

3 Beispielsweise soll der geplante International Linear Collider ILC aus zwei gegeneinander gerichteten kilometerlangen Teilchenkanonen bestehen, die Elektronen und deren Antiteilchen – Positronen – zur Kollision bringen.

Mit dem Nachweis des Higgs-Bosons hat der Large Hadron Collider (LHC) seinem Ruf als Entdeckungsmaschine alle Ehre gemacht. Nun soll die 27 Kilometer im Umfang messende Protonenschleuder am Forschungszentrum CERN in der Nähe von Genf weitere Geheimnisse der Materie enträtseln und Hinweise auf eine neue Physik liefern. Denn die Wissenschaftsgemeinde ist davon überzeugt: Das bislang überaus erfolgreiche Standardmodell der Teilchenphysik kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Für Präzisionsmessungen ist der LHC allerdings nur beschränkt geeignet. Das liegt an den Geschossen, die er nutzt: wahlweise Protonen oder Kerne von Bleiatomen. Bei beiden handelt es sich um zusammengesetzte Teilchen. Atomkerne bestehen aus Neutronen und Protonen, und auch einzelne Protonen offenbaren bei hohen Energien ihren inneren Aufbau aus drei Quarks, die über so genannte Gluonen fest miteinander verklebt sind. Die Klebeteilchen – die Quanten der starken Kernkraft – können ihrerseits aus dem Nichts heraus kurzlebige Quark-Antiquark-Paare bilden, die sofort wieder verschwinden. Daher gleicht das Proton einer klumpigen Suppe aus realen und virtuellen Teilchen und Antiteilchen sowie Gluonen. Wenn nun zwei dieser Suppenschüsseln heftig zusammenstoßen, kann niemand genau sagen, was passiert: Trifft ein Quark auf ein anderes Quark? Oder auf ein Gluon, das sich bei hohen Kollisionsenergien wie ein massives Teilchen verhält? Oder prallen zwei Gluonen aufeinander?

Da sich die Energie eines Protons auf all seine Bestandteile verteilt, setzt eine Kollision nur etwa ein Sechstel der maximal 14 Teraelektronvolt (TeV) frei, für die der LHC derzeit aufgerüstet wird. Ein TeV entspricht der Energie eines einfach geladenen Teilchens, das eine elektrische Spannung von einer Billion (1012) Volt durchlaufen hat. Den Löwenanteil der Kollisionsenergie nehmen die erzeugten Bruchstücke mit. Sie flitzen nach der Kollision durch die Nachweisgeräte und sorgen dort für viel Durcheinander. Die Experimentatoren sprechen lapidar von Untergrundereignissen, aus denen sie die gesuchten Vorgänge herausklauben müssen wie die berüchtigte Nadel im Heuhaufen. Die Suche ist besonders mühsam, weil die Kollisionspartikel der starken Kernkraft unterliegen, die sich nur näherungsweise mit aufwändigen Computersimulationen berechnen lässt.

Viel übersichtlicher verlaufen Begegnungen von Elektronen und ihren Antiteilchen, den Positronen. Die beiden Partikel gehorchen der elektroschwachen Wechselwirkung und zerstrahlen durch Paarvernichtung vollständig. Aus der gesamten Masse und kinetischen Energie entsteht gemäß Einsteins berühmter Formel E = mc2 neue Materie. Solche Experimente sind daher verhältnismäßig leicht zu interpretieren. Damit würden sich offene Fragen zum Higgs-Boson viel einfacher klären lassen – beispielsweise, ob es elementar ist oder zusammengesetzt und ob es eventuell unterschiedliche Arten davon gibt.

Dennoch handelt es sich um eine große Herausforderung. Die maximal mögliche Energie eines Protonenbeschleunigers wird nur durch die Gesamtstärke der Magnetfelder begrenzt, welche die Teilchen auf der Kreisbahn halten. Hingegen verlieren Elektron und Positron – im Vergleich zum Proton wahre Leichtgewichte – bei Geschwindigkeiten nahe der des Lichts in jeder Kurve gewaltig an Energie, und zwar in Form von Synchrotronstrahlung (siehe »Nanowelt im Röntgenlicht«, SdW 8/2011, S. 86). Diese besteht aus elektromagnetischen Wellen, die vom Infrarot über das sichtbare Spektrum bis hin zur harten Röntgenstrahlung reichen. Das erhitzt den Beschleuniger insgesamt, und zusätzlich belastet die intensive Röntgenstrahlung einzelne Komponenten.

Um den Energieverlust auszugleichen, müssen die Physiker unentwegt Leistung nachliefern. Die Größenordnungen sind gewaltig. Weltmeister der Beschleunigung von Elektronen und Positronen war der Large Electron Positron Collider (LEP) am CERN, der bis Ende 2000 in dem Tunnel lief, den nun der LHC besetzt. Die Teilchen prallten mit Energien von über 200 GeV (Milliarden Elektronvolt) aufeinander. Um den Strahlungsverlust auszugleichen, hielten supraleitende Radiofrequenz-Beschleunigungseinheiten mit zusammen fast 20 Megawatt Leistung die Teilchen auf Trab, die pro Umlauf – in rund einer zehntausendstel Sekunde – über drei Prozent ihrer Energie verloren. Dabei gilt: je höher die Energie, desto größer der Verlust. Um die Elektronen im LEP auf 500 GeV zu beschleunigen, hätte man daher den Beschleuniger auf einen kaum vorstellbaren Umfang von 200 Kilometern vergrößern müssen.

Aus diesem Grund werden künftige Elektron-Positron-Beschleuniger aller Voraussicht nach gerade verlaufen, das heißt Linearbeschleuniger sein. Damit geben die Konstrukteure jedoch einen wichtigen Vorteil kreisförmiger Teilchenschleudern auf: Die im Rund geführten, nahezu lichtschnellen Projektile tauchen – wenn sie sich nicht in einer Kollision vernichtet haben – nach jedem Umlauf wieder im Nachweisgerät auf. Mit einem Bündel von Teilchen können die Experimentatoren daher – je nach Umfang der Maschine – viele tausend Mal pro Sekunde Daten sammeln.

Zielen dagegen zwei Linearbeschleuniger aufeinander, dann geht das nur Schuss auf Schuss. Danach lassen sich die Projektile nicht mehr nutzen; ein neuer Beschleunigungsvorgang muss eingeleitet werden. Die Konsequenz: Die Trefferrate geht in den Keller, und die Experimentatoren müssen sich gedulden, bis sie die erhofften, sehr seltenen Ereignisse aus einer allmählich wachsenden Datenflut herausfischen können.

Um mit Linearbeschleunigern dennoch eine genügend hohe Trefferquote zu erreichen, nutzen die Konstrukteure supraleitende Beschleunigungsstrukturen, wie sie beispielsweise für den Röntgenlaser Flash am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg entwickelt wurden und demnächst im Europäischen Röntgenlaser XFEL zum Einsatz kommen werden.

Für zwei Typen von Linearbeschleunigern gibt es bereits durchdachte Konzepte. Die gewaltigen Maschinen sollen 30 bis 50 Kilometer lang sein. Ausschlaggebend dafür ist die Höhe der technisch erreichbaren Beschleunigungsspannung. Am weitesten gediehen sind die Pläne für den Internationalen Linearbeschleuniger ILC (siehe Grafik), an dessen Entwurf seit mehr als 20 Jahren gearbeitet wird. »Die Technik ist nun ausgereift«, sagt Lyn Evans, der schon für den Bau des Large Hadron Collider verantwortlich war und 2012 zum Chef der neu gegründeten Linear Collider Collaboration gewählt wurde: »Von uns aus könnte es jederzeit losgehen.«

Der ILC soll aus zwei aufeinander zielenden Linearbeschleunigern von insgesamt 31 Kilometer Länge bestehen. Über 16 000 Hochfrequenz-Hohlraumresonatoren aus dem seltenen Schwermetall Niob, das bei extrem tiefen Temperaturen supraleitend wird, sollen dort Elektronen und Positronen auf Trab bringen. Die Resonatoren erzeugen elektromagnetische Wellen einer Frequenz von 1,3 Gigahertz (Milliarden Schwingungen pro Sekunde), auf denen die zu beschleunigenden Teilchen reiten wie ein Surfer auf einer Brandung.

Supraleitende Beschleunigungsstrukturen senken zwar den Energieaufwand, benötigen aber flüssiges Helium als Kühlmittel. Somit ist es im Inneren der leer gepumpten Kavitäten bei zwei Kelvin (Grad über dem absoluten Nullpunkt) kälter als im Weltraum – und genauso luftleer. Gespeist werden die supraleitenden Hohlräume von gut 400 Hochfrequenzerzeugern, so genannten Klystrons. Für eine Anlage, die Teilchen auf 500 GeV beschleunigen soll, kalkulieren die Konstrukteure einen elektrischen Leistungsbedarf von 230 Megawatt. Prototypen solcher Resonatoren erreichen mittlerweile Beschleunigungsfelder von 35 Megavolt pro Meter. »Das haben unter anderem Experimente beim Freie-Elektronen-Laser Flash in Hamburg gezeigt«, sagt Joachim Mnich. Er ist Mitglied des International Committee for Future Accelerators (ICFA) und des DESY-Direktoriums (siehe Interview).

Um die Justierung des Strahls zu vereinfachen, werden die geladenen Teilchen zu kleinen Wolken – so genannten Bunchen, von englisch »bunch« für Bündel – zusammengefasst. Damit eine ausreichend hohe Kollisionsrate entsteht, müssen die Teilchenstrahlen extrem fein fokussiert werden: vertikal auf eine Höhe von bloß 70 Nanometern (Milliardstel Meter). Das geschieht mit starken Magnetlinsen vor dem Punkt, an dem sich die Strahlen kreuzen. Die Bunche aus Elektronen beziehungsweise Positronen sollen im ILC jeweils rund 20 Milliarden Teilchen enthalten und insgesamt etwa 14 000 Kollisionen pro Sekunde liefern.

Am ILC-Konzept arbeiten bereits gut 1000 Forscherinnen und Forscher aus aller Welt. Die Planungen sehen drei Etappen vor: Zunächst soll eine so genannte Higgs-Fabrik bei einer Kollisionsenergie von 250 GeV Präzisionsmessungen an dem neuen Teilchen durchführen. »Das ist ideal, um das bei rund 125 GeV am LHC entdeckte Boson genauer zu studieren«, sagt Mnich. In einer weiteren Ausbaustufe könnte der ILC mit 350 GeV Top-Antitop-Quarkpaare erzeugen. Damit ließe sich deren Masse zehnmal genauer bestimmen als heute. Das ist wichtig für Modelle der Supersymmetrie, die als Erweiterung des Standardmodells der Teilchenphysik diskutiert werden. Die dritte Energiestufe des ILC liegt bei 500 GeV. Bei diesem Wert könnten Forscher Higgs-Paare erzeugen und deren Selbstkopplungen untersuchen. Die Planungen erlauben überdies eine Verlängerung des Beschleunigers auf insgesamt 50 Kilometer. Dann würde der ILC Kollisionsenergien von einem Teraelektronvolt erreichen.

Das Konzept sieht darüber hinaus zwei Speicherringe mit einem Umfang von jeweils etwa drei Kilometern vor. Sie sorgen für eine gleichmäßige Energie- und Impulsverteilung der Elektronen und Positronen, bevor diese in die Linearbeschleuniger eingeschossen und auf ihre Endenergien beschleunigt werden. Die Teilchenpakete lassen sich dadurch besser bündeln, wodurch die Trefferrate steigt.

Zwei Nachweisgeräte sollen am ILC Daten sammeln: der International Large Detector (ILD) und der Silicon Detector (SiD). Beide werden bereits jetzt, zeitgleich mit dem Beschleuniger, von großen internationalen Teams geplant. »Der zeitliche Überlapp von ILC und LHC, dessen wissenschaftliches Programm bis 2030 läuft, ist relativ gering«, betont Mnich. Er hofft daher, dass die Diskussion über Standort und Finanzierung kurz ist. Derzeit scheint es auf einen Standort in der Nähe der japanischen Stadt Kitakami hinauszulaufen. Wenn man von einer Bauzeit von etwa zehn Jahren ausgeht, könnte der ILC gegen 2030 in Betrieb gehen.

Die Kosten für die Linearbeschleuniger taxieren die Wissenschaftler auf fast acht Milliarden »ILC-Einheiten«, das heißt US-Dollar im Wert von Januar 2012. Hinzu kommen Löhne für geschätzte gut 23 Millionen Arbeitsstunden und Aufwendungen für Vorarbeiten auf dem noch zu findenden Gelände, für die Nachweisgeräte sowie für den Betrieb des Beschleunigers. Alles in allem gewiss kein billiges Unterfangen. Eine Alternative zum ILC entwickeln Wissenschaftler am CERN mit dem so genannten Treiberstrahlkonzept. Erste Pläne gab es bereits Ende der 1980er Jahre. Auch hier sollen Linearbeschleuniger Elektronen gegen Positronen schießen. Trotz des namengebenden Anspruchs, kompakt zu sein, soll der künftige Compact Linear Collider (CLIC) eine Länge von bis zu 50 Kilometern haben. Zunächst auf 3 TeV ausgelegt, soll er letztlich Energiebereiche bis zu 5 TeV erschließen. Als erste Ausbaustufe wäre aber auch eine kürzere Maschine mit 500 GeV Energie denkbar.

Der Grundgedanke des Treiberstrahlkonzepts: So genannte Power Extraction and Transfer Structures (PETS, Leistungsüberträger) übertragen die Dynamik eines niederenergetischen, aber intensiven Elektronenstrahls von etwa 100 Ampere Stromstärke auf einen zweiten Strahl, dessen Stromstärke 100-mal geringer ist. Dieser wird vom ersten Strahl sozusagen ins Schlepptau genommen und beschleunigt. Für das Verfahren hat sich der englische Begriff »two-beam acceleration« (Zweistrahlbeschleunigung) eingebürgert.

Zunächst bringen zwei rund 2,5 Kilometer lange Linearbeschleuniger mit jeweils rund 800 Klystrons die Elektronen des Treiberstrahls auf knapp 2,4 GeV. Zwei Kreisbeschleuniger sammeln die Elektronen, bevor die PETS sie auf 240 MeV abbremsen. Dieser Vorgang induziert leistungsstarke Hochfrequenzfelder, die über so genannte Wellenleiter – in der Regel Hohlprofile aus Metall – auf den rund einen halben Meter neben dem Treiberstrahl parallel laufenden Hauptbeschleuniger übertragen werden. Die Hochfrequenzfelder beschleunigen dann Elektronen und Positronen auf Energien von einigen Teraelektronvolt. Testanlagen am CERN erreichen auf diese Weise bereits Beschleunigungsspannungen von 145 Megavolt pro Meter. Da supraleitende Elemente derart hohe Werte nicht schaffen, wird CLIC als »warme« Maschine konzipiert.

Um eine ähnlich leistungsstarke Maschine mit herkömmlichen Hohlraumresonatoren zu bauen, wären mindestens 35 000 Klystrons mit je 50 Megawatt Leistung nötig – zu unbezahlbaren Bau- und Stromkosten. Aber auch so lässt sich der immense Leistungsbedarf nicht lange aufrechterhalten. Nach Berechnung der Kollaboration frisst CLIC rund 9,2 Terawatt und muss darum gepulst arbeiten. Er soll pro Sekunde 50-mal anlaufen, wobei jeder Zyklus knapp 250 Nanosekunden dauert. In dieser Zeit wollen die Physiker jeweils 300 Teilchenpakete mit nur 0,5 Nanosekunden Abstand auf Trab bringen – was wiederum die Hohlraumresonatoren aus dem Takt zu bringen und die Effizienz der Energieübertragung zu verringern droht. »Bis CLIC eine solche Reife hat wie der ILC, werden daher wohl noch 15 bis 20 Jahre ins Land gehen«, meint Joachim Mnich.

Die Trennung von Treiber- und Experimentierstrahl hat aber den Vorteil, dass sich beide Komponenten separat optimieren lassen. Zudem übertragen sich elektrische Instabilitäten, die bei einem Treiberstrahl so hoher Stromstärke zu erwarten sind, nicht auf den Hauptstrahl.

Um auf eine befriedigende Trefferrate zu kommen, dürfen die Strahlen am Wechselwirkungspunkt nicht höher und breiter als einige Nanometer sein. Diese Bedingung ist etwa 1000-mal anspruchsvoller als beim LHC. Da die Strahlen auf einige Nanometer genau justiert werden müssen, stören selbst die Vibrationen des Erdbodens gewaltig. Studien am japanischen Beschleunigerzentrum KEK zeigten jedoch, dass sich eine Folge von Teilchenpaketen rasch nachjustieren lässt. Steuerelektronik und Magnetführung reagieren flink genug, um nach Durchgang der ersten Teilchenpakete den nachfolgenden Strahl auf 30 bis 50 Nanometer genau auszurichten. Dennoch ist noch viel Feinarbeit nötig.

Auch das Erzeugen des Treiberstrahls ist eine Herausforderung. Die fast lichtschnellen geladenen Teilchen induzieren elektromagnetische Felder in den Wänden des Vakuumrohrs und der Hohlraumresonatoren. Diese Streufelder wirken auf den Strahl zurück und können ihn unbrauchbar machen. Zudem machen die starken Beschleunigungsfelder Probleme. An den Innenflächen dürfen keine Entladungen auftreten. Schon der kleinste Funke hätte fatale Folgen: Er würde die Beschleunigungseinheit ruinieren. Darum müssen die Wandungen extrem glatt sein.

Für den CLIC sind zwei Nachweisgeräte vorgesehen (siehe Grafik), die sich den Kollisionspunkt teilen. Die entsprechenden Entwicklergruppen arbeiten eng mit denen der ILC-Detektorentwicklung zusammen. Mittlerweile hat sich das Projekt zu einem internationalen Unterfangen gemausert, an dem mehr als 20 Nationen beteiligt sind. Erste Kostenschätzungen liegen derzeit bei etwa acht Milliarden Euro für die 300-GeV-Version des CLIC.

Auf dem so genannten Wakefieldprinzip beruhen die Plasmabeschleuniger. »Mit starken Lasern oder hochenergetischen Teilchen regen wir in einer Wolke aus Wasserstoffionen und Elektronen Dichtewellen an«, erläutert Jens Osterhoff, Leiter der Nachwuchsgruppe für Plasmabeschleunigung am DESY in Hamburg. Dabei entstehen im Plasma elektrische Feldunterschiede von mehr als 100 Gigavolt pro Meter, in deren Kielwasser (Wakefield) Elektronen rasch an Energie gewinnen. »Dadurch lassen sich Teilchen innerhalb von wenigen Zentimetern auf einige GeV beschleunigen«, sagt Osterhoff – zumindest theoretisch. Sein persönlicher Rekord liegt derzeit bei immerhin 800 MeV (siehe Bild).

Solche Werte würden schon reichen, meint Osterhoff, um damit Vorbeschleuniger für die erwähnten Röntgenlaser Flash oder European XFEL in Hamburg zu betreiben; die würden dadurch deutlich kompakter. Derzeit benötigt Flash eine Beschleunigungsstrecke von über 80 Metern, um Elektronen auf eine Energie von 1,25 GeV zu bringen. »So viel Energie schafft das hier auch«, sagt Osterhoff und zeigt ein drei Zentimeter langes Stück aus transparentem Saphir, in das winzige Kanäle eingebracht wurden. Allerdings ist die Qualität des aus dem Plasma herausschießenden Strahls noch unzureichend, schränkt der Physiker ein – unter anderem wegen der mangelnden Güte des Plasmas, die sich nur extrem schwer kontrollieren lässt.

Ein heikles Problem ist das Timing: Die zu beschleunigenden Teilchen müssen sofort nach Anregung des Plasmas auf Femtosekunden (10−15 Sekunden) genau eingeschossen werden. Außerdem lassen sich die Beschleunigungseinheiten nicht einfach beliebig hintereinanderschalten wie herkömmliche Resonatoren, denn zwischen den Plasmaeinheiten müssen Spiegel immer wieder neue Laserimpulse einkoppeln. Einen Dauerbeschuss mit hochenergetischen Elektronen und den dafür nötigen Höchstleistungslasern hielte kein Material lange aus. Bis die Plasmabeschleuniger den Kinderschuhen entwachsen sind, gibt es also noch viel zu tun.

Muss es überhaupt ein Linearbeschleuniger sein? Nicht unbedingt – es gibt tatsächlich auch Konzepte für kompakte Kreisbeschleuniger, die bis in den TeV-Bereich vordringen könnten. Um das Problem der Energie fressenden Synchrotronstrahlung zu umgehen, schlug der sowjetische Physiker Gersch Izkowitsch Budker (1918–1977) schon 1969 einen Speicherring für Myonen vor. Die schweren Verwandten der Elektronen haben über 200-mal mehr Masse und verlieren daher auf Kreisbahnen um gut zehn Größenordnungen weniger Strahlungsenergie. Myonen lassen sich zudem relativ einfach mittels hochenergetischer Protonen erzeugen, die auf ein Ziel aus flüssigem Quecksilber geschossen werden und dort Paare von Myonen und Antimyonen produzieren. Entsprechende Versuche finden derzeit in den Vereinigten Staaten am Fermi National Accelerator Laboratory bei Chicago (Illinois) statt, in Großbritannien am Rutherford Appleton Laboratory sowie am CERN.

Um experimentell brauchbare Myonenpakete zu erhalten, müssen die Physiker die Energien und Impulse der einzelnen Teilchen angleichen. Das bewerkstelligen normalerweise spezielle, dem Hauptbeschleuniger vorgeschaltete Speicherringe, in denen die Teilchen gezielt Synchrotronstrahlung abgeben – die schnellen mehr, die langsameren weniger. Da Myonen aber überhaupt nur sehr wenig abstrahlen, dauert dieser Vorgang entsprechend lange. Als aufwändige Alternative kommen enorm starke Magnete sowie Absorber aus flüssigem Wasserstoff in Frage.

Viel Zeit haben die Experimentatoren dafür nicht, denn die Myonen sind instabil. Innerhalb von gut zwei Mikrosekunden zerfallen sie in Elektronen und Neutrinos. Letztere reagieren zwar nur äußerst schwach mit Materie, doch große Mengen hochenergetischer Neutrinos beeinflussen dennoch ihre Umgebung. Wegen der unzähligen Myonen, welche die Physiker für aussagekräftige Versuche benötigen, würden neben den drei bekannten radioaktiven Strahlensorten α, β und γ – für Heliumkerne, Elektronen und Photonen – Neutrinos zur vierten Gefahr. Die erwartete Strahlenbelastung wäre so hoch, dass die Physiker Myonenbeschleuniger – falls es sie jemals geben wird – tief unter der Erde vergraben müssten.

Solche Apparate würden dafür deutlich präzisere Ergebnisse liefern. Das ist der große Vorteil der geringen Synchrotronstrahlung von Myonen. Bei Elektronen und Positronen ist sie selbst am Wechselwirkungspunkt noch so stark, dass sich die Teilchenbündel dort gegenseitig stören – was die Trefferrate beeinträchtigt. Noch ist all das Zukunftsmusik. Nach Expertenmeinung wird man erst nach mindestens zehn Jahren Forschung und Entwicklung abschätzen können, ob sich Myonenbeschleuniger überhaupt realisieren lassen. Bis die neuen Konzepte greifen, wird darum der Large Hadron Collider allein die gesamte Experimentierarbeit leisten.

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DER AUTOR

Gerhard Samulat ist Diplomphysiker und arbeitet als Journalist für Wissenschaft und Technik in Wiesbaden.

QUELLEN

DESY Inform: ILC veröffentlicht Technical Design Report. Teilchenbeschleuniger der nächsten Generation ist baureif.

www.desy.de/aktuelles/@@news-view?id=5501&lang=ger

Shiltsev, V.: When Will We Know a Muon Collider is Feasible? Status and Directions of Muon Accelerator R&D.

arxiv.org/pdf/1003.3051

LITERATURTIPP

Samulat, G.: Ring der Erkenntnis. In: Spektrum der Wissenschaft 9/2006, S. 80–87

Detaillierte Vorstellung des LHC in der Planungsphase

WEBLINKS

Compact Linear Collider (CLIC): http://clic-study.org/

DESY-Gruppe für Plasmabeschleunigung: http://plasma.desy.de/

International Linear Collider (ILC): www.linearcollider.org/

Die Websites zu den verschiedenen Projekten bieten umfangreiche weiterführende Informationen.

Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1207574

INTERVIEW

»Da muss noch mehr sein!«

Joachim Mnich erwartet wichtige Entdeckungen durch zukünftige Beschleunigergenerationen. Er ist Mitglied des International Committee for Future Accelerators (ICFA) und Direktoriumsmitglied des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY in Hamburg.

Joachim Mnich ist Direktor für den Bereich Teilchen- und Astroteilchenphysik beim Deutschen Elektronensynchrotron DESY in Hamburg.

Spektrum der Wissenschaft: Nun, da das Higgs-Teilchen offensichtlich gefunden ist: Wofür brauchen wir noch neue Beschleuniger?

MNICH: Vorsicht! Noch wissen wir nicht, ob es sich bei dem im Large Hadron Collider (LHC) gefundenen Teilchen um dasjenige Higgs-Boson handelt, welches das Standardmodell vervollständigt, oder ob es nur eines von mehreren ist, wie sie die Supersymmetrie vorhersagt. Um das herauszufinden, müssen wir die Eigenschaften dieses Teilchens genauer studieren. Das jetzt gefundene Higgs hat uns immerhin den Gefallen getan, eine Masse zu haben, bei der wir viele verschiedene Zerfallskanäle studieren können. Leider ist die Interpretation der Daten außerordentlich schwierig. Zudem kann der LHC nicht alle Zerfallskanäle exakt vermessen. Der Fund ist jedoch eine starke Motivation für eine Anlage, die wir als Higgs-Fabrik bezeichnen. Das wird voraussichtlich ein Linearbeschleuniger sein, der Elektronen und Positronen aufeinanderschießt. Damit ließen sich Präzisionsmessungen durchführen.