Cover

Gewaltloser Rebell.Die Lebensgeschichte des Mahatma Gandhi

Impressum

Soweit nicht anders angegeben, sind die Dialoge in der vorliegenden Biografie fiktional, sie beruhen aber auf historischen Ereignissen.

Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich:

(978-3-407-81212-4)

www.beltz.de

© 2016 Beltz & Gelberg

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Dorothee Wahl

Einbandgestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: akg-images

Rechte- und Fotonachweis im Anhang

E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

ISBN 979-3-407-74666-5

Inhalt

Prolog
Mut, der die Angst bezwingtEin Nachmittag in Indien, 1881

Kapitel 1
Wahrheit, Sex und das erste GelübdeKindheit und Jugend in Indien, 1869–1888

Kapitel 2
Die Bhagavadgita, die zur Enthaltsamkeit führtStudium in London, 1888–1891

Kapitel 3
Alles andere als geschäftstüchtigErste Jahre als Anwalt in Indien, 1891–1893

Kapitel 4
Feigheit oder Mut?Erfolgreicher Anwalt in Südafrika, 1893–1901

Kapitel 5
Ein neues TalentErfolgreicher Anwalt in Indien, 1901–1902

Kapitel 6
Das Leben der einfachen MenschenGeburt der Satyagraha in Südafrika, 1902–1915

Kapitel 7
Die große Seele kehrt zurückDer Unabhängigkeitskampf in Indien, 1915–1918

Kapitel 8
So viele Tote wie möglichSatyagraha in Indien, 1918–1928

Kapitel 9
Der Wunsch nach KlarheitSalz-Satyagraha in Indien, 1928–1936

Kapitel 10
Der Traum vom DorfDer Sevagram-Ashram in Indien, 1936–1947

Kapitel 11
Der Albtraum von UnabhängigkeitDie Teilung Indiens, 1947–1948

Epilog
Das Licht ist gegangenIndien nach Gandhis Tod, 1948– heute

Zeittafel

Glossar

Bibliografie

Bücher von und über Gandhi

Internet – Websites

Internet – Videos

Zitat- und Abbildungsnachweis

Zitatnachweis

Fotonachweis

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Mahatma Gandhi auf dem Weg nach Nokhali, Bengalen, um die Unruhen zwischen Hindus und Muslimen zu schlichten, 1946.

Prolog

Mut, der die Angst bezwingt

Ein Nachmittag in Indien, 1881

Mohandas bleibt stehen. »Wohin gehen wir?«, fragt er.

Sein Freund Sheik dreht sich zu ihm um. »Was sagst du?«

»Ich habe gefragt, wohin wir gehen?«

»Warum flüsterst du so?«

Mohandas’ Blick gleitet durch die schmale Gasse. In einer der Hütten rühren Frauen mit Holzstäben in dampfenden Kesseln. Der Geruch von Curry und Koriander mischt sich mit dem Gestank des Mülls, der sich vor den Hütten türmt, schlimmer noch als in dem Viertel, in dem Mohandas mit seinen Eltern lebt. Sein Gefühl sagt ihm, dass er umdrehen und nach Hause eilen sollte.

»Nun komm schon«, sagt Sheik. »Ich habe dir doch gesagt, ich habe eine Überraschung für dich.«

Mohandas rührt sich nicht von der Stelle.

Sein Freund seufzt. »Sei nicht immer so ängstlich.«

Er hat gut reden. Zwar ist er wie Mohandas 14 Jahre alt. Aber mindestens einen Kopf größer, kräftiger. Und mutiger.

»Sei einmal nur mutig«, sagt Sheik und läuft weiter. »Es wird dein Schaden nicht sein.«

Zwei Männer in speckigen alten Hosen treten aus einer der Hütten. Grimmig starren sie auf Mohandas herab. Schnell folgt er dem Klappern von Sheiks Sandalen. Er biegt am Ende der Gasse nach links, wenige Schritte später in eine noch schmalere Straße nach rechts. Er springt über ein dünnes, stinkendes Rinnsal, das aus einem Mauerloch in einer der Hütten herausfließt. Der faulige Geruch von Müll verblasst vor dem beißenden Gestank von Exkrementen. Irgendwo schreit ein Baby.

Mohandas hat Mühe, mit seinem Freund Schritt zu halten. Kurz darauf bleibt Sheik vor einem Hauseingang stehen. Auf sein Klopfen hin öffnet ein Mann, dessen dicker Körper in einem schmutzigen Kaftan steckt. Sein Mund verzieht sich zu einem zahnlosen Grinsen, als er die beiden Jungen sieht. Er winkt sie herein.

Mohandas zögert. Sein Herz klopft. Sei nicht immer so ängstlich. Er gibt sich einen Ruck und folgt seinem Freund in einen schwach beleuchteten Flur. Es stinkt nach Schweiß und Urin. Aber da ist noch ein anderer Geruch, der aus den Räumen dringt, deren Eingänge mit Baumwolltüchern verhängt sind. Hinter einigen erklingen Stimmen. Und ein Stöhnen. Das Herz schlägt Mohandas bis zum Hals.

Der Mann zieht einen der Vorhänge beiseite. Sheik drückt ihm ein paar Rupien in die Hand. Dann dreht er sich zu Mohandas um.

»Es ist für alles gesorgt«, flüstert Sheik und betritt den Raum.

Mohandas will ihm folgen, doch der Vorhang geht wieder zu.

»Dort«, sagt der Mann und weist auf einen Raum einige Schritte weiter.

Mohandas’ Kehle schnürt sich zu. Sei ein Mal nur mutig. Langsam betritt er den Raum. Durch ein kleines Fenster fällt die Abendsonne auf einen wackeligen Tisch. Der Wasserkrug darauf ist leer. In einer Schale liegt ein Stück Seife. Auf dem Bett sitzt eine Frau. Sie trägt einen durchsichtigen Schleier, den sie von ihren Schultern gleiten lässt. Mohandas hält den Atem an.

Die Frau lächelt. »Komm zu mir«, sagt sie mit sanfter Stimme. Das lange Haar fällt ihr auf die schmalen Schultern. Ihre zarte Haut schimmert verlockend.

Mohandas setzt sich neben sie auf die Matratze.

»Wie heißt du?«, fragt sie.

Der süße Duft ihrer Haut steigt ihm in die Nase. Er kriegt kein Wort über die Lippen.

»Gefalle ich dir nicht?«, fragt die Frau. Sie klingt jetzt ungeduldig.

Mohandas schaut sie an. Er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er möchte sie berühren. Es wird dein Schaden nicht sein. Aber was soll er zu Hause seinen Eltern erzählen, wo er gewesen ist? Oder Kasturbai, seiner Ehefrau, wenn sie ihn fragt? Er könnte lügen. Nichts leichter als das. Und niemand wird es je erfahren. Er schnappt nach Luft. Nein, er kann nicht lügen. Er will nicht lügen. Niemals! Er schüttelt den Kopf.

»Was wagst du dich?«, schimpft die Frau. »Du elendiger Nichtsnutz.«

Bevor ihre Ohrfeige ihn trifft, rennt er schon aus dem Raum. Er stürmt an dem dicken Mann vorbei auf die Straße. Im Staub stolpert er über seine Füße. Um ein Haar verliert er das Gleichgewicht. Nur mit Glück hält er sich auf den Beinen. Er hastet weiter.

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Kaum vorstellbar, dass dieser kleine, schüchterne Junge, dem an jenem Nachmittag der bloße Anblick einer hübschen Frau die Sprache verschlägt, schon bald zu einem indischen Nationalhelden werden wird.

Mutig wird Mohandas Karamchand Gandhi das Wort gegen Politiker in aller Welt erheben. Er wird unerschrocken vor Frauen und Männern auftreten und riesige Menschenmengen mit seinen Reden, noch mehr aber mit seinen Taten gegen Armut und Unrecht so sehr begeistern, dass sie ihm bedingungslos Gefolgschaft schwören – bis ins Gefängnis und oft sogar bis in den Tod.

Was macht zu seinen Lebzeiten die Faszination »Mahatma« Gandhis aus, wie die Inder ihn nennen – die »Große Seele« Gandhi? Und warum verehrt ihn noch heute ein Großteil der indischen Bevölkerung als Heiligen?

In den heutigen Regierungsgebäuden der indischen Großstädte ist der Anblick von Gandhi-Porträts allgegenwärtig. Und immer wieder werden junge Politiker, die die Korruption und Ungerechtigkeit etablierter Kreise anprangern und ihnen den Kampf ansagen, von vielen Indern mit dem Namen »Gandhi« bejubelt.1

Natürlich war auch Gandhi als Mensch nicht ohne Makel. Aber in seinem Kampf gegen das Elend seiner Landsleute war er erfüllt von großem Glauben und noch größerer Kraft, die aller Kritik zum Trotz auch heute noch zum Vorbild taugt.

Kapitel 1

Wahrheit, Sex und das erste Gelübde

Kindheit und Jugend in Indien, 1869–1888

Mohandas Karamchand Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 in der Küstenstadt Porbandar im Distrikt Gujarat im Nordwesten Indiens geboren.

In dem Haus, das er mit seinen drei älteren Geschwistern, seiner Mutter und seinem Vater, dessen fünf Brüdern sowie deren Familien bewohnte, war immer viel Trubel. Oft waren auch viele Gäste zu Besuch, die sein Vater Karamchand »Kaba« Gandhi regelmäßig empfing, um mit ihnen zu plaudern und Geschäfte zu tätigen. Zudem war seine Kindheit sehr von seiner Mutter Putlibai geprägt, einer strenggläubigen Hinduistin, die die vegetarischen Mahlzeiten, die sie für die Familie herrichtete, nicht ohne ein Gebet einnahm. Täglich besuchte sie den Tempel, tat Buße und übte sich immer wieder in Askese. Besonders wichtig war ihr jedes Jahr das Chaturmas, das zeitweise Fasten während der viermonatigen Regenzeit. Manchmal kam sie zwei oder drei Tage lang ohne Essen aus. Eines Tages jedoch teilte sie ihrer Familie mit, dass sie nur noch essen würde, wenn die Sonne schiene.

Mohandas bekam einen Schreck, denn er wusste: Während der Regenmonate sah man die Sonne nicht nur zwei, drei Tage, sondern häufig viele Wochen nicht. Jeden Morgen eilte er aus dem Haus und betrachtete die dichten Wolkenfelder, die sich nicht auflösten. Seine Sorge wuchs mit jedem neuen Tag, an dem wieder nur Regen auf die Häuserdächer klatschte.

Bis sich eines Mittags der Himmel lichtete.

»Mutter!« Erfreut rannte Mohandas ins Haus. »Mutter, die Sonne, die Sonne …« Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.

Seine Mutter sah ihn fragend an.

»Die Sonne«, wiederholte er außer Atem, »sie scheint. Endlich darfst du essen.«

Seine Mutter ging nach draußen. Inzwischen hatten sich die Wolken wieder vor die Sonne geschoben.

»Vor wenigen Sekunden war sie zu sehen«, sagte Mohandas.

Achselzuckend kehrte seine Mutter zurück ins Haus.

»Ehrlich!«, versicherte er.

Sie lächelte.

»Also wirst du noch immer nichts essen?«, fragte er besorgt.

Seine Mutter schüttelte den Kopf.

Mohandas bekam es mit der Angst zu tun. »Aber …«

»Ach, mein Junge«, unterbrach sie ihn und streichelte ihm durchs Haar, »hab keine Angst, Gott hat entschieden, dass ich heute noch nicht essen darf.«

Diese Begebenheit zeigt die Selbstdisziplin, mit der Mohandas’ Mutter ihren Glauben und ihre Rechtschaffenheit pflegte. Zum anderen spiegelt sie Mohandas’ Sorge um seine Eltern, die er liebte, weil er nur bei ihnen Geborgenheit fand.

Er war ein kleiner, dürrer Junge, ängstlich noch dazu. Nachts ging er nicht vor die Tür, weil er sich vor der Dunkelheit, vor Dieben, Schlangen und Gespenstern fürchtete. Wenn er im Bett lag, musste immer eine Kerze brennen. In der Grundschule und der Vorstadtschule fürchtete er zu versagen und konnte nur mit Mühe die Rechentafel bedienen. Auch in Geometrie blieb er schwach. Seine englischen Sprachkenntnisse waren mäßig und das Lesen fiel ihm schwer. Trotzdem waren die Bücher seine einzigen Freunde, denn unter seinen Mitschülern blieb er ein Außenseiter. Kaum war die Schule aus, rannte er nach Hause, weil er so schüchtern war und sich mit niemandem zu reden traute. Er hatte Angst, dass die anderen Kinder sich über ihn lustig machten.

Es wundert also nicht, dass er Geborgenheit bei seiner Familie suchte und dass Mutter, Vater und ihr hinduistischer Glaube ihn deshalb mehr prägten als Lehrer und Schulkameraden.

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1875, als Mohandas sechs Jahre alt war, zählte Indien über 300 Millionen Einwohner. 80 Prozent davon waren Hindus. Der Hinduismus unterteilt seine Gläubigen und damit einen Großteil der indischen Bevölkerung in gesellschaftliche Schichten, in sogenannten Kasten. Obwohl im Ursprung religiöser Natur, bestimmt das Kastenwesen über alle Lebensbereiche der Menschen, so auch über den Beruf und den Ehepartner. Sogar gemeinsame Mahlzeiten sind zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kasten verpönt.

Es existieren vier Hauptkasten: die der Brahmanen (Priester, Richter), der Kshatriyas (Soldaten, Premierminister, Fürsten), der Vaishyas (Handwerker, Kaufleute, Farmer) und der Shudras (Bedienstete, Diener oder Tagelöhner). Außerdem gibt es die Paria, die kastenlosen Menschen, die sich selbst Dalits, Vertriebene, nennen.

Nach dem hinduistischen Glauben verfügen die Kastenlosen nicht über das Recht, einer der Kasten anzugehören, da sie aufgrund ihres Karmas (das sich aus den guten und schlechten Taten ihres vorherigen Lebens zusammensetzt) in keine der Kasten geboren wurden. Sie verrichten unreine Arbeiten, die ein Angehöriger einer Kaste niemals ausüben würde. Dazu gehören zum Beispiel auch Arbeiten mit Blut, die beispielsweise Hebammen, Schlachter oder Straßenfeger verrichten. Weil Kastenlose deshalb gesellschaftlich gemieden werden, nennt man sie auch Unberührbare. Wer sie berührt, so der Glaube, fängt sich Krankheiten oder anderes Unglück ein.2

Die Gandhis zählten seit Generationen zur Vaishya-Kaste und dort zur Unterkaste Modh Bania, der Kaufleute. Das Kasten-System zwang sie in ein enges gesellschaftliches Korsett, aus dem ein Entkommen unmöglich schien. Doch lehrte es sie zugleich eine Vielzahl wichtiger Tugenden, mit denen auch Mohandas und seine Geschwister aufwuchsen.

Ihre Mutter Putlibai beispielsweise praktizierte den Vishnuismus, eine besondere Richtung des Hinduismus, der ihr eine strenge Frömmigkeit abverlangte. Doch so diszipliniert sie ihren Glauben pflegte, so tolerant stand sie Anhängern anderer Glaubensrichtungen gegenüber. Immer wieder waren im Haus der Gandhis sowohl Muslime, Parsen, Bengalen als auch Jainas gern gesehene Gäste für anregende Gespräche über Gott und die Welt.

Mohandas’ Vater Kaba hatte keine Schulbildung. Er zeigte auch kein Interesse, daran etwas zu ändern. Wichtiger als ein Wissen über Geschichte oder Geografie waren ihm, als Premierminister des kleinen Fürstenstaates Porbandar, Anstand und Fleiß. Dank seiner Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit stieg er schließlich sogar zum Richter am Fürstengericht in Rajkot, einer Stadt auf der Halbinsel Kathiawar im Nordwesten Indiens, auf. Die Stadt wurde ihr neues Zuhause.

Als eines Tages ein Mann, der einen höheren Rang als Mohandas’ Vater bekleidete, den Fürsten von Rajkot beleidigte, widersprach Kaba ihm mit aller Deutlichkeit. Allen angedrohten Repressalien zum Trotz wollte er sich nicht für seine Worte entschuldigen, waren sie doch seiner Meinung nach nichts anderes als die reine Wahrheit. Sein unerschrockenes Gerechtigkeitsempfinden brachte ihn ins Gefängnis, aus dem er jedoch nach einigen Stunden entlassen wurde.

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Mohandas war ein ängstlicher Eigenbrötler. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – eiferte er schon als kleiner Junge dem guten Beispiel seiner Eltern nach. Als eines Tages der Erziehungsinspektor die Oberschule in Rajkot besuchte, wollte er mit einer Buchstabierprüfung das Wissen der 50 Jungen in Mohandas’ Klasse testen. »Kessel« war eines der Wörter, das er diktierte. Einige der Schüler schauten verstohlen auf das Geschriebene ihrer Sitznachbarn. Hastig verwischten sie die Kreide auf ihrer eigenen Schiefertafel, dann schrieben sie das Wort noch einmal neu, diesmal richtig. Nur Mohandas schrieb es falsch.

Mit einer knappen Geste wies ihn der um seinen guten Ruf besorgte Lehrer auf die Schiefertafel seines Sitznachbarn hin. Als Mohandas nicht reagierte, trat der Lehrer ihn mit der Stiefelspitze. Aber Mohandas ignorierte seinen Lehrer, mit dem Ergebnis, dass alle Kinder die Buchstabierprüfung bestanden – nur er nicht.

Als der Erziehungsinspektor die Klasse verlassen hatte, schimpfte der Lehrer: »Mohandas, das war dumm von dir!«

Mohandas ließ den Kopf hängen.

»Warum hast du das Wort falsch geschrieben?«

»Ich …«, Mohandas’ Stimme war nur ein Flüstern, »… ich wusste doch nicht, wie es geschrieben wird.«

»Du hättest es nur abschreiben müssen.«

»Das darf ich nicht.«

»Ich habe es dir erlaubt.«

»Aber Sie haben gesagt, Abschreiben ist …«, Mohandas’ Stimme wurde noch leiser, »… wie eine Lüge.«

»Heute war das anders.«

»Es wäre eine Lüge geblieben.«

»Nein, nein, das wäre es nicht, verstehst du das denn nicht?«

Mohandas zögerte. Eigentlich war ihm nur eines klar: Er wollte auf keinen Fall lügen.

Dies hielt ihn an anderen Tagen jedoch nicht von bösen Streichen ab, die er mit seinen Mitschülern anderen Kindern oder den Lehrern spielte. Wurden sie dabei allerdings erwischt, war es Mohandas, der sie verpetzte. Dieses Verhalten machte ihn bei den anderen Jungen nicht beliebt, aber ein reines Gewissen war ihm wichtiger als Freundschaft.

Eines Nachmittags sollte um sechzehn Uhr das Turnen in der Schule beginnen. Weil er zu Hause seinem Vater half, vergaß Mohandas die Zeit. Als er endlich in der Schule ankam, waren seine Mitschüler schon wieder gegangen.

Am nächsten Morgen wollte der Schuldirektor wissen, warum er nicht zum Sport erschienen war.

»Ich war da«, sagte Mohandas wahrheitsgemäß, »aber zu spät.«

Der Direktor sah ihn zweifelnd an. »Zu spät?«

»Ich besitze doch keine Uhr, und weil der Himmel den ganzen Tag über bewölkt war, war ich mir nicht sicher, ob es noch Mittag oder schon Nachmittag ist.«

»Was für eine lausige Lüge«, schimpfte der Direktor und erteilte ihm eine Geldstrafe.

Mohandas war schockiert. Obwohl er die Wahrheit gesagt hatte, glaubte ihm der Direktor nicht. Wie konnte er ihm seine Unschuld beweisen? Mohandas hatte keine Ahnung. Verzweifelt brach er in Tränen aus. Seine Verzweiflung wurde noch größer, als er sich zu einer Lüge gezwungen sah.

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In Rajkot hatte sich Mohandas mit Sheik Mehtab angefreundet. Der junge Muslim sagte: »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«

Mohandas sah ihn neugierig an.

»Aber du darfst es niemandem weitersagen.«

»Um was geht es denn?«

»Versprich es!«

Mohandas zögerte. Was um alles in der Welt hatte sich Sheik nun schon wieder einfallen lassen? Für einen kurzen Moment wollte sich Mohandas einfach umdrehen und gehen. Dann überwog seine Neugier. »Versprochen!«

Sheik dämpfte seine Stimme, als wollte er tatsächlich ein wichtiges Geheimnis enthüllen. »Wusstest du, dass einige unserer Lehrer Fleisch essen? Auch andere bekannte Leute aus der Stadt tun das. Sogar einige unserer Mitschüler.«

»Warum essen sie Fleisch?«, fragte Mohandas erstaunt.

Sheik sah ihn an, als hätte er es mit einem kleinen, begriffsstutzigen Kind zu tun. Mohandas schwieg verlegen. Was hätte er auch antworten sollen? Er war in einer Familie vegetarischer Hindus aufgewachsen. Fleischgenuss lag ihm so fern wie die Politik.

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Seit vielen Jahrhunderten waren die Inder nicht mehr Herr im eigenen Land. Schon Ende des 10. Jahrhunderts hatten islamische Turkvölker begonnen, den indischen Kontinent zu erobern. Sie hatten dessen verschiedene Bevölkerungsgruppen militärisch, politisch und wirtschaftlich unter Kontrolle gehalten. Anfang des 16. Jahrhunderts kamen die aus Zentralasien stammenden Mogulherrscher nach Nordindien und beherrschten bald weite Teile Indiens. Die ersten europäischen Handelsniederlassungen wie die Britische Ostindiengesellschaft setzten sich seit dem 17. Jahrhundert in Indien fest und beuteten langsam, aber stetig das Land aus. Wertvolle Güter wie Salz, Baumwolle, Tee, Tabak, Zuckerrohr, Kaschunüsse sowie Gewürze wie Chili, Pfeffer, Ingwer, Koriander, Kurkuma und Zimt verschiffte man nach Europa.

Mit dem Machtverlust der Mogule durch das Eindringen der Europäer brachen frühere Streitigkeiten zwischen Hindus, Sikhs, Bengalen, Parsen, Jainas, Buddhisten und den Muslimen wieder aus. Vor allem die Briten hatten sich die Auseinandersetzungen zunutze gemacht, indem sie die verfeindeten Gruppen mit wechselnden Bündnissen gegeneinander ausgespielt hatten. Eroberungsfeldzüge hatten den Rest erledigt. Seitdem unterstand der Kontinent der direkten Kontrolle Großbritanniens. Der britische Vizekönig hatte die Regierung Indiens übernommen und viele Ressourcen unter britisches Monopol gestellt. Salz zum Beispiel, eines der wichtigsten und wertvollsten Rohstoffe, durfte seitdem von keinem Inder mehr hergestellt oder verkauft werden.

Im 19. Jahrhundert wurden Inder zwar in der britischen Kolonialverwaltung beschäftigt. Sie eigneten sich auch Sprache und Verhaltensweisen der Kolonialherren an. Doch nur wenige von ihnen konnten sich die Schiffsreise nach London leisten, um dort die vorgeschriebenen Prüfungen für die höhere Laufbahn abzulegen.

Außerdem verboten ihnen die strengen Kasten-Regeln eine Reise ins Ausland. Was den Briten sehr recht war, da sie alle wichtigen Schlüsselpositionen mit Landsleuten besetzen konnten. Nur die Regionen ohne wertvolle Güter überließen sie der Verantwortung der Inder. Dort herrschten lokale Fürsten, sogenannte Maharajas, über meist kleine, unbedeutende Stadtstaaten. Davon gab es über ganz Indien verteilt mehr als 500, manche mit 70 000, andere mit nur 30 000 Einwohnern. Innerhalb eines Fürstentums mochte der jeweilige Maharaja zwar eine einflussreiche Person darstellen. Für die britischen Kolonialherren dagegen war er – wie alle anderen Inder – nur ein Mensch zweiter Klasse.

Sheik versuchte Mohandas zu erklären, warum das so war: »Die Engländer essen jeden Tag Fleisch. Das ist der Grund, weshalb sie stark sind und mit uns machen können, was sie wollen. Denn wir Inder essen kein Fleisch und deswegen sind wir schwach, verstehst du?«

Politisch verspürte Mohandas noch keinerlei Ambitionen. Trotzdem weckten die Worte seines Freundes sein Interesse, auch wenn er sie noch nicht ganz begriff.

Sheik schien um seine Zweifel zu wissen. »Sieh mich an«, er blähte sich auf, »ich bin groß, stark und nur selten krank.«

Es stimmte, was Sheik sagte. Er war einen Kopf größer als Mohandas, immer gesund – und beim Sport lief er jedem in Windeseile davon.

»Und das ist so, weil du Fleisch isst?«, fragte Mohandas ungläubig.

Wieder lachte sein Freund. »Natürlich, das versuche ich dir die ganze Zeit zu erklären. Deshalb solltest auch du Fleisch essen, damit du groß und stark wirst.«

Die nächsten Tage konnte Mohandas an nichts anderes mehr denken. Sollte er tatsächlich Fleisch essen? Er traf eine Entscheidung, als er erfuhr, dass auch sein ältester Bruder Laxmidas und dessen Freund Fleisch verzehrten. Beide waren zweifellos größer, stärker, mutiger und durchsetzungsfähiger. Alles das, was Mohandas auch sein wollte.

Fraglich, was ihm schwerer im Magen lag: War es das Ziegenfleisch, das er gemeinsam mit Sheik verspeiste – das zäh wie Leder schmeckte und das er deshalb hinunterwürgen musste –, oder war es das schlechte Gewissen, das ihn plagte, weil er seine Mutter und seinen Vater zum ersten Mal in seinem Leben belügen musste? Er redete sich ein, dass es keine Lüge war, wenn er das Fleischessen einfach als sein Geheimnis bewahrte. Außerdem diente es einem wichtigen Zweck – seinem Groß- und Starkwerden nämlich.

Fast ein Jahr lang traf er sich mit Sheik zum regelmäßigen Schlemmen in Restaurants. Er fand sogar Geschmack an den servierten Speisen. Immer weniger Freude bereiteten ihm die Ausreden, die er sich nach diesen heimlichen Mahlzeiten zu Hause einfallen lassen musste. Seine Mutter erwartete ihn zum Abendessen, obwohl er längst satt war. Er erklärte ihr, dass ihm übel war, dass etwas mit seiner Verdauung nicht stimmte oder dass ihm der Appetit fehlte.

Bis er seinen Lügen nicht mehr gewachsen war. Also schwor er dem Fleischgenuss wieder ab. Seinen Eltern verriet er mit keinem Wort, wozu er sich hatte hinreißen lassen. Eine richtige Entscheidung. Wer weiß, was es für die Hochzeit bedeutet hätte, die sein Vater für ihn plante.

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Es ist eine Tradition unter Hindus, dass die Eltern für ihre Töchter und Söhne, noch während diese im Kindesalter sind, den künftigen Ehepartner aussuchen. Ein Widerspruch ist nicht erlaubt, das verbietet die Tradition.

Mohandas wurde im Alter von sieben Jahren erstmals mit einem jungen Mädchen verlobt, ohne dass er davon überhaupt erfuhr. Weil das Mädchen starb, gaben seine Eltern bald darauf die Verlobung mit einem anderen Mädchen bekannt. Doch auch sie überlebte eine Krankheit nicht, sodass Mohandas erst im Alter von 13 Jahren die ebenso junge Kasturbai zur Ehefrau nehmen musste. Sie war die hübsche Tochter eines befreundeten Kaufmanns aus Porbandar.

Hochzeiten unter Hindus waren und sind zeitaufwendige und kostspielige Angelegenheiten. Die Eltern der Braut und des Bräutigams versuchten sich gegenseitig mit Kleidern, Schmuck und Festessen zu übertreffen. Deshalb fand Mohandas’ Eheschließung aus Kostengründen am gleichen Tag wie die seines zweitältesten Bruders und ihres gemeinsamen Vetters statt.

Die Kinder selbst hatten keinerlei Vorstellung davon, was die Ehe für sie bedeutete. Eigentlich war es, so glaubte Mohandas, nur ein feierlicher Tag, an dem man in festlicher Kleidung zu Musik durch die Straßen zog, leckere Speisen aß und mit einem fremden Mädchen spielen durfte. Darüber hinaus bedeutete die Hochzeit aber auch eine Rückkehr nach Porbandar. Im Heimatort der Braut sollten die Festlichkeiten stattfinden.

Da Mohandas’ Vater ein gewissenhafter Mann war, wollte er seine Pflichten am Fürstengericht in Rajkot bis zur letzten Minute erledigen. Die fünftägige Reise nach Porbandar versuchte er in nur drei Tagen zu bewältigen. In der Eile verunglückte er mit dem Wagen. Rechtzeitig, aber mit schweren Verletzungen, erreichte er die Hochzeitsfeier. Dennoch wurde es ein ausgelassener, glücklicher Tag für die Familie.

Noch am selben Abend begann Mohandas zu begreifen, was die Ehe bedeutete. Anfangs war er ebenso schüchtern und zurückhaltend wie seine frisch angetraute Ehefrau, dann aber voller Entschlossenheit: »Aber sehr bald schon beanspruchte ich die Rechte eines Ehemannes.«3

Ausgerechnet dieses Geständnis sorgt heute bei Kritikern für Missfallen. Für die deutsche Journalistin Angelika Franz taugt Gandhi nicht als moralisches und geistiges Vorbild, da er in seiner Jugend nur Sex im Sinn gehabt habe.

Zwar half er seiner Mutter jeden Abend bei der Pflege seines Vaters, der immer noch an den Unfallfolgen litt. Weil die Ärzte kein Heilmittel gegen seine inneren Verletzungen wussten und es ihm immer schlechter ging, fasste Mohandas sogar den Beschluss, Medizin zu studieren, um später einmal ein besserer Arzt zu werden.

Trotzdem dachte er ständig nur an Kasturbai und daran, was er mit ihr im Schlafzimmer erlebte. Sogar morgens in der Schule kreisten seine Gedanken meistens um Sex mit seiner Frau.

Ergeht es ihr auch so?, fragte er sich manchmal. Dabei kam ihm ein anderer Gedanke. Wenn Kasturbai der Sex ebenso gut gefiel wie ihm – wer behauptete, dass sie darauf verzichtete? Vielleicht vergnügte sie sich mit anderen Männern, während er tagsüber in der Schule saß und lernen musste?

Es gab keinen Grund für seine Eifersucht. Doch tief in seinem Innern war Mohandas noch immer der kleine, ängstliche Junge mit geringem Selbstbewusstsein. Jetzt war er außerdem blind vor Lust.

Fortan ließ er seine Frau nicht mehr ohne Erlaubnis aus dem Haus. Weil Kasturbai sich allerdings nichts von ihm verbieten lassen wollte, kam es ständig zu Streitigkeiten zwischen den beiden. Immer wieder sprachen sie tagelang kein Wort miteinander. Mit jedem Monat, der auf diese Weise verging, wurden Mohandas’ Leistungen in der Oberschule schlechter.

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Gandhi (rechts) mit seinem ältesten Bruder Laxmidas, 1886.

Dass sich ihr Zusammenleben normalisierte, verdankten sie einem weiteren hinduistischen Brauch. Diesem zufolge durfte ein junges Paar pro Jahr nur eine bestimmte Zeit gemeinsam im Haus der Familie des Mannes verbringen. Während der übrigen Monate musste die Ehefrau sich in ihrem Elternhaus aufhalten. In dieser Zeit, in der er Kasturbai in der sicheren Obhut ihrer Familie in Porbandar wusste, konnte sich Mohandas auf die Schule konzentrieren. Seine Noten wurden besser.

Sobald ihn seine Ehefrau jedoch wieder in Rajkot besuchte, forderte er sofort sein Recht als Gatte ein – auch wenn darunter die Pflege seines Vaters litt, dessen Entzündung sich verschlimmert hatte. Als Mohandas’ Onkel eines Abends anbot, die Pflege des Schwerkranken zu übernehmen, eilte Mohandas erfreut ins Schlafzimmer. Kasturbai war bereits eingeschlafen. Obwohl sie mittlerweile schwanger von ihm war, weckte er sie und verlangte Sex.

Nach nicht einmal fünf Minuten wurden sie durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Der Zustand seines Vaters hatte sich verschlechtert. Hastig kleidete sich Mohandas an. Als er vor dem Krankenbett stand, war der Vater bereits gestorben. Mohandas brach in Tränen aus. Wäre er nicht so gierig auf Sex gewesen und bei seinem Vater geblieben, hätte er ihn in der Minute seines Todes in den Armen halten können. Wochenlang quälte ihn ein schlechtes Gewissen.

Sosehr man seine Sexgier, seine Eifersucht und auch die Strenge gegenüber Kasturbai kritisieren kann, so sehr beweisen seine jugendlichen Verfehlungen doch nur, dass Mohandas ein Teenager gewesen war wie jeder andere und dass kein Mensch als Heiliger geboren wird.

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Mohandas wollte Medizin studieren. Unglücklicherweise war Arbeit mit Blut nur den Unberührbaren erlaubt. Außerdem war es der erklärte Wunsch seines verstorbenen Vaters gewesen, dass Mohandas in seine erfolgreichen beruflichen Fußstapfen trat. Mohandas sollte Rechtsanwalt werden. 1887 unterzog er sich der Abschlussprüfung im nahen Ahmedabad. Im Anschluss setzte er sein Studium am Samaldas College im ca. 175 Kilometer entfernten Bhavnagar fort.

Erneut fiel ihm das Lernen schwer, fern seiner Familie und seiner Ehefrau, die ihm jüngst den Sohn Harilal geboren hatte. Er fand keine Freunde in Bhavnagar, fühlte sich einsam, blieb schüchtern, ängstlich und erfolglos. Ernüchtert kehrte er am Ende des ersten Semesters nach Rajkot zurück und klagte seiner Familie sein Leid.

Ein Freund seines Vaters verlor die Geduld. Er fragte: »Wieso gehst du nicht nach England?«

»Nach England?«, wiederholte Mohandas verwundert.

»Ein Jurastudium ist dort ganz einfach.«

»Aber …«

»Aber ja«, unterbrach der Freund, »erinnerst du dich nicht an den Rechtsanwalt, der kürzlich erst aus England heimkehrte? Schau ihn dir an, wie erfolgreich er ist. Wie gut es ihm geht. Jeder respektiert ihn, er bräuchte nur ein Wort zu sagen, und schon würde man ihn zum Maharaja ernennen.«

Mohandas nickte. Er wusste, von welchem Anwalt die Rede war. Aber er fühlte sich von dem Vorschlag überrumpelt. Außerdem kam ihm ein anderer Gedanke. »Was, wenn ich nach England reise, um Medizin zu studieren? Das würde mir besser gefallen.«

»Auf keinen Fall!«, warf Laxmidas, sein ältester Bruder, ein. »Die Kasten-Regeln verbieten die Arbeit mit Blut. Außerdem hat Vater vor seinem Tod entschieden, dass du Anwalt werden sollst.«

Mohandas schwieg enttäuscht.

»Aber trotzdem ist die Idee, in England zu studieren, hervorragend«, fügte Laxmidas hinzu. »Du solltest dorthin reisen.«

»Die Schiffsreise wird kosten«, gab Mohandas zu bedenken, »das kann ich mir nicht leisten.«

»Um das Geld mach dir keinen Kopf, ich besorge es.«

Mohandas wollte protestieren. Noch war gar nicht sicher, ob er überhaupt reisen wollte.

»Natürlich wirst du reisen!«, beschloss Laxmidas. »Halte dir vor Augen, welchen Erfolg du als Anwalt haben wirst, wenn du in England studierst.«

Mohandas dachte darüber nach. Vielleicht lag sein Bruder ja gar nicht falsch. Wenn ein Studium in England tatsächlich so leicht war, wie der Freund ihres Vaters behauptete, dann würde Mohandas als Anwalt Karriere machen können. Ganz so, wie es sich sein Vater gewünscht hatte. Er wäre stolz auf seinen Sohn gewesen.

»Also gut«, erklärte Mohandas, »ich werde nach England reisen.«

»Das wirst du nicht!«, sagte plötzlich sein Onkel, der den Raum betreten hatte. Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Ich kenne viele indische Anwälte, die in England studiert haben. Sie unterscheiden sich keinen Deut von den Europäern: Sie essen Fleisch, trinken Wein, rauchen wie die Schlote, schauen den Frauen hinterher. Sie machen ihrer Religion Schande.«

»Oh nein«, Mohandas’ Mutter schnappte nach Luft, »dann kommt eine Reise nach England für Mohandas nicht infrage.«

»Du solltest ihm vertrauen«, sagte Laxmidas.

Mohandas nickte. »Ich schwöre, ich werde kein Fleisch essen, keinen Wein trinken, niemals rauchen.«

Schwer atmend stand seine Mutter auf, verließ das Haus und besuchte einen Jain-Mönch, den sie um Rat bat. Dieser erklärte sich mit einer Reise nach England einverstanden, vorausgesetzt, ihr Sohn würde tatsächlich ein feierliches Gelübde ablegen. Also versprach Mohandas hoch und heilig, in England allen sündigen Verlockungen zu widerstehen. Dann willigte seine Mutter in die Reise ein.

Ein Sturm über dem Indischen Ozean verhinderte seine Abreise. Während er im Hafen von Bombay warten musste, erfuhr der Kastenrat der Modh Bania von seinem Plan. Keiner von ihnen hatte bisher den Westen bereist. Alle hatten nur Schlimmes darüber gehört. Eine Kasten-Versammlung wurde einberufen, vor der auch Mohandas Rede und Antwort stehen musste.

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Der Seth, das Oberhaupt der Kasten-Gemeinschaft, war ein großer, stämmiger Mann mit einem dichten Vollbart. Er saß hinter einem Tisch und sah grimmig auf Mohandas herab. »Du möchtest nach England fahren?«

»Das habe ich vor.«

»Wir werden dir die Reise nicht erlauben«, sagte der Seth und tauschte einen Blick mit den anderen Versammlungsteilnehmern. Mit einem Kopfnicken pflichteten sie ihm bei. »Du weißt, dass unsere Religion dir diese Reise verbietet, besonders nach England. Die Briten leben zügellos und ohne Scham.«

»Was habe ich damit zu tun?«, fragte Mohandas und holte Luft. Er hatte sich seine Worte sorgsam zurechtgelegt. Trotzdem zitterte seine Stimme. »Ich will in England nur studieren, nichts weiter.«

Der Seth presste die Lippen aufeinander. Mohandas fügte hinzu: »Außerdem habe ich hoch und heilig geschworen: Ich werde in England keinen Alkohol trinken, kein Fleisch essen, keine Frauen anrühren.«

»Die Verlockungen in England sind so groß, dass du dein Gelübde vergessen wirst. Und deshalb verbieten wir dir, dorthin zu reisen.«

»Bei allem Respekt«, sagte Mohandas, »ich werde reisen!«

Der Seth sah ihn entgeistert an. »Du wagst es, dich über den Befehl deiner Kaste hinwegzusetzen?«

»Sie wagen es, sich in mein Leben einzumischen?« Die Worte kamen über Mohandas’ Lippen, noch ehe er darüber hatte nachdenken können.

Wütend sprang der Seth hinter dem Tisch hervor. »Du hast es nicht anders gewollt: Ab sofort bist du aus der Kaste ausgestoßen. Und ich warne jeden, der dir bei deinen Reiseplänen helfen will: Er wird mit einer Geldbuße bestraft.«

Von einer Sekunde auf die andere war Mohandas nicht mehr Teil der Gesellschaft. Er war ein Kastenloser. Überraschenderweise brachte ihn die Verbannung nicht aus der Fassung. Stattdessen war er entschlossener denn je, sein Studium in England erneut zu beginnen. Seine einzige Sorge galt seinem Bruder Laxmidas und den Freunden der Familie. Diese missachteten den Kasten-Befehl, indem sie ihn mit Empfehlungsschreiben ausstatteten, mit Geld für das Schiffsticket, mit Süßspeisen und Früchten als Reiseproviant sowie mit westlicher Kleidung, zum Beispiel einem vornehmen Anzug aus weißem Flanell, der von den Engländern in Indien bevorzugt getragen wurde.

Als er Laxmidas und den Freunden seine Befürchtungen gestand, beruhigten sie ihn. Ausdrücklich bestanden sie auf seinem Studium in England.

Halte dir vor Augen, welchen Erfolg du als Anwalt haben wirst, wenn du in England studierst.