Die Uhrmacherin

 

 

 

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Band 84

 

Die Uhrmacherin

 

von Uwe Vöhl und Christian Schwarz

 

 

© Zaubermond Verlag 2016

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu. Dummerweise sind einige von ihnen während Dorians Abwesenheit auf Abwege geraten. Phillip Hayward ist nicht nur derzeit von seinem bösen Zwillingsbruder besessen, er ist auch mit Coco nach Wien gegangen, wo sie den Posten als Schiedsrichterin der Schwarzen Familie angenommen hat.

 

 

 

 

Erstes Buch: Der unsichtbare Tod

 

 

Der unsichtbare Tod

 

von Uwe Vöhl

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

Kapitel 1

 

»Hier also ist Ihre Schwester gestorben?«, fragte ich und seufzte innerlich. Meine Rolle als Schiedsrichterin erforderte manchmal auch unangenehme Hausbesuche. Und dieser war einer von der äußerst unangenehmen Art. Stefan von Hirdner war mir sofort unsympathisch. Seit dem Tode seines Vaters war er als ältester Sohn in die Fußstapfen des Familienoberhauptes getreten. Eine Rolle, die er durchaus ausfüllte, doch wie alle Nachtmahre war er als Persönlichkeit eher unscheinbar. Zumindest für Außenstehende. Als Mann ohne Eigenschaften versuchte er fehlende Präsenz durch Härte und Grausamkeit wettzumachen.

»Larissa ist nicht einfach gestorben«, antwortete er barsch. »Sie wurde ermordet. Und zwar auf heimtückischste Art und Weise! Vor unseren Augen.«

Erregt, aber vielleicht auch nur, um Dynamik zu demonstrieren, ging er in der Bibliothek auf und ab, wobei seine Schritte auf dem abgenutzten Parkett kaum zu hören waren, während sie unter mir bei jeder Bewegung knarrten. Ich behielt ihn im Auge, schon allein, um herauszufinden, ob er log. Jede einzelne Regung mochte mir einen Hinweis geben. Ein falsches Lächeln, ein zuckendes Lid, eine vielleicht ein wenig zu hoch gezogene Braue. Dabei fiel es selbst mir schwer, den Blick auf ihn zu fokussieren. Es war, als ob seine Gestalt an den Rändern zerfaserte, sich auflöste.

Angesichts meiner Musterung reagierte er leicht nervös. Er trat neben einen riesigen hölzernen Standglobus, klappte ihn auf und schüttete sich eine milchige Flüssigkeit in ein Martiniglas. Mit einer Pipette träufelte er ein paar klare Tropfen hinzu, sodass der ganze Drink zu schäumen begann und Nebelwolken ausstieß.

»Möchten Sie auch einen Avalon?«

»Nein danke, ich behalte lieber einen klaren Kopf«, erwiderte ich.

Stefan von Hirdner trank den Avalon in einem Zug. Seine Hand zitterte nur leicht, vielleicht auch vor Erregung. Denn im nächsten Moment knallte er das Glas auf die Tischplatte und sagte: »Sie müssen verstehen, dass ich etwas aufgelöst bin. So ein hinterlistiger Mord zehrt auch an meinen Nerven. Immerhin könnte jeder von uns der Nächste sein. Und als Familienoberhaupt obliegt es meiner Verantwortung, das zu verhindern.«

»Natürlich, ich verstehe Ihre Erregung«, heuchelte ich.

Das waren die Momente, in denen ich meine Rolle als Schiedsrichterin verfluchte. Jeder Dämonendepp erwartete, von mir ernst genommen zu werden, erwartete, dass ich ihm zuhörte und Verständnis zeigte. Wobei ich Stefan von Hirdner ausdrücklich nicht als Depp bezeichnete. Im Gegenteil, er kam mir durchaus seriös vor und schien zu wissen, wie er sich am besten präsentierte. Dennoch war es mir arschegal, wer seine Schwester auf dem Gewissen hatte. Ich hatte ganz andere Sorgen.

»Hat sich denn bei Ihnen noch niemand für den feigen Mord bekannt?«, fragte von Hirdner nun aufgebracht.

Ich schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Glauben Sie denn, es steckt mehr dahinter?«

»Natürlich! Meine Schwester ist ermordet worden, definitiv! Schließlich kippt unsereiner nicht so einfach um wie ein Mensch. Sie hat sich ans Herz gegriffen und ist umgefallen. Aber ich muss Ihnen wohl nicht begreiflich machen, dass es kein Herzschlag war, oder?«

»Nein, und Altersschwäche sicherlich auch nicht«, versuchte ich einen Scherz. Wie erwartet verzog von Hirdner keine Miene.

Ich überlegte, wie ich mit dem Fall am besten umgehen sollte. Je schneller ich ihn löste, desto schneller hatte ich ihn vom Hals. Aber vielleicht löste er sich ja von selbst. Wo kein Täter, gab es auch keine Tat. »Wir sollten abwarten, ob noch eine offizielle Kampfansage ausgesprochen wird«, schlug ich daher vor. »Bis dahin sind mir sowieso die Hände gebunden.«

Aber so leicht kam ich nicht davon. Von Hirdner stellte sich breitbeinig vor mich hin, ballte die Fäuste und funkelte mich wütend an. Für einen Nachtmahr wirkte er in diesem Augenblick durchaus imposant. »Ich werde nicht zulassen, dass weitere Familienmitglieder gemeuchelt werden. Glauben Sie, ich bin so dumm und lege die Hände in den Schoß, bis vielleicht der Nächste von uns stirbt? Falls Sie keine Ermittlungen anstellen, werde ich in die Offensive gehen. Und ich habe auch schon einige Personen in Verdacht …«

»Ich warne Sie! Stellen Sie sich nicht gegen das Gesetz! Sie kennen die Regeln!«

Natürlich waren die Regeln nicht immer fair ausgelegt – das hatten sie mit den Gesetzen der Menschen gemein. Meistens gewann nicht der, der recht hatte, sondern der Stärkere. So lag der Vorteil auch bei Sippenkämpfen meistens bei denen, die anfingen. Der Herausforderer musste sich nicht sofort zu erkennen geben. Es konnte Tage oder sogar Wochen dauern, ehe eine Kampfansage erfolgte. Und bis dahin tappte der Angegriffene im Dunkeln und war weiteren Attacken mehr oder weniger schutzlos ausgesetzt.

»Dann verlange ich, dass Sie sich ernsthaft mit dem feigen Mord beschäftigen!«

Das reichte! Nun war ich es, die sich wütend vor ihm aufbaute: »Wollen Sie der Schiedsrichterin der Schwarzen Familie etwa mangelnde Ernsthaftigkeit unterstellen?«

Von Hirdner ruderte sofort zurück. Seine eben noch spürbare Präsenz verblasste augenblicklich wieder. »Bitte entschuldigen Sie vielmals, aber Sie müssen verstehen, dass ich in größter Sorge bin …«

»Natürlich, und falls Ihre Schwester wirklich ermordet wurde, dann handelt es sich um einen äußerst hinterhältigen Angriff, da gebe ich Ihnen recht. Daher werde ich heute noch verkünden, dass sich der Herausforderer binnen vierundzwanzig Stunden bei mir zu melden hat. Und jetzt bitte ich Sie, mich zur Tür zu geleiten, ich habe noch einige andere wichtige Termine wahrzunehmen.«

Je mehr ich darüber nachdachte, desto verzwickter war der Fall. Sollte von Hirdners Schwester wirklich eines unnatürlichen Todes gestorben sein, so mochte der Gegner auch mir gefährlich werden. Jedenfalls verfügte er über Mittel, die durchaus eindrucksvoll waren. Während von Hirdner voranging, um mich zur Haustür zu bringen, kam mir plötzlich ein Gedanke. »Wissen Sie was? Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mir den Ort, an dem Ihre Schwester gestorben ist, auch gleich mal ansehen.«

»Sie meinen den Tatort?«

Ich verdrehte insgeheim die Augen. Von Hirdner machte es einem mit seiner Penetranz nicht eben leicht.

»Meinetwegen auch den Tatort«, sagte ich.

Von Hirdner führte mich ins Esszimmer. Wie die Villa selbst und die anderen Zimmer war auch dieser Raum überaus prunkvoll eingerichtet. Ein wenig wie bei der Kaiserin, dachte ich. Oder zumindest so, wie sich biedere österreichische Dämonen mit einem »von« im Titel die damaligen Zeiten bei Hofe vorstellten. Das verschnörkelte Interieur wirkte wie aus einem Sissi-Film. Und selbst das Besteck blitzte golden. Mein Stil war es jedenfalls nicht.

Allerdings herrschte hier im Gegensatz zu den anderen Zimmern eine geradezu wohltuende Unordnung. Die Teller waren halb gefüllt mit Essensresten. Die Schüsseln und Schalen waren ebenfalls noch gut gefüllt. Die Stühle standen in Unordnung, einer lag umgekippt auf dem Perserteppich, und daneben lag in verkrümmter Haltung eine tote Frau. Ansonsten wirkte die Szenerie, als hätte die Tischgesellschaft die Tafel soeben erst verlassen und würde jeden Moment zurückkehren.

Aber natürlich waren die Speisen kalt.

»Wir haben alles so gelassen«, erklärte von Hirdner eilfertig. »Niemand hat etwas angerührt, damit Sie sich ein Bild machen können und vielleicht sogar eine Spur entdecken.«

»Ich heiße nicht Sherlock Holmes«, entfuhr es mir.

»Natürlich nicht, ich dachte nur …« Von Hirdners hagere Gestalt flimmerte sichtlich, ein Zeichen besonderer Nervosität, nun, da er sich im Todeszimmer befand. Theatralisch zeigte er auf den umgestürzten Stuhl mit der Leiche daneben, als wäre beides nicht selbsterklärend: »Dort, genau an dieser Stelle, traf meine Schwester der gegnerische Schlag. Sie schrie auf, fiel zu Boden und starb auf der Stelle.«

Ich trat an den Tatort heran, kniete nieder und untersuchte den Teppich. Nichts, aber auch gar nichts, deutete auf ein Verbrechen hin – abgesehen von der Leiche natürlich.

Dennoch fühlte ich, wie sich der Teppich unter meinen tastenden Händen leicht erwärmte – ein untrügliches Zeichen für eine wie auch immer geartete Magie, die hier am Werke gewesen und als Abglanz noch immer leicht zu spüren war. Allerdings musste das nicht heißen, dass es sich um fremde Magie handelte. Genauso gut konnte die Entladung ihrer eigenen magischen Kräfte bei Larissas Tod so heftig gewesen sein, dass noch immer Reste davon aufzufinden waren.

»Und? Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte von Hirdner neugierig und beugte sich zu mir runter. Einen Moment lang spürte ich seine leichte Berührung und zuckte vor der Eiseskälte, die mich erfasste, zurück. Auch von Hirdner nahm sofort wieder Abstand. »Bitte entschuldigen Sie …«

»Keine Ursache«, erwiderte ich. Mir wurde bewusst, dass es die Nachtmahre auch innerhalb der Schwarzen Familie nicht leicht hatten. Sie waren zwar in diesem Fall eine angesehene und respektable Sippe, fanden aber sicherlich nur unter ihresgleichen einen Partner fürs Leben.

Ich rappelte mich auf und erklärte: »Es bleibt dabei: Ich werde abwarten, bis eine offizielle Kampfansage bei mir eintrifft. Bis dahin erwarte ich von Ihnen, dass Sie nichts unternehmen. Schützen Sie Ihre Villa, so gut es geht, und bleiben Sie in Deckung. Keine unüberlegten Schritte! Kann ich mich darauf verlassen, Herr von Hirdner?«

Das Familienoberhaupt hielt mir die rechte Hand hin: »Also schön, ich gebe Ihnen mein Wort: In den nächsten vierundzwanzig Stunden werden wir uns ruhig verhalten. Sollte sich bis dahin niemand zu dem feigen Mord meiner Schwester bekannt haben, werden wir allerdings zurückschlagen. Das wird auch der Fall sein, wenn noch ein zweiter Mord geschehen sollte.«

Ich schlug ein. Mehr konnte ich wohl nicht verlangen. Immerhin musste auch von Hirdner seiner Familie glaubhaft erklären, warum es im Moment das Beste war, abzuwarten.

Dennoch verließ ich mit einem höchst unguten Gefühl die Villa. Falls wirklich jemand den von Hirdners an den Kragen wollte, konnte daraus leicht ein neuer Flächenbrand werden.

Und darauf hatte ich im Moment überhaupt keine Lust.

Trotzdem: Es braute sich was zusammen, ich spürte es, und das betraf nicht nur das Wetter. Als ich nach oben schaute, ballten sich dort schwarze Wolken zusammen, und die ersten schweren Regentropfen klatschten herab.

Es wurde Zeit, dass ich nach Hause kam.

 

Am Abend zuvor

Die fünf Dämonen saßen bereits um den Esstisch versammelt, als die schwere Standuhr sechs Uhr verkündete. Draußen tobte ein Unwetter, sodass einige der Schläge darin untergingen. Es donnerte, blitzte, und der Regen schlug prasselnd gegen die bleiverglasten Fenster.

»Wann fangen wir endlich an?«, fragte Heinz von Hirdner ungeduldig. »Oder warten wir wieder auf Matthias?«

Larissa, seine Enkelin, nahm die Hand ihres Großvaters und erklärte behutsam: »Vater ist tot. Schon lange …«

Heinz von Hirdner riss sich los, ergriff den Suppenlöffel und haute damit wütend auf die Tischplatte. »Und warum sagt mir das niemand, dass mein Sohn heute nicht kommt? Verdammt noch mal, ich sterbe vor Hunger!«

Stefan von Hirdner verdrehte die Augen. Als neues Familienoberhaupt gebührte ihm der Platz am Kopfende des Tisches. Es war zu jeder gemeinsamen Mahlzeit dasselbe mit dem Alten! Langsam hatte er die Nase voll, ihm immer wieder zu erzählen, dass sein Sohn schon vor geraumer Zeit umgekommen war. Der Alte warf alles durcheinander, wurde jeden Tag seniler. Es war nicht einfach, mit dem alten Bock auszukommen. Wenn Larissa nicht immer so viel Geduld aufbringen würde, hätte er den Mistkäfer schon längst vom Tisch verbannt. Manchmal gelang ihm das sogar: Wenn der Alte mal wieder tagelang umnachtet war und nicht wusste, ob es Tag oder Nacht war, ließ Stefan ihm das Essen aufs Zimmer bringen. Meistens von einer dämonisierten jungen Pflegerin. Diese wechselten wie die Fliegen, denn Opa Heinz, wie ihn alle nur nannten, war ein sadistisches Arschloch und hatte dementsprechend einen hohen Verschleiß an den jungen Dingern.

Meistens jedoch hatte Stefan ein Einsehen, wenn der Alte bei Tisch aus der Rolle fiel, aber heute platzte ihm der Kragen: »Vater kommt heute nicht, morgen nicht und nie mehr! Kapier das endlich!«

Eine Weile herrschte gespannte Stille. Selbst Opa Heinz hielt für einige Momente die Klappe. Dann fragte er: »Und warum sitzt du dann auf Matthias seinem Platz, he?«

Stefan verdrehte die Augen. Es war sinnlos. Also blieb ihm nur, darauf zu hoffen, dass der Alte irgendwann abkratzte.

Allerdings wären sie dann wieder einer weniger. Die Familie von Hirdner bedurfte unbedingt einer Auffrischung, bevor sie irgendwann aussterben würde. Er ließ den Blick kurz schweifen. Links von ihm saß seine jüngere Schwester Larissa. Sie war keine Granate, außerdem besaß sie von Geburt her einen Klumpfuß. Dafür waren ihre Gesichtszüge ebenmäßig, die naturblonden Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern, und ihre Oberweite war recht ansehnlich. Alles das, was einen normalen Mann doch anziehen musste. Allerdings war sie so etwas wie das Nesthäkchen und dachte gar nicht daran, auf eigenen Beinen zu stehen und sich von der Familie zu lösen.

Rechts von Stefan saß sein jüngerer Bruder Klaus. Klaus war ein Hansdampf in allen Betten, ein Partylöwe, der es mit Frauen aller Couleur trieb. Er sah blendend aus, war stets gebräunt, das blonde dauergewellte Haar trug er schulterlang, und er zeigte gern die schneeweißen Zähne. Natürlich trug er auch diverse Goldkettchen zur Schau. Bei ihm war das Erbe ihrer gemeinsamen verstorbenen Mutter noch am ehesten ausgeprägt: Sie war eine begabte Hexerin gewesen, weshalb es Klaus erfolgreich gelang, alle zu bezirzen. Dennoch war er in Stefans Augen zu weich und nachgiebig. Und: Er dachte nur an sich, anstatt an die Familie.

Neben ihm saß Erika, eine entfernte Cousine von ihnen. Sie war eine unscheinbare, kleine Frau, an der alles grau in grau schien: Graue Haare, graue Kleider, und sogar die Haut schien einen Grauton aufzuweisen. Sie schminkte sich nicht und legte auch sonst keinerlei Wert auf ihr Äußeres. Stefan wusste immer noch nicht so recht, was er von ihr halten sollte. Bis vor Kurzem war sie noch auf Weltreisen gewesen und hatte nach alten Artefakten gesucht. Seitdem war ein Teil des Kellers mit magischen Souvenirs aller Art vollgemüllt. Stefan tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie irgendwann wieder abreisen würde. Zumindest hoffte er das, wenngleich sie sich nicht wirklich mal darüber unterhalten hatten.

Blieb noch Opa Heinz. Er hatte wahrscheinlich von allen am Tisch am meisten herumgevögelt und immerhin einen rechtmäßigen Sohn, den verstorbenen Matthias, gezeugt. Aber er hatte seine Zukunft längst hinter sich. Wie alle Nachtmahre war auch er eher unscheinbar. Aber wo die anderen am Tisch nur an den Rändern leicht zu zerfasern schienen, wenn man sie anschaute, war Opa Heinz an manchen Tagen bereits durchscheinend. Er konnte seine physische Präsenz schon nicht mehr ganz aufrechterhalten. Über kurz oder lang würde sich daher das Problem von selbst lösen.

Hoffte zumindest Stefan. Seit dem gewaltsamen Tode seines Vaters Matthias war er das Oberhaupt, und abgesehen von fehlenden Heiratskandidaten und Heiratskandidatinnen hatte er die Familie recht gut durch die Wirren der letzten Jahre und schließlich wieder ganz nach oben geführt. Auch als sie nach dem Tode ihres Vaters ganz am Boden lagen, hatten sie die prunkvolle Familienvilla zu verteidigen gewusst. Nach und nach hatten sie anderen Sippen den Rang abgelaufen. Zuletzt war es ihnen gelungen, die Strassers zu vernichten und deren Territorium zu übernehmen. Gut, die Strassers waren eher Underdogs gewesen, an denen man sich die Hände schmutzig machte, und keine wirklichen Gegner. Aber auch solches Kroppzeug mehrte den eigenen Ruhm und Reichtum.

Mittlerweile war es zehn Minuten nach sechs, und eine fast meditative Stille war eingetreten. Selbst Opa Heinz schwieg beleidigt. Nur sein Bauch knurrte.

»Jetzt mal im Ernst, Bruderherz«, unterbrach schließlich Klaus die Stille. »Gibt es einen besonderen Grund, warum wir hier wie die Ölgötzen sitzen und nicht endlich aufgetischt wird. Hat es mit dem zusätzlichen Gedeck zu tun?«

»Du bist wirklich ein Schnellmerker«, antwortete Stefan. Es wurmte ihn selbst, dass seine Überraschung so ins Wasser fiel. Die Besucherin hatte zugesagt, auf jeden Fall vor achtzehn Uhr einzutreffen, damit genügend Zeit blieb, sie den anderen vorzustellen. Aber sicherlich gab es einen Grund für die Verspätung.

Als es plötzlich klingelte, sprang Stefan hoch wie eine Feder und lief aus dem Raum. Sein Bruder Klaus zog erstaunt eine Braue hoch: »Nanu, seit wann bequemt sich Stefan denn selbst zur Tür? Wofür haben wir Personal?«

»Vielleicht ist es ja Matthias«, sagte Opa Heinz. »Dann können wir endlich essen!«

»Oder er hat den Pizzaboten bestellt?«, mutmaßte Klaus.

»Unsinn, ich war vorhin in der Küche: Es gibt Tafelspitz«, antwortete ihm seine Schwester Larissa. Sie kümmerte sich gern um den Haushalt, wenngleich sie das Kochen lieber der Köchin überließ.

Erika blieb wie immer stumm. Ihre Gedanken reisten wahrscheinlich in der Weltgeschichte umher.

Als sich die Tür erneut öffnete, führte Stefan eine Besucherin herein. Sein sonst eher ausdrucksloses Gesicht strahlte. »Darf ich euch unseren Gast vorstellen: Mara Schwanenstein.«

Die Frau an seiner Seite überstrahlte mit ihrer Präsenz jeden der Anwesenden, was kein Wunder war, denn die Versammelten waren ausschließlich Nachtmahre. Aber auch sonst war sie eine Schönheit. Mara Schwanenstein war schlank und fast so groß wie Stefan von Hirdner. Sie trug ein schwarzes Cocktailkleid, das ihre langen Beine zur Geltung brachte. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge drückten Sinnlichkeit und Grausamkeit zugleich aus. Die Haut war bleich und stand in Kontrast zu den feuerroten Haaren, die lang über ihre Schultern fielen. Wenn man es so sehen wollte, war sie das völlige Gegenteil zu der grauen Maus Erika, die auch jetzt kaum aufschaute.

Dafür war Klaus von Hirdner umso faszinierter. Seine Blicke zogen Mara Schwanenstein geradezu aus, und er schien abzuschätzen, wie er sie wohl in sein Bett bekäme.

Auch Opa Heinz vergaß seinen Hunger und starrte sie an.

Einzig Larissa wusste die Etikette einzuhalten. Sie erhob sich, humpelte auf die Frau zu und reichte ihr die Hand. »Guten Abend, ich bin Larissa. Ich freue mich, dass wir heute Abend einen Gast haben. Stefan hat gar nichts erzählt ...«

Stefan von Hirdner wurde rot. »Ich wusste ja nicht, ob du wirklich kommen würdest«, sagte er entschuldigend.

»Willst du uns deine neue Flamme nicht erst mal vorstellen?«, drängte Klaus.

»Natürlich, ich …« Stefan von Hirdner war sichtlich etwas aus der Fassung geraten. Er holte das Versäumte schnell nach.

»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich mich etwas verspätet habe«, sagte Mara Schwanenstein. »Aber ich hatte noch ein leidenschaftliches Date mit einem ziemlich renitenten Opfer. Es hat mich einfach nicht gehen lassen.«

Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, während Stefan sie zu ihrem Stuhl geleitete – genau ihm gegenüber an der anderen Stirnseite des Tisches.

»Darf ich fragen, welcher Art dieses … Date war?«, erkundigte sich Klaus, nachdem sie Platz genommen hatte.

»Mara ist ein Sukkubus«, erklärte Stefan.

»Ja, und manchmal sind meine Opfer derart entzückt von mir, dass es ihnen schwerfällt, loszulassen«, ergänzte sie.

»Jedenfalls bin ich froh, dass du gekommen bist und meine Familie endlich einmal kennenlernst.«

»Dann kennt ihr euch schon länger?«, fragte Larissa.

»Ähm … ja.«

»Schon ein halbes Jahr«, verriet Mara. »Stefan ist immer so zurückhaltend. Er hat euch wirklich nichts erzählt?«

»Nicht eine Silbe«, sagte Klaus. »Umso erfreuter bin ich, dass ein solch strahlender Stern unsere triste Abendgesellschaft erhellt.«

Stefan warf seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu. »Jetzt wollen wir aber endlich speisen!«, bestimmte er und klatschte in die Hände. Die Flügeltür öffnete sich erneut, und mehrere dämonisierte Diener servierten das Essen, das in blank polierten Silberschüsseln dampfte.

»Es gibt Tafelspitz vom ausgebluteten Wagyurind mit Weißer Beete«, erklärte Klaus und gewann allmählich seine Souveränität zurück. »Ich wünsche guten Appetit.«

»Warum ausgeblutet?«, erkundigte sich Mara Schwanenstein.

»Wir Nachtmahre sind ein wenig empfindlich, was Blut betrifft. Nicht, dass wir es nicht vertragen, aber ich halte es zum Beispiel für eine äußerst proletenhafte Speise, die wir doch lieber den Vampiren überlassen.«

»Wie recht du doch hast«, sagte Mara und füllte sich den Teller. Auch die anderen griffen beherzt zu, allen voran Opa Heinz.

»Wie wählen Sie Ihre Opfer eigentlich aus?«, fragte Larissa, nachdem der erste Hunger gestillt war. »Verzeihen Sie meine Neugier, aber ich bin noch nie einem Sukkubus begegnet. Ich kenne Sukkubi nur vom Hörensagen.«

»Unsere Art ist auch äußerst selten«, sagte Mara. »Wir erwählen unsere Opfer, während sie schlafen, und vereinigen uns mit ihnen. Für sie ist es ein ekstatischer Traum, für uns schlichte Überlebenskunst.«

»Und wie genau läuft es ab?«

»Wir zapfen ein wenig ihrer Lebensenergie ab, manchmal auch den Samen, sofern sie im Schlaf ejakulieren. Das ist dann gewissermaßen das Sahnehäubchen. Für manche Träumende ist mein Besuch allerdings so angenehm, dass sie sich an mich klammern und den Akt derart auskosten, dass ihr Herz versagt.«

Larissa hing geradezu an ihren Lippen. »Und Ihr … heutiger Besuch?«

Mara machte eine abwertende Handbewegung. »Ein sehr gut aussehender Südeuropäer. Er hatte sich ein Stündchen hingelegt, um für die Nacht in den Clubs fit zu sein. Nun ja, er war zu gierig und fand kein Ende. Zumindest hatte er einen angenehmen Tod.«

»Das kann ich mir vorstellen«, entfuhr es Klaus. Es war ihm anzusehen, dass in seinem Kopf ein entsprechender Film ablief. Großes Kino!

»Wie wäre es mit etwas Musik, meine Liebe?«, unterbrach Stefan, um das Interesse seines Bruders ein wenig abzudämpfen. Er kannte Klaus gut genug. Der kannte keine Verwandten, wenn es um Sex ging.

Er stand auf und hantierte an dem altmodischen Plattenspieler herum. Dabei entging ihm, wie Mara seinem Bruder ein Lächeln schenkte. Ein sehr eindeutiges Lächeln.

Larissa entging es nicht. Für ein paar Momente trafen sich Maras und ihre Blicke. Es war nur ein kurzes Kräftemessen, dann schaute Larissa wieder auf ihren Teller.

Dafür schien plötzlich Erikas Interesse erwacht: »Ich habe erst kürzlich auf einer meiner Reisen eine Tontafel ausgegraben, auf der eine Darstellung der Lilu eingeritzt ist. Man nennt sie auch Lilutu oder auch Ardat Liili. Es könnte die älteste Darstellung eines Sukkubus sein, die je entdeckt wurde. Ich datiere die Tafel zurück in die Urukzeit, das bedeutet …«

»Ach, Erika, langweile unseren Gast doch nicht mit deinem Fachchinesisch«, unterbrach Klaus seine Cousine. »Mich interessiert eher, in welchen Clubs man Sie trifft.« Ein böser Blick seines Bruders ließ ihn zurückrudern. Er grinste breit. »Ich meine ja nur für den Fall, dass Stefan so blöd ist und Sie wieder laufen lässt.«

Mara Schwanenstein stand auf, ging zu Stefan und schmiegte sich an ihn. »Ich glaube, so dumm wird er nicht sein, nicht wahr Liebling?«

»Ich heiße ja nicht Klaus, wie mein Bruder, und ficke jedes Hühnchen, das nicht schnell genug vom Grillspieß springt«, erklärte er angriffslustig. Klaus war dafür bekannt, dass er seine Bekanntschaften am liebsten im Sonnenstudio aufgabelte.

Stefan beugte sich ein wenig zu Mara hinab und küsste sie auf den Mund. Damit waren die Fronten geklärt.

»So, jetzt aber zum gemütlichen Teil des Abends«, fuhr er fort. »Ich muss euch eine wahnsinnige Platte vorspielen: Hexentanz von Michael Wollny …«

Er löste sich aus der leichten Umarmung, ergriff die Hülle und legte die LP vorsichtig auf den Plattenspieler. Larissa erlaubte sich ein leichtes Gähnen. Sie kannte den exzentrischen Musikgeschmack ihres Bruders zur Genüge.

Nur Opa Heinz ließ sich nach wie vor nicht davon abzuhalten, herzhaft zuzugreifen. Sein Schmatzen untermalte die ersten Takte der einsetzenden Klaviermusik.

Dann schrie Larissa plötzlich auf. Sie sprang hoch, lief blau an, schnappte nach Luft und fasste sich ans Herz.

»Schwester, was soll der Auftritt? Du willst unserem Gast wohl die Schau stehlen!«, scherzte Klaus.

Und auch Stefan dachte zuerst an einen Scherz. Wahrscheinlich wollte Larissa damit ausdrücken, was sie von der Musik hielt.

Aber dann sackte sie unversehens zusammen. Mit dem Kopf schlug sie auf den Teppich auf. Blut strömte aus einer Platzwunde.

Mit einer Geschwindigkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, umrundete Klaus den Tisch und war als Erster bei seiner Schwester. Er beugte sich zu ihr hinab und tätschelte ihre Wangen. »Larissa, Baby, wach auf! Was ist denn los mit dir?«

Erika schob ihren Schwager beiseite. »Lass mich mal sehen.« Sie kniete neben ihrer Cousine nieder. Nach nur einer halben Minute schüttelte sie verwirrt den Kopf.

»Sie ist tot! Larissa ist tot!«, stellte sie verwirrt fest. »Wie ist das möglich?« Sie schaute fragend in die Runde.

Betretenes Schweigen antwortete ihr.

Mara Schwanenstein fand als Erste die Sprache wieder. »Schade, ich habe gerade angefangen, sie zu mögen.«

Opa Heinz polterte: »Wann wird endlich der Nachtisch serviert! Ich habe noch Hunger!«

 

 

Kapitel 2

 

Als ich mein Büro in Döbling erreichte, war ich pitschnass. Aber der Gang durch den Regen hatte mir ausnahmsweise gutgetan. Es erinnerte mich an meine Kindheit, wo ich mir in der elterlichen Villa immer wie in einem Gefängnis vorgekommen war. Selbst im Garten hatte ich mich immer beobachtet gefühlt. Daher hatte ich schon sehr früh Fähigkeiten entwickelt, der Enge wenigstens für eine Weile zu entkommen. Eine Zeit lang hatte ich einen der dämonischen Aufpasser getäuscht, indem ich ein zweidimensionales Ebenbild erstellt hatte. Dieses war im Garten geblieben, während ich selbst nach draußen auf die Straße gehuscht war. Meistens nachts, wenn niemand unterwegs gewesen war. Und oft bei Regen, den ich besonders liebte.

Als ich die magische Sperre zu meinem Büro löste, musste ich daran denken: an meine Kindheit, und wie in einem sekundenkurzen Zeitraffer sah ich, wohin das Leben mich geführt hatte. Jetzt war ich die Schiedsrichterin der Familie. Meine Aufgaben gestatteten mir nicht mehr wie einst, auszubrechen. Auch nicht für kurze Momente. Ich war zur Gefangenen meines eigenen Handelns geworden.

Als Erstes führte mich mein Weg wie immer in Phillips Zimmer. Die Tür stand halb offen, und sofort spürte ich, wie mein Herz etwas schneller klopfte. Normalerweise war die Tür geschlossen, und wie stets, wenn auch nur eine Kleinigkeit in Phillips Umgebung anders war als sonst, schrillten bei mir sämtliche Alarmglocken.

Im nächsten Moment gab ich aber schon wieder Entwarnung. Phillip saß auf seinem Bett und spielte mit etwas, das er in den Händen hielt. Dabei war sein Blick abwesend. Seine goldfarbenen Augen erinnerten mich an Teiche, auf deren Oberfläche sich funkelnde Sonnenstrahlen spiegelten. Doch gleich darunter war eine so unergründliche Tiefe wie das All. Irgendwo darinnen schwammen Phillips Gedanken.

»Hi, wie geht's? Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Ich hatte einfach mal Lust, durch den Regen zu spazieren.«

Wie meistens antwortete Phillip nicht, aber ich wusste, dass er mich trotzdem hörte. Irgendwo dort unten in der Tiefe, in der er im Moment mit seinem Bewusstsein weilte. Außerdem wäre ich längst verrückt geworden, wenn ich nicht wenigstens ab und zu vernünftig mit ihm sprach und wenigstens meine eigene Stimme hörte. Und zum Glück gab es auch Phasen, in denen man sich mit Phillip normal unterhalten konnte. Seltene Phasen, aber immerhin.

»Willst du irgendetwas haben? Soll ich uns eine Pizza bestellen?«

In letzter Zeit bestellten wir sehr oft Pizza. Zu oft. Aber die Zeit für eine frisch von mir zubereitete Mahlzeit blieb meistens auf der Strecke.

Weil es zu viele von Hirdners auf der Welt gibt, dachte ich zerknirscht. Eigentlich müsste ich mich zweiteilen. Oder besser noch drei- oder vierteilen, um den Schiedsrichterjob einigermaßen vernünftig zu erfüllen.

Oder endlich lernen, solche Wichtigtuer wie Stefan von Hirdner nicht noch mit einem Hausbesuch aufzuwerten und dadurch Zeit zu verschwenden. Andererseits war ich ganz froh gewesen, als er mich heute Morgen angerufen hatte. So hatte ich wenigstens einen triftigen Grund gehabt, mal rauszukommen. An manchen Tagen ertrug ich die Enge meines Büros nur schwer.

Da Phillip nach wie vor nicht reagierte, sagte ich nur: »Also schön, keine Pizza. Sag einfach Bescheid, wenn du Hunger hast, ich mache uns dann was. Oder wir gehen heute Mittag mal zu Trzesniewski.« Bei dem stadtbekannten Schnittchenspezialisten war wenigstens gesundes Schwarzbrot statt labbrige Pizzaböden zu erwarten.

Ich wollte die Tür zu Phillips Zimmer schon wieder schließen, als seine Hände das Objekt freigaben, mit dem seine Finger die ganze Zeit beschäftigt gewesen waren. Es war eine Uhr. Eine Tischuhr. Meine Tischuhr. Eigentlich nichts Wertvolles. Ich hatte die Schreibtischuhr auf dem Trödelmarkt erstanden, weil sie genau das Gegenteil von dem modernen, gebürsteten Stahlschreibtisch war: verschnörkelt und verspielt, irgendwie sogar kitschig, und auf jeden Fall aus dem letzten Jahrhundert, daher war die Anzeige auch nicht analog, sondern es waren noch richtige Zeiger daran. Am Anfang hatte ich mich an das Ticken gewöhnen müssen, aber dann hatte es mir sogar Spaß bereitet, meine Besucher dabei zu beobachten, wie sie, je länger sie vor ihr saßen, immer öfter auf die Uhr schauten. Die einen missbilligend, die anderen schuldbewusst. Auf jeden Fall erinnerte das ständige Ticken mein jeweiliges Gegenüber daran, dass ihre Besuchszeit begrenzt war.

»Oh, nein!«, entfuhr es mir. Mit drei Schritten war ich bei Phillip und sah, dass er die Uhr zerstört hatte. Oder fein säuberlich selektiert, wenn man es so ausdrücken wollte. Jedenfalls bestand sie nun aus mindestens einem Dutzend Einzelteilen.

Im ersten Moment hätte ich ihn am liebsten bei den Schultern genommen und wachgerüttelt. Es ging mir weniger um den Verlust der Uhr, als vielmehr darum, dass ich ihn schon zigmal gebeten hatte, nichts auf meinem Schreibtisch anzurühren.

Aber ich beherrschte mich. Phillip konnte ja nichts dafür. Er machte manchmal Sachen, die er im Nachhinein selbst nicht erklären konnte.

Jetzt hob er den Kopf, sah mich an und murmelte: »Tick, tack, tick, tack … immer wieder.« Ich strich ihm beruhigend über das goldblonde Haar, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte leise: »Ist ja schon wieder gut«.

Bevor ich endgültig sein Zimmer verließ, schaute ich noch einmal zu ihm hin. Seine Finger spielten erneut mit den Einzelteilen. Sein Blick war nach innen gekehrt.

Und pausenlos kam ein »Tick, tack …« über seine Lippen.

Ich schloss die Tür hinter ihm und nahm mir vor, nachher noch einmal nach ihm zu schauen. Ich war noch immer pitschnass. Also ging ich ins Bad und gönnte mir eine heiße Dusche. Aber auch die hellte meine düstere Stimmung nicht auf. Phillips Verhalten trug daran bestimmt keine Schuld. Damit umzugehen war ich gewöhnt. Lag es an meinem Besuch bei den von Hirdners? Sicherlich, die Villa hatte etwas Bedrückendes an sich. Ebenso war Stefan von Hirdner nicht gerade ein Ausbund an Fröhlichkeit. Schon vor dem Tod seiner Schwester trug er die ganze Last, die mit der Aufgabe eines Familienoberhauptes verbunden war, wie eine schwere Bürde auf seinen Schultern.

Ich musste den Gedanken an die von Hirdners loswerden. Und das tat ich am besten, indem ich wie versprochen das Ultimatum öffentlich machte. Da zunächst nur die Sippen aus Wien infrage kamen, beschränkte sich der Verteilerkreis auf eine übersichtliche Menge. Und um Zeit zu sparen und außerdem so dramatisch wie möglich zu wirken, entschloss ich mich, die Botschaft über die Kristallkugel zu verbreiten. Auch im Zeitalter von E-Mails und diversen Nachrichtendiensten war das immer noch die effektivste Art, eine Botschaft zu übermitteln. Und im Gegensatz zu all den anderen Möglichkeiten absolut abhörsicher.