Kapitel 2


Sarah ließ ihre langen, schlanken Finger über die Oberfläche der Schatulle gleiten. Sie fühlte sich glatt und kalt an. Die Kanten waren noch immer scharf, als wäre sie gerade erst gemeißelt worden.

Das Licht der Kerosinlampe ließ den Alabaster in einer schwachgoldenen Tönung schimmern und brachte die Flecken und Adern des durchscheinenden Steins zum Vorschein. Sarah hatte die Leuchtstoffröhren im Labor absichtlich ausgeschaltet und arbeitete unter dem Lampenlicht, sodass der Stein zu ihr sprechen konnte. Am Alabaster selbst fand sie nichts Außergewöhnliches, abgesehen von der Prägung auf dem Deckel.

Die Konturen waren verblasst, aber unverkennbar: zwei Löwen im Profil. Ihre humanoiden Gesichter waren einander zugewandt, weniger feindselig als vielmehr in offensichtlicher Verehrung der leeren Fläche zwischen ihnen. Aus ihren Rücken wuchsen Flügel, die zum Flug bereit ausgebreitet waren. Sie waren die Cherubim der Antike – nicht die engelsgleichen Kreaturen des Christentums, sondern Tierhybriden, die spirituelle Wesen oder Wächter repräsentierten.

Sarah schob sich eine Locke hinters Ohr, die sich in ihre Augen verirrt hatte.

Sie sah zu Daniel hinüber. Die flackernde Flamme tanzte über die harten Kanten seines Gesichts und betonte die Falten unter seinen Augen, die von seinen Jahren des praktischen Einsatzes zeugten.

»Okay, Sarah«, sagte er. »Du hast lang genug mit diesem Ding geflirtet. Es wird Zeit nachzusehen, was drin ist.«

Sarahs Vorfreude war über die Tage hinweg gewachsen, in denen sie die Schatulle aus jeder Perspektive studiert und erfasst hatte. Sie hatte den Drang unterdrücken müssen, sich schnell zu ihrem Inhalt vorzuarbeiten, da Eile sie Informationen kosten könnte, die ihnen helfen würden, den Fund auszuwerten. Jetzt wurde die unerträgliche Geduldsprobe endlich belohnt.

Langsam hob sie den Deckel an. Er ließ sich nicht sofort öffnen; eine Sandkruste hatte sich in den Nuten gebildet und fungierte als natürliches Siegel. Behutsam drehte sie daran, und er gab nach. Als sie den Deckel entfernte, verspürte sie einen vertrauten Taumel, eine Mischung aus Spannung und Faszination.

Daniel lehnte sich zurück und rieb sich den Nacken. »Das ist so ziemlich das Letzte, was ich inmitten dieser Wüste zu finden erwarten würde.«

Sarahs Blick flog über die Bahn des zusammengerollten Papyrus und registrierte die Dichte der Fasern. Während ihrer Karriere hatte sie viele Schriftrollen gesehen, aber die meisten waren in Fetzen gewesen. Dieses Exemplar war sowohl von guter Verarbeitung als auch in gutem Zustand. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden.

»Es ist höchst ungewöhnlich, hier Papyri zu finden«, fuhr er fort. »Ich habe jede Menge Pergament aus Tierhäuten gesehen, aber das … das ist außergewöhnlich.«

»Ich stimme dir zu. Das stammt wahrscheinlich nicht von hier. Vielleicht kommt es von einer Händlerkarawane.«

»Vielleicht. Es ist zu früh, um das bestimmen zu können.« Er starrte die Schriftrolle lange an. »Lass uns nachsehen, was der Schreiber zu sagen hatte. Das wird uns einen Hinweis geben.«


Nachdem sie die Abmessungen und Besonderheiten der Schriftrolle fotografiert und protokolliert hatte, löste Sarah die schmutzige Kordel, die dreimal um ihre Mitte geschlungen war, und legte das zerbrechliche Schriftstück auf ein Tablett. Mit extremer Vorsicht, um das alte Dokument nicht zu zerbrechen oder anderweitig zu beschädigen, rollte sie es mit behandschuhten Händen auseinander.

Der Papyrus war dick, was vermutlich erklärte, warum er so wenig Schaden erlitten hatte. Sie nahm an, dass derjenige, der ihn gefertigt hatte, ein Experte gewesen war. Die Ränder waren ausgefranst und wiesen einige kleine Risse auf, aber ansonsten war die Schriftrolle intakt, was die Interpretation der ausführlichen Handschrift vereinfachen würde.

Sarah begutachtete die in schwarzer Tinte geschriebenen Schriftzeichen. »Hieratisch. So gut wie jedes Wort ist lesbar. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.«

»Das ist merkwürdig«, sagte Daniel. »Hieratisch wurde fast ausschließlich für heilige Texte in Ägypten verwendet. Was hat Derartiges hier zu suchen?«

Sarah erinnerte sich daran, wie nahe das Kistchen an den Fingerknochen gelegen hatte. »Was immer es ist, jemand hielt es fest, als er starb. Das ist ziemlich vielsagend, findest du nicht?«

»Richtig. Ich bin gespannt, wie der 14C aussieht. Es gibt ein Labor in Arizona, das Papyri durch AMS datieren kann. Wir brauchen nur eine winzige Probe.«

Obwohl sie noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, davon Gebrauch zu machen, wusste sie alles über die Beschleuniger-Massenspektrometrie, welche die University of Arizona verwendete. In dieser Einrichtung waren auch die Schriftrollen vom Toten Meer und andere biblische Texte durch die Zählung von 14C-Atomen – anstelle der Messung ihres Zerfalls – datiert worden. Das Verfahren war zu einem der bedeutendsten Hilfsmittel der Archäologie geworden.

Sie richtete ihren Blick auf die hieratischen Zeichen. Die Schrift war so fließend und elegant, dass sie annahm, sie war von einem äußerst erfahrenen Schreiber verfasst worden – möglicherweise jemandem an einem königlichen Hof oder aus der Priesterschaft. »Was ist mit der Übersetzung des Textes? Irgendwelche Ideen?«

»Ich werde ihn der besten Linguistin der König-Saud schicken, die Expertin in antiken Sprachen ist. Sie ist gut und sie ist schnell. Ich wette, sie kann das in zwei Monaten erledigen.«

Angesichts des möglichen Ausmaßes des Fundes erschienen zwei Monate wie eine Ewigkeit. Aber so war die Realität eines Archäologen nun einmal: Die ultimative Übung in Geduld stellte das wahre Übel des Vorgangs dar.

Geduld allerdings war nie eine von Sarahs Stärken gewesen. Sie hatte einen eigenen Plan.

Kapitel 6


Zwei Tage nach dem Feuer kehrte Daniel gegen den Willen der Ärzte, die ihn wegen Rauchvergiftung behandelt hatten, zur Ausgrabung zurück. Er konnte nicht wegbleiben. Er musste den Schaden begutachten und herausfinden, wann und wie ein Wiederaufbau stattfinden konnte. Und er brauchte Antworten.

Obwohl der Polizeibericht auf sich warten ließ, zweifelte Daniel nicht daran, dass es sich um Brandstiftung handelte. Die Täter hatten das Innere des Transferbusses mit Benzin übergossen und noch mehr auf dem Boden zwischen dem Bus und der Krankenstation verteilt. Damit hatten sie sichergestellt, dass sich die Flammen schnell verbreiten und die größtmögliche Zerstörung in kürzester Zeit anrichten würden. Daniel war sich wegen des Benzingestanks jener Nacht sicher: Sein olfaktorisches Gedächtnis hatte ihn sich eingeprägt. Die Brandlinie war ein weiteres verräterisches Zeichen. Das Feuer hatte seine lodernden Finger in einem einzelnen Bogen nach der Krankenstation ausgestreckt; offensichtlich war es dorthin geführt worden.

Daniel hatte die Al Murra vom Inferno wegreiten sehen. Eindeutig hatten sie von der Schriftrolle gehört und versucht, sie wieder in ihren Besitz zu bringen, oder sie hatten ihm und Sarah doch zumindest eine Warnung zukommen lassen wollen. Aber wer hatte ihnen davon verraten – und warum? Dies waren Antworten, welche zu finden er entschlossen war, und er schwor sich, das um jeden Preis zu tun.

Er parkte den Land Rover und lief zum Buswrack. Seine Lunge waren noch immer vom Rauch angegriffen, und nach nur wenigen Schritten verspürte er eine Enge in der Brust. Er ignorierte den Druck und ging weiter.

Obwohl er ungefähr wusste, was er zu erwarten hatte, erschütterte ihn der Anblick des verkohlten Busses. Der gesamte obere Teil war ein hohler Käfig deformierten Metalls. Die ganze graue Farbe war in der Feuersbrunst geschmolzen und hatte blanken, flammengeschwärzten Stahl hinterlassen. Die Scheiben waren weggefegt worden; allein gezackte Glaszähne, die sich an die Fensterrahmen klammerten, waren übrig. Die Scherben knirschten unter Daniels Füßen, als er sich zur Tür bewegte, die nur noch an einer Angel hing, und von dort ins Fahrerhaus. Der in der Luft hängende Gestank nach Benzin und der chemische Geruch der Aschehaufen aus dem Vinyl und Fieberglas der Sitzpolster überwältigten ihn.

Er hielt sich an der Haltestange im Fahrerhaus fest und griff sich nach Atem ringend an die Brust. Das Gefühl versetzte ihn wieder in den Emotionsstrudel der Feuernacht. Er hörte die wilden Schreie seiner Mannschaftsmitglieder, die sich aus dem Griff der Feuersbrunst kämpften, sah den Ausdruck erstarrter Panik auf ihren dunklen Gesichtern vor sich.

Die meisten waren mit leichten Verletzungen und Rauchvergiftungen davongekommen. Wenige waren mit Verbrennungen dritten Grades ins Krankenhaus gekommen. Zwei aber hatten es nicht geschafft. Mustafa und Azhar, Brüder aus einem nahegelegenen Dorf, die vor Kurzem als Feldtechniker zur Grabung gestoßen waren, hatten sich gegen das wilde Rennen um ihr Leben entschieden. Sie hatten sich nach Osten gerichtet und sich zum Gebet verneigt, während die weißglühenden Flammen um sie herum gelodert hatten.

Daniel hatte ihnen zugerufen, sich in Sicherheit zu bringen. Als sie sich geweigert hatten, sich zu rühren, war er auf sie zu gerannt, doch er war zu spät gewesen. In Slow-Motion hatte sich die Szene vor seinen Augen abgespielt: Die glühenden Flammenfinger hatten an den Brüdern gezerrt, bis sie vollkommen eingeschlossen waren. Über das Brüllen des Infernos hinweg hatte Daniel nicht einmal seine eigenen Schreie hören können; entsetzt und machtlos hatte er zugesehen. Die beiden waren in tiefer Verbeugung reglos am Boden geblieben, als der Höllenschlund der Bestie sie verschlang.

In Daniels Kehle bildete sich ein Knoten, während sein Verstand bei der Erinnerung verweilte. Er verstand die Sicherheit seiner Crew als persönliche Verantwortung, aber er hatte seine Männer im Stich gelassen. Und obwohl Mustafa und Azhar ihr eigenes Schicksal gewählt hatten, wäre das nie passiert, wenn es gar kein Feuer gegeben hätte. Er war nicht wachsam genug gewesen; er hatte den Brandstifter nicht rechtzeitig gesehen. Er war unachtsam geworden, und das war unverzeihlich.

Daniel verließ den Bus und ging an der Asche der Krankenstation vorbei. Das Blechdach lag als unkenntlicher Haufen am Boden, und was von den Wänden übrig war, war verkohlt und stank nach Rauch. Er sah sich nach den angrenzenden Gebäuden um. Ein paar von ihnen waren beschädigt worden, aber nicht vollständig zerstört, während andere, weiter weg, wie durch ein Wunder unversehrt waren. Es erleichterte ihn, zu sehen, dass die archäologische Grabung nicht betroffen war.

Lange Zeit stand er vor der heruntergebrannten Krankenstation und verdeutlichte sich die ganze Tragweite des Geschehens. Seine Crew war dezimiert worden. Zwei Menschen waren tot, etwa ein Dutzend verletzt und die meisten anderen waren zu verängstigt, um zurückzukommen. Dank der SMS, die Sarah ihm während seines Krankenhausaufenthaltes geschickt hatte, wusste er, dass sich vier der Männer am nächsten Tag zur Arbeit gemeldet hatten, als sei nichts geschehen.

Sie sind dem Projekt treu, hatte sie geschrieben. Dir treu.

Er begab sich zum Labor auf der anderen Seite des Lagers. Da es den Großteil der Artefakte und die Expeditionsrechner beheimatete, war es das stabilste Gebäude von allen, aus Betonblöcken gebaut und mit wasserdichtem Flachdach und einer dicken Stahltür, ohne Fenster.

Und selbst die war beinahe aufgebrochen worden. Dem Himmel sei Dank, Sarah, dachte er. Hätte sie den Eindringling nicht angegriffen, hätte er sich bestimmt Zutritt verschafft. Diese einzigartige Demonstration von Mut und Einsatz erinnerte ihn daran, warum er sie von Anfang an als Partnerin ausgewählt hatte.

Er klopfte schnellfeuerartig; Sarah würde dieses Klopfen erkennen. Innerhalb weniger Augenblicke öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Sarah war wie ein Leuchtfeuer in einem Sturm. Er wollte sie so gerne festhalten, den Duft ihrer Haare einatmen, ihre Wärme spüren.

Lächelnd hielt sie ihm die Tür auf. Als er eintrat, huschte ihr Blick über seine Schulter nach draußen. Sie schloss die Tür und verriegelte sie zweifach.

Sie musterte ihn, und plötzlich war er sich seines Dreitagebarts und seiner Kleider, die er seit dem Tag des Feuers getragen hatte, überdeutlich bewusst. In diesem Augenblick realisierte er, dass sein schwarzes T-Shirt und seine Wüstentarnhose wie das Innere eines Schornsteins rochen.

»Sorry«, sagte er mit einem Schritt nach hinten. »Ich bin nicht gerade eine Augenweide.«

»Na ja, du erinnerst mich ein bisschen an eine Vogelscheuche. Aber ich freue mich trotzdem, dich zu sehen.«

Er versuchte sich an einem leichten Tonfall, obwohl ihm schwer ums Herz war. »Also, was ist hier so angesagt? Wo sind alle?«

»Alle heißt im Moment Abdullah, Abdul-Qadir, Rasul und Walid. Sie haben darauf bestanden, wieder zur Arbeit zu kommen. Walid ist in der Kantine und bereitet das Mittagessen zu. Die anderen drei sind bei der Grabstätte und räumen eine der Grabkammern frei.« Sie sah auf ihre Uhr. »Sie sollten in Kürze zurück sein.«

»Also wie gehabt.«

»Das würde ich nicht gerade sagen. Aber wir tun, was wir können, unter diesen Umständen.«

Er sah auf und seufzte hörbar.

»Es tut mir leid, Danny«, sagte sie leise. »Es tut mir so leid.«

Er blickte in ihre strahlend blauen Augen. »Ja, mir auch. Das ist ein gewaltiger Rückschlag.«

»Wir können uns neu organisieren. Ich habe mich schon nach einem Ersatzbus umgesehen, und ein Team von Bauarbeitern steht bereit …«

»Wir können gar nichts tun, bevor die Polizei nicht ihre Ermittlungen abgeschlossen hat. Wir sind in Saudi-Arabien. Das könnte Monate dauern.«

»Könnte sich nicht jemand von der König-Saud einschalten? Die Dinge beschleunigen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das wäre reine Glückssache. Außerdem kommen die meisten Arbeiter sowieso nicht zurück. Und nicht nur wegen des Feuers. Alle wissen, dass etwas in der Luft liegt. Es ist schwer, eine Nachricht wie die auf dem Boden zu ignorieren.«

Er ging zum Labortisch, wo Keramikfragmente und Flintspeerspitzen auf ihre Klassifizierung warteten. Er nahm ein besonders schönes Stück nabatäischer Töpferei in die Hand, das mit schwarzen Schnörkeln bemalt war, und hielt es gegen das Deckenlicht. Diese einzelne Scherbe verzierten antiken Tons, die vermutlich über Kanaan oder Moab hierher gekommen war, war der Beweis für die Lage al-Faus als Kreuzweg zwischen Norden und Süden.

Er dachte an die Schriftrolle. Genau wie die Töpferware und andere Gegenstände des Nordens hatte sie ihren Weg ins Leere Viertel gefunden, entweder durch Handel oder durch Zufall. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie zusammen mit ihr auch einen antiken Konflikt ausgegraben hatten, dessen Beilegung sich nun direkt vor ihren Augen abspielte.

Sarah ging zu ihm. »Sag mir nicht, dass du darüber nachdenkst, die Arbeiten für diese Saison einzustellen.«

»Wir könnten dazu gezwungen sein, Sarah. Ohne Crew können wir nicht arbeiten.« Er legte die Tonscherbe nieder und betrachtete wehmütig die Sammlung von Artefakten. »Wir haben in den letzten sieben Jahren so viel an Boden gewonnen. Es wäre eine wahre Schande, jetzt aufzuhören.«

»Richtig. Aber jemand will, dass wir genau das tun.«

Daniel wandte sich ihr zu. Im Neonlicht glänzte Sarahs Haut wie Alabaster und ihre Augen erschienen ihm wie lapisblaue Seen. Herausforderung flackerte in ihrem Blick auf. Wenn er eines über Sarah Weston wusste, dann, dass sie sich keinem Unrecht beugen würde.

»Ich weiß, dass du sie nicht gewinnen lassen willst, Sarah, und das will ich auch nicht. Aber die Leute, die das getan haben, werden wieder zuschlagen. Da bin ich mir sicher.«

»Apropos Leute, die das getan haben … der Mann, den ich angegriffen habe, trug das offizielle Gewand hochgeborener Beduinen. Und er hatte einen gravierten Silberkhanjar bei sich.« Sie blickte fort. »Es könnte ein Juwel am Griff gewesen sein. Ich kann es nicht genau sagen.«

»Interessant. Normalerweise trägt der Amir einen schwarzen Redan und einen silbernen Khanjar. Oder sein ältester Sohn und Erbe.«

»Der Kerl war eher jünger. Ich nehme an, er ist Letzteres.«

»Wenn sie den Segen des Amirs haben, bedeutet das, dass sie ziemlich gut organisiert sind. Das könnte uns noch ziemlich zu schaffen machen.«

»Das sehe ich auch so. Ich habe einen Wachmann engagiert, der nachts das Lager im Auge behält. Ich dachte, ein bisschen zusätzliche Sicherheit könnte nicht schaden.«

Er nickte in Richtung des Tresors, in dem die mysteriöse Schriftrolle eingeschlossen war. »Am besten schicken wir das Ding zur Sicherheitsverwahrung nach Riad.«

»Nein. Ich bin noch nicht fertig damit.«

Er studierte ihre entschlossenen Züge. »Hast du was Neues?«

»Ja, tatsächlich. Komm und sieh es dir an.«

Er folgte ihr zum Computer, wo sie ein dreidimensionales Abbild der Schriftrolle untersuchte. Sie rief das Bild der Unterseite auf und zoomte auf einen schwachen Abdruck auf dem Pergament. »Ich arbeite schon seit Wochen daran. Tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Ich wollte sichergehen, etwas in der Hand zu haben, bevor ich dir davon erzähle. Jetzt habe ich etwas.«

Er lehnte sich vor, um besser sehen zu können. »Sieht aus wie eine Art Schmutzfleck.«

»Das dachte ich zuerst auch. Aber sieh genauer hin. Der Abdruck ist auf der Mittelachse, ungefähr da, wo die Schriftrolle verschnürt war.« Sie zoomte noch näher. »Hier. Siehst du das?«

Am Rand befand sich ein weiterer, kaum merklicher Abdruck.

»Interessant. Ruf das Raster auf.«

»Hab ich schon.« Sie drückte auf die Tasten und legte ein Raster über das Bild der Schriftrolle. »Die beiden Abdrücke sind bündig. Und als Krönung …« Sie gab den Befehl ein, der das Aufrollen des Pergaments simulierte, und drehte das Bild dann um dreihundertsechzig Grad. »… haben wir das hier.«

In dieser dreidimensionalen Ansicht wurde deutlich, dass die beiden Abdrücke auf der Schriftrolle selbst einen einzelnen bildeten.

»Hast du die Kordel untersucht?«, fragte er.

»Ich hab sie unters Mikroskop gelegt, ja. Irgendwelche Partikel sind darauf, aber unsere Auflösung ist nicht hoch genug für eine vollständige Aufschlüsselung. Ich habe schon eine Probe verschickt.«

Sein Puls beschleunigte sich, als er realisierte, wie nahe sie der Wahrheit über das historische Schreiben waren. »Denkst du, was ich denke?«

»Dass es eine Art Siegel ist?«

»Ja. Der Abdruck einer Bulle. Ein solches Dokument wäre fast sicher mit einem kleinen Stückchen Ton auf der Kordel versiegelt worden. Der Siegelstempel des Schreibers würde ihn und seinen Arbeitsplatz identifizieren.«

»Deswegen ist die Analyse so wichtig. Wenn tatsächlich Tonspuren auf der Kordel sind, dann sollte das Labor in der Lage sein, den Ursprung dieses Tons zu ermitteln.«

Er verschränkte seine Hände im Nacken. Sarah hatte recht: Die Molekularanalyse würde das Siegelmaterial bestätigen und vermutlich auf den Ursprung dieses Materials hinweisen. Den Rest würden sie sich erschließen müssen.

Es war ein Anfang, aber es war nicht genug. Die eine Sache, die ihm keine Ruhe ließ – die Identität des Verfassers der Schriftrolle, die für das Dechiffrieren des kryptischen Textes eine zentrale Rolle spielte – wäre ohne die Bulle selbst beinahe unmöglich zu bestimmen.

»Die Bulle ist wahrscheinlich irgendwo unter einem Sandhaufen vergraben«, sagte er. »Die Chancen, dass wir sie je zu Gesicht bekommen, stehen schlecht.«

Sie antwortete nicht. Mit dem Kinn auf ihre linke Faust gestützt starrte sie auf den Computerbildschirm.

»Sarah?«

Ihr Blick hing weiter am Monitor. »Vielleicht brauchen wir die Bulle am Ende doch nicht. Schau dir das mal an.«

Kapitel 10


Sarah saß auf dem Bett in ihrer Hütte mit ihrem Mobiltelefon in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. Es war Monate her, dass sie das letzte Mal geraucht hatte, und diese einheimische Version einer Marlboro brachte ihr nicht den angenehmen Dunst würzigen Tabaks, den sie erwartet hatte. Die Zigarette war trocken und bitter wie mit Schierling versetztes Heu. Sie drückte sie in einem behelfsmäßigen Aschenbecher aus – einem mit Sand gefüllten Teeglas. Dieses Mal, dachte sie, würde sie vielleicht aufhören und auch dabei bleiben.

Sie berührte ihr Handy, um sich die Zeit anzeigen zu lassen. Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Sie fragte sich, ob es zu früh sei, um anzurufen. Aber etwas sagte ihr, dass er abnehmen würde, sobald er ihre Nummer auf seinem Display sah. Sie entfaltete ein kleines Stück Papier mit einer Telefonnummer darauf und tippte die Zahlen ein.

Das Klingeln klang entfernt, als riefe sie in einer anderen Welt an. Auf gewisse Weise tat sie das.

»Allo.« Die Stimme klang aufmerksam und selbstbewusst, ganz so wie in ihrer Erinnerung.

»Ezra«, sagte Sarah. »Es ist eine Ewigkeit her. Wie geht es dir?«

Er zögerte. »Sarah Weston. Ich glaube es ja nicht. Wir haben seit dem Aufbaustudium nicht mehr miteinander gesprochen. Wo in aller Welt bist du?«

»Eigentlich gar nicht weit weg von dir. Saudi-Arabien. Beim Qaryat-al-Fau-Projekt.«

»Qaryat-al-Fau? Was hat das mit Cambridge zu tun?«

»Ich arbeite nicht mehr für die Universität, Ezra. Lange Geschichte.«

»Lass mich raten. Sauertopf-Simon hat dir endgültig den letzten Nerv geraubt?« Er lachte leise. »Ich kann nicht behaupten, dass ich dir das verdenke. Aber im Ernst, was ist passiert?«

Sie seufzte, als die Erinnerung sie überkam. Stanley Simon, der Professor, unter dem Sarah und Ezra während ihre Promotion studiert hatten und langjähriger Freund der Familie Weston, hatte sie vor zwei Jahren als Leiterin der Aksum-Ausgrabung empfohlen. Sie dachte, er glaube an ihre Fähigkeiten, während er in Wirklichkeit nur auf ihren Vater reagierte, der der Universität eine große Schenkung gemacht hatte. Die Bedingung: ein bedeutender Posten für seine eigenwillige Tochter, möglichst weit weg von England.

Aber das war erst viel später ans Licht gekommen. Die Spannungen entstanden, als das Aksum-Projekt eine brisante Wendung nahm: Ein äthiopischer Linguist, den Sarah und Daniel mit der Übersetzung einiger obskurer Inschriften beauftragt hatten, war ermordet worden. Die Archäologen waren darin verwickelt und die Ausgrabung der Universität Cambridge wurde vom Kultusministerium geschlossen.

So erpicht darauf, das Rätsel zu lösen als auch ihren Namen reinzuwaschen, schwor Sarah, zu bleiben und zu kämpfen. Aufgebracht befahl Simon ihr, nach Hause zu fliegen. Der Konflikt eskalierte, während sich das Geheimnis um Äthiopiens zehnten Heiligen lüftete – und von den Universitätsvätern als ein Haufen Schwachsinn abgewiesen wurde. Sarah war anderer Meinung und machte trotz aller Warnungen weiter, und dafür wurde sie als Paria gebrandmarkt. Im Grunde hatte man ihr die Wahl gelassen: ihr Job oder ihre Überzeugungen.

»Es hat den Anschein, als wäre ich nicht Mitläufer genug für Cambridge«, meinte sie. »Sagen wir mal so, wir trennten uns in beiderseitigem Einvernehmen. Sie mögen mich nicht und ich respektiere sie nicht.«

»Hm. Diese pseudopatrizialen Langweiler waren sowieso nie gut für dich. Du solltest hierher kommen, an etwas Echtem arbeiten.«

Sie lächelte. Eine solche Bemerkung war typisch für Ezra. Er war Israeli durch und durch. Obwohl er Cambridges Vorzeige-Archäologiestudent gewesen war und die Möglichkeit gehabt hatte, überall zu arbeiten, hatte er die Rückkehr in sein Heimatland nie infrage gestellt. Er besaß einen einzigen Fokus: der biblischen Archäologie nachzugehen und den Mythos von der Geschichte zu separieren. Und in der Tat machte er Fortschritte. Er war derjenige, der endgültig bewiesen hatte, dass die in Palästina gefundenen lmlk-Stempel mit König Hiskija von Juda in Verbindung standen. Er war Teil der modernen Ausgrabungsmannschaft am Tell es-Safi nahe Hebron und stellte die mittlerweile gemeinhin akzeptierte Theorie auf, dass sich der philistäische Stadtstaat Gath dort befunden hatte. Seine Erfolgsliste hörte nicht auf – vom Finden von mit biblischen Gestalten in Verbindung stehenden Bullen bis zum Aufdecken von Fälschungen, von denen sich selbst die fachkundigsten Experten hatten täuschen lassen – und hatte ihm den gerechtfertigten Ruf eines von Israels begnadetsten Archäologen eingebracht.

Sarah hatte ihn während der letzten beiden Jahre ihres Doktoratsstudiums an der Universität kennengelernt, wo sie viele gemeinsame Vorlesungen besuchten. Zu jener Zeit war sie von seinem Scharfsinn und seiner Entschlossenheit beeindruckt und hatte seine Intensität bewundert.

Ezra fühlte sich so sehr zu Sarah hingezogen, dass es an Obsession grenzte. Zwei Jahre lang hörte er nicht auf, ihr nachzustellen. Von spätabendlichen Anrufen über das Schreiben von Gedichten zog er alle Register. Sie hielt seinen Annäherungsversuchen immer stand, wenn auch auf freundliche Weise. Sie wollte ihn auf ihrer Seite wissen, aber nicht unter diesen Bedingungen. Eine Zeit lang rief er noch an, sogar nachdem sie Cambridge für ihre jeweiligen Außeneinsätze im Anschluss an die Promotion verlassen hatten – er war nach Ägypten, sie nach Jordanien gereist – aber schließlich hatten die Arbeitsverpflichtungen überhandgenommen und der Kontakt war abgebrochen. Es war bestimmt sieben Jahre her, seit sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten.

»Genaugenommen ist das der Grund für meinen Anruf«, sagte sie. »Ich bin über etwas gestolpert, das eher etwas für dich ist.«

»Wirklich? Faszinierend.«

Sarah scheute sich davor, mehr am Telefon zu sagen. An den Ereignissen der letzten Tage gemessen könnten sämtliche Wände Ohren haben. »Ich kann es dir nicht erzählen. Aber ich kann es dir zeigen. Bist du morgen beschäftigt?«

»Du willst zu mir kommen? Meine Gebete müssen erhört worden sein. Soll ich uns ins Dan einbuchen?«

»Ach, hör auf. Es ist rein geschäftlich. Und ziemlich ernst.«

»Tz. Wie immer verstehst du keinen Spaß. Okay. Komm her. Du weißt, dass ich keine Gelegenheit ausschlagen würde, dich in meiner Schuld zu wissen.«

»Das werden wir sehen. Vielleicht wirst du stattdessen auch mir etwas schuldig sein. Auf Wiederhören, Ezra.«


Sarah betrat das Labor mit zwei Bechern starken schwarzen Kaffees. Daniel, der die Nacht hier verbracht hatte, um einen weiteren Einbruch zu verhindern, saß mit hochgelegten Füßen auf einem Stuhl zurückgelehnt und hatte die Augen geschlossen. Schnell öffnete er sie.

»Hattest wohl jede Menge Erholung, was?«, fragte Sarah, als sie ihm einen der Becher reichte.

Er rieb sich den Nacken und verzog das Gesicht. »Ich habe schon komfortabler auf Felshaufen geschlafen. Und du?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wie immer.«

»Verstehe. Wie sieht es mit dem Rest des Lagers aus? Ich hab heute Morgen noch nicht nach unserem Freund gesehen.«

»Ich habe ihm gerade Frühstück gebracht. Er war ziemlich schlecht gelaunt. Offensichtlich gefällt es ihm nicht, mit verbundenen Händen in einer winzigen Hütte eingesperrt zu sein.«

»Er wird sich daran gewöhnen. Es hätte ihn schlimmer treffen können.«

»Glaubst du wirklich, dass es klug war, Abdul hierzubehalten?«

»Ich glaube, dass er uns diesseits des Gefängnisses mehr nützt. Außerdem hat er uns noch mehr zu erzählen.«

Sarah nahm einen Schluck ihres Kaffees. »Ich habe auch nach Mariah gesehen.«

»Sie schläft wahrscheinlich fest, oder?«

»Falsch. Sie ist weg.« Sie griff in ihre Tasche und reichte ihm eine aus einem Notizbuch gerissene Seite. »Das lag auf dem Bett.«

Daniel faltete den Zettel auseinander und las die Nachricht laut vor: »Es tut mit leid – ich musste vor dem Morgengrauen abreisen. Ich wurde wegen einer Krisensitzung der Fakultät zur Universität zurückbeordert. Denken Sie über das nach, was ich Ihnen erzählt habe. Mariah.«

»Interessantes Timing«, sagte Sarah. »Ich frage mich, ob diese Sitzung etwas mit uns zu tun hat.«

»Wir werden es bald herausfinden. Darauf kannst du wetten.«

Sarah studierte Daniels Gesicht. Er sah so erschöpft aus, wie es zu erwarten war, aber obwohl sein gebräunter Teint ungewöhnlich blass und das Wachstum seiner Gesichtsbehaarung seit einigen Tage ungebremst war, funkelten seinen Augen mit Intention. Sarah kannte diesen Ausdruck: Er bedeutete, dass er einen Plan hatte, und die feste Absicht, diesen in die Tat umzusetzen.

»Was willst du mit Abdul-Qadir anstellen?«

Er strich sich über die schwarzen Bartstoppeln, die seinen Kiefer und Hals bedeckten. »Ich bin nicht sicher. Ich habe ein paar Ideen, aber bis jetzt hat es noch keine Form angenommen. Eines weiß ich aber. Ich will mehr über diesen britischen Scherzkeks herausfinden, der ein Auge auf die Schriftrolle geworfen hat. Keine Ahnung, was für Beweggründe er hat, aber er ist eindeutig wild entschlossen, diese Expedition zu sabotieren. Das nehme ich nicht auf die leichte Schulter.«

»Er hat seine Sache ziemlich gut gemacht. Sieh dich um. Wir haben nur vier Crewmitglieder übrig und einer von ihnen ist ein Verräter.« Sie zögerte, bevor sie hinzufügte: »Einer, von dem wir es wissen.«

»Richtig.« Er stand auf. »Er muss aufgehalten werden.«

»Der einzige Weg ihn aufzuhalten ist, zuerst das Rätsel zu lösen. Und vor ihm zu diesem Schatz zu gelangen, was auch immer der sein mag.« Sie stellte ihren Kaffeebecher ab. »Übrigens, was meinte Mariah damit, als sie sagte: Denken Sie über das nach, was ich Ihnen erzählt habe?«

»Abdul-Qadirs Bemerkung über den Schatz Isebels … das war nicht das erste Mal, dass ich das gehört habe. Früher am Abend sprach ich mit Mariah und sie hat dieselbe Theorie vorgebracht. Sie hat ihre Erklärung auf einzelne Zeilen des Schriftrollentextes gestützt. Es war ziemlich löchrig, aber … das noch mal von Abdul-Qadir zu hören, ließ mich aufhorchen, weißt du?«

»Dann will ich dir noch eine Information geben. Die Analyse der Tonpartikel ist aus dem Labor gekommen. Es war judäischer Ton, ausdrücklich aus Jerusalem bezogen.«

»Jerusalem? Also könnte die Isebel-Theorie stimmen.«

»Vielleicht. Aber ich habe eine andere.«

»Der berühmte Sarah-Weston-Instinkt. Sag mir, was du denkst.«

»Vor einer Weile, in Äthiopien, habe ich etwas in der originalen koptischen Version des Kebra Negest gelesen. Es war von einer in einem Sandsturm verschollenen Karawane die Rede. Da stand nicht wann oder wo, aber es wurde angedeutet, dass sie der Königin von Saba gehörte.«

»Sarah, das Kebra Negest ist keine verlässliche historische Quelle. Mâkedâ und Salomon … ihr uneheliches Kind … das Schmuggeln der Bundeslade nach Äthiopien … die ganze Geschichte liest sich eher wie ein Märchen.«

»Dem widerspreche ich ja nicht. Aber was, wenn es das nicht ist? Sieh mal, du kannst die Fakten nicht leugnen. Eine Karawane aus dem zehnten Jahrhundert, ein sabäischer Sattel, judäische Artefakte, eine von einer königlichen Schreiberin verfasste Schriftrolle …« Sie klang überzeugt. »Denk darüber nach, Danny. Wer heiratete eine ägyptische Prinzessin und machte sie zu seiner Königin? Wer durchwanderte die Wüste in der Dämmerung seines Lebens? Wer hatte eine Gabe für rätselhafte, sprichwörtliche Schriften?«

Daniel rieb sich die Augen. »Warum hast du das nicht erwähnt, als Mariah da war?«

Sie konnte es sich gerade verkneifen zu sagen, dass sie ihr nicht traute. »Sie scheint von ihrer Theorie ziemlich angetan zu sein. Ich glaube, wir brauchen eine weitere Meinung. Einer meiner Freunde ist biblischer Archäologe in Israel. Er ist einer der Weltbesten. Es wäre gut, eine objektive Sicht zu erhalten.«

»Wirklich? Wer?«

»Ezra Harel.«

»Ezra Harel ist dein Freund?«

»Na ja, wir haben seit Jahren nicht miteinander gesprochen. Wir waren zusammen im Aufbaustudium in Cambridge. Warum? Kennst du ihn?«

»Wir haben uns ein Mal getroffen. Brillanter Kerl, aber ein etwas aufgeblasener Arsch.«

Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen. »So ist Ezra. Aber seine Instinkte liegen goldrichtig. Wenn irgendwer die Ausdrucksweise dieser Schriftrolle deuten kann, dann er.«

»Schlechte Idee. Die Saudis würden es nie dulden, wenn ein Israeli ihr Gebiet beträte. Eher noch würden sie die Schriftrolle ins Feuer werfen, als sie Ezra zu überlassen.«

»Warum müssen sie davon wissen?«

»Bist du verrückt? Ein berühmter israelischer Wissenschaftler, der israelische Ressourcen nutzt, um eine antike Schriftrolle zu entschlüsseln, die sehr wohl aus Israel stammen könnte … wie glaubst du, das unter Verschluss halten zu können?«

»Ezra ist sehr diskret. Für mich würde er es als Gefallen tun.«

»Okay. Nehmen wir an, das tut er, und er findet heraus, dass die Schriftrolle biblische Signifikanz besitzt. Wem gegenüber, glaubst du, wird er loyal sein – dir, seiner Studienkollegin, oder seinem Land?«

»Warum machen wir uns nicht dann Gedanken darüber …«

Er hielt die Hände hoch. »Hör auf. Wir machen uns überhaupt keine Gedanken darüber, wenn es so weit ist. Wir lassen es gar nicht so weit kommen. In Ordnung?«

Sie blieb ruhig, aber all die Frustration, die sich seit ihrer Ankunft in Saudi-Arabien in ihr angestaut hatte, brodelte an der Oberfläche. »Nein, das ist nicht in Ordnung. Wir stecken in der Klemme. Und wir brauchen Antworten. Die Nationalität der Person, die uns diese Antworten liefert, ist bedeutungslos. Die Wahrheit kennt keine Grenzen.«

»Sei nicht so naiv. Du redest von zwei Nationen, die einander hassen. Wenn du ein auf saudischem Boden gefundenes Artefakt persönlich bei den Israelis ablieferst, dann wird jede Menge Kacke am Dampfen sein. Sie werden die Repatriierung verlangen, was die Saudis zur Weißglut treiben wird. Sie werden die Zuständigkeit für sich beanspruchen und das Ganze wird zu einem ausgewachsenen Krieg werden. Ich werde nicht ins politische Kreuzfeuer geraten. Und du auch nicht.«

Sarah versteifte sich. Ihr Vater hätte sie naiv genannt und ihr verboten, sich in einen Konflikt hinein zu wagen. Sie würde sich eines Mannes wegen nicht zurückhalten. Nicht dieses Mal.

»Ich muss dich nicht recht gehört haben, denn einen Moment lang klang es so, als würdest du mir sagen, was ich zu tun habe.«

Er fuhr sich mit einer Hand durchs zerzauste Haar und atmete laut hörbar aus. Er wollte etwas sagen, wandte sich stattdessen aber ab; offensichtlich versuchte er, seine Wut unter Kontrolle zu bringen.

Sarah fügte hinzu: »Ich sage nur eines. Bevor ich praktische Archäologin wurde, habe ich einen Eid geleistet. Ich habe geschworen, dass ich vor allem anderen die Wahrheit hinter den Fakten suchen würde. Meine oberste Verpflichtung gilt diesem Eid. Gerade du solltest das wissen.«

»Oh, glaub mir, das weiß ich. Und normalerweise würde ich dir zustimmen. Aber das ist was anderes.«

»Warum? Weil es dein Projekt ist? Weil für dich so viel auf dem Spiel steht?«

Er trat einen Schritt zurück. »Ich betrachte das als Partnerschaft. Was du tust, wirkt sich auf mich aus, und umgekehrt.« Seine Stimme wurde lauter. »Wenn du das durchziehst, können wir genauso gut jetzt gleich unsere Koffer packen, weil wir hier ganz bestimmt keine Arbeit mehr haben werden. Ist es das, was du willst?«

Sicher wusste Daniel, dass der einzige Grund, warum sie diesem Einsatz zugestimmt hatte, der war, dass sie an seiner Seite arbeiten konnte. Sie hatte ihn gewählt, weil sie die gleichen Prinzipien besaßen. Zum ersten Mal zog sie in Betracht, einen Fehler gemacht zu haben.

»Arbeit?« Trotz ihrer größten Bemühungen schlich sich eine Gefühlsregung in ihre Stimme. »Glaubst du, dass ich deswegen hier bin? Muss ich es dir buchstabieren?«

Er senkte den Blick und schloss dann die Augen. Sein Gesicht war zu einem Ausdruck des Schmerzes verzerrt. »Nicht. Bitte.«

Sie zitterte. Sie wollte nicht aussprechen, was sie dachte, aber sie hatte keine Wahl. »Wenn du solche Angst hast, diesen Job zu verlieren, dann werde ich allein handeln. Ich kündige.«

Er blickte erschrocken auf. »Tu das nicht, Sarah. Bitte denk noch mal darüber nach.« Er legte seine Hände auf ihre Arme und drückte sie. »Du bist meine Partnerin. Ich brauche dich.«

»Du brauchst mich zu deinen Bedingungen.« Sie entzog sich seinem Griff. »Ich werde mich selbst nicht aufgeben. Nicht einmal für dich.«

Mit einer stummen Bitte in den Augen ließ er seine Arme fallen.

»Dann leb wohl«, sagte sie.

»Auf keinen Fall.« Er kam ihr so nah, dass sie die Wärme spüren könnte, die von seinem Körper ausströmte.

»Für uns gibt es kein Lebewohl.«

Bedauern umklammerte sie, aber dennoch musste sie sich in diesem Augenblick von ihm trennen – um ihrer beider Willen. Sie drehte sich um und lief aus dem Labor, den Blick vor der gleißenden arabischen Sonne gesenkt.

Kapitel 13


Trent Sacks lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Massagetisch und seufzte wohlig. Der junge Mann mit den klaren blauen Augen führte einige letzte, kraftvolle und zugleich behutsame Handgriffe zur Beendigung der Tiefengewebemassage aus, die ein Teil von Sacks nächtlichem Ritual darstellte.

Als er fertig war, zog er das weiße Seidenlaken zur Mitte von Sacks Oberkörper und legte ihm sanft eine Hand auf die Brust. »Soll ich Ihnen etwas Tee bringen?«

»Danke, Angus.« Sacks strich dem jungen Mann federleicht über den Unterarm. »Du hast heute tapfer gekämpft.«

»Ich bedauere, dass er davongekommen ist.«

»Das macht nichts. Du hast deine Loyalität bewiesen, indem du ihn bis zum Schluss verfolgt hast.« Er schloss die Augen und atmete tief ein. »Ich hätte jetzt gerne den Tee.«

»Ja, mein Herr.«

Ohne sich die Mühe zu machen, sich anzuziehen, stand Sacks auf und nahm sein Telefon zur Hand. Während er die Nummer wählte, fiel ihm auf, dass es in Birmingham auf fünf Uhr abends zuging.

»Warum hast du so lange gebraucht?«

»Wir hatten einen kleinen Besuch«, sagte Sacks. »Daniel Madigan hat hierher gefunden.«

»Madigan? Wie ist das möglich?«

»Unser arabischer Informant hat ein doppeltes Spiel gespielt. Angeblich kam er her, um uns die Computerdateien zu bringen. Aber er war nicht allein.«

»Ich hoffe, Madigan hat nichts gesehen?«

»Ich fürchte, er hat. Er war unten in der Kaverne. Meine Leute waren ihm sofort auf den Fersen und haben ihn in den Fluss hinausgejagt. Sie haben ihn verwundet, aber letzten Endes ist er entwischt.«

Der Mann räusperte sich. »Was ist mit der Frau?«

»Uns wurde berichtet, dass sie al-Fau vor dem Zwischenfall mit dem Kurier verlassen hat. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie und Madigan getrennte Wege gehen.«

»Gut. Ihre Allianz zerfällt. Aber wir können keinem von beiden trauen. Du musst jederzeit wissen, wo sie sich jeweils aufhalten. Und wenn die Zeit gekommen ist …«

»Dann werde ich sie eliminieren.«

»Ja. Aber sei vorsichtig. Sie ist Westons Tochter. Wir dürfen unter keinen Umständen Verdacht erregen. Verstehst du mich?«

Er schluckte schwer. »Vollkommen.«

»Gut. Und was ist mit der Schriftrolle?«

»Sie wurde sicher überbracht und befindet sich in diesem Moment in meinem Besitz.«

»Dann sind wir bereit für Phase Zwei.«

»Das sind wir in der Tat«, sagte Sacks. »Wir brechen im Morgengrauen auf. Aber zuerst muss ich mich noch um eine Kleinigkeit kümmern.«

»Sehr gut. Ich erwarte die nächste Nachricht vor Ort.« Eine kurze Stille hing zwischen ihnen. »Das hast du gut gemacht, mein Sohn.«

»Danke, Vater«, antwortete Sacks mit einem gehauchten Flüstern. Die Verbindung wurde getrennt und er schaltete sein Telefon für den Rest des Abends ab.

Angus betrat den Raum mit Tee und einem frisch gebügeltem Sherwani, dem traditionellen Gewand aristokratischer indischer Männer.

Sacks nahm einen Schluck des Rosentees.

Angus kniete sich hin und hielt die enge Tunnelzughose auf, sodass Sacks hineinsteigen konnte. Er zog das Kleidungsstück bis zur Taille hinauf und band die Kordel fest zu. Dann hielt er den langen Brokat-Gehrock offen, dessen weiche weiße Seide mit Silberfäden an den Aufschlägen und am Kragen bestickt war, und Sacks schlüpfte mit den Armen hinein. Angus knöpfte die Jacke vom hohen Kragen bis zur Mitte der Oberschenkel zu.

Sacks warf sein seidiges schwarzes Haar zurück und ließ es über seinen Rücken fallen. Sein Ausdruck verhärtete sich und in seinem Herzen flammte Wut auf. Er wandte sich Angus zu. »Bring mich zu ihm.«

Die beiden liefen durch den langen, dunklen Korridor zu einem abgeschiedenen Raum auf der Ostseite des Gebäudes, den Sacks vor dem Rest des Hauses durch den Einbau einer Geheimtür verborgen hatte. Weil er in Indien nicht die rechten Facharbeiter dafür finden konnte, hatte er amerikanische Bauunternehmer einfliegen lassen und diese mehrere Wochen lang angestellt, um zu gewährleisten, dass das System zu seiner Zufriedenheit funktionierte.

Es war eine äußerst wichtige Ergänzung seiner Festung, denn hier hielt er die Sammlung von für seine Mission unverzichtbaren Büchern und Artefakten versteckt. Heute jedoch funktionierte der Raum ebenso gut als Gefängnis.

Sacks lief zum Kamin und rückte den Kerzenleuchter auf dessen Verkleidung zurecht, um den Mechanismus zu aktivieren. Dann gab er einen Code in einen Flachbildschirm ein und Rauchsammler und Feuerraum lösten sich in einem Stück von der Wand. Nicht gewillt, sich über Gebühr anzustrengen, trat Sacks beiseite und ließ Angus die Konstruktion verschieben, um den Durchgang freizulegen.

Angus betrat den Raum zuerst. Vor dem am Boden liegenden Mann, dessen Hände und Füße mit Stahlketten gefesselt waren, blieb er stehen. Mit lauter, feierlicher Stimme verkündete er: »Heil dem rechtschaffenen Trent Sacks.«

Sacks schritt langsam mit vor seiner Brust verschränkten Händen in den Raum hinein. In seinem teuren weißen Sherwani und mit seinen rabenschwarzen Haaren, die ihm über die Schultern und bis zur Mitte seines Rückens fielen, wusste er, dass er imposant und königlich aussah. Das war seine Absicht. Er wollte den Eindruck eines erhabenen, unantastbaren Wesens erwecken – einer Art König – um Abdul-Qadirs Abtrünnigkeit zu betonen.

Der gefangene Mann sah seinen Entführer, dessen Gesicht er zum ersten Mal erblickte, mit so gespanntem Ausdruck an, dass es wirkte, als fielen ihm die Augen aus den Höhlen. Sein dunkles Gesicht war mit einem Schweißfilm bedeckt, während er seines Schicksals harrte. Er versuchte nicht, sich gegen seine Fesseln zu wehren, sondern zitterte stattdessen in ihnen.

Sacks war es zufrieden, dass Abdul-Qadirs Angst vollkommen war. Er sah durch den Raum zu den verschlossenen Vitrinen, die die biblischen Artefakte enthielten, welche er im letzten Jahrzehnt mit großer Mühe zusammengetragen hatte – beschriebene Ostraka, Bullen, Fragmente von Schriftrollen aus den Höhlen Qumrans und der wertvollste Besitz von allen, die Schriftrolle von al-Fau – und neuerliche Wut über das Unvermögen seines Informanten brodelte in ihm auf. Der Araber hatte nicht nur den ersten Versuch verpfuscht, die Schriftrolle in Besitz zu nehmen, er hatte auch den schlimmsten Verrat begangen – den Feind an seine Türschwelle zu bringen.

Ja, dachte er. Er verdient den Richtspruch des Herrn.

Ruhig und ohne Abdul-Qadir in die Augen zu sehen, sagte Sacks: »Weißt du, was du getan hast?«

Obwohl er eine Antwort zu geben versuchte, brachte Abdul-Qadir keinen Ton heraus.

Sacks wandte sich ihm zu und verlangte mit so lauter Stimme, dass sie ein Echo erzeugte: »Sprich!«

Der Araber senkte den Blick und schluchzte leise.

»In Ordnung.« Sacks drückte auf einen Knopf an der Seite einer Vitrine.

Innerhalb von Sekunden erschienen drei seiner Männer in der Tür.

Angus reichte Sacks ein Bündel aus Seidenbändern und eine Rolle Isolierband.

Sacks kniete sich neben Abdul-Qadir und stopfte ihm die Seide in den Mund. »Dieses Tuch symbolisiert die Hülle Gottes, der du dich widersetzt hast.«

Der Gefangene protestierte mit gedämpften, panischen Schreien, als Sacks die Seide immer tiefer in seinen Rachen schob. Sacks riss zwei Stücke des Isolierbands ab und klebte eines über Abduls bebende Lippen, das andere über seine offenen, angststarren Augen. Der Gefangene stöhnte und wand sich wie ein verwundetes Tier im Todeskampf.

Sacks stand auf und wischte Abdul-Qadirs Schmutz mit einem seidenen Taschentuch von seinen Händen. In feierlichem Ton zitierte er aus dem Buch Jeremia. »Ich will euch heimsuchen, spricht der Herr, nach der Frucht eures Tuns; ich will ein Feuer anzünden in ihrem Walde, das soll alles umher verzehren.«

Die drei Inder betraten den Raum mit einer Bahre und einigen Metern roter, bestickter Seide. Sie hoben den wild zappelnden Abdul-Qadir auf und legten ihn auf die Bahre. Seine Gliedmaßen und seinen Hals banden sie sicher am Gestänge fest, sodass er vollständig bewegungsunfähig war. Während der Araber gedämpfte Angstschreie ausstieß, begannen die Männer damit, seinen Körper von Kopf bis Fuß in die blutrote Seide zu wickeln.

Erhobenen Hauptes atmete Sacks tief ein, zufrieden mit dem Werk der Männer. »Beseitigt ihn«, verlangte er und verließ den Raum.

Mit Angus auf den Fersen folgte er der Wendeltreppe zu einem leeren Raum mit einem großen, den Ganges überblickenden Fenster hinauf. Stumm wartete er vor diesem Fenster, bis seine Männer mit der Bahre das Gebäude verließen. Er sah dabei zu, wie sie Abdul-Qadirs eingewickelten Körper in ein Motorboot luden und dieses zu Wasser ließen. Der Plan war perfekt: Niemand in Varanasi würde einen solchen Vorfall hinterfragen. Man würde annehmen, der Körper auf der Bahre wäre das Opfer eines Schlangenbisses oder eine schwangere Frau oder eine andere unglückliche Seele, deren sterbliche Überreste dem hinduistischen Glauben nach nicht durch Verbrennen beseitigt werden konnten.

Die drei Henker lenkten das Boot zur Mitte des Flusses, so weit ab vom Verkehr wie möglich, und hoben die Bahre an deren Ende hoch. Mit Wonne stellte Sacks sich die erstickten Verzweiflungsschreie Abdul-Qadirs vor, als sein Körper den heiligen Tiefen des Ganges übergeben wurde.

Kapitel 17


Der Felsvorsprung war nicht einfach zu erreichen. Sarah plante ihre Route und schätzte, dass ihre Reise den größten Teil der Nacht in Anspruch nehmen würde. Sie musste zum Hochplateau gelangen und dann auf dem Weg zu einer tiefen Schlucht über einem ausgetrockneten Flussbett eine weitreichende Felsenfläche überqueren. Auf der anderen Seite dieser Schlucht lag die Felswand und, wie sie annahm, auch die gesuchte Höhle.

Der Mond, jetzt eine strahlend weiße Scheibe, die höher am Himmel schwebte, bescherte der trostlosen Wildnis einen silbrigen Glanz. Das Spiel zwischen Schatten und schwachem Licht ließ den fernen Gebirgszug wie eine Mondlandschaft erscheinen. Sie war dankbar für die zusätzliche Helligkeit; sie war ein Segen in diesem heimtückischen, gnadenlosen Land.

Sarah seilte sich mit relativer Leichtigkeit von ihrem Aussichtspunkt ab, was ihr Vertrauen in ihre Eigensicherungsfähigkeit stärkte. Als ihre Füße den Boden berührten, sammelte sie das Seil und die Haken ein und verstaute sie in ihrem Rucksack. Sie würde sie wieder brauchen, um die Schlucht hinaufzuklettern und die Öffnung in der Felswand zu erreichen. Sie zurrte die Brust- und Hüftriemen ihres Rucksacks fest, richtete das Gummiband, das ihre dichten blonden Locken in einem Pferdeschwanz hielt, und begab sich in einen leichten Lauf über die seicht ansteigende Oberfläche des mondbeschienenen Plateaus.

Ein Wolfspaar heulte abwechselnd. Das Geräusch kam vom Gipfel einer nahen Felsformation, hallte aber durch den Kalksteinkessel. Ihr Puls beschleunigte sich.

Sie hörte auf zu joggen, als sie eine felsenübersäte Ebene erreichte, die allmählich in Bodensenken und Anhöhen überging – das Landäquivalent zu Wellenkämmen. Um keine Schlangen oder Skorpione aufzuscheuchen, oder andere übel gesinnte Wüstenbewohner, bewegte sie sich behutsam zwischen den Gesteinsbrocken hindurch. Sie war erstaunt, welch eine Flora es in diesem Teil der Wüste gab. Büsche wuchsen zwischen den Felsen und ließen das ausgedörrte Land beinahe fruchtbar erscheinen. Irgendwo gab es Wasser. Wenngleich zwei Flüsse – Nachal David und Nachal Arugot – durch die Täler En Gedis flossen, so waren sie doch recht weit entfernt von hier. Sie fragte sich, ob es einige unterirdische Quellen gab.

Die Gipfel und Täler in diesem Teil der Wüste verlangsamten Sarah erheblich. Das wogende Meer versteinerten Sandes und Kalksteins bot keine Möglichkeit zur Hast. Sie versuchte, zu einem meditativen Rhythmus zu finden, war aber zu unruhig. So nahe, Salomons Geheimnis zu entdecken, wurde sie vom Adrenalin getrieben, und vom unbändigen Verlangen, Antworten auf längst vergessene Fragen zu finden. Ihre Sinne waren ganz bei der Sache. Sie fühlte sich wach, stark und lebendig.


Schließlich erreichte Sarah den Rand der Schlucht. Mit den Händen in den Hüften schöpfte sie nach dem körperlich anstrengenden Marsch Atem. Er hatte mehrere Stunden gedauert; weit länger, als sie berechnet hatte. Sie sah auf ihre Timex und stellte fest, dass es auf drei Uhr zuging. Ihr blieben etwa drei Stunden Dunkelheit, um ihre Erkundung zu beenden. Sie musste schnell sein.

Sarah musterte die Steigung der Schlucht. Sie war beinahe senkrecht und fiel fast sechzig Meter zum Boden ab, wo einst die Flüsse der Antike geflossen waren. Nur vom schwachen Licht des Monds beleuchtet erschien die Felswand nicht bedrohlicher als manche andere, der sie schon gegenübergestanden hatte. Die verdichteten Kalksteinschichten, von den Wüstenwinden über die Jahrtausende hinweg aufgeraut, waren kahl und feindlich. Das Positive daran war, dass die Textur des Felsens einige Griffe und Tritte bot. Aber eine falsche Bewegung könnte zu schlimmen Verletzungen führen.