Über Nils Ole Oermann

Foto: Privat

Der in Oxford und Harvard ausgebildete Historiker, Theologe und Jurist Nils Ole Oermann, Jahrgang 1973, ist Professor für Ethik an der Leuphana Universität Lüneburg und Gastprofessor in St. Gallen. Oermann veröffentlichte u.a. eine Biographie über Albert Schweitzer und den Bestseller Tod eines Investmentbankers. Er lebt mit seiner Familie in der Altmark.

Endnoten

Honeckers Enkel: »Ein Rebell bin ich erst heute«, in: Zeit Magazin, Nr. 10, 3.3.2011.

http://www.mdr.de/damals/archiv/leben-mit-margot-honecker100.html

Vgl. http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/der-sturz-honeckers-ende100.html

Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg, Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin/Weimar 1990, S. 183.

Ed Stuhler, Margot Honecker. Eine Biografie, München 2005.

https://www.youtube.com/watch?v=GloRTnlXWlc

Honeckers Enkel: »Ein Rebell bin ich erst heute«, in: Zeit Magazin, Nr. 10, 3.3.2011.

Horst Sindermann: Vor Tageslicht. Autobiografie. Mit einem Vorwort von Egon Krenz, Berlin 2015.

Vgl. Bezirksgericht Zürich, Aktenzeichen LB080075; Andreas Mihm, 230 Millionen Euro Schadenersatz wegen Geldwäsche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.3.2010. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/230-millionen-euro-schadensersatz-wegen-sed-geldwaesche-1951750.html

Bernd Brückner, An Honeckers Seite. Der Leibwächter des Ersten Mannes, Berlin 2014, S. 9.

Alexander Schalck-Golodkowski, Deutsch-deutsche Erinnerungen, Hamburg 2000, S. 221.

Bernd Brückner, An Honeckers Seite, S. 162.

Hubertus Knabe, Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin 2007, S. 194f.

Vgl. Klaus Taubert, »In ihrer Handtasche steckte immer eine Pistole«. Margot Honeckers Chauffeur, Spiegel online, 29.12.2010 http://www.spiegel.de/einestages/margot-honeckers-chauffeur-a-949246.html

Vgl. Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 21, 27.

Vgl. Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 31f.

Vgl. ebd., S. 32f.

Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg, Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör, S. 238.

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 19.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 23.

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 44.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 25.

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 49f.

BSTU, MfS-SDM 1481, zitiert nach: Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 5860.

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 7173.

Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin 1981.

Ebd., S. 180 bzw. S. 238.

Zitiert nach: Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 56.

Ebd., S. 66.

Ebd., S. 9093.

Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg, Der Sturz, S. 36.

Thomas Kunze, Staatschef a.D. – Die letzten Jahre des Erich Honecker, Berlin 22012, S. 19f.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 95.

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 238.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 97.

Ebd., S. 105.

Margot Honecker, Zur Bildungspolitik und Pädagogik in der Deutschen Demokratischen Republik. Ausgewählte Reden und Schriften, Berlin 1986, S. 440446 und S. 268325.

Bernd Brückner, An Honeckers Seite, S. 129.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 55.

Ebd.

Vgl. Diane Ducret, Die Frauen der Diktatoren, Salzburg 2011, S. 260283.

Klaus Taubert, »In ihrer Handtasche steckte immer eine Pistole«. Margot Honeckers Chauffeur, Spiegel online, 29.12.2010. http://www.spiegel.de/einestages/margot-honeckers-chauffeur-a-949246.html

Margot Honecker, Zur Volksbildung, S. 78.

Holger Witzel, »Hallo Margot, alte Hexe«, in: Stern, 17.4.2007.

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 205.

https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Magazine/MagazinSozialesFamilieBildung/080/s-d-kleinkinderziehung-in-der-ddr-und-heute.html

http://www.sueddeutsche.de/politik/ehemalige-ddr-ministerin-margot-honecker-in-chile-gestorben-1.2983837

Die Fragen des Stern und Margot Honeckers ausführlicher Antwortbrief sind abgedruckt in: Klaus Huhn, Margot Honecker. Die rote First Lady, Berlin 2009, S. 8293.

Ebd., S. 85f.

Ebd., S. 83.

Ebd., S. 85.

Ebd., S. 8789.

Ebd., S. 90.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 32.

Margot Honecker: »Sie hat viele Briefe bekommen«. Interview mit Klaus Huhn, in: Die Zeit, 12.5.2016.

Uwe Holmer, Der Mann, bei dem Honecker wohnte, Holzgerlingen 2009; vgl. besonders Kapitel 9: Erich Honecker, S. 132154.

Uwe Holmer, Der Mann, bei dem Honecker wohnte, S. 136.

Ebd. S. 137f.

Vgl. Erich Honecker, Moabiter Notizen, Berlin 1994; Erich Honecker, Letzte Aufzeichnungen. Für Margot, Berlin 22012.

Honeckers Enkel: »Ein Rebell bin ich erst heute«, in: Zeit Magazin, Nr. 10, 3.3.2011.

Zum sozialistischen Idealmenschen geprügelt, in: Süddeutsche Zeitung, 13.6.2012 http://www.sueddeutsche.de/politik/entschaedigung-fuer-ddr-heimkinder-zum-sozialistischen-idealmenschen-gepruegelt-1.1381710

Vgl. Thomas Kunze, Staatschef a.D., S. 81.

Ebd.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 123, 133.

http://www.sueddeutsche.de/politik/ehemalige-ddr-ministerin-margot-honecker-in-chile-gestorben-1.2983837

Klaus Taubert, Der Tod der starrsinnigen Witwe, Spiegel online, 6.5.2016. http://www.spiegel.de/einestages/tod-von-margot-honecker-endstation-chile-a-1091206.html

Klaus Taubert, Das letzte Mahl, Spiegel online, 25.10.2010. http://www.spiegel.de/einestages/40-geburtstag-der-ddr-a-949188.html

Ed Stuhler, Margot Honecker, S. 161171.

Zitiert nach ebd., S. 62f.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 22.

Vgl. BND-Papiere: Erich Honecker litt jahrelang unter Ehefrau Margot, in: Die Welt, 22.1.2012. http://www.welt.de/politik/deutschland/article13827925/Erich-Honecker-litt-jahrelang-unter-Ehefrau-Margot.html

Honeckers Enkel: »Ein Rebell bin ich erst heute«, in: Zeit Magazin, Nr. 10, 3.3.2011.

Luis Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, S. 147.

Ebd.

Matthias Lauerer, Beerdigung von Margot Honecker: »Meine Oma war eine starke Frau«, Spiegel online, 7.5.2016. http://www.spiegel.de/politik/ausland/margot-honeckerdie-beerdigung-in-santiago-de-chile-a-1091267.html

Peter Tiede, Keine Tränen für die »lila Hexe«, Bild online, 7.5.2016. http://www.bild.de/politik/inland/margot-honecker/nachruf-von-peter-tiede-45703948.bild.html

Peter Tiede, Die Sex-Akte von Margot Honecker, Bild online, 8.5.2016. http://www.bild.de/politik/inland/margot-honecker/diesexakte-margot-honecker-45705598.bild.html

Zur Trauerfeier vgl. u.a.: Abschied von Margot Honecker, Zeit online, 8.5.2016. http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-05/margot-honecker-santiago-de-chile-trauerfeier

Mitleid mit Menschen, die eine Diktatur inszeniert und aufrechterhalten haben, muss man nicht übertreiben.

Helmut Schmidt

Eine kleine DDR mitten in Chile

5. April 2016, 14.40 Uhr, La Reina, Santiago de Chile:

Die Frau hinter der Kuchentheke lächelte. Wer mochte der Fremde sein, der da gleich eine ganze Blaubeertorte kaufte? Mir hingegen war beklommen zumute. Ich stand in einem kleinen Café in La Reina, übersetzt »die Königin«. La Reina ist ein schmucker Vorort der chilenischen Hauptstadt mit ihren sechs Millionen Einwohnern. Kein »Nobelstadtteil«, wie manche Medien in Deutschland über Honeckers selbstgewähltes Exil schrieben, aber eine gutbürgerliche Wohngegend. Gleich würde ich sie wiedersehen, zum vierten und letzten Mal, sie, die »meistgehasste Frau der DDR«, wie die Welt anlässlich ihres 80. Geburtstages 2007 titelte: Margot Honecker.

In den vergangenen Tagen hatten wir mehrmals miteinander telefoniert, um einen Termin für ein Treffen zu finden. Manchmal hatte ihre Stimme geschwächt geklungen, manchmal fest. Mit einem Besuch sei es schwierig, sagte sie mir. Sie könne das Bett nicht mehr verlassen, und ihr Befinden sei jeden Tag höchst unterschiedlich. Hatte ihr fortgeschrittenes Krebsleiden sie äußerlich sehr verändert? Dachte sie angesichts ihrer schweren Krankheit anders über ihr Leben als bisher? Bereute sie gar plötzlich etwas, im Angesicht des Todes? Ich sollte es bald erfahren, an jenem zunächst klaren und dann wieder wolkenverhangenen Tag im April, der auf der Südhalbkugel ein Herbstmonat ist und in dem sich die Blätter zu färben beginnen. Während ich in der Konditorei für mein Gastgeschenk zahlte und mein Kuchenpaket in Empfang nahm, ging mir noch dieser Gedanke durch den Kopf: Auch Chile ist ein Land, in dem eine Diktatur vielen Müttern ihre Kinder genommen hat, in dem Andersdenkende verfolgt, eingesperrt, erniedrigt und sogar ermordet wurden. Hätte mich die Frau hinter der Kuchentheke weiterhin angelächelt, wenn sie gewusst hätte, wer da in ihrer Nachbarschaft direkt am Fuße der Kordilleren lebte und für wen der Kuchen bestimmt war?

Es war meine dritte Reise nach Chile, es sollte das vierte und letzte ausführliche Gespräch mit Margot Honecker, geborene Feist, werden. Schon 2013 und 2015 war ich ihretwegen in die chilenische Hauptstadt gereist. Inzwischen hatten wir per E-Mail Kontakt gehalten. Doch ab Anfang 2016 waren meine Mails zum ersten Mal ohne Antwort geblieben. Ich wusste um Margot Honeckers Krebserkrankung und vermutete sofort, dass sich ihr Zustand akut verschlimmert haben könnte. Denn nicht nur, wenn es um die Beantwortung von Mails ging, hatte ich diese alte Dame als einen Menschen kennengelernt, dem preußische Sekundärtugenden wie Ordnung, Fleiß und Disziplin äußerst wichtig waren.

Als ich gleich nach Ostern 2016 in Chile gelandet war, konnte ich sie zunächst überhaupt nicht mehr erreichen. Wie in den Jahren zuvor rief ich sie erst direkt vom Flughafen und dann von meiner Unterkunft aus an und war darauf eingestellt, dass sie mich wieder zwei, drei Tage würde warten lassen, ehe sie zum Kaffee bat – stets für 15 Uhr, wobei trotz des unberechenbar dichten Stadtverkehrs pünktliches Erscheinen erwartet und Gebäck und Westkaffee gereicht wurden – für ostdeutsche Sorten wie Röstfein Mocca Fix Gold und Rondo hatte sich Margot Honecker dem Vernehmen nach schon zu DDR-Zeiten nicht erwärmen können.

Doch wenn ich diesmal die übliche Telefonnummer anrief, dann tat sich auch nach langem Läuten nichts. Ich wusste weder, wie es genau um sie stand, noch wie ich weiter verfahren sollte. Schließlich, nach drei Tagen, an einem Sonntag, hörte ich plötzlich doch ihre Stimme. Ja, sie wisse, dass ich in der Stadt sei. Und ja, sie habe meine Nachrichten bekommen, aber sie könne E-Mails nicht mehr beantworten. Ein Treffen? Das wolle sie nicht versprechen, es gehe ihr gesundheitlich nicht mehr gut. Es komme doch sehr auf ihre Tagesform an, ob sie Gäste empfangen könne.

Ich versuchte behutsam, zu ergründen, wie krank sie war, ob ihr die Krankheit Angst machte und ob diese neue Situation ihre Sicht auf Gott, die Welt und die Politik verändert habe. Ja, sehr krank, und nein, sie wisse ja, seit sie ihren an Krebs erkrankten Mann bei seinem Sterben begleitet und bis zum Schluss gepflegt habe, was da auf sie zukomme. Und dann ganz plötzlich, präzise und hart: Sie liege im Sterben. Nur ihre engste Familie sowie »drei deutsche und drei chilenische Genossen« wüssten, dass ihr Brustkrebs im Januar aggressiv wiedergekommen sei und über mehrere Organe bis zur Wirbelsäule gestreut habe.

Diese sechs Genossen würden nun alle weiteren Angelegenheiten, einschließlich der Modalitäten ihrer Bestattung, für sie regeln. Sie könne seit längerem das Bett nicht mehr verlassen. Ihre Tage seien gezählt, das wisse und akzeptiere sie. Das erzähle sie mir, sagte sie, weil ich mich bisher stets an unsere Absprachen gehalten habe und sie mir darum vertraue. Ich dürfe kommen, aber keiner Menschenseele davon erzählen, denn sonst würden die Journalisten sie belagern wie damals ihren Mann und ihr »die letzten Tage meines Lebens zur Hölle machen«. Ich versprach ihr zu ihren Lebzeiten Vertraulichkeit und wurde gewissermaßen nun temporär ihr »Genosse Nr. 7«.

Sogleich wechselte sie das Thema und sprach lieber über unsere zurückliegenden Treffen (»Wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen?«), über meine und ihre Familie, über die politische Vergangenheit der Eheleute Honecker, über ihre DDR und vor allem über ihre Sicht der Gründe, warum es diesen Staat nicht mehr gab. So bewegten wir uns auch in diesem Telefonat rasch wieder hin zu den Themen und in die Atmosphäre unserer früheren Gespräche. Ich spürte, dass Margot Honecker Gefallen daran hatte und mich wohl als eine Art Verbindung zur fernen Heimat empfand, ich bot ihr offenbar eine belebende Abwechslung. Am Ende des Gesprächs fragte ich, ob ich wieder anrufen dürfe. Sie bejahte, und nach zwei weiteren Telefonaten lud sie mich zu sich ein – wie immer für 15 Uhr, am Dienstag, dem 5. April 2016. Allerdings bestellte sie mich an einen anderen Ort als in den Jahren zuvor. Schon durch diesen Ortswechsel war mir klar, dass dies unser letztes Gespräch werden sollte. Doch ich war mir wie immer ganz sicher, dass sie den angebotenen Termin einhalten würde.

Bisher hatte ich sie in ihrem Haus besucht, in einer Siedlung mit hohem Zaun, Einlasskontrolle und Anmeldung der Gäste durch einen Torwächter. Irgendwie passte es, wie ich fand, zu einem Domizil der Honeckers, die ihre politische Macht nur durch Zäune und Wächter hatten aufrechterhalten können. Ihr Haus war geräumig gewesen, zwei Etagen mit zusammen deutlich über hundert Quadratmetern, und die Honeckers hatten sie eingerichtet, ohne zu sparen und ohne zu protzen. Im ersten Stock waren zwei Schlafzimmer, die auch ihr Mann Erich nach seinem Eintreffen in Santiago im Januar 1993 bis zu seinem Tod im Mai 1994 genutzt hatte.

Die Einrichtung wirkte teilweise chilenisch-modern, teilweise ostdeutsch-retro: ein modernes weißes Sofa und ein, wie in La Reina üblich, üppig bepflanzter Garten mit Terrasse, auf der wir saßen. Auf den Regalen bunte Kelche aus der DDR und andere realsozialistische Staubfänger. Dazu viele Bücher, meist Historisch-Sozialistisches, aber auch deutschsprachige Romane und viele Bildbände zu Kunst und Geographie. Überhaupt: lateinamerikanische Kunstwerke, Bilder mit den typischen bunten Häusern aus der Stadt Pablo Nerudas, Valparaiso. Davon einige, die dem Stil nach ihr 1974 in der DDR geborener Enkel Roberto Yáñez Betancourt y Honecker, ein freischaffender Künstler, gemalt haben könnte. Valparaiso ist eine Stadt voller Künstler. »Eine verrückte Stadt«, sagte Margot Honecker.

Das Interieur wurde komplettiert durch einen Fernseher und einen Computer, mit denen sie nach eigener Angabe intensiv das politische Tagesgeschehen in Deutschland verfolgte. Sie sagte: »Mein Enkel hat mir das Internet beigebracht. So kann ich jeden Tag mehrere Stunden deutsche Nachrichten lesen, und vor allem kann ich auch mit Genossen in Deutschland in Kontakt bleiben.« Als ich das hörte, vermutete ich, dass ihr Chile als der Ort des Exils immer noch fremd geblieben war. In ihrem Kopf und ihrem Herzen lebte diese Frau in Deutschland. Oft fragte sie mich: »In Deutschland, wie geht’s lang?« Die deutsche Tagespolitik interessierte sie sehr, und sie begann ihren Morgen regelmäßig mit der Lektüre von Spiegel Online.[1] In Chile hingegen, da sei sie seit ihrer Ankunft 1992 im Land kaum gereist, und sie spreche auch fast kein Spanisch. In Kuba, da sei sie öfter eingeladen gewesen. Auch in Namibia und Nicaragua sei sie schon gewesen, auf Einladung der dort führenden Genossen, aber Chile kenne sie mit Ausnahme ebenjener Pazifikstadt Valparaiso und Santiago kaum – und das nach über zwanzig Jahren Aufenthalt. Umso mehr Aufmerksamkeit widmete sie offenbar ihrem eigenen Stückchen Chile: Kein Stäubchen, glatte Böden und blitzblanke Fliesen waren ein Beleg dafür, dass in jenem zweistöckigen Haus mit vier Zimmern jemand wohnte, der sehr auf Sauberkeit achtete.

Nach Erich Honeckers Tod war der erwähnte Enkel Roberto zu seiner Großmutter gezogen, die ihn unterstützte. Der stämmige junge Mann fasste seine Befindlichkeit in ihrem südamerikanischen Exil einmal in einem Interview in folgendem bemerkenswerten Satz zusammen: »Ich bin der letzte DDR-Bürger, weil ich bei ihr lebe.«[2]

War ich in dieser Wohnung, dann kam ich mir zwar nicht vor wie in einer der damals so begehrten 3-Zimmer-Plattenbauwohnungen in Halle-Neustadt, Jena-Lobeda, Leipzig-Grünau oder Rostock-Lichtenhagen, denn dafür war es zu gutbürgerlich. Es fühlte sich aber auch nicht an wie in einer typisch chilenischen Wohnung mit ihrem offenen, hellen, südamerikanischen Flair. Die Einrichtung machte es einem gleich begreiflich: Hier wohnte seit fast einem Vierteljahrhundert eine Diktatorenwitwe, die gefühls- und verstandesmäßig in der intakten DDR und heilen Welt der SED lebte, die aber gleichzeitig auf einem weit höheren Standard zu konsumieren gewohnt war als die allermeisten DDR-Bürger.

 

Doch jenes Domizil gehörte nun der Vergangenheit an. Dorthin, wo ich sie 2013 und 2015 getroffen hatte, sollte ich also dieses Mal nicht mehr kommen – niemals wieder. Margot Honecker war ein letztes Mal umgezogen – und zwar als Pflegefall in das Reihenhaus ihrer Tochter Sonja, das ebenfalls in La Reina und nicht weit von ihrer alten Wohnung lag, diesmal ohne dicke Grenzmauer, aber immerhin mit dickem Wachmann. Es war das vorletzte Haus in einer langen Reihenhaussiedlung. Eine edle braune Holztür. Wiederum einladend eingerichtet, wiederum nicht luxuriös, aber auch nicht billig. Margot Honecker sagte, sie wolle jetzt ihre alte Wohnung in La Reina vermieten, um sich mit den zusätzlichen Einnahmen angemessen pflegen lassen zu können. Rund um die Uhr wurde sie von chilenischen Krankenschwestern versorgt, die der bettlägerigen alten Frau Morphin gegen die Schmerzen verabreichten: »Ich kriege alle vier Stunden Opium gespritzt.« Sie sagte das mit fester Stimme und ohne jede Bitterkeit.

Im Haus ihrer Tochter also sollten wir uns wiedersehen, und vom Krankenlager aus begrüßte Margot Honecker mich in jenem Zimmer, in dem sie einen Monat später sterben sollte. Als ich es betrat, lag keinerlei Geruch nach Alter, nach Krankheit oder Tod in der Luft, wie man ihn aus manchem Pflegeheim kennt. Bis auf die zahlreichen Tablettenpackungen deutete in dem hellen, freundlichen Zimmer nichts darauf hin, dass Margot Honecker nur noch vier Wochen zu leben haben sollte.

Ihr Gesicht wirkte auch nicht fahl oder eingefallen, wie ich das erwartet hatte, sondern sie hatte den leicht gebräunten, beinahe gesunden Teint jener Frau, die während der Zeit unserer Begegnungen auf sich, auf ihre Gesundheit und auf ihr Äußeres genau geachtet hatte. Exakt sitzende, gestärkte Blusen, wache Augen und kein Gramm Fett zu viel, ohne dabei je mager oder krank zu wirken. So kontrolliert begegnete mir Margot Honecker nicht nur zu diesem Anlass.

Als ich den Raum langsam, ja vorsichtig betrat, saß sie bereits kerzengerade auf dem Bett, in modischem Poloshirt und dunkelblauem Pullover, eine weiße Decke über die Beine gebreitet. Sie wirkte trotz des Morphins nicht benebelt. Und sie klang auch nicht schwach wie manchmal am Telefon. Sie war ganz bei sich und schien sich auf ihren Gast zu freuen. In keinem unserer Gespräche hatte sie trotz ihres hohen Alters je ein Problem gehabt, sich an Menschen und Ereignisse zu erinnern. Sie zeigte bis zum Schluss nicht das leiseste Anzeichen einer Altersdemenz.

Sie war bestens auf meinen Besuch vorbereitet – alles wie immer eigentlich. Mit einer Ausnahme: Wir wussten beide, dass es der letzte Besuch sein sollte. Das hatte sie mir bereits am Telefon gesagt. Ein Abschied für immer, nicht unter Freunden, aber unter Menschen, deren Wege sich mehrfach gekreuzt und die sich offenbar etwas zu sagen hatten.

Eigentlich bildeten wir eine höchst unwahrscheinliche Kombination. Sie, die gebürtige Hallenserin, war nicht nur fast ein halbes Jahrhundert älter als ich. Wir hatten auch in zwei deutschen Staaten gelebt, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Sie war bekennende Stalinistin und machtbewusste Ministerin, First Lady in einem totalitären Staat und unbeirrbar linientreue Ideologin. Ich wiederum wirke politisch interessiert, aber undogmatisch als Hochschullehrer an einer westdeutschen Universität und bemühe mich, mit und für junge Leute strukturiert Wissen zu schaffen. Wissenschaft ist für mich genau das: Diese bedingungslose wie strukturierte Suche nach Wahrheit, ohne zugleich Wahrheitsmonopole anzustreben oder diese auch nur zu akzeptieren.

Das war bei ihr ganz anders. Sie glaubte genau zu wissen, was wahr und was unwahr war. Einmal rekonstruierten wir gemeinsam den Liedtext des bekannten Songs der FDJ-nahen Gruppe Oktoberklub, der da lautet: »Sag mir, wo du stehst«. Darin heißt es: »Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen. / Auch nickende Masken nützen uns nichts, / Ich will beim richtigen Namen dich nennen, / Und darum zeig mir dein wahres Gesicht!«

Während ich mich fragte, warum überhaupt irgendein Staat ein »Recht« darauf haben sollte, »mich zu erkennen«, und ob es nicht Gott allein vorbehalten bleiben sollte, uns beim rechten Namen zu nennen, bin ich mir ziemlich sicher, dass sich Margot Honecker solche Fragen nicht stellte. Natürlich hatte der sozialistische Staat jederzeit das Recht, zu fordern: »Sag mir, wo du stehst.« Und da gab es keinen Raum für Ambivalenzen oder differenziertere Haltungen, sondern nur: Freund oder Feind, Revolutionär oder Konterrevolutionär, Genosse oder Klassenfeind, wahr oder unwahr.

Manchen Menschen, die anderen Böses angetan haben, geht das so sehr nach, dass sie Albträume haben und schlecht schlafen. Andere schlafen bestens. Am Ende unserer Gespräche nehme ich stark an: Wegen innerer Unruhe über ihren rigorosen Umgang mit Klassenfeinden und Gegnern ihres Regimes hat diese Frau keine Minute Schlaf verloren.

Ich habe über die Jahre öfter darüber nachgedacht, was Margot Honecker dazu bewogen haben mag, über einen längeren Zeitraum mit mir zu sprechen und mir damit Vertrauen zu schenken. Waren es vielleicht gerade die Unterschiede zwischen unseren Lebenswegen, die sie anzogen? Sie betonte mehrfach: »Ich bin Autodidakt.« Sie hätte gern mehr formale Bildung genossen. Sie habe darum einen hohen Respekt vor Bildung und Wissen. Gleichzeitig hatte sie als Ministerin für Volksbildung das Bildungswesen der DDR mit eiserner Härte ideologisch verbogen. Und sie hatte alle, bei denen sie abweichende Ansichten auch nur vermutete, gnadenlos von Bildungs- und Lebenschancen ausschließen lassen.

Ebendas, die Zerstörung von Biographien, haben die Verbände der Opfer des SED-Regimes Margot Honecker anlässlich ihres Todes noch einmal vorgeworfen. Von der Partei Die Linke war übrigens zu diesem Anlass überhaupt nichts zu hören – vermutlich deshalb, weil Margot Honecker aus jener Partei, da hieß sie noch Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), im Februar 1990 ausgetreten ist, angewidert von all den Häutungen. Zugleich trauerte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) um ihr »Ehrenmitglied Genossin Margot Honecker« mit großem Porträt auf der Webseite der Partei. Sie sei »auch fernab ihrer Heimat (…) der DDR und der gerechten Sache des Sozialismus immer treu geblieben«.