Image

 

 

 

 

Andi LaPatt

 

 

Eine fast unanständige Frau

 

 

Roman

 

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Coverbild & Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Verantwortlich für den Inhalt des Textes

ist die Autorin Andi LaPatt

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

 

3. Auflage

ISBN 978-3-945509-57-9

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Holleralle 8 28209 Bremen

 

Copyright © 2019 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

 

INHALT

 

Handbuch zum Schlussmachen

Der Stripper mit der Socke

Die Schlampe in mir

Ich geh’ in Flammen auf

Maserati zum Frühstück

Männern gibt man doch ein Küsschen oder zwei oder drei

Eine Nacht voller Liebe

Der beste Schefff von Allen

Crash Boom Bang

Der schlimmste Abend meines Lebens

Die schönste Nacht meines Lebens

Der Sturz aus dem Paradies

Jubel Trubel Heiterkeit

Mei, ist der groß

Drei Schneeflocken zuviel

Die Tücken der Technik

Die Beichte

Elektrisches Fieber

Golfen für Anfänger

Sommerregen

I do it my way

Umzug auf Italienisch

Einsichten eines Casanovas

Ein gewöhnliches ungewöhnliches Wochenende

Nummer 655

Über die Autorin

Weitere Veröffentlichungen der Autorin Andi LaPatt

Novitäten 2019/2020 im Franzius Verlag

 

 

 

 

 

 

Für Martha und Hugo

Danke für alles

 

 

Handbuch zum Schlussmachen

 

Wie zur Hölle macht man richtig Schluss?

Gibt es dafür einen Leitfaden?

Ein Handbuch?

Oder eine Hotline, die ich anrufen könnte?

Oder nein, ich hab’s: gibt es dazu keine App fürs iPhone, die ich herunterladen und befragen könnte?

In der heutigen Zeit … man weiß ja nie.

Aber mal ernsthaft, wo bin ich da nur reingeraten?

Seit drei Jahren führe ich eine Beziehung mit einem Fernfahrer, der zwar niedlich ist, supernett und ganz schön heiß im Bett ist, aber vor allem eines nicht ist: anwesend. Einer, der immer davonläuft, wenn es kompliziert wird. Und in seinen Augen wird es oft kompliziert …

Ich habe in diesen drei Jahren den Vater von Karl, glaube ich, nur einmal gesehen, seine Freunde sind mir mehr oder weniger fremd, und meine Freunde fragen mich ständig, warum ich schon wieder alleine um die Häuser ziehe. Manche lachen meinen Beziehungsstatus auf Facebook aus: in einer Beziehung mit Karl Wertmeier. Karl, seufz, er ist wirklich ein wahnsinnig lieber Mann, einfühlsam, liebevoll und immer fröhlich. Wenn er nur nicht so oft weg wäre.

OK, wir telefonieren viel, schicken uns haufenweise SMS und haben tollen Telefonsex. Wenn Karl denn mal da ist, geht es im Bett so zur Sache, dass ich drei Wochen nicht mehr vernünftig gehen oder sitzen kann. Er nimmt das mit dem Aufholen vielleicht etwas zu ernst.

Zugegeben, ich führe eine Beziehung mit ihm, aber er irgendwie nicht mit mir. Für mich macht es jedenfalls den Anschein, als mache er sich ein schönes Leben. Moment mal, müsste eine Beziehung denn nicht auch ein schönes Leben sein? Hab ich da was verpasst? Auf jeden Fall fühle ich mich wie ein Single, gefangen in einer Beziehung. Es würde ihm wahrscheinlich nicht einmal auffallen, wenn ich meinen Teil der Beziehung aufgeben würde.

Ich liebe ihn, obwohl – tue ich das wirklich? Kann das wirklich Liebe sein? Oder ist es möglicherweise reine Projektion? Gut, es ist praktisch, einem Typen der mich anbaggert, zu sagen, er soll Leine ziehen, weil ich einen Freund habe. Aber irgendwann nehmen mich die Typen nicht mehr ernst, weil besagter Freund immer durch Abwesenheit glänzt. So musste ich schon vermehrt feststellen, dass meine Freunde mich verkuppeln wollen und dabei ganz vergessen haben, dass ich eigentlich liiert bin.

Seit Monaten geht mir das nicht mehr aus dem Kopf, ich bin ständig alleine. Das kann ich auch haben, wenn ich tatsächlich Single bin. Dann weiß ich wenigstens, warum ich alleine einschlafe und alleine aufwache, warum ich an den Sonntagen alleine bin und warum ich ein Single-Dasein friste. Aber so? So kann es nicht weitergehen.

 

In den letzten Wochen habe ich oft versucht, mit Karl zu reden, alles zu klären und auf einen neuen, einen gemeinsamen, Nenner zu bringen. Schon früher gab es ähnliche Gespräche, die wenig fruchteten. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass das keine Beziehung sei, die wir da führten. Seine Antwort war nur, dass er ein Fernfahrer sei, er könne nicht so lange an einem Ort verweilen und sich nicht festlegen. Sein Brummi wäre wichtig für ihn, die Weite, das Fahren, der Geruch nach Diesel, bla, bla, bla …

Anfangs hatte ich natürlich Verständnis. Wir Frauen, zumindest ich, neigen dazu, immer wieder zu hoffen, dass er sich ändert, wenn er einen nur genug lieben würde. Ich stelle fest, dass das eine der Hauptsportarten der Frauen ist, Männer ändern zu wollen, ich fröne dieser Sportart leider auch.

Offenbar hat es auf den Weiten der Landstraße Dinge, die interessanter sind als ich oder anders gesagt, ich muss anfangen, mir selbst ehrlich gegenüber zu sein und mit dem Quatsch aufhören. Ich meine, ich lüge mich selbst in die Tasche. Ich komme mir vor wie bei einer Hotline: »Please, hold the line, bleiben Sie bitte am Apparat …« Mein Leben zieht an mir vorbei, während ich in der Warteschlange versaure, in der Hoffnung, Karl würde sich ändern und endlich mehr zuhause sein. Dabei sollte sich ein Mensch nicht ändern müssen, um zu seinem Partner zu passen oder von ihm geliebt zu werden. Es sollte doch auch so passen. Schließlich sind wir nicht in einem Katalog, in dem man bestellt, was man gerne haben möchte und es umtauscht, wenn es nicht passt.

Nur … es passt halt nicht. Ich kann es drehen und wenden wie ich will. Es ist nur schwer, sich das einzugestehen.

Wie lange soll das so weitergehen?

Wann ändert sich das endlich?

Ich meine – für mich.

Ändert sich überhaupt irgendwann einmal etwas?

Ich meine – mit ihm.

Ich hocke alleine Zuhause, auch an den Wochenenden und in den Ferien. Dabei würde ich gerne meine Freizeit mit Karl verbringen, so wie die anderen Pärchen eben auch. Ich kriege die ganze Palette der Pärchen-Epidemie um mich herum mit: Knutschen, Händchenhalten – das volle Programm. Viele haben keine Zeit, sich mit mir zu treffen, weil sie sich mit anderen Paaren treffen. Es ist wie eine Seuche. Ich kann es nicht mehr hören …

Versteht mich nicht falsch, ich bin nicht wirklich richtig in einer Beziehung, aber auch nicht richtig Single. Irgendwie gehöre ich in keines der beiden Lager. Ich glaube, es ist endlich eine Entscheidung fällig. Entweder Beziehung mit allem drum und dran oder dann lieber Single. Dann kann ich wenigstens tun und lassen, was ich will.

So versuche ich nun seit Wochen, mit Karl zu reden beziehungsweise mit ihm Schluss zu machen. Ich wäre ja eigentlich schon eine Stufe weiter. Wenn ich ehrlich bin, ist der Entscheid längst gefallen. Schlussmachen ist angesagt …, so der Plan, … Eigentlich.

Die berühmten »entweder oder Fragen« ignoriert er gepflogen und lächelt mir nur ins Telefon, wenn ich ihm sage, ich könnte auf einmal weg sein, wenn er sich nicht besser um mich kümmert: »Wo willst du denn hin, mein Sonnenschein. Mein Brummi holt dich doch wieder ein. Du kannst gar nicht ohne mich sein.«

Ernstgenommen fühlt sich anders an. Ich schaffe es aber leider auch nicht, klar zu sagen, was mir fehlt oder was ich gerne hätte. Typisch, um den Brei herumreden, und Karl sollte hellseherische Kräfte besitzen, um herauszufinden, was ich eigentlich meine. Vielleicht ist es auch einfach die Angst vor der Ablehnung oder vor dem nächsten Schritt mit allen Konsequenzen.

In den Büchern oder in den Filmen geht das immer so einfach. Mir fehlt irgendwie noch die Lebenserfahrung, das richtig zu machen. Wie macht man »so etwas« richtig? Ich übe also vermehrt vor dem Spiegel und komme mir dabei ziemlich blöd vor. Was sage ich nur? Der Spiegel gibt keine Antwort, wenn ich mit ihm rede, und so kann ich mir das Gespräch natürlich hinbiegen, wie ich das möchte. Jedes Mal lande ich bei einem Happy-End und nicht wirklich beim Beenden einer Beziehung. Ob Karl mich mit den Lockenwicklern im Haar ernstnehmen würde, ist eine zweite Frage.

Karl macht es einem aber auch nicht einfach. Sein Charme, sein Lächeln, ich werde jedes Mal schwach. Dieses Lächeln – es ist schon fast krankhaft. Karl lächelt einfach immer. Am Anfang findest du das noch charmant und nett. Alle meine Freundinnen sind ihm verfallen, sie schwärmen ausnahmslos alle von seinen tiefblauen Augen und seinem unwiderstehlichen Lächeln, seinen Grübchen und den Lachfalten rund um die leuchtenden Augen. Mit seinen auffallend blauen Augen, die durch seinen dunklen Teint verstärkt werden, und seiner ewig sonnigen Art wickelt er schlicht und ergreifend alle um den Finger, inklusive Männer.

Kein Witz.

Leider.

Ich erinnere mich an Zeiten, in denen Karl in einem Lokal für mich die Bestellung für ein Getränk aufgeben musste, weil die Kellnerin ihm an den Lippen hing und mich partout übersah. Vielleicht wollte sie mich auch übersehen. Solche Begegnungen haben nicht gerade zur Stärkung meines Selbstbewusstseins beigetragen. Und Karl besitzt nicht die Sozialkompetenz, sich für mich stark zu machen oder klarzustellen, dass ich die Freundin bin. Er kostet die Situationen auch noch aus. Wenn ich leicht säuerlich darauf reagiere, kriege ich noch eins ans Schienbein, indem er mich lächelnd vor versammelter Mannschaft bloßstellt.

Dabei kommt mir der Satz wieder in den Sinn: »Ich könne ohnehin nicht ohne ihn sein«. Wie – ich kann nicht sein ohne ihn, ich bin ja laufend ohne ihn. Bin ich egoistisch, wenn ich mir wünsche, dass er mehr Zeit für mich hat? Muss ich mir eingestehen, dass ich ihn so sein lassen soll, wie er ist und damit leben? Oder muss ich mir gegenüber endlich ehrlich sein und mir eingestehen, dass das nichts mit Liebe und Beziehung zu tun hat? Ginge denn nicht beides?

Der Gedanke, bald wieder Single sein zu müssen, fühlt sich scheiße an. Irgendwie existiere ich nicht für die Gesellschaft als Single. Man kann sich offenbar nur pärchenweise treffen. Vor allem die Frauen der Schöpfung kommen nicht auf die Idee, einen einzuladen bei einem Treffen unter Freunden, wenn du Singlefrau bist. Zu groß ist das Konkurrenzdenken, wenn Frau sich plötzlich ins Zeug legen müsste, weil ein verfügbares Weibchen im Revier herumwildert. Wobei ich von wildern weit entfernt bin – einfache Einladungen zum Grillen würden völlig ausreichen. Ich ließe dann meinen Jagdtrieb am Schnitzel auf dem Teller aus. Es gibt Frauen, die sich nicht gleich aus lauter Verzweiflung auf alles stürzen, was männlich ist, nur weil sie derzeit keinen Mann an ihrer Seite haben.

Ich suhle mich grad herrlich in einem von Meer von Selbstmitleid, als das Telefon klingelt. Es ist Karl: »Hallo Schatz, wie geht es dir? Ich bin gerade an der Veltins-Arena vorbeigefahren und habe dir dein geliebtes DAB-Export (Bier) besorgt und einen Schalke-Schal.«

Ich strahle. Auf der Stelle sind alle guten Vorsätze vergessen. Manchmal hört er sogar zu, der Gute. Es ist verblüffend. Wir waren noch nie zusammen auf Schalke, ich musste da immer alleine hinfahren. Das ist doch eine beachtliche Strecke, wenn man bedenkt, dass ich am Bodensee wohne, und Gelsenkirchen nicht um die Ecke liegt. Karlchen konnte sich merken, dass ich DAB-Export-Bier liebe und meinen alten Schalke-Schal verloren habe. Ich will nicht überheblich klingen, aber das ist echt das erste Mal, dass Karl wirklich zugehört hat. Sonst geht es irgendwie immer nur um ihn und seinen Truck.

Dass Karl sich das merken konnte, überrascht mich sehr und stimmt mich glücklich. Und meine weiblichen Hormone schütten ausreichend Pheromone aus, um dumm genug zu sein, daran zu glauben, dass jetzt alles anders wird – dass alles besser wird. Dass er endlich mehr Zuhause ist, dass er ...

Was so ein einfacher Schal ausmachen kann in bescheidenen Farben weiß-blau? Moment – halt, halt, halt, sofort Notbremse ziehen. Das hatten wir doch schon mal. Ich bin in einem tiefen Beziehungselend und hoffe auf Besserung, mache mir ernsthaft Gedanken und zack, sobald er anruft und mir ein Zückerchen hinwirft, greife ich gierig danach und vergesse einmal mehr jede Selbstachtung? Das geht exakt drei bis sieben Tage gut, dann stehen wir wieder am gleichen Punkt wie jedes Mal. Nein, da mach ich nicht mehr mit, Schalke-Schal hin oder her.

Ihr fragt euch, was ich eigentlich an Karl finde? Mittlerweile weiß ich das auch nicht mehr so genau. Aber wenn Amors Pfeil trifft, dann schaltet sich manchmal auch das Hirn völlig aus, und zwar für längere Zeit, drei Jahre um genau zu sein. Dabei ist er nicht mal eine Schönheit, der Karl. Und wenn ich ganz plakativ sein darf, wirklich gepflegt und ästhetisch ist er auch nicht. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass es nicht immer nur auf das Äußere ankommt. Und wenn ihr mir jetzt unter die Nase haltet, dass er nicht viele innere Werte hat, muss ich euch sogar beipflichten. Er ist trotzdem kein schlechter Kerl.

 

Ich versuche, mit Karl am Telefon zu reden. Er säuselt mir das Blaue vom Himmel, er sei am Wochenende zuhause und wolle mit mir sogar zum Stadion gehen – in die AFG-Arena in St. Gallen. Der FC St. Gallen spielt gegen den FC Zürich, ein Spiel, das ich mir als Fußballfan der regionalen Mannschaft aus der 1. Liga natürlich nicht entgehen lassen will. Karlchen will mit mir zum Fußball gehen? Jetzt gibt’s schwarzen Schnee. Karl hasst Fußball. Dass er so weit gehen würde, erstaunt mich dann nun doch. Normalerweise wollen die Männer zum Fußball, und die Frauen tun sich damit schwer, aber bei uns ist das umgekehrt. Karl nervt sich, wenn ich mich bei der Fußball-WM am TV aufführe wie ein wild gewordener Hooligan. Bierchen in der einen Hand, Popcorn in der anderen. Das hätte so nichts Frauliches, meint er dann, und überhaupt, er mag keinen Fußball, schon gar nicht die deutsche Nationalmannschaft, die mir persönlich sehr am Herzen liegt.

Andere Männer würden sich alle zehn Finger ablecken, wenn ihre Frau mit ihnen Fußball schauen würde. Ich erwische ausgerechnet ein Exemplar, das mit den Männer-Sportarten so gar nichts anfangen kann. Auch die Moto GP schaue ich mir alleine an – eine verkehrte Welt. Vielleicht hätten mich aber gerade solche Dinge darauf hinweisen sollen, dass Karl der falsche Mann für mich ist.

Dass er jetzt mitkommen will ins Stadion, halte ich im Moment für ein wirkliches Wunder. Und ein weiteres Mal bin ich dumm alles von ihm genug zu glauben und auf seinen Charme hereinzufallen. Vielleicht sind ja noch weitere Wunder möglich, wer weiß. Karlchen gibt mir Dutzende von Telefonküsschen und sülzt mir die Ohren voll, wie sehr er sich auf mich freue.

 

Es ist Mittwochabend, und nach dem Telefongespräch mache ich mich gleich auf, Tickets für den Samstag zu besorgen. Ich möchte sichergehen, dass wir im Fansektor Platz haben. Ich will ja, dass meine Freunde mich mit Karlchen sehen. Seit meinem zehnten Lebensjahr gehe ich immer wieder ins Stadion, um die Mannschaft in grün-weiß anzufeuern.

Wenig später habe ich die Tickets und kann es kaum erwarten, bis es Freitagabend wird. Noch einmal schlafen, dann kommt er heim, und zum ersten Mal in drei Jahren schafft er es sogar, mit mir ins Stadion zu gehen. Meine Leute werden Augen machen. Ha, ich freue mich. Nichts mehr mit blöden Sprüchen, ich wäre ständig alleine unterwegs. Verflogen auch die Idee, mit Karl Schluss zu machen. Eigentlich, wie immer seit Monaten. Warnsignale aus der Bauchgegend ignoriere ich erfolgreich.

 

Freitagabend. Wochenende steht vor der Türe. Ich mache mich gut gelaunt aus dem Büro (ich bin Personalassistentin in der Firma Kempter Metall GmbH) in Richtung nach Hause.

Endlich Wochenende, ich freue mich sehr.

Der Abendverkehr hat noch nicht eingesetzt. Ich bin früh unterwegs.

Mein heiß geliebter Volvo steht auf dem Parkplatz und wartet brav auf mich.

Weiß, C30, getunt, tiefergelegt, schönes Teil.

Ich bin sehr stolz auf meinen weißen Schweden.

Ich bin nämlich ein unheilbarer Volvo-Fan.

Anfangs war ich so stolz auf das neue Auto, dass kaum jemand gewagt hat, sich dem Auto näher als zwei Meter zu nähern. Ich habe all jene, die ins Auto eingestiegen sind, mit einem unsichtbaren Metalldetektor untersucht, damit sie keine Kratzer hätten verursachen können. Meine Mutter wäre einmal beinahe kollabiert, weil sie sich nicht traute, sich anzuschnallen. Mein Vater geht schon gar nicht in die Nähe des Volvos. Wenn ich ihn bitte, die Schweizer Autobahn-Vignette vom Vorjahr wegzumachen, weigert er sich kategorisch, das zu tun, mit den Worten: »Diesem Auto nähere ich mich nicht näher als bis auf fünf Meter.«

Gut, zugegeben, ich habe es am Anfang leicht übertrieben, wenn es um meinen weißen Schweden ging. Naja, um ehrlich zu sein, ich habe es völlig übertrieben. Ein Beispiel gefällig? Ich wäre niemals in St. Gallen abends ausgegangen und hätte den Wagen einfach so auf einem Parkplatz geparkt, den ich nicht mit eigenen Augen hätte überwachen können. Wenn ich überhaupt in die Stadt weggegangen wäre und den Volvo hätte parken müssen, dann nur an einem Ort, von wo aus ich ihn sicher im Blickfeld gehabt hätte. Sobald jemand in die Nähe des Wagens gekommen wäre, wäre ich aus dem Lokal gestürzt und hätte das Auto todesmutig verteidigt. Es war in dieser Zeit etwas schwierig, das meinen Freunden begreiflich zu machen.

Ich bin nicht stolz auf mein Verhalten. Zum ersten Mal ein neues Auto zu fahren, ist einfach großartig. Ich wollte, dass dieser schöne Erfolg nie aufhört und ihn jeder sehen kann – und zwar ohne Kratzer. Und so schön weiß wie er leuchtet, ist er einfach eine Augenweide. Ich habe den Wagen auch eine Weile lang jeden Samstag geputzt, poliert und beinahe vergoldet. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich ihn wohl mit ins Bett genommen. Er sieht heute noch aus als wäre er direkt aus dem Ausstellungsraum gefahren worden. Mittlerweile bin ich entspannt(er), wenn es um den Wagen geht. Noch nicht wirklich richtig entspannt, aber doch mehr als am Anfang. Die Leute in meinem Umfeld müssen nicht mehr konkret Angst haben, ich würde ihnen etwas antun, wenn mein Auto einen Kratzer abbekommen würde. Allerdings habe ich die Tendenz, immer mal wieder in alte Schemata zurückzufallen. Ich kann heute noch einfach minutenlang auf den kleinen weißen Schweden schauen und ihn anhimmeln. Aber es wird besser …

 

Ich öffne den Kofferraum, (mein Schefff sagt immer, der Kofferraum meines Autos sähe aus wie ein Weinkühler) um meine Tasche zu verstauen, als mein Handy klingelt. Ich krame in meiner Tasche und sehe, dass es Karl ist, der anruft: »Hey, mein Schatz, alles klar bei dir?«

»Ja, natürlich alles klar, ich freue mich auf morgen – wo bist du gerade?«, will ich wissen und strahle. Mein Strahlen erstirbt schnell, als ich das altbekannte Räuspern und einen ganz bestimmten Unterton höre.

»Schatzi, ich ähm ... ich weisß gar nicht, wie ich es sagen soll, aber ...« Er macht eine Pause.

»Oh nein, sag mir jetzt nicht, dass du nicht nach Hause kommst«´, werfe ich ihm wütend entgegen und bereue es sofort wieder. Ich bin sonst nie wütend. Ich bin einfach kein streitsüchtiger Mensch, ich hasse das. Ich mag Streitereien nicht.

»Schatz, sei mir nicht böse, ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht«, säuselt er mir ins Ohr.

Ich kann nicht anders, ich bin neugierig und will wissen, was die gute Nachricht ist. Wir Frauen sind so leicht zu manipulieren. Ich hasse es.

»Die gute Nachricht ist, dass ich heute Abend zuhause bin und die schlechte, dass ich dafür morgen schon wieder wegfahren muss. Ich kann endlich nach Schweden fahren, es sind zwei Kollegen ausgefallen. Eine dringende Lieferung nach Schweden. Du verstehst das doch. Du weißt doch selbst, wie sehr ich mir wünsche, in den Norden fahren zu können. Ist das nicht super?« Ich spüre seine offensichtliche Begeisterung.

Meine Begeisterung dagegen hält sich just in diesem Moment extrem in Grenzen und das genauso offensichtlich. Karl will es partout nicht auffallen. »Ja, super«, murmle ich.

Na, immerhin, er ist heute Abend zuhause.

»Sei doch so lieb und geh noch einkaufen, nimmst du ein paar Bierchen nach Hause? Es wäre klasse, wenn du Rahmgeschnetzeltes kochen würdest mit dem selbst gemachten Kartoffelbrei, den du so klasse machst und die Creme Fraiche-Karöttchen dazu.«

Karl bittet mich also auch noch um sein Lieblingsessen. Und ich dumme Gans gehe brav ins nächste Shopping-Center und zum Metzger im Dorf und kaufe brav ein – natürlich auf meine Kosten – gehe brav nach Hause, mache ein hübsches braves Mädchen aus mir und koche brav sein Leibgericht.

Karl kommt nach Hause, duscht, summt vor sich hin, versprüht gute Laune. Die schmutzige Wäsche wirft er vor den Wäschekorb, obwohl ich ihn in regelmäßigen Abständen darum bitte, den Deckel zu heben, um stinkende Socken & Co. darin zu verstauen und nicht davor.

Wir essen gemeinsam, was ich stundenlang frisch zubereitet habe. Er säuselt mir die Ohren voll, ich kann ihm nicht widerstehen. Natürlich landen wir im Bett, natürlich gibt er wieder den Marathonficker, und natürlich kann ich mich am nächsten Tag kaum mehr bewegen, geschweige denn, vernünftig gehen oder mich schmerzfrei hinsetzen. Das Geschirr bleibt schmutzig auf dem Tisch stehen. Das hat Zeit, bis er weg ist und ich für ihn alles wegräumen und abspülen kann.

Ja, es war schön, ja, ich freue mich für dich, fahr gut, mach’s gut, bla, bla, bla … Türe zu. Und weg ist er auch schon wieder. Auf nach Schweden. Ohne mich.

Seine schmutzige Wäsche waschen.

Das abgestandene, schmutzige Geschirr waschen.

Aufräumen.

Wegräumen.

Der Tag vergeht.

Er vergeht nicht.

So fühlt es sich zumindest an.

Irgendwann vergeht er dann doch, langsam, aber stetig.

Seufz, Samstagabend.

Der Samstagabend, an dem ich eigentlich im Stadion sein wollte.

Ich wollte sehen, wie die Grün-Weißen spielen, vielleicht sogar siegen.

Wollte die Luft des Stadions einatmen, die sich mit gegrillten Bratwürsten vermischt.

Wollte ein herrlich kaltes Bierchen mit Karl trinken und das Wochenende genießen.

Die Realität sieht anders aus.

Ich sitze alleine zuhause, das Bankkonto überzogen, die Tickets habe ich verschenkt.

Ich könnte heulen – falsch – ich heule …

Kleenex bitte.

Und der FC St. Gallen spielt ohne mich, wie so oft. Wenigstens spielt er Mist, immerhin etwas. Es ist unfair, ich weiß, aber wenn sie gewonnen hätten, wäre mein Elend noch größer geworden.

Da hilft nur eines: Ein guter Film und eine Flasche Prosecco. Völlig frustriert schütte ich den prickelnden Inhalt in mich hinein und schaue mir dabei zum hundertsten Mal »Ice Age« an, der gerade im Programm läuft. Normalerweise zappe ich durch die Sender. Heute bin ich sogar dafür zu frustriert. Heute will mir auch das Lachen bei Ice Age nicht gelingen, das Sid mir sonst immer entlocken kann.

Irgendwann spät nachts lasse ich die leere Flasche Prosecco samt dem einen leeren Glas auf dem Wohnzimmertisch stehen und verkrümle mich ins Bett. Und die Betonung liegt auf ein Glas. Es macht mich traurig, dass da nicht zwei leere Gläser stehen und ich einmal mehr alleine ins Bett torkle.

Ich falle in einen traumlosen Schlaf.

 

Die nächste Woche vergeht.

Karl ist in seinem geliebten Schweden.

Und in meinem Handy ist Schweigen.

Ich höre und sehe nichts von Karl.

Nicht in dieser Woche, nicht in der nächsten.

Sein Handy ist aus, wenn ich versuche, ihn anzurufen. Auf meine Nachrichten und Anrufe reagiert er nicht. Ich bin irritiert, aber ich habe es längst aufgegeben, Vermutungen anzustellen. Karl hat immer eine plausible Erklärung für alles, sodass ich mir hinterher wie ein Idiot vorkomme. Es ist nicht das erste Mal, das ich nichts von Karl höre, wochenlang …

Ich blende erfolgreich aus, dass er weder dieselben Dinge mag wie ich, noch daran Interesse hat, wie es mir geht. Es will mir auch nicht auffallen, dass er weder meine Leute wirklich gut kennt, noch an meinem Leben teilnimmt. Er ist nett, ja. Aber das ist ein Labrador aus dem Tierheim auch.

Gut, ich wäre auch gerne in Schweden.

Als Volvo-Fan sowieso.

In Gedanken bin ich oft in Schweden, allerdings seltsamerweise selten bei Volvo, sondern eher bei Karl.

Karl meldet sich immer noch nicht.

In der ersten Woche weine ich mir die Augen aus, in der zweiten trinke ich viele Sekt-Flaschen aus, und in der dritten Woche schäume ich vor Wut.

In den drei Jahren hat er es diverse Mal geschafft, sich über längere Zeit einfach nicht zu melden, aber dieses Mal geht er wirklich zu weit. Jetzt habe ich endgültig die Schnauze voll.

Nicht nur, dass ich dauernd alleine zuhause rum hocke und mich in dieser Beziehung wie ein Single fühle, nein, er vergisst mich ständig, meldet sich nicht oder lässt Termine laufend platzen. Von Geburtstagen, Feiertagen oder Jahrestagen will ich erst gar nicht erzählen. Natürlich brilliert er auch hier mit stillem Vergessen oder dezentem Übergehen sowie mit fast hundertprozentiger Abwesenheit.

Wie kann man nur so ignorant sein und sich das selbst antun? Habe ich denn gar keinen Funken Achtung vor mir selbst? Kann es das wirklich gewesen sein? Wenn ich mir vorstelle, dass ich irgendwann mit neunzig auf einer Bank draußen sitze, den Sonnenuntergang genieße und Gevatter Tod sich neben mich setzt und mir die Frage stellt, ob ich das Leben gelebt hätte, was ich mir gewünscht habe, dann erschrecke ich. Und so wird es klar und klarer, dass ich mich nicht mein ganzes Leben lang so behandeln lassen möchte. Karl ist kein schlechter Kerl, aber er ist auch nicht gut für mich.

Und in mir reift erneut der Entschluss, der schon längst fällig ist.

 

Der Stripper mit der Socke

 

Der nächste Freitagabend rückt näher, und Verona hat mich gefragt, ob wir ins Clubhaus vom MC Darkevil gehen. Ein Motorradclub von Freunden. Verona will mich abholen. Sie will mit dem Auto fahren. Sie ist zwar hochschwanger, aber sie meint, wenn sie schon keinen Alkohol trinken dürfte, dann soll doch ich wenigstens für uns beide Gas geben. Eine gute Idee, sie passt zu meiner Laune. Natürlich verabrede ich mich gerne mit ihr. Wir kennen uns schon lange, sind gute Kolleginnen, aber auch nicht mehr. Vielleicht sollte ich dringend mein Rudel an Freundinnen erweitern. Naja, es gibt in der Nachbarfirma eine Frau, mit der ich mich gut verstehe, aber wir kennen uns noch nicht so lange. Vielleicht sollte ich mich mal mit dieser Caroline Bologna verabreden und anfreunden. Woher sollte ich heute schon wissen, dass das in Kürze eine enge Freundin werden würde? Aber ich greife vor. Lassen wir erst einmal an diesem Abend den Dingen ihren Lauf. Er sollte schicksalhaft werden … und irgendwie sehr aufregend.

Verona sollte gegen 21:00 Uhr kommen. Ich denke daran, während ich Feierabend in der Firma und mich auf den Heimweg mache. Mittlerweile habe ich mich beruhigt, was Karl angeht, und so konzentriere ich mich auf den bevorstehenden Abend. Ich mache mich gut gelaunt auf den Heimweg, drehe das Radio im Volvo laut auf und stimme mich mit AC/DC auf den heutigen Abend ein. So ähnlich wie im Runaway Train fühle ich mich ja auch gerade. Rebellisch, jetzt wird mein Leben verändert. Yeah. Kopfschüttelnd zu den Klängen von Angus und Co., wie eine Szene aus Waynes World, fahre ich nach Hause, während die entgegenkommenden Automobilisten etwas verdutzt in den Volvo blicken. Ich fühle mich gut. Das wird der perfekte Abend. Ich freue mich regelrecht auf den Abend im Kreis alter Freunde und berieselt von gutem altem Rock ‘n Roll und das eine oder andere Bierchen.

 

Als ich nach Hause komme und die Haustüre aufschließe, rieche ich Duschmittel und höre Wasser plätschern in der Dusche, lautes Pfeifen und Summen. Ein Blick zum Wäschekorb eröffnet mir einen Stapel schmutziger Wäsche, der davor liegt. Das hat irgendwie nicht zu meinen Plänen gehört. Damit habe ich nicht wirklich gerechnet. Karl ist Zuhause? Oh, welche Überraschung. Ein Stich ins Herz, ich bin irritiert und hin- und hergerissen. Vorbei mit der guten Laune – etwas verwirrt betrete ich die Wohnung und schließe die Türe hinter mir.

Karl kommt nackt aus der Dusche, klar, wie sollte er auch sonst aus der Dusche kommen. Mir ist nicht mehr zum Lachen zumute. Ich fühle mich gedemütigt. Und Karl setzt dem Ganzen noch einen oben drauf. Ohne Vorwarnung ist er Zuhause, und ich als Beziehungspartnerin weiß nicht einmal etwas davon. Ich fühle mich übergangen und ausgeschlossen. Vor allem aber fühle ich mich nicht wie eine Beziehungspartnerin. Ist es wirklich zu viel verlangt, miteinander zu sprechen und sich gegenseitig abzustimmen? Im Moment ist noch nicht einmal wichtig, dass er sich wochenlang nicht gemeldet hat. Er kommt auf mich zu und nimmt mich halb nass in die Arme. Normalerweise wäre ich imstande gewesen, jetzt wieder schwach zu werden, aber meine Wut und die Enttäuschung sind dieses Mal viel größer. Als ich ihn frage, warum er sich nicht gemeldet habe, erhalte ich die üblichen Ausreden:

Der Empfang war in Schweden schlecht – gut – ist klar, ganz Schweden ist im Funkloch. Die Telefon-Gebühren sind im Ausland so hoch – aaaah ja, er verdient ein Schweinegeld, dass er nie ausgeben kann, weil er ständig unterwegs ist, aber die Gebühren sind zu hoch – völlig logisch. Ich wollte dich nicht wecken, wenn ich spät abends fertig war mit Abladen. Aaah ja, ich hab natürlich wie ein Stein geschlafen, wenn sich der Mann, um den sich mein Leben dreht, seit Wochen nicht meldet. Da käme einem nicht in den Sinn, dass man außer sich vor Sorge kein Auge zumacht. Aber ist gut, vielleicht ist es ganz gut so.

Ich bin »geladen« genug, um mir den Schwachsinn nicht mehr anzuhören, um nicht mehr auf die funkelnden blauen Augen hereinzufallen, nicht mehr schwach zu werden, wenn er mir sanft in den Nacken bläst oder wenn er mir mit tiefer erotisierender Stimme sagt, dass er mich liebt. Aus, Stopp, fertig, Amen – ich bin wütend, und das ist diesmal ganz gut so.

Ich versuche mich dennoch zu beherrschen und sage ihm, dass ich nicht mehr kann und nicht mehr will. Seine Gegenfrage? »Was kannst du und willst du nicht mehr?« Hab ich mich eben verhört? Hat er die letzten drei Jahre nicht teilgenommen an dieser Beziehung? OK, das könnte durchaus sein. Vielleicht müsste ich ihn auf den neusten Stand bringen. Aber ich habe ihm schon so oft gesagt, dass das alles für mich nicht stimmt.

Nach langen Erklärungen und wilden Gesten begreift er endlich, dass es dieses Mal ernst ist. Ich mache gerade Schluss mit ihm. Ja, liebe Leserinnen und Leser, lest es nochmals, ich mache gerade Schluss mit Karl. Obwohl ihr gerade mal die ersten Seiten dieses Romans in Kurzform von der Beziehung erfahren habt, habe ich drei Jahre hinter mir. Drei Jahre mit warten, erklären, schönreden, alleine sein, »sich-alleine-gelassen«-fühlen, Ausreden, herumreden, alles herunterschlucken und und und ...

Und siehe da, bei Karls schönem Köpfchen kommt sogar an, was ich sage. Langsam aber sicher erstirbt sein Lachen, und auch er kapiert, es ist aus. Ja, AUS. Er ist mit einem Mal still, und ich habe schon fast wieder Mitleid mit ihm. Seine Miene ist geradezu versteinert, und seine blauen Augen sehen mich traurig an. Er wollte sich einen schönen Abend mit mir machen. Ich sage ihm, dass ich mit Verona verabredet bin. Er kann nicht verstehen, warum ich in einer so ernsten Situation weggehe.

Vielleicht müsste ich erwähnen, dass er die letzten drei Jahre so gut wie jedes Wochenende mit seinen Freunden verbracht hat, wenn er denn mal hier war. Wohlverstanden, ohne mich. Auch wenn er – ALLEINE – in die Ferien gefahren ist, war er die Abende vorher und nachher mit den Freunden unterwegs, manchmal bis kurz vor Abfahrt in die Ferien, sodass ich nicht einmal die letzte Nacht vor den Ferien neben ihm schlafen »durfte.« Um die Häuser ziehen ist für ihn schon immer wichtiger gewesen, als mit der Freundin einmal einen Abend alleine zu verbringen, wenn er denn mal einen Abend Zuhause war. Gut – vielleicht verlange ich auch viel von einem Mann. Wer weiß …

Aber da muss ich doch Verständnis haben, dass er kein Verständnis hat, dass ich gerade jetzt und heute Abend verabredet bin. Ich neige zum Sarkasmus im Moment. Kann man mir das verübeln?

Sollte mich das jetzt wirklich kümmern? Bin ich wirklich so eiskalt? Ich war noch nie rachsüchtig oder boshaft, aber Sarkasmus steht mir in dieser Situation mit Sicherheit zu. Vielleicht war auch exakt das das Problem. Dass ich mir nämlich viel Zuviel habe gefallen lassen und ihm nie auf den Schlips getreten bin. Wer nimmt dich schon ernst, wenn du es selbst nicht tust und deine Bedürfnisse stets an die hinterste Stelle stellst?

Nein, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Es ist nicht mein Problem, wenn er trotz der vielen Gespräche nicht versteht. Ich habe so oft versucht, mit ihm zu reden. Ich konnte es dem Kühlschrank erklären, dem Sofa, meinem Bett und allen möglichen Gegenständen oder besser noch der Wand, denn an eben jene habe ich geredet, wenn ich eigentlich mit ihm geredet habe. Er hat mir nur nie zugehört. Deswegen überrascht ihn die Nachricht möglicherweise heute, dass ich Schluss mache. Die Wand wüsste das jetzt …

Er kann gar nicht verstehen, warum ich mich nicht wohlfühle in unserer Beziehung. Er fühle sich extrem wohl in unserer Beziehung. Klar fühlt er sich wohl in »unserer Beziehung.« Da ist die Wäsche gemacht, der Haushalt ist in Schuss, seinen Samen kann er regelmäßig abladen, und ansonsten macht er sich ein lustiges Junggesellendasein in der ganzen Welt, wann und wo es ihm gerade passt. Alleine oder gar zu zweit? Ich weiß es nicht. Unsere Beziehung? Ha, wenn ich das nur schon höre … ich lasse mir die zwei Worte auf der Zunge zergehen: u.n.s.e.r.e B.e.z.i.e.h.u.n.g …

Irgendwie sind die Worte »unsere« und »Beziehung« in diesem Zusammenhang für mich stark erklärungsbedürftig, weil ich mir darunter etwas ganz Anderes vorstelle. Aber vielleicht bin ich ja leicht unflexibel und übertreibe das Ganze. Okay, okay, ich gebe zu, ich bin wütend und sarkastisch, aber ich habe ehrlich gesagt keine Lust auf weitere Diskussionen. Jetzt, wo es ernst wird, kann Karl plötzlich diskutieren und zuhören. Vorher konnte Karl weder das eine noch das andere. Es kümmerte ihn auch nicht, was ich zu sagen hatte oder wie ich mich fühlte. Er möchte jetzt reden. Ich nicht – nicht mehr.

Es folgt ein Hin und Her. Ich habe innerlich längst abgestellt. Vielleicht ein Selbstschutz? Sonst werde ich wieder schwach. Ich spüre, wie Karl immer stiller wird, in sich zusammensinkt, traurig wird. So nachdenklich und ruhig habe ich ihn noch nie gesehen. Warum nur muss es erst soweit kommen, bis er mir zuhört oder ernst nimmt, dass es mir nicht gut geht mit der jetzigen Situation? Ich will nachgeben – nein, ich will nicht nachgeben. Wenn ich jetzt nachgebe, dann hört das Elend nie auf. Und so hart es klingt, die nächsten fünfzig Jahre bin ich mir am nächsten. Das ist mein Leben, und ich sollte irgendwann anfangen, mir diesen Respekt und diese Achtung auch zu geben. Sonst tut es keiner.

Vielleicht wird es Zeit, endlich auf mich zu achten und mich mit einem Partner zu umgeben, der wirklich ein Partner ist und sich auch ernsthaft auf eine Beziehung einlassen kann. Anfangen muss ich damit, dass ich mir selbst endlich ein Partner bin. Und zwar ein Guter. Ich zweifle nicht daran, dass Karl mich liebt. Echt nicht – das liest sich zwar jetzt seltsam, er ist wirklich ein lieber Kerl, aber er ist nicht gemacht für eine Beziehung. Er ist ein ewiger Junggeselle. Oder ich bin die Falsche, wie auch immer.

Ihr habt Mitleid mit Karl? Na, ihr hättet mich die letzten drei Jahre sehen sollen. Ihr hättet mit mir geheult, ihr hättet mit mir gelitten, ihr wärt mit mir wütend gewesen, und ihr hättet nicht verstanden, warum ich das alles so lange mitmache. Ich habe die letzten drei Jahre mehr gelitten als gelebt und das »eigentlich« ohne ersichtlichen Grund, wenn ich ehrlich bin. Ich hätte es schon lange beenden können und wahrscheinlich auch müssen. Karl hat Tränen in den Augen. Ich auch. Er beruhigt sich soweit, und wir reden dann doch lange. Ich gehe trotzdem weg, ich halte an dem Termin fest. Und ich bin ein bisschen stolz auf mich. Zu oft habe ich zuhause alleine gesessen, weil seine Freunde wichtiger waren, weil sein Motorrad wichtiger war, weil der Brummi Club XY wichtiger war, oder weil er einfach wieder eine Tour machen konnte, die er sich nicht entgehen lassen wollte. Nein, ich gehe heute Abend aus, komme was da wolle.

Er meint, er verstehe mich, soweit er das jetzt überhaupt sagen könne. Er merke, was er alles in der Beziehung mit mir versäumt habe. Und nun? Soll ich weich werden? Wir hatten ähnliche Gespräche, immer wieder. Es wurde besser, meine Freude riesig, und nach wenigen Wochen waren wir im alten Trott. Keine Besserung, ich wieder alleine zuhause und traurig, einsam und alleine in einer Beziehung, die ich nach außen hin mit viel Kraft und Energie verteidigte und schönredete.

Ich muss jetzt stark sein und das endlich durchziehen. Sonst werde ich irgendwann mit neunzig auf meiner Bank sitzen, den Sonnenuntergang beobachten ... Aber das hatten wir ja schon. Und ewig grüßt das Murmeltier.

Karl erhebt sich vom Sofa und meint, ich müsse nicht auf ihn warten. Er würde an diesem Wochenende nicht nach Hause kommen. Er müsse erst seine Gedanken sortieren. Er tut mir schon fast wieder leid. Nein, ehrlich gesagt, es zerreißt mir beinahe das Herz, ihn so zu sehen. Aber er hat all meinen Schmerz der letzten drei Jahre nie Auge in Auge gesehen. Wer hat das schon. Ich habe es nie jemandem gezeigt. Ich habe nicht nur mir etwas vorgespielt, sondern auch meinem gesamten Umfeld. Nur hinter der verschlossenen Türe, da sah es anders aus.

Nein – ihr braucht kein Mitleid mit mir zu haben. Den Schuh habe ich mir selbst angezogen. Das heißt aber auch, dass ich mich jetzt um mich kümmere und Karl Verantwortung für sein Tun und Handeln übernehmen muss.

Er steht ihm Flur, sieht gedankenverloren irgendwohin.

Er ist kreidebleich.

Hat verheulte Augen.

Er nimmt seine Jacke, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und geht.

Kein Wort.

Die Türe schließt sich hinter ihm.

Es ist leer hier.

Er war ja vorher auch nicht hier, aber das Gefühl jetzt ist neu.

Eine neue Leere.

Eine andere Leere.

Er hat irgendetwas mitgenommen.

Im Moment ist sie ziemlich leer, diese Leere, scheiße leer.

Seufz.

Durchatmen …

Tränen wegwischen, neu schminken.

Verona kommt bald.

 

Ich warte still auf dem Sofa sitzend, irgendwie ohne Gefühle, außer mir vor Gefühlen und Gedanken, bis Verona kommt. Es ist, als ob ich von mir abgeschnitten wäre. Kein Radio an, kein Fernseher an. Ich sitze einfach still, regungslos auf dem Sofa und warte. Es klingelt schließlich irgendwann an der Haustüre. Ich habe die Zeit vergessen. Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend öffne ich die Türe und begrüße Verona. Sie sieht mich erschrocken an: »Mein Gott Mädchen, du siehst ja totenblass aus, was ist denn passiert, um Himmels willen?«

»Ich hab mit Karl Schluss gemacht«, antworte ich.

Stille.

Verona sieht mich an.

Verona blinzelt lange.

Dann zwängt sie sich mit ihrem dicken Bauch an mir vorbei in die Wohnung.

Ich schließe die Türe hinter ihr.

Sie dreht sich zu mir um. Verona ist blass: »Du hast was?«

»Ich hab mit Karl Schluss gemacht«, wiederhole ich. Es klingt seltsam gelassen, mehr als ich wirklich bin.

Es dauert einen Moment, bis Verona ihre Sprache wiederfindet. »Boah, das muss ich erst einmal verdauen. Wenn ich nicht schwanger wäre, bräuchte ich definitiv 'nen Schnaps«, Verona ist beeindruckt. Ich auch. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das wirklich durchziehe. Verona legt die Hand auf ihren schwangeren Bauch.

»Es fühlt sich so leer an«, meine ich.

»Versteh ich Süße, aber ganz ehrlich, fühlte es sich vorher nicht auch schon leer an? Der Typ war ja nie da.«

Ja schon, aber es war anders, denke ich bei mir.

Verona massiert ihren dicken Bauch und fängt an, hin und herzulaufen, die andere Hand ins Kreuz gestützt. Die Wahrheit kann manchmal ganz schön wehtun. Ich brauche erst mal ‘ne Ladung Knuddeln und stürze mich schließlich in die Arme von Verona. Mit dem Schwangerschaftsbauch von Verona ist das gar nicht so einfach, sie beherzt zu umarmen.

»Möchtest du lieber zuhause bleiben?«, fragt mich Verona. »Nein, ich muss unter Leute. Es hilft ja alles nichts, es ist eigentlich nicht anders als vorher. Karl war auch nie da, nur jetzt ist es endgültig. Außerdem bin ich jetzt mal an der Reihe, ich will tanzen.«

»Was ist endgültig?«, will Verona wissen.

»Naja, endgültig, dass es nicht geklappt hat mit ihm. Blödes Gefühl, wieder Single zu sein.«