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TIMM KRUSE

MEDITIERE ICH NOCH ODER SCHWEBE ICH SCHON?

Ein Wegweiser durch
die abenteuerliche Welt
der Meditation

 

Für Gabi und den Rest der Sippe

Einleitung

»Was wollt ihr mit dieser Erleuchtung? Seid doch einfach, wie ihr seid. Erleuchteter geht’s nicht.«

Ramesh Balsekar, indischer Mystiker

Ich habe alles ausprobiert: Yoga, Gurus, Schweigen, Umarmen, Klöster, Tanzen, Nicht-Denken, Hypnose, Schreien, Heulen, Achtsamkeit. Ich fastete sogar für vierzig Tage. Ich probierte alle möglichen Religionen, versuchte es mit Astrologie, Dehypnotherapie und bewusstseinserweiternden Drogen, las Regale voll spiritueller Bücher und tobte mich an Tai Chi, Stillsitzen, Zeitlupen-Bewegung, Gebeten, Singen, Trommeln, Lachen, Auf-einem-Bein-Stehen, Gebären und Männer-Initiation aus. Ich lebte sogar eine Zeitlang wie Buddha.

Ich steckte Unmengen an Zeit, Geld und Energie in meine spirituelle Entwicklung und kam in vielen Bereichen doch keinen Schritt weiter. Ich brüllte weiterhin meine Eltern an, war anderen gegenüber sarkastisch, litt unter deren Urteilen über mich und schämte mich für mich selbst. Es dauerte Jahre, bis ich herausfand, woran das lag.

Der Antrieb meiner Sinnsuche war nicht, den Mittelpunkt der Erde oder irgendwelche weltbewegenden Weisheiten zu finden, sondern den Kern des Menschen. Meinen Kern. Es war die Suche nach dem Abenteuer, die mich mein gewohntes Umfeld, meine Glaubenssätze und meine sozialen Netzwerke verlassen ließ, um mich auf die Suche nach mir selbst zu begeben.

Es ist nicht so, dass mir Meditation leicht fiele. Ich wurde auch nicht auf einer Yogamatte geboren und mit Weisheit gefüttert. Ich wuchs in einer ganz normalen Familie auf, die nichts mit Karma, Erleuchtung oder sonstigem Hokuspokus zu tun hatte. Bis heute finde ich einen großen Teil der spirituellen Welt affig. Ich gehöre auch nicht zu den Menschen, die fünfmal am Tag meditieren oder spirituelle Lebensweisheiten und kitschige Naturbilder auf Facebook posten.

Trotzdem gibt es ein paar Übungen und Erkenntnisse aus dieser transzendenten Welt, die für mich von immenser Bedeutung waren. Genau diese fruchtbringenden Formen der Meditation und Spiritualität will ich in diesem Buch beschreiben und das Sinnlose nach Möglichkeit weglassen.

Meine spirituellen Erfahrungen brachten mir manchmal berauschende Glücksmomente, Wunschlosigkeit, unbestechliche Klarheit und wunderbare Einsichten. Und mittendrin fand ich genau das, wonach ich – ohne es wirklich zu wissen – gesucht hatte: Ausgeglichenheit, Harmonie, Ruhe und Gelassenheit.

Leider hielt die Klarheit nie an, das Glück wurde von Langeweile gefressen und die Einsichten verpufften wie Räucherstäbchen im Sturm. Ein Grund dafür wird wohl gewesen sein, dass mir eine vernünftige Einweisung fehlte; eine strukturierte psychologisch-spirituelle Anleitung, die mir sagte, welche Meditation für mich Sinn macht, welche Schrittfolge die richtige ist. Erst durch jahrelange Trial-and-Error-Versuche lernte ich, das Wirrwarr des spirituellen Dschungels zu navigieren.

Diese Irrwege möchte ich Ihnen gern ersparen. Deswegen versuche ich, Ihnen mit diesem Buch den Leitfaden durch die abenteuerliche Welt der Meditation zu geben, der mir selbst fehlte.

Dieses Buch ist in fünf Hauptabschnitte gegliedert – fünf verschiedene Wege zur Spiritualität, die Sie in Ihrer eigenen Reihenfolge beschreiten können:

  1. Der mentale Weg – spirituelle Entwicklung über den Kopf; zum Beispiel Schweigemeditation.
  2. Der körperliche Weg – spirituelles Reifen über den Körper; zum Beispiel Yoga.
  3. Der schnelle Weg – schnelle, aber oberflächliche Veränderungen, die nicht lange anhalten; zum Beispiel Hypnose.
  4. Der transformative Weg – spirituelle Erfahrungen, die wir durch unsere Anpassungsfähigkeit machen; zum Beispiel in einer alternativen Gemeinschaft.
  5. Der natürliche Weg – spirituelle Weisheit, die wir im Laufe des Lebens ansammeln; zum Beispiel durch Reisen.

Sie können die Kapitel chronologisch lesen oder frei nach Wahl springen. Das macht keinen Unterschied. Allerdings ist es für Ihren persönlichen Prozess später wichtig, dass Sie nicht zu einem »Seminar-Hopper« werden. Wenn Sie verschiedene Wege ausprobiert und die passende Meditation für sich gefunden haben, bleiben Sie dabei.

Die Struktur der fünf Wege dient der besseren Orientierung und Übersicht. Natürlich überschneiden sich die einzelnen Methoden. Es gibt keinen Königsweg und keine perfekte Reihenfolge. Idealerweise erkunden Sie im Laufe der Zeit alle fünf Wege. Und so werden Sie am Ende ganz natürlich Ihren ganz persönlichen Weg finden.

Das Eintauchen in die Welt der Meditation war für mich ein bisschen so, als würde ich zum ersten Mal Gitarre spielen. Ich stürzte mich darauf voller Begeisterung. Aber um die Gitarre richtig zu erlernen, brauche ich nicht nur Anfangseuphorie, sondern auch eine gewisse Disziplin und Beständigkeit. Ich muss Noten, Rhythmus und Griffe lernen. Ich muss verstehen wollen, wie die Gitarre funktioniert und was sie in mir auslöst.

Und wenn mich das Gitarren-Fieber einmal richtig gepackt hat, will ich nur noch Gitarre spielen – weil mich nichts anderes so glücklich macht. Ich würde eine Band gründen, meinen alten Job aufgeben, mit der Gitarre um die Welt reisen und irgendwann ein ziemlich guter Musiker werden. Und glücklich obendrein.

Legte ich die Gitarre allerdings für längere Zeit beiseite, müsste ich fast wieder von vorn anfangen. Das ist die Krux bei jedem Musikinstrument – und bei der Meditation erst recht. Erst ein wirklich geübter Gitarrenspieler kann sich eine längere Pause leisten und trotzdem sofort wieder losrocken.

Wer sich vollkommen der Meditation verschreibt, wird irgendwann – genau wie der Gitarrenspieler – sein Leben verändern, durch die Welt ziehen, sich mit anderen Meditierenden und Spirituellen zusammentun und plötzlich gar nicht mehr so leben, wie es seine Familie und Freunde von ihm erwarten. Dieser Prozess kann ziemlich schmerzhaft sein. Aber für viele ist das Glücksgefühl, ein eigenes, individuelles Leben jenseits gesellschaftlicher Erwartungen zu leben, ein erträglicher Preis für den Verlust der alten Welt.

Dieses Buch ist kein Selbsthilfebuch. Sie finden hier auch keine Rezepte, wie Sie zur Erleuchtung gelangen oder ins Nirvana kommen. Sie werden hier andere Dinge lesen als bei den berühmten Meistern. Das liegt daran, dass ich kein Meister bin.

Stattdessen werde ich in den nächsten Kapiteln die wichtigsten Meditationen aus meiner persönlichen Erfahrung beschreiben und genau erklären, wie sie funktionieren, was sie bringen und was Sie dafür tun müssen. Sie können dann entschieden, ob das etwas für Sie wäre oder nicht.

Ich möchte Ihnen mit diesem Buch Umwege, spirituelle Fallen, Geldverschwendung, die Scheinheiligkeit und das Gequatsche von Pseudo-Spirituellen ersparen – das sind nämlich die größten Fallen bei der persönlichen Entwicklung. Um das Instrument Spiritualität zu erlernen, müssen Sie sich weder in einen typischen Meditationsjünger verwandeln, noch zu allem »Namaste« sagen oder sich in bunte Togen schmeißen. Sie können einfach genau so sein, wie Sie sind.

Möglicherweise haben Sie schon Erfahrung in diesem Bereich gesammelt. Dann hilft Ihnen dieses Buch vielleicht, Ihre Spiritualität auszuweiten und sich selbst und anderen besser und sachlicher zu erklären, warum Sie sich dafür interessieren.

Außerdem könnten Sie dieses Buch jemandem schenken, der mit »so was« bisher nichts zu tun haben wollte – dem ein bisschen Meditation aber unendlich guttun würde. Vielleicht haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht wie ich – sobald Sie anfangen, von Ihren spirituellen Interessen und Lehrern zu sprechen, hört keiner aus Ihrem direkten Umfeld zu. Wenn die Information jedoch von einer fremden, zuverlässigen und bodenständigen Quelle kommt, hören sogar Eltern und Geschwister aufmerksam zu. Dieses Buch könnte eine solche Quelle sein und Ihnen die ewigen Rechtfertigungen dafür ersparen, warum Sie schon wieder meditieren, fasten, keinen Alkohol trinken, kein Fleisch essen oder nach Indien fahren.

Spiritualität ist für viele mit einem Stigma behaftet. Aber sind es nicht Fragen, die uns alle zutiefst betreffen? Wie sollen wir in unseren Leben mit überwältigender Freude und unerträglichem Leid klarkommen? Dürfen wir uns in extremen Situationen nicht nach Halt sehnen, einem heiligen Ort oder einem Ritual?

Nach Halt habe ich mein Leben lang gesucht. Und genau das habe ich gefunden. Diese Suche ist nichts, wofür wir uns schämen müssten, sondern etwas, das uns menschlich macht. Es ist die Suche nach etwas, das die Geschichte der Menschheit begleitet. Klingt hochtrabend – ist aber so.

Vielleicht kann dieses Buch dazu beitragen, dass wir uns irgendwann nicht mehr ständig für unsere spirituelle Ader entschuldigen müssen.

Im Idealfall sind Sie nach der Lektüre auf dem Weg, ein bisschen geschmeidiger durchs Leben zu gehen. Sie werden nach diesem Buch kein Virtuose sein, aber sie werden einen guten Überblick und einen ersten Eindruck von der spirituellen Welt haben. Sie können sozusagen bei der Gitarrenmusik mitsingen.

Und keine Angst: Sie müssen hier keine blöden Übungen machen, Urin trinken, Kontaktlinsen für Ihr drittes Auge kaufen, ein Schamanen-Süppchen kochen oder sonstigen Hokuspokus vollführen.

Sie können einfach dieses simple Buch lesen und schauen, was für Sie passt. Der Rest geschieht ganz automatisch. Willkommen auf Ihrer Reise!

Der mentale Weg

»Die meisten glauben, Spiritualität bedeutet, dass man ein positiverer Mensch wird. Aber spirituell zu sein, bedeutet Achtsamkeit. Achtsamkeit ist nicht positiv. Achtsamkeit ist Authentizität. Authentizität beinhaltet alles Positive, Negative und Neutrale.«

Teal Swan, Schriftstellerin

Wir beginnen mit dem mentalen Weg – dem Weg des Verstands. Hier versuchen wir durch unsere mentale Intelligenz spirituelle Erfahrungen zu machen. Wir müssen zunächst einmal geistig verstehen, wie Meditation eigentlich wirkt, und diese Wirkung über den Verstand in unseren Körper bringen. Der Kopf ist sozusagen die Basis, um überhaupt einen Zugang zur Spiritualität zu bekommen.

Der mentale Weg ist der klassische und bekannteste Weg der Meditation. Meditation selbst ist keine Übung, sondern ein Zustand, zu dem wir durch Übungen gelangen wollen. In diesem Zustand erhalten wir tiefere Einsichten über uns selbst. Bei mentalen Übungen geht es immer um das Bändigen des Verstands.

Spiritualität steht für die Einsichten und die Haltung im Leben. Sie ist keine Leistung und auch keine Medizin. Spiritualität ist das, was unserem Leben Sinn gibt und uns mit dem verbindet, was allgemein »Gott« genannt wird. Jeder Mensch ist spirituell, auch wenn nicht jeder mit seiner spirituellen Seite in Kontakt ist.

In den folgenden drei Kapiteln mache ich Sie mit Methoden bekannt, die Ihnen einen Einblick in die mentale Welt der Spiritualität gewähren.

Die kürzeste Meditation der Welt

»Ein Moment unmittelbarer Klarheit bringt mehr als ein ganzes Leben voller künstlicher Meditationen.«

Candice O’Denver, spirituelle Lehrerin

Wir beginnen mit der kürzesten Meditation der Welt.

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Das war sie schon.

Denken Sie nicht, ich will Ihnen hier einen kosmischen Witz erzählen. Ich finde Witze schrecklich. Kosmische erst recht.

Diese drei Striche oben waren schon die Meditation. Es war ein kurzer Moment des Wunderns, des Nicht-Denkens. Kurze Momente des Nicht-Denkens sind wie Musikhören. Wir sind für kurze Zeit nur darauf fokussiert. Es gibt nur die Musik und kein Denken. Lauschen Sie einmal intensiv, ob gerade in diesem Moment um Sie herum irgendwo Musik erklingt. Jetzt – genau. Vielleicht hören Sie nun etwas, das Sie vorher nicht gehört haben. In dem Augenblick des puren Lauschens existieren keine Gedanken – und somit keine Probleme. Um diesen reinen Moment geht es hier.

In der Millisekunde, in der Sie die drei Striche oben wahrgenommen haben, gab es einen winzigen Moment des Nicht-Denkens. Eine Lücke zwischen Lesen und Erkennen – den kurzen, reinen Moment.

Sehen Sie die Leerzeile unten? Versuchen Sie mal zu lesen, was dort geschrieben steht.

Da steht natürlich nichts. Aber was haben Sie in dem Moment wahrgenommen, als Sie versuchten, dort etwas zu entdecken? Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Entspannung? Vielleicht sogar ein wenig Euphorie? Auf jeden Fall existierten für einen kurzen Augenblick keine Gedanken, keine Sorgen, keine Ängste. Diese kurzen Momente des reinen Wahrnehmens wollen wir kultivieren.

Wenn wir nicht mehr denken, bleibt eine Klarheit und Wachsamkeit zurück. Die Gedankenspirale bekommt einen Riss. Diesen Riss, dieses Nichts wollen wir wahrnehmen.

Vielleicht versuchen Sie noch einmal, die Pause zwischen Ihren Gedanken wahrzunehmen. Dieses Mal ohne die drei Striche oder die Leerzeile. Das, was Sie nicht denken, ist schon die Meditation. Und wenn das Nicht-Denken nicht funktioniert, lauschen Sie. Hören Sie noch einmal genau hin, ob nicht irgendwo Musik erklingt.

Kurze Momente des Nicht-Denkens sind keine Übung im klassischen Sinn. Sie sind vielmehr das Wahrnehmen des Nicht-Wahrnehmbaren – das klingt zwar nach einer abgedroschenen spirituellen Floskel, ist es aber nicht (wie Sie später im Buch hoffentlich erkennen werden).

Versuchen Sie ganz einfach, diese Momente zu erfahren. Vielleicht hilft es Ihnen, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, dass hinter Ihren Lidern eine grenzenlose Weite herrscht. Sie werden keinen Anfang und kein Ende in dieser schwarz-orangefarbenen Welt finden. Nehmen Sie wahr, was um Sie herum oder in Ihrem Inneren passiert. Was in einem unbegrenzten Bereich geschieht, der nichts mit Ihrem Denken zu tun hat.

Nein – ich will Sie nicht vom Denken abhalten. Denken ist großartig. Ich will Sie vom unbewussten Schwelgen in Sorgen, Stress und Strapazen abhalten.

Erinnern Sie sich an das Magische Auge, diese Bücher aus den Neunzigern? Man musste ganz lange auf ein buntes Bild starren, bis plötzlich ein Dinosaurier oder ein Segelboot in 3D erschien. So ähnlich ist es mit kurzen Momenten. Es ist, als würde sich eine neue Dimension öffnen. Sie müssen es nur versuchen. Nur lesen, was ich hier schreibe, reicht leider nicht.

Wenn Sie jetzt nach draußen schauen. Was sehen Sie?

Da! Da war er wieder. Der Moment zwischen Blicken und Beschreiben. Nicht, was Sie sehen, ist hierbei wichtig. Dass Sie sehen, ist der entscheidende Unterschied. Wer sieht? Wer schaut durch Ihre Augen? Und wie erkennt diese sehende Instanz die Welt?

Das ist der kurze Moment des reinen Wahrnehmens, des Gewahrseins. In diesem Augenblick gibt es kein Problem. In Ihrem Innern mögen Sorgen, Trauer oder Liebeskummer toben. Und trotzdem singen draußen die Vögel, Wolken ziehen vorbei oder der Regen prasselt. Dies alles läuft weiter, selbst wenn in Ihrem Kopf ein Blasorchester an Gedanken, Sorgen und Problemen spielt. Das bedeutet doch, dass unsere Kopfwelt keinen Wert außerhalb des Ichs hat. Nur für sich selbst ist sie von scheinbarer Wichtigkeit. Gäbe es also diese Gedanken nicht, gäbe es auch keine Sorgen. Das ist ziemlich banal und doch so schwierig.

Vielleicht werden Ihre Gedanken bei diesem Paradox aufbegehren. Auch das ist vollkommen in Ordnung. Genau darum geht es hier. Gedanken kommen und gehen. Man sollte sie nicht zu ernst nehmen, denn sie verändern sich ständig und haben keinen Bestand. Vielleicht hatten Sie diesen Gedanken vorher gar nicht und er ist erst da, nachdem Sie ihn gelesen haben. Ist das nicht der beste Beweis dafür, dass Gedanken unbeständig und beeinflussbar sind und somit auch nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen?

In unserer modernen Welt scheint es fast verboten, sorgenfrei durchs Leben zu gehen. Wir sorgen uns um alles: die Kinder, die Politik, die Wirtschaft, die Arbeit, die nächste Reise, die Rente, das Wetter und so weiter. Wer keine Sorgen hat, ist oberflächlich und dumm. Wir glauben so fest an unser eigenes Elend, dass wir jeden Morgen die Zeitung lesen, um unsere Sorgen zu füttern, bestätigen und wachsen zu sehen. Wir schauen fern, um mit Sorgen berieselt zu werden. Wir hören Radio auf dem Weg zur Arbeit, um uns von absurd gut gelaunten Moderatoren auf andere Gedanken bringen zu lassen, bevor die Nachrichten wieder von Krisen, Terror und Katastrophen berichten. Und so häufen wir nicht nur immer mehr Besitz und Vermögen an, sondern auch Angst, Ärger und Verdruss.

Nein, ich möchte Sie nicht dazu auffordern, politisch uninformiert zu bleiben oder das Leiden anderer Menschen zu ignorieren. Aber wie wäre es, wenn wir den Sorgen nicht mehr so viel Gewicht gäben? Das können wir tun. Zum Beispiel, indem wir uns kurze Momente des Nicht-Denkens, des Nicht-Sorgens nehmen.

Stellen Sie sich vor, Ihr Chef teilt Ihnen mit, dass Sie richtig Scheiße gebaut haben. In Ihrem Innern beginnt sofort ein Kampf. Ihre Hände verkrampfen, Ihr Atem stockt, Ihr Herz klopft.

Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt für einen kurzen Moment. Er wird zwar nichts an der Situation ändern, aber Ihnen erlauben, Ihr Inneres für eine Millisekunde zu entspannen. Dies hilft Ihnen, nicht sofort in die Opferrolle zu fallen, sondern Ihre Gedanken zu sammeln und klar und vernünftig Stellung zu beziehen. Sie werden durch den kurzen Moment des Nicht-Denkens zum Beobachter der Situation und distanzieren sich ganz kurz von Ihrem Unwohlsein.

Wie alle neuen Methoden erfordert auch diese simple Meditation Übung. Wenn Sie dranbleiben, werden Sie im Laufe der Zeit feststellen, dass die Lücke zwischen den Gedankensträngen immer länger wird. Die kurzen Momente werden wachsen und sich ausweiten und das Gefühl des reinen Gewahrseins immer länger bei Ihnen bleiben. Nennen Sie es, wie Sie möchten. Vor mir aus auch Gott oder das Göttliche. Es ist das, was die Vögel zum Fliegen bringt, die Wolken zum Ziehen und unsere Augen zum Sehen. Ohne Anstrengung oder Energieverlust. Auch wir würden übrigens ziemlich viel Energie sparen, wenn wir uns häufiger in diesem Gewahrsein entspannen würden. Was glauben Sie, wo die ganzen Burn-outs herkommen?

Das Gewahrsein ist nie von unseren Gedanken und unserem Sorgenapparat berührt. Es ist völlig unbeeinflusst von allem Menschlich-Weltlichen. Damit ist es die einzige Konstante, auf die wir uns verlässlich berufen können. Das Gewahrsein ist immer da, immer an, immer präsent.

Ich werde Sie im Laufe dieses Buches immer wieder daran erinnern, kurze Momente zu nehmen. Jedes Mal, wenn Sie dieses Symbol sehen, versuchen Sie für eine Millisekunde nicht zu denken.

Sie werden merken, wie die Wiederholungen fruchten. Die kurzen Momente werden das zerebrale Blasorchester zwischen Ihren Ohren beruhigen und Ihnen eine neue innere Stabilität verleihen.

Kennen Sie das Buch Endlich Nichtraucher? Darin verspricht der Autor Allen Carr, dass der Leser am Ende des Buchs mit dem Rauchen aufhören wird. Die meisten Menschen lesen das Buch nicht zu Ende, um nicht tatsächlich aufhören zu müssen. Aber warum haben sie sich denn dann das Buch gekauft, wenn nicht genau deswegen? Warum geben sie freiwillig auf?

Wie beim Nichtrauchen sollte auch in der spirituellen Entwicklung am Anfang der feste Entschluss zur Veränderung stehen. Der muss aber auch durchgezogen werden. Es liegt so viel Komfort und Vertrautheit in den täglichen Angewohnheiten, dass es Anstrengung erfordert, die eigene Bequemlichkeit zu schlagen.

Es ist aber möglich, neue Rituale zu entwickeln. Wenn Sie sich immer wieder diese kleinen Momente nehmen, werden Sie auch immer mehr Abstand zu sich selbst, Ihren Bequemlichkeiten und Angewohnheiten gewinnen. Und es wird Ihnen leichter fallen, in der Situation selbst zu entscheiden: »Will ich das wirklich? Brauche ich diese Zigarette, diese Sorge, diesen Wutanfall? Oder ginge es mir nicht besser ohne?«

Natürlich sind diese kurzen Momente nicht die Patentlösung für alles. Und sie garantieren auch nicht, dass Sie danach die »richtige« Entscheidung treffen. Aber sie bewirken, dass es eine bewusste Entscheidung ist. Und das allein hat bereits einen unschätzbaren Wert.

Als ich zum ersten Mal von diesen kurzen Momenten hörte, wollte ich nicht glauben, dass Meditation so einfach sein kann. Ich dachte, dass einfache Dinge keinen großen Nutzen haben könnten. Aber ich lernte, dass bei der Meditation genau das Gegenteil der Fall ist: je simpler, desto besser.

Ich dachte (vermutlich genau wie Sie), dass Nicht-Denken überhaupt nicht möglich sei. Wie soll das funktionieren? Ich probierte es natürlich trotzdem aus, weil ich mir in meinem dreißigsten Lebensjahr versprochen hatte, alles Spirituelle wenigstens einmal auszuprobieren. Also konzentrierte ich mich auf die kurzen Momente und erwartete Wunder. Oder eine Art Erleuchtung. Zumindest eine tiefere Einsicht. Als nichts davon eintraf, fing mein Denkapparat an zu rotieren: Ich bemühe mich nicht richtig, das Ganze ist eine Lüge, für solchen Mist bin ich einfach nicht geschaffen. Erst im Laufe der Zeit lernte ich den Trick, einfach nichts zu erwarten.

Erwarten Sie also nichts. Machen Sie einfach. Und wenn nichts zu funktionieren scheint, machen Sie alles genau richtig.

Woher kommt die Methode?

Kurze Momente des Nicht-Denkens kommen ursprünglich aus einer buddhistischen Tradition namens Dzogchen. Dzogchen ist der Kern aller buddhistischen Lehren. Wer sich dem Dzogchen verschreibt, beschreitet den Pfad der Selbstbefreiung. Zumindest theoretisch.

Selbstbefreiung heißt, dass wir unser wahres Wesen in Einheit mit dem Göttlichen erkennen. Einfacher ausgedrückt: Wenn alles von Gott erschaffen wurde, sind auch wir ein Teil Gottes.

Dass wir uns miteinander verständigen können, verdanken wir einer bestimmten Intelligenz, die uns als Mensch auszeichnet. Teil dieser Intelligenz zu sein, verbindet uns. Und da diese Intelligenz das ganze Universum nach Ansicht des Dzogchen erschaffen hat, sind wir ein Teil des Universums, ein Teil dieser Intelligenz und wenn Sie so wollen: ein Teil der Schöpfung und des Schöpfers. Im Grunde ganz einfach.

Kurze Momente des Nicht-Denkens wurden zu Buddhas Zeit, also vor 2500 Jahren, vor allem in Klöstern in Asien gelehrt und praktiziert. Sie sind im Laufe der Zeit völlig in Vergessenheit geraten und kommen jetzt erst wieder in Mode.

Für wen ist die Meditation der kurzen Momente geeignet?

Kurze Momente sind die einzige Übung, die ich wirklich jedem Leser1 uneingeschränkt empfehlen würde. Es gibt keine Nachteile; man muss keine Kurse belegen oder Bücher lesen, es nimmt keine Zeit in Anspruch und hat keinerlei sonstige Voraussetzungen. Man muss es nur tun.

Was bringt die Übung?

Nach einiger Übung werden Sie feststellen, wie sich in Ihrem Inneren etwas lockert und löst. Es wird Ihnen leichter fallen, sich von Ihren eigenen Problemen zu distanzieren und Entscheidungen bewusster wahrzunehmen. Die kurzen Momente entspannen Geist und Körper und sorgen gleichzeitig für mehr Wachsamkeit und Umsicht.

Was ist so genial an kurzen Momenten des Nicht-Denkens?

Kurze Momente können immer und überall genommen werden. Sie müssen sich nicht zurückziehen, verrenkte Yogahaltungen einnehmen, einen Tempel besuchen oder lange Zeit stillsitzen. Kurze Momente sind immer da. Sie müssen Sie nur nehmen. Am besten ohne Erwartung.

Gibt es etwas Ähnliches?

Es gibt die sogenannte »Stopp-Meditation«, die von Osho2 erfunden wurde. Sie dauert dreißig Sekunden. Dabei soll der gestresste Alltagsmensch für eine halbe Minute verharren und völlig regungslos wahrnehmen, was im Innen und Außen geschieht. Die Methode ist nicht schlecht, kann aber nicht ohne Weiteres immer und überall angewandt werden. Es sähe komisch aus, wenn Sie plötzlich mitten in einem Arbeitsmeeting dreißig Sekunden lang reglos verharren würden.

Kurze Momente des Nicht-Denkens können Sie hingegen jederzeit an jedem Ort nehmen und dabei garantiert trotzdem nichts verpassen. Es merkt übrigens auch niemand, wenn Sie einen kurzen Moment des Nicht-Denkens nehmen. Sehen Sie die Übung als Ihren kleinen Geheimweg, um souverän und ausgeglichen zu bleiben.

Außerdem raten viele Zen-Meditationen, auf den eigenen Atem zu achten. Dies kommt sicherlich dem kurzen Moment am nächsten und ist sehr sinnvoll und fruchtbar. Es birgt aber eine kleine Anstrengung in sich. Ganz bewusst auf den Atem zu achten, erfordert Konzentration, die man in manchen Situationen und Umständen vielleicht nicht aufzubringen vermag. Bei kurzen Momenten braucht man diese nicht, da die Verbindung zum Gewahrsein immer da ist.

Wo? Wer? Wann? Was?

Hier. Sie. Jetzt. Wenn Ihnen das noch nicht genügt, gibt es Seminare für kurze Momente. Checken Sie hierfür einfach www.balancedview.org.

Mehr Informationen zu Balanced View finden Sie in dem Kapitel über spirituelle Gemeinschaften.

Literatur, Internet, Apps und Tipps

Hier finden Sie ein kostenloses Buch über die kurzen Momente und ihren Nutzen:

http://www.balancedview.org/en/resources/books/

Die Apps Insight Timer und MotivAider können gute Hilfsmittel sein, an kurze Momente zu denken. Versuchen Sie aber zunächst, sich aus eigener Kraft an die Mini-Meditation zu erinnern. Dies gibt Ihrem eigenen Bewusstsein eine höhere Bedeutung und fördert Ihre Eigenverantwortung.


1 Bitte haben Sie Verständnis, dass ich für allgemeine Aussagen das Maskulinum verwende. Es vereinfacht die Chose ungemein – und um Vereinfachung geht es hier schließlich.

2 Osho war in den Achtzigern der berühmteste Guru der Welt. Er war der wichtigste Vorreiter für die Öffnung des Westens zu Meditation und Spiritualität.