Epub cover

Lisa Kränzler

NACHHINEIN






TEIL 2

21.

Ein Sonntagmorgen.

Die Mutter, Küchenkraft in einem Pflegeheim, ist schon auf Arbeit.

Am Wochenende frühstücken die Alten eine Stunde später. Manche bekommen Besuch. Die Zeitverschiebung bemerken sie kaum. Den Frauen in der Küche nutzt das verspätete Weckerklingeln wenig. Ein früher Feierabend wäre ihnen lieber.

Seit die Tür hinter der Mutter ins Schloss gefallen ist, liegt sie wach.

Wenn sie sich aufrichtet, kann sie durch die Fensterscheibe, über Rasen- und Asphaltflächen hinweg, bis in den Hof der von Brauns schauen, auf das helle, hölzerne Garagentor.

Sie starrt schon eine ganze Weile rüber. Warum, weiß sie nicht. Plötzlich, als gebe es dem Druck ihrer Sehkraft nach, öffnet sich das Tor. Durch die geöffnete Fensterscheibe dringt das feine, kaum hörbare Surren des elektrischen Antriebs. Ein schwarzer, glänzender Wagen mit sternverzierter Schnauze gleitet auf die Straße. Für die Schatten im Fahrzeuginneren bleibt das Mädchen im Bett unsichtbar. Das Auto wirft einen letzten Blick auf sein Spiegelbild und verschwindet.

In der Denkblase, die hinter dem Scheibenspiegel aus dem Mädchenkopf Richtung Zimmerdecke blubbert, steht: »Prinzesschen von Braun reitet also wieder aus …«

Sie, das Mädchen, das wachgelegen, sich aufgerichtet, gestarrt und gedacht hat, hasst Sonntagsausflüge, hasst jenes Warten auf die Rückkehr der Ausflügler, das sich dehnt und streckt und kein Ende nehmen will.

Sonntag.

Ein herausgeputzter Tag. Ein Tag mit Zylinder, aus dem weißbehandschuhte Hände zahllose Stunden ziehen, die es zu überstehen gilt.

Kurzerhand beschließt sie, zumindest eine dieser Stunden zu ertränken; steht auf, schlurft ins Bad und lässt die Wanne volllaufen.

Die Calimero-Küken-Schaumbadflasche mit abschraubbarem Eierschalenhut ist fast leer. Ein Wasserstrahl fällt aus dem Hahn, poltert in Calimeros Bauchhöhle und spült auch die letzten Seifenreste aus seinem Innern.

Langsam steigt der Pegel. Majestätisch gemächlich kriecht die Schaumkrone auf den Rand zu. Die Wanne ist ein gestauchter, gelängter, inzwischen fast gefüllter Bierkrug. Riecht aber besser.

Um etwas Gesellschaft zu haben, wirft sie die poröse Gummiente und eine Barbie mit Irokesenschnitt und angeknabberten Zehenspitzen ins Weiß. Dann ist es soweit. Mit angehaltenem Atem zwingt sie ihre Füße zum Untertauchen.

H-h-heiß.

Brühheiß.

Sie denkt sich als herzhafte Beilage im Suppentopf eines Kannibalenstammes.

Dann lässt das Brennen nach. Das Wasser wird freundlich, anschmiegsam. Sie stützt sich auf den Ellbogen ab und lässt den Bauch wie den Rücken eines Walfischs an der Oberfläche erscheinen. Was Nabel war, wird Atemloch.

Zeit vergeht. Erst als Tür und Angel unangemeldet Geräusche machen, findet die, von knisternden Seifenblasen untermalte, Stille ein jähes Ende.

Sie sieht nichts, hat die Augen fest zusammengekniffen, Hände und Haare voll Shampoo. Indessen steuern zwei braune Schlappen auf den Spiegelschrank zu. Der Vater will sich rasieren. Misstrauisch beobachtet er das von Spritzern, Staub und Wasserflecken überzogene Abbild seiner Tochter im Glas: Die Brause kämmt ihr Schaum und Locken aus. Dunkle, nasse Strähnen schlängeln über Schultern und Rücken, kleben am Hals.

Sie öffnet die Augen.

Der Vater schneidet Grimassen, spannt die Haut abwechselnd über Oberlippe und Kieferknochen. Sie sucht seinen Blick. War er nicht eben noch da gewesen?

Fingerspitzen, schrumpelig wie Dörrzwetschgen, suchen, finden und ziehen den Stöpsel ab. Gurgelnd senkt sich der Pegel. Verschlagen verfolgen die Vateraugen das Auftauchen zweier milchweißer Hügel. Einem Schäumchen, welches rechts über den kreisrunden, korallenfarbenen Brustwarzenhof schleicht, wird nachgeschielt. Sein Gesicht ist längst glatt. Nichtsdestotrotz verbleibt er auf seinem Späherposten.

Ihr Bad ist beendet. Sie richtet sich zu voller Größe auf. Schillernde Bläschen zerplatzen auf ihren Hüften. Lange Ketten tropfenförmiger Perlen gleiten ihre Glieder hinab. Zwischen den Beinen schickt ein flaumiges Schnäbelchen schmale Rinnsale die Schenkel entlang.

Sie bittet um ein Handtuch. Der Vater nimmt eins vom Haken und dreht sich um. Sie bemerkt die Wölbung im Schritt seiner Schlafanzughose.

Der Anblick der baumwollüberspannten Ausbeulung überrascht sie kaum. Sie kennt das von früher. Beim Bruder sah’s auch so aus … Sie fragt sich, warum der Vater nicht aufs Klo geht, wenn er so dringend muss.

Ihr Blick verwirrt ihn. Sein Ständer scheint sie nicht zu stören. Er spürt sich härter werden.

Sie will nach dem Handtuch greifen.

Er hält es fest.

Nur der Wannenrand trennt sie noch. Schwere Hände lassen sich auf schmalen Schultern nieder und drehen das Mädchen mit dem Gesicht zur Wand. Er drückt sie fest an sich. Sie spürt den Pinkelschwanz im Rücken. Ekelt sich.

Er rubbelt mit dem Handtuch heftig über Brust, Bauch und Scham. Die konstante Reibung der Schlafanzughose erwärmt die Stelle zwischen ihren Schulterblättern.

Eigentlich ist sie längst trocken. Warum Hose und Handtuch dennoch unbeirrt weiterschmirgeln, versteht sie nicht.

Der Druck der erhitzten, schlüpfrigen Schwellung nimmt zu. Sie spürt eine feste, fast senkrechte Parallele die Rückenwirbel entlang glitschen.

Sie will nicht angepinkelt werden!

Seine Umarmung wird zum Schraubstock. Er spürt ihre Gegenwehr kaum.

Zu ihren Füßen treibt Barbies Wasserleiche.

Vaters Atem ist nah und heiß.

Der Gummiente fehlt eine Pupille.

Ein letztes tiefes, kehliges Geräusch, mehr Tier- als Menschenlaut, dann ist es passiert: Sie spürt es Richtung Hintern fließen.

Ihr Schrei ist hoch und spitz. Er ist geplatzt, denkt sie, geplatzt und ausgelaufen!

Die Vaterarme geben sie frei. Blind tastet sie nach der feuchten Stelle. Weißlich-gelbe Fäden verkleben ihre Fingerspitzen. Der modrige Geruch fauliger, sich zu Tode blühender Büsche sticht ihr in die Nase. Pisse riecht anders. Ein bisschen beruhigt sie das.

Dann wischt das Mädchen eine Träne, der Vater seine Spritzspur ab.

Rotzig-glibbrige Klopapierblätter versinken in einer Keramikschüssel.

Er drückt den Spülknopf und verlässt wortlos das Badezimmer.

TEIL 3

44.

1996. Fünfte Stunde: Mathematik. An der Tafel wird irgendetwas bewiesen. Die Klasse ist wunderbar ruhig. Kein Flüstern, kein Lachen, kein Geschrei. Nichts, was meine Aufmerksamkeit erregen und mich von meiner Lektüre ablenken könnte. Ich suche Seite 86. Ganz hinten, zwischen Buchblock und Rückdeckel, wo sich innerhalb der letzten vier Jahre ein ganzer Stapel loser Seiten angesammelt hat, werde ich schließlich fündig. Billige Taschenbücher vertragen es nicht, 10-, 15-mal gelesen und dabei an verschiedenste Orte verschleppt zu werden. Kein Wunder, dass der Inhalt meines Bücherregals im Wesentlichen aus einem zerlesenen Haufen Altpapier besteht: Der Drang, die immergleichen Romane so lange wieder und wieder zu lesen, bis ich jeden einzelnen Satz auswendig kenne, verschleißt das Gedruckte rücksichtslos, versetzt Seiten und Einbände in desolate Zustände.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich die Bilder der Seiten in allen Einzelteilen heraufbeschwören, wie das Gesicht eines alten Freundes. Ich erinnere mich an jeden Absatz, jedes kursiv oder in Versalien gedrucktes Wort, an Flecken und Risse, an meine Unterstreichungen und die Druckfehler. Die Gewissheit, nichts übersehen oder überlesen zu haben, beruhigt mich mehr als jede Milch mit Honig. In einem meiner Lieblingsbücher zu lesen, gleicht einem Streifzug durch die hiesigen Straßen, Wälder und Wiesen, die mir das Vertrauteste und Verlässlichste scheinen, was mir die Welt – neben meinem Klavier – zu bieten hat. Ich glaube, mein Bedürfnis nach Fixpunkten war nie größer als jetzt, da ich mitten im Strudel gewaltiger Umwälzungen stecke und innerhalb wie außerhalb meiner selbst kein Stein auf dem anderen bleibt. Allein mein Spiegelbild … An manchen Tagen könnte ich schwören, dass ich das Gesicht, das mir aus dem Glas entgegenstarrt, niemals zuvor gesehen habe. Offenbar befinde ich mich mitten in einer Metamorphose zu – ja, zu was eigentlich?

Meine Glieder scheinen durchaus nicht nur länger, sondern auch fester, geschickter, schneller und somit rundum effektiver nutzbar zu werden, und die Brust hat sich zumindest insofern verändert, als dass ich tatsächlich nicht mehr ohne weiteres mit freiem Oberkörper schwimmen gehen würde, aber ansonsten?

Ich löse mich von den Seiten und lasse meinen Blick über die Reihen meiner Mitschüler schweifen. Seit einiger Zeit lassen sich die Köpfe der Klassenkameraden nicht nur in Mädchen und Jungs, sympathisch und unsympathisch, dumm und clever einteilen, sondern auch in Bluter oder Nicht-Bluter. Die Periodenpest setzte ungefähr mit der Vergabe der Halbjahreszeugnisse ein, und inzwischen erhärtet sich mein Verdacht, dass ich die Einzige bin, die bislang verschont geblieben ist. Überrascht hat mich das nicht, zumal ich schon damals, als JasminCelineJustine anfing, unser Bad vollzutropfen, zu dem Schluss gelangt bin, dass ich für diese Bluterei nicht geschaffen bin. Daran hat sich nichts geändert. Der Sinn, wertvolle Säfte achtlos abzustoßen, will sich meinem Körper nicht erschließen, und da er nichts Überflüssiges produziert, muss er auch nichts absondern. Zu Verdauen und Ausscheiden, Ausschwitzen, Abhusten und Niesen sagt er »ja«, zu allem anderen »nein danke«. Er konzentriert sich wie eh und je auf die Herstellung salziger Tränen und sterilen Urins. Geschmierblutet wird nicht.

Eigentlich sollte solch reinliches und gesundes Verhalten ein Grund zur Freude sein. Keine Ahnung, was um alles in der Welt mich dazu treibt, neuerdings häufiger als nötig die Toiletten aufzusuchen, um meine Angehörigkeit zum Kreis der Blutenden vorzutäuschen.

Das Bedürfnis, Teil der Herde zu sein, ist neu. Grundsätzlich schätze ich dieses Bedürfnis nicht sehr, im Gegenteil. Es ist mir ausgesprochen zuwider. Andererseits ist der Drang, einem der beiden zur Auswahl stehenden Geschlechter voll und ganz angehören zu wollen, wohl nur natürlich.

Am Ende solcher Überlegungen entscheide ich mich zumeist dafür, die Schuld an meinen Flunkereien und dem ganzen Perioden-Theater den vielen Hunderttausend Jahren Evolution sowie dem System Natur mit seinen Schwellenwerten und Entscheidungszwängen in die Schuhe zu schieben.

Kurzer Blick auf die Uhr. Noch 15 unerträglich lange Minuten. Ich kehre zu meiner Lektüre zurück: »… Unsinn, sagte mein Vater und schöpfte tagsüber. Aber er holte das Wasser aus dem Freibad. In diesem Wasser hatten zwar vor dem Bombentag schon viele gebadet, und seitdem war es nicht mehr gewechselt worden. Laub und Asche trieben darauf, aber es war gechlort. Dies hielt mein Vater immer noch für den besten Schutz. Das sprach sich herum. Bald drängten sich nachts die Wasserholer vor der aufgebrochenen Tür des Freibads. Jeden Morgen, wenn der Vater und ich mit unseren Eimern kamen, war weniger Wasser in den Bassins. Bald war das Kinderbecken leer und im Nichtschwimmerbecken nur noch ein kümmerlicher Rest. Den wollte niemand, denn im knietiefen Wasser trieben zwei Tote. Niemand holte sie heraus. Man tat, als sähe man sie nicht, und schöpfte aus dem Schwimmerbecken …«

Ich lehne mich vor und strecke das Gesicht in den Sonnenfleck, der warm durchs Fenster fällt. Der Himmel draußen hat genau die richtige Freibadbläue. Wie in einer Schneekugel sitzt das Schulgebäude, grau und klotzig, unter seinem hohen, gewölbten Dach. Ich muss an meine Mutter denken. Daran, wie sie den Wespen, Spinnen und allerlei anderem Ungeziefer, das sich zuweilen ins Haus verirrt, behutsam eine Tasse oder ein Glas überstülpt, um sie lebendig ins Freie entlassen zu können. Genauso hat es Gott gemacht. Der Blick nach oben ist der Blick in den Tassenboden seines Porzellans, in welchem die Reste seines tiefdunklen und göttlich blauen Kaffees kleben. Er trinkt ihn mit einem Hauch Wolkenschaum …

Leise klopfe ich mit dem Füller auf der Tischplatte herum. Drei, vier hauchzarte Klopfzeichen reichen aus, um die Aufmerksamkeit des Ägypters von der Tafel in meine Richtung umzulenken. Ich mache eine Kopfbewegung zum Fenster hin, setze ein fragendes Gesicht auf und lasse meine Hände kleine, kreisförmige Schwimmbewegungen andeuten. Er antwortet mit einem Nicken. Seine Lippen formen lautlos das Wort »definitiv«. Das Pfingstferienlager des Jugendsymphonieorchesters hat sein Verhältnis zu Chlorwasser und Freibädern grundlegend verändert. Sein bis dahin nur in Ausnahmefällen gebrochener Schwur, ausschließlich in natürlichen Gewässern zu baden, hat seit jener Ferienwoche keine Gültigkeit mehr.

Solche merkwürdigen Schwüre sind typisch für den Ägypter. Dass er einen davon bricht, gleicht dagegen einer Sensation!

Schon jetzt, knappe zehn Tage später, erscheint mir diese wunderbare Woche unendlich weit entfernt. Unerreichbar, mehr Traum als Realität, schillert sie in der Vergangenheit vor sich hin.

Von vorne wird der Befehl erteilt, Übung drei auf Seite 116 in Angriff zu nehmen. Seufzend stütze ich das Kinn auf und erinnere mich an bessere Zeiten.

Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2013

Cover: Sarah Lamparter

Lektorat: Jan Jenrich, Jörg Sundermeier, Kristina Wengorz

Satz und Ebook-Umsetzung: Christian Walter


eISBN Epub: 978-3-943167-24-5

eISBN Mobipocket: 978-3-943167-35-1

ISBN Print: 978-3-943167-16-0

Der Verlag dankt Annemarie Leipe und Rebecca Hürter

Kapitelverzeichnis

  1. Titel
  2. TEIL 1
  3. TEIL 2
  4. TEIL 3
  5. Impressum

TEIL 1

1.

Unwahrscheinlich, dass sich das Gefühl ihrer frisch gesprossenen, streichholzkopfkurzen Haarspitzen unter meiner Handfläche nach mehr als 24 Jahren noch wiedererwecken lässt …

Glücklicherweise schert sich meine Erinnerung einen Dreck um Wahrscheinlichkeiten und lässt meine kleine, dickliche Hand wieder und wieder über ihren großen, kurzgeschorenen Kinderkopf streichen.

Im Hintergrund grölen gnadenlose Zwergstimmen einen heute harmlos anmutenden Spitznamen: »Igel«.

»Igel-Igel-Igel!«, tönt es aus Kinderkehlen, die so lange am I ziehen, bis ein IHHH draus wird, – wodurch aus dem Igel ein IHHHgel und somit etwas Ekelerregendes wird.

Später hat sie behauptet, ich sei die Einzige gewesen, die sie beim Namen, ihrem richtigen Vornamen, der vielleicht Jasmin, vielleicht Celine, vielleicht Justine lautete, gerufen hat, dass meine Weigerung, es den anderen gleichzutun und ihr einen Tiernamen zu geben, unsere Freundschaft begründet hat.

Ich hingegen halte es für viel wahrscheinlicher, dass mich das pelzige, perserteppichflauschige und dabei doch seltsam störrische Kitzelgefühl, das ihr Haar meiner Handfläche bescherte, geradezu magnetisch angezogen und eine Lust auf mehr in mir ausgelöst hat, mehrmaliges Streichen, mehrmaliges Fühlen, mehrmaliges Genießen, dieser mir bisher unbekannten Oberflächen- und Haarstruktur.

Folglich würde ICH sagen, dass der Grundstein unserer Freundschaft keineswegs meine Enthaltsamkeit in Sachen Hänselei, sondern vielmehr jener Bordstein gewesen ist, der ihr, kurz vor Kindergarteneintritt, den Schädel gespalten hatte.

Ich kenne den Hügel und auch die Stelle genau, an der ebendies geschah und die wir in den darauffolgenden Jahren oft mit roten X-en aus Straßenkreide markierten. Den Unfallhergang, den ich nur aus Erzählungen kenne, und das Bild einer furchtlosen Kamikaze-Jasmin oder Celine oder Justine auf einem klappernden, trotz Stützrädern wenig verkehrssicheren Zweirad, kann ich jederzeit, ohne die geringsten Schwierigkeiten und mit zuverlässiger Kameraschärfe, in mir aufrufen. Das Unfallbild, dessen Existenz ich der erwähnten Weigerung meiner Erinnerung, sich um Wahrscheinlichkeiten zu scheren, verdanke, verteidigt seinen Platz in meinem Bilderspeicher seit unglaublichen 24 Jahren, während andere »live« miterlebte Bilder längst im Trubel der Lebendigkeit verloren gegangen sind. Die Ursachen für diesen Verlust an Bildmaterial sind bislang ungeklärt und meine These, dass die durch Stoffwechselprozesse erzeugte Wärme Gespeichertes langsam zersetzt, dass mein Hitzkopf auch die hartnäckigsten Bildträger einschmilzt und verkocht, verdampft und verflüssigt, ist noch unbewiesen.

Wenn mich, wie jetzt, plötzlich die Erkenntnis überfällt, dass die Zahl der Eindrücke, die den täglich stattfindenden Auslöschungen zum Opfer fallen, undarstellbar ist, dann erschweren Schwindelgefühle, kurze, heftige Erschütterungen des inneren Gleichgewichts, das Weiterleben. Ich schwanke, taumle vorwärts und kralle mich zuletzt, wie immer, an einer der wenigen unzerstörbaren Säulen meiner Erinnerung fest, diesen vereinzelt in der Hirnlandschaft für mich strammstehenden Gewissheiten, die nur von Demenz und Alzheimerscher Krankheit gefressen werden können, und zu denen auch das Bild deines fast fatalen Sturzes gehört.

Die Suche nach anderen Stützen, Krücken oder Geländern verlief bislang erfolglos.

4.

Meine Becken- und Schambeinknochen dort, wo das Glück der Erde liegt.

Stolz spanne ich Rücken und Bauch an, halte mich gerade und fest, hier oben.

Ich sitze in deinem Hohlkreuz, die Unterschenkel, vorantreibend oder zurückhaltend, gegen deine schon zaghaft gerundeten Hüften gepresst. Rechts und links umwickeln meine schwitzigen Fäuste schwarze Schnürsenkelzügel, die mit dem Gürtel, den ich dir, eng wie ein Kropfband, um den Hals gelegt habe, verknotet sind. Damit deine wiehernden Laute, diese Folge kurzer, abgehackter Töne, die in hoher Tonlage beginnen und in der Tiefe enden, klar und schallend bleiben, lenke ich vornehmlich mit einer Kombination aus Schenkeldruck, Zisch- und Schnalzlauten. Ich greife in deine gelockte Mähne, raune Richtungswechsel, feuere dich mit jubelnden »HÜAH-HÜAH«-Rufen an.

Widerspenstige Launen, die ich mit zügelndem Ruck züchtige, sind zum Glück selten. Denn der seufzende, ein wenig dumpfe, wie ein ersticktes Husten klingende Abwürgeton, den du im Moment der Maßregelung von dir gibst, klingt unangenehm unfein. Ein solches Geräusch ziemt sich nicht für edle Tiere.

»HÜAH! HÜAH, mein Ross!«

Wir galoppieren über grüne Teppichlandschaften, rasten im Schatten der Eckbank. Du steckst die Nase in deinen, mit Cornflakes gefüllten, Futterbeutel.

»Ja … Friss schön! Bist ein braves Mädchen!« Lobend tätschle ich dein jeansblaues Hinterteil.

Dann wird es Zeit für ein wenig Sprungtraining.

Mithilfe einiger mühselig vom Stoß aus dem Garten gehievter Holzscheite, an deren Nässe der Teppich wie Löschpapier saugt, errichte ich einen komplizierten Parcours aus Steil-, Hoch- und Weitsprüngen. Die Oberflächen der nach Regen, Harz und Fäulnis duftenden Tannenholzblöcke sind Minenfelder aus Spreißeln, Mäuse­kacke und Kellerasseln.

Ich wische mir die harzigen Hände an einem Sitzkissen ab.

Beginn der Trainingsstunde.

Deine Sprünge sind nicht die eines Reittiers … Die langen, kräftigen Hinterläufe, mit denen du dich abstößt, und die kürzeren, huflosen Vorderbeine lassen dich wie einen fetten Feldhasen mit kupierten Ohren aussehen. Irgendwie schwerfällig.

Kaum ein Hindernis, das du nicht umreißt.

Dir hinterherzuräumen, ist langweilig.

Im Schritt und im Trab, wenn sich der Vorder- und darauf der entgegengesetzte Hinterlauf auf die immer gleiche Weise heben und senken, gefällst du mir besser.

Plötzlich weiß ich, was dir fehlt.

»Warte, ich hol kurz was!«

Bald darauf bin ich zurück.

Ich, der Schmied.

Mutters Küchenschürze schlackert mir um die Beine. Mit dem Kartoffelstampfer in der Linken und einem 3000er edding in der Rechten, nähere ich mich breitbeinig dem Tier, das es zu beschlagen gilt.

Bereitwillig lässt du dir Handflächen und Fußsohlen mit wasserfesten, nach Lösungsmittel stinkenden Hufeisen verzieren. Zur Sicherheit wird jeder neue, U-förmige Pferdeschuh mit kurzen, präzisen Kartoffelstampfer-Hammerschlägen doppelt und dreifach festgeklopft.

Der schweigsame, schmerbäuchige Schmied, dieser ungehobelte Klotz von einem Mann, der Menschen meidet und die Gesellschaft der Tiere vorzieht, ist’s zufrieden.

Nach Feierabend wird er ins Wirtshaus marschieren, wo ihm die dralle brünette Bedienung wie jeden Abend sein Herrengedeck serviert.

Im Frühjahr wäre noch Zeit für eine Prügelei in der Schankstube, einen Ausritt oder eine kurze, tierärztliche Untersuchung deiner kleinen, milchweiß glänzenden Füllenzähne gewesen.

Aber leider ist es Herbst, und bei Sonnenuntergang musst du zu Hause sein.

5.

Über den Rosensträuchern wabert eine süßliche Wolke Lockstoff. In jeder Blüte ein Brummen.

Es ist ein besonderer Tag.

Heute werden wir das Ritual vollziehen, den heiligen Akt, der uns endgültig und für alle Zeiten in ewiger Schwesternschaft aneinanderschweißen wird.

Unsere Augen spiegeln einander ernste, feierliche Mienen.

Der Dorn will mit Bedacht gewählt sein.

Ich entscheide mich schließlich für einen, der mir besonders blutdurstig erscheint: Einer bräunlich gefärbten Haifischflosse gleich ragt er aus der Mitte eines daumendicken Zweigs. Kleine Dörnchen folgen ihm im Gänsemarsch.

Mit chirurgischer Präzision amputiere ich das spitzgezackte Ding.

Was nun?

Ratlos sehen wir einander an.

Ein schneller, gnadenloser Streich mit dem scharfen Dorn ins Finger- oder Handflächenfleisch würde zweifelsohne den ersehnten Blutstropfen aus seiner violetten Abgeschlossenheit ans Licht sprudeln lassen …

Der Gedanke an Selbstverletzung ruft einen plötzlichen, heftigen Widerwillen in mir wach. Ich knabbere nicht an Nägeln, kratze nicht an Schnakenstichen, mag meine Krallen, liebe meine Unversehrtheit.

Um die Verletzung zu vermeiden, suche ich meine Arme nach alten Wunden ab. Unweit vom Ellbogen werde ich tatsächlich fündig und beginne, mit dem Dorn an dem alten, schon im Abfallen begriffenen Wundschorf herumzuschaben.

Ein kurzer Seitenblick zeigt mir, dass du dich für eine ähnliche Methode entschieden hast. Genug Auswahl hast du ja.

Nicht lange, und die zerbissene Nagelhaut deines rechten Daumens blutet übermütig drauflos.

Bei mir dagegen: Nichts.

Unter der Kruste hat sich bereits neue, helle, heile Haut gebildet.

Erwartungsvolle Blicke von rechts.

Ich schabe verbissen weiter.

Am Ende meines Kratzers stoße ich auf ein paar Millimeter nässendes Rosa, welches ich so lange bearbeite, bis es sich den Anschein gibt, ein kleines Bluten zu sein.

Das muss ausreichen.

Ich beeile mich, deinen Daumen gegen meinen Unterarm zu pressen. In dieser, etwas merkwürdigen Position verweilen wir sodann mehrere Minuten.

Ob der rote, schmierige Fleck, der, als du schließlich deine Hand zurückziehst, meinen Kratzer wie ein Ausrufezeichen aussehen lässt, von dir oder mir oder uns beiden stammt, ist nicht mehr festzustellen.

Um jeden Verdacht auf Blutsbetrug im Keim zu ersticken, wies ich mehrmals eifrig darauf hin, dass meine Haut, egal ob unversehrt oder verwundet, dein Blut ohnehin »wie Wasser« an-, auf- und eingesaugt habe. Zur Bekräftigung entrollte ich den Gartenschlauch und ließ einige Wassertropfen auf meinen Handrücken fallen.

30 Sekunden später schallte ein triumphierendes »Siehst du!? Alles weg!!« durch den Garten.

Der Beweis meiner Redlich- und Weißwestigkeit war mindestens genauso wichtig wie die Erhaltung meiner Unversehrtheit. Zu lügen bedeutete, meinen Namen mit unschönen Schleifspuren zu besudeln, wie man sie aus den Kloschüsseln öffentlicher Toiletten kennt.

Die Rufnamen von Gewohnheitslügnern stellte ich mir äußerst schäbig, mit abblätterndem Lack und bräunlichen, wie Schimmelpilz wuchernden Rostwolken vor. Hatte man die Glanzschicht, welche die Namen aller Wahrheitsliebenden schützend umhüllt, einmal verloren, musste auch das Innere anfangen zu bröckeln und irgendwann unweigerlich zu Staub zerfallen.

Ich war mir sicher, dass der Zerfall oder Verlust des Wortes, das von Geburt an das eigene Ich benennt, Ende, Auslöschung und Tod bedeuten mussten.

Um meine These auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen, unternahm ich, vor dem großen Spiegel im Elternschlafzimmer sitzend, einen Selbstversuch: Zunächst formte ich mithilfe eines Füllfederhalters und einigen sorgfältig geschwungenen Schreibschriftschlaufen meinen Vornamen. Anschließend näherte ich mich mit dem Tintenkiller dem letzten Vokal, den ich für das Buchstaben-Pendant meiner Füße hielt.

Mit Adleraugen beobachtete ich mein Spiegelbild, während der Killer die Linie löschte – und obwohl ich keine Veränderung meines Abbilds und auch beim Abtasten keinerlei Ich-Schwund entdecken konnte, traute ich mich nicht über das A hinaus.

Als die Schlafenszeit heranrückte, entschied ich, dass mein nächtliches Ich unmöglich hinten-ohne ins Traumland entlassen werden durfte, nutzte die Schreibfunktion des Tintenkillers und reanimierte meine weibliche Endung. (Sie war blau, atmete aber.)

6.

Mir waren Worte immer ernst.

Wahrscheinlich konnte ich es deshalb nicht ertragen, wenn JasminCelineJustine mit einem knappen »Ich muss aufs Klo« aus dem Spielzimmer lief, dann unten heimlich die Schuhe anzog und grußlos nach Hause verschwand, während ich auf dem Teppich saß und sehnsüchtig ihre Rückkehr erwartete.

Nachdem sich dies ein- oder zweimal ereignet hatte, machte ich es mir zur Gewohnheit, die Geräusche, die sie beim Gang zum Klo verursachte, aufmerksam zu prüfen. Sobald ich irgendwelche Unregelmäßigkeiten feststellte, schlich ich zur Treppe und spähte durch das Geländer nach unten.

Eines Tages war es so weit: Schon den ganzen Nachmittag hatte eine gewisse Missstimmung zwischen uns geherrscht. Halbherzig und lustlos waren verschiedene Spiele angefangen und abgebrochen worden, und ich glaube, ich habe einige ihrer Alternativvorschläge recht rigoros abgelehnt …

Schließlich der Moment des vorgetäuschten Klogangs!

Meiner Vorahnung folgend näherte ich mich, geduckt wie ein Kater auf der Pirsch, dem Treppengeländer.

Da hockte sie! Die Verräterin! Klaubte ihr Schuhwerk aus dem bunten, ledrigen Haufen vor der Garderobe und begann, sich die Schnürsenkel zuzubinden.

In meinen Schläfen pumpte und pochte es, als hätte sich mein Herz durch die Halsschlagader bis in meinen Kopf gequetscht.

Drei, vier waghalsige Treppensprünge und schon stand ich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor JasminCelineJustines zum Gehen verschnürten Füßen.

Wütend, zornig, die Kieferknochen so hart, dass sich die Worte nur zischend durch Zähne und Lippen pressen ließen, fuhr ich sie an: »Willste wieder abhauen?«

Keine Antwort. Stattdessen feindseliges Schweigen.

Mit schlitzigen Augen, die linke Oberlippenhälfte verächtlich Richtung Nase gezogen, spie ich ihr ein letztes »Feige Sau!« ins Gesicht, bevor ich auf dem Absatz kehrtmachte und triumphierend zurück ins Spielzimmer marschierte.

Mich würde keiner bescheißen, mich nicht!

Dinge, die dich nicht berühren.

Mein Klavier.

Strenggenommen ist es gar nicht MEIN Klavier.

Ursprünglich war es im Besitz meiner Urgroßmutter, die das gute Stück, nachdem sich ihre Schwerhörigkeit mit zunehmendem Alter in absolute, undurchdringliche Taubheit verwandelt hatte, meiner Mutter vererbte.

Zu dem Zeitpunkt, als ich auf dem hellhölzern-glänzenden Instrument mit den elfenbein- und lakritzfarbenen Tasten die ersten Töne anschlug, hatte meine Mutter jene mir gänzlich unbekannte Großmutter längst beerdigt und ihr eigenes Klavierspiel, bis auf ein holpriges »Für Elise«, fast vollständig verlernt.

Das Klavier hatte seinen festen Platz auf der mit grünem Teppich ausgelegten Galerie, die nicht »Galerie« sondern »Spielzimmer« hieß, als ich zum ersten Mal auf den lederbezogenen Hocker kletterte, den Deckel anhob und den Zeigefinger auf einer zufällig ausgewählten Taste niedergehen ließ. Mit jenem ersten Anschlag erhielt das Spielzimmer einen fünf Buchstaben starken Zuschlag und wurde kurzzeitig als »Musikspielzimmer« bezeichnet, ein Ausdruck, der wegen seiner Spitzfindigkeit nicht sehr lange verwendet wurde und schnell aus dem aktiven Sprachgebrauch der Familie verschwand. Seitdem nennen wir die Galerie (schlicht, einfach und architektonisch korrekt) wieder »Galerie«.

Auf dem über dem Wohnzimmer thronenden Balkon, zu dem sich der direkt unter dem Dach verlaufende Galeriegang verbreitert, stand und steht es also: mein Klavier.

Ich verbringe viele Stunden vor dem breiten, 88 Zähne starken Maul, welches meinem eigenen Mundwerk nicht unähnlich sieht.

Mein Milchzahngebiss unterscheidet sich von den Klavierzähnen darin, dass meine »schwarzen Tasten« Leerstellen, löchrige Unterbrechungen im Weiß sind, während im Klaviergebiss die schwarzglänzenden Streifen ein ganzes Stück über die Ebene der sorgfältig aneinandergereihten weißen Tasten herausragen.

Natürlich weisen das Piano und ich noch eine ganze Reihe weiterer unterschiedlicher Eigenarten auf. Anstelle der vielen kleinen Hämmerchen, von denen ich weiß, dass sie sich im Bauch des Klaviers befinden, und deren Aufgabe es ist, unermüdlich gegen gespannte Saiten zu schlagen, besitze ich nur ein einziges, feucht-rosa Zungending, das meine Töne auf dem Weg nach draußen zu Worten formt.

Was ich nicht verstehe, ist diese Sache mit den sogenannten »Stimmbändern« …

Wenn ich beim Sprechen die Hand an die Kehle lege, spüre ich das leichte, summende Schwingen jener Bänder, die meine Saiten sind. Das Rätsel, wie meine Zunge, dieses rosarote, fleischige Hämmerchen, das doch so weit vom Kehlkopf entfernt hinter zwei Zahnreihen liegt, diese Bänder zum Schwingen bringt, bleibt unlösbar, solange sich mein Korpus nicht wie der meines hellhölzernen Instruments aufklappen und beim Tönen beobachten lässt.

Aber vielleicht muss man gar nicht alles wissen.

Jedenfalls liebe ich das Klavier, habe es vom ersten Ton an geliebt.

Ich halte es für weitaus klüger als die Menschen. Immerhin besteht sein Alphabet aus 52 dicken und 36 schmalen Buchstaben, während das Alphabet, welches wir in der Schule lernen, nur 26 zu bieten hat. Hinzu kommt, dass sich die im Klassenraum der 1a gelernten Zeichen nur sehr mühsam, und manchmal ohne Sinn zu ergeben, zusammenfügen lassen. Auf dem Klavier dagegen kann man ALLES aneinanderreihen, ist alles Musik …

Anfangs habe ich mich nicht getraut, die Stimmen weit auseinanderliegender Tasten miteinander zu vergleichen. Ich war mir nicht sicher, ob sich nicht die piepsigen, hohen Stimmchen der rechten Seite vor dem unheimlichen, tiefen Grollen des linken Klaviaturendes fürchten würden.

Allerdings wurde mir schnell klar, dass sie alle, die hellen wie die dunklen, verschwägert, verschwistert und verwandt sind; dass sie einen großen Clan bilden, zu dessen Anführerin ich werde, sobald ich meinen Platz auf dem Hocker einnehme.

In meiner Experimentierphase, bevor mich meine Eltern zu Frau Lichtel in den Unterricht schickten, nutzte ich jede elternfreie Minute, um die verschiedensten Griffe auszutesten: den Einfinger-Griff, den Zwei-, Drei- und Zehnfinger-Griff, den Faust-, flache Hand- und Unterarm-Griff und schließlich sogar den Kinn-, Gesichts-, Zungen- und Nasen-Griff.

Um herauszufinden, welche Laute mein Körper und die Gemeinschaft aller Oktaven miteinander produzieren würden, kletterte ich vom Hocker auf die Tasten und legte mich seitlich auf die Klaviatur, was einen massiven, wunderbar mächtigen Klang erzeugte. Aufgespannt zwischen dem höchsten und tiefsten Ton , hob ich die Hüfte und ließ meine knochige Seite wieder und wieder mit Karacho auf die Tasten niedersausen.

Frau Lichtel war für derartige Vor- und Anschläge leider nicht sehr empfänglich. Sie bestand darauf, dass ausschließlich mit den Fingern gespielt wurde.

Auch die Abfolge der verschiedenen Töne war nicht länger frei von mir wählbar, sondern wurde von einem speziellen Lesebuch vorgegeben, dessen linierte Seiten mit unregelmäßigen Punktemustern bedruckt waren.

Jeder einzelne der schwarzen, langstieligen Punkte, die wie Kirschen zwischen den fünf horizontal und parallel verlaufenden Linien klebten, symbolisierte eine weiße oder schwarze Taste.

Das Übersehen eines einzigen Punktes galt bereits als »Fehler«. Selbiges galt für das Verfehlen einer Taste.

Ob sich die fehlerhafte Variante, die verspielte Note, eleganter, lustiger, schräger, schiefer oder einfach nur interessanter anhörte als die vom Buch befohlene Variante, spielte dabei keine Rolle.

Hohle, gefüllte, mit Balken zu Gruppen zusammengefasste oder mit Fähnchen versehene Notenköpfe zu deuten, langweilte mich, und die herzlose Kategorisierung der Musik durch ein vollkommen fantasieloses Notensystem missfiel mir enorm.

Um den fade schmeckenden, mit den Augen zu erntenden schwarzen Kirschen zu entgehen, nahm ich die Stücke auf, indem ich Frau Lichtels vorspielende Finger beobachtete und anschließend deren Bewegungsabläufe imitierte.

Während der Klavierstunden boten sich mir zwei Perspektiven: die Vogelperspektive, von der aus ich die über schwarz-weiße Felder rasenden Lichtelschen Hände begleitete, sowie die des kleinen Froschs, schräg am Notenbuch vorbei, Richtung Regal, wo sich mein Blick zwischen den emporgereckten Rüsseln Hunderter Porzellanelefanten verfing.

Bald kannte ich sowohl Frau Lichtels altersgefleckte Handrücken, die verästelten Wege ihrer von den Handgelenken zu den Knöcheln führenden Adern, das Schimmern ihrer langen, perlmuttfarbenen Fingernägel und den Schliff des kleinen, in der Mitte ihres weißgoldenen Eherings versenkten Brillanten, als auch jedes einzelne Tier der nach Größe und Farbe sortierten Dickhäutersammlung bis ins letzte Detail.

Eine weitere negative Begleiterscheinung des freitagnachmittäglichen Unterrichts war der lange, steil ansteigende Weg zu Frau Lichtels Haus …

Notensystem, Altweiberhände, Porzellankitsch, anstrengender Fußweg – die Klavierstunde entpuppte sich als lästige Pflicht und ärgerliche Zeitverschwendung.

Wie gerne hätte ich jene Stunde, um die mich der Unterricht beraubte, für meine große Leidenschaft genutzt, die Geschichten und Märchen meiner Hörspielkassetten am Klavier zu begleiten, was die Erzählungen – meiner Meinung nach – vervollkommnete.

2.

Schädelbasisbruch und bumsen.

Zwei Worte, die ich durch sie gelernt, gehört, begriffen habe, deren Besitzerin sie, Jasmin oder Celine oder Justine, war, ist und bis in alle Zukunft sein wird.

Besonders bemerkenswert: Beide Buchstabenkombinationen erzählen von großen Durchbrüchen, vom Austreten von Blut-, Gehirn-, Gleit- oder Samenflüssigkeiten, von klaffenden und glitschigen Spalten, vom Eindringen und Aufnehmen, Biegen und Brechen, Leben und Tod, vom frontalen Aufprallen und von horizontalen Stößen, vom Bums, vom Krachen und Quietschen, vom Risiko, Hinfallen und Zufällen, vom Erwachsenwerden, von hart auf weich und hart auf hart und von der Allmacht der physikalischen und chemischen Gesetze, denen unser Menschsein von Anfang an unterworfen war, ist und sein wird.

Bumsen …

Ein Wort mit vielen Verwandten, unter denen der »Zeugungsakt« wohl eher zu den entfernten Vettern zählt …

In meiner persönlichen Geschlechtsverkehr-Wortfamilie halten sie sich dennoch an den Händen, sodass der Sprung von »bumsen« nach »Zeugung« meinen Gedanken nur wenig Sportlichkeit abverlangt. Natürlich ist dies noch längst nicht das Ende der von »bumsen« ausgelösten Gedankenverkettung, und normalerweise drängt sich an dieser Stelle der Begriff »Empfängnis« auf, der mich unweigerlich zum »Mutterbauch« und, da mein Aufenthalt dort sich der Erinnerung entzieht, stattdessen zum Gesicht meiner Mutter zurückführt.

Die Gesichter und Bäuche unserer Mütter hätten unterschiedlicher nicht sein können.