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In Skandinavien wird sie als eine der bedeutendsten Malerinnen des 20. Jahrhunderts gefeiert, in Deutschland ist sie spätestens seit der vielgerühmten Ausstellung in der Frankfurter Schirn 2014 keine Unbekannte mehr: Helene Schjerfbeck (1862-1946).

 Barbara Beuys schildert das dramatische und stürmische Leben der Malerin, in dem über tausend Bilder entstehen – Selbstporträts, Stillleben, Landschaften, vor allem aber Porträts moderner junger Frauen.

 Bereits im Alter von elf Jahren machte Helene Schjerfbeck als Wunderkind mit genialen Zeichnungen auf sich aufmerksam. Sie wird in die renommierte Mal- und Zeichenschule von Helsinki aufgenommen und provoziert mit sensiblen Historienbildern – eine Sensation, denn das war bisher Männersache. Sie erhält großzügige Stipendien, malt in Paris, im bretonischen Pont-Aven und in der Künstlerkolonie von St. Ives in Cornwall. Ihre Bilder hängen im Pariser Salon und auf Weltausstellungen. Als sie sich weigert, ihre Malerei in den Dienst des finnischen Nationalismus zu stellen, wird sie zur Außenseiterin. Erst eine Ausstellung in Helsinki bringt 1917 den Durchbruch in Finnland, eine Einzelausstellung 1937 in Stockholm ist ein Triumph, der Schjerfbecks Ruhm als Meisterin der Moderne in Skandinavien begründet.

 

Barbara Beuys, geboren 1943, arbeitete nach ihrer Promotion in Geschichte als Redakteurin u. ‌a. bei Stern, Merian und der Zeit. Heute lebt sie als freie Autorin in Köln. Von ihr liegen im insel taschenbuch u. ‌a. vor: Preis der Leidenschaft. Chinas große Zeit: Das dramatische Leben der Li Qingzhao (it 3418); Paula Modersohn-Becker. Oder: Wenn die Kunst das Leben ist (it 3419), Blamieren mag ich mich nicht. Das Leben der Annette von Droste-Hülshoff (it 3458), Denn ich bin krank vor Liebe. Das Leben der Hildegard von Bingen (it 3467), Sophie Scholl. Biographie (it 4049) und Die neuen Frauen. Revolution im Kaiserreich: 1900-1914 (it 4419).

 

 

Barbara Beuys

Helene Schjerfbeck

Die Malerin aus Finnland

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2016

© Insel Verlag Berlin 2016

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Umschlagabbildung: Helene Schjerfbeck, Selbstbildnis mit silbernem Hintergrund, 1915. Foto: Turku Art Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

 

eISBN 978-3-458-74942-4

www.insel-verlag.de

Inhalt

 1 Im Familienkosmos

1862 bis 1873

 

 2 Nach den Schweden kommen die Russen
Oder: Männer machen Geschichte

 

 3 Das Wunderkind
Oder: Frauen machen Fortschritte

1873 bis 1877

 

 4 Becker-Akademie: Der letzte Schliff

1877 bis 1879

 

 5 Erster Ausstellungserfolg – Stipendium für Paris

1880

 

 6 Paris: Das erste Jahr war das wunderbarste

September 1880 bis Juni 1881

 

 7 Meudon – Concarneau, Bretagne – Paris

Mai 1881 bis Juni 1882

 

 8 Helsinki – Sjundby – Helsinki

Juli 1882 bis Februar 1883

 

 9 Laubhüttenfest
Oder: Vom Mysterium des Glaubens

 

10 Zwischenauftritt in Paris

März bis Juni 1883

 

11 Pont-Aven und eine Verlobung

Juli 1883 bis April 1884

 

12 »Der Schatten an der Wand« und »Die Tür«

 

13 Wieder ein Frühling in Paris

Mai bis Juni 1884

 

14 Zwei Jahre Finnland – Heftige Kritik – Das Ende der Verlobung

Sommer 1884 bis Herbst 1886

 

15 Aufatmen beim Zwischenstopp in Paris

Winter 1886 bis Frühjahr 1887

 

16 In der Künstler-WG von St. Ives

Juli 1887 bis Mai 1888

 

17 Mit neuen Bildern zurück in Paris – Weiter nach Finnland

1888 bis 1889

 

18 Ein turbulentes Frühjahr: Paris – Italien – Meudon – Paris

1889

 

19 Zu zweit in St. Ives

Juli 1889 bis Mai 1890

 

20 Bilder aus Finnland

Juli 1890 bis März 1892

 

21 Eindrücke aus St. Petersburg

April bis Juni 1892

 

22 Zurück in Finnland – Lehrerin in Helsinki

Juli 1892 bis Winter 1893/94

 

23 Wien und Florenz – Feste Anstellung in Helsinki

März bis August 1894

 

24 Mythos Krankheit – Heilung in Gausdal

1895/1896

 

25 Russifizierung und der Widerstand der Jungfinnen

1890 bis 1899

 

26 Die Kunst im Dienst des Patriotismus

1890 bis 1900

 

27 Außenseiterin der Kunstszene

1890 bis 1902

 

28 Neue Freiheit in Hyvinkää

1902 bis 1905

 

29 Finnlands unblutige Revolution

1905 bis 1907

 

30 Sehnsucht und Routine und viele neue Bilder

Hyvinkää 1907 bis 1912

 

31 Unerwarteter Besuch: Der Kunsthändler und der Forstmeister. Erfolge in Malmö – Helsinki – Stockholm

1913 bis 1916

 

32 Einzelausstellung in »Stenmans Konstsalong«

Triumph in Helsinki 1917

 

33 Nach dem Bürgerkrieg: Ein Sommer voll glücklicher Tage

Ekenäs 1918

 

34 Zum dritten Mal enttäuscht: Ein herzbrechendes Missverständnis

Ekenäs 1919 bis Oktober 1920

 

35 Neue Bilder, Ausstellungen und ein tiefer Lebenseinschnitt

Hyvinkää November 1920 bis Juni 1925

 

36 Ein Neubeginn: Frei, selbstständig, wohlhabend

Ekenäs Juli 1925 bis Ende 1927

 

37 Das Leben nimmt weiter Fahrt auf

Ekenäs 1928 bis 1931

 

38 »Neue Frauen«, interessante Männer, Ausstellungen und der siebzigste Geburtstag

Ekenäs 1928 bis 1932

 

39 Triumph in Stockholm und selbstbewusste Gelassenheit

Ekenäs 1933 bis 1938

 

40 Der »Winterkrieg« zwingt zur Evakuierung aufs Land

Ekenäs 1939 bis Juni 1941

 

41 Leben im Dröhnen der Luftangriffe

Loviisa Juni 1941 bis Februar 1942

 

42 Achtzig Jahre und noch lange nicht fertig mit der Malerei

Nummela Februar 1942 bis Februar 1944

 

43 Flug nach Schweden. Heimweh im feinen »Badhotell«

Saltsjöbaden Februar 1944 bis Dezember 1945

 

44 Tod in Saltsjöbaden und Heimkehr nach Helsinki

Januar bis 9. Februar 1946

 

Literaturhinweise und Dank

 

Bildnachweis

 

Register





Am 16. September 1880 bestieg Helene Schjerfbeck im Hafen von Helsinki das Dampfschiff »Der Großfürst«, das im Linienverkehr nach Lübeck fuhr. Ihr Reiseziel war Paris, wo die Achtzehnjährige dank eines Stipendiums des Kaiserlichen Senats von Finnland ihre Ausbildung zur Malerin auf höchstem Niveau fortsetzen konnte. Am selben Tag schrieb »Hufvudstadsbladet«, die große angesehene Tageszeitung von Helsinki: »Heute Morgen hat unsere jüngste und vielversprechendste Künstlerin, Fräulein Helene Schjerfbeck, via Lübeck die Segel nach Paris gesetzt.«

 

Als Helene Schjerfbeck am 23. Januar 1946 im schwedischen Kurort Saltsjöbaden bei Stockholm starb, war für »Hufvudstadsbladet« die finnische Malerin »Der größte skandinavische Künstler aller Zeiten«. Und als die Urne mit ihrer Asche am 9. Februar 1946 auf dem traditionsreichen alten Friedhof in Helsinki beigesetzt wurde, stand über dem Artikel zur Begräbnisfeier: »Ihr Leben war prophetisch – ihre Kunst ist zeitlos.«

1. Kapitel

Im Familienkosmos

1862 bis 1873

Endlich! Endlich füllt sich die elterliche Wohnung in der Henriksgatan 14 in Helsinki mit Leben. Menschen, die nicht durch verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen mit der Familie verbunden und die, nimmt man es genau, nur für sie gekommen sind, sitzen um den runden Tisch im Wohnzimmer. Mit ihren hellwachen blauen Augen blickt die achtjährige Helene, die auf einem leicht erhöhten Stuhl kniet, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, in die Runde: Da sind vier Mädchen aus der Nachbarschaft, mehr oder weniger in ihrem Alter, und Fräulein Ingman, die Lehrerin, die die überschaubare Kinder-Runde unterrichten soll.

Olga Schjerfbeck, Helenes Mutter, hat diese kleine Privatschule für das Frühjahr 1871 in ihrer Wohnung organisiert. Zuvor hatte sie, wie es bei bürgerlichen Familien in Finnlands Hauptstadt üblich ist, ihrer Tochter Lesen und Schreiben beigebracht. Nun wäre es an der Zeit gewesen, Helene in die renommierte private »Frauenzimmerschule« zu schicken. Aber die Mutter traut der Tochter den Gang ins Leben nicht zu: Im vierten Lebensjahr hatte sich Helene bei einem Treppensturz die linke Hüfte schwer verletzt. Die Hüfte blieb geschädigt, das linke Bein verkürzt. Helene hinkte, als sie endlich das Bett verlassen durfte, und stützte sich auf einen kleinen Stock, wenn es hinaus auf die Straße ging. Dabei hielt sie sich sehr aufrecht, entschlossen, trotz der Behinderung am Leben der anderen teilzuhaben. Für die Mutter jedoch war Helene seit dem Sturz ein kränkliches, zartes Kind, das vor dem rauen Alltag draußen in der Welt beschützt werden musste.

Hinzu kam, dass der zwei Jahre ältere Bruder Magnus auf das angesehene »Normallyzeum« ging; es war wie die Mädchenschule eine private Institution, und beide kosteten Geld. Davon gab es nicht viel im Haushalt Schjerfbeck, wobei es für die Mutter selbstverständlich war, dass der Sohn bei finanziellen Ausgaben stets den Vorrang vor der Tochter hatte. Auf mehrere Köpfe verteilt, war der Unterricht durch die zwanzigjährige Lina Ingman, Tochter eines Theologieprofessors der Universität Helsinki und angehende Lehrerin, eine günstige und gute Alternative. Lina Ingman war kompetent und freundlich, die Mädchen um den runden Tisch mochten sie sofort sehr. Sie nahmen alles Neue wissbegierig auf – Biblische Geschichte, Geografie, Gedichte und Erzählungen. Helene, deren blonde Haare im Rücken zu einem Zopf geflochten waren und die alle in der Familie nur Elli oder Ella nannten, war glücklich.

Während die Mädchen lernten und erprobten, ob das Gelernte auch im Gedächtnis blieb, kamen sie einander näher. In diesem Kreis begann Helenes lebenslange Freundschaft zu ihrer Mitschülerin Elin Elmgren, kaum zwanzig Jahre später eine der ersten Ärztinnen Finnlands. Im Miteinander der Kameradinnen entwichen für Helene die Schatten der Toten, die seit Jahren das Familienleben verdunkelten. Dabei war es ein fröhliches Ereignis, das ihr zeitlebens als früheste Erinnerung im Gedächtnis blieb.

Sie war nicht viel älter als ein Jahr, als man Helene in einem gepunkteten Kleid auf einen Tisch am offenen Fenster gesetzt hatte und auf der Straße ein endloser Zug von Männern in graubraunen Uniformen vorbeimarschierte. Es waren Soldaten, die zur feierlichen Parade auf den Senatsplatz von Helsinki zogen. Als die Männer das kleine Mädchen entdeckten, nickten sie ihr freundlich zu. Helene hatte feine Sensoren für die Stimmung ringsum, spürte, dass solche unbekümmerten Stunden ein rares Geschenk waren. Über fünfzig Jahre später erinnert sie sich: »Zu Hause war es ernst und schwermütig, und ich nahm alles schwer – so ist es bis heute.«

Der kleine intime Familienkosmos in der Henriksgatan war gezeichnet von traurigen, verzweifelten Stunden, wie sie zum Alltag der Menschen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gehörten. Aber es ist wichtig zu wissen, dass alle Aussagen von Helene Schjerfbeck zu den frühen Jahren, die sie als eine einzige schwere Last schildert, und besonders zu ihrer Mutter, von der sie sich nicht geliebt fühlt, Jahrzehnte später gemacht wurden. In Zeiten, als das Verhältnis zu ihrer Mutter besonders angespannt ist.

Wenn die düster eingefärbte Vergangenheit in den Hintergrund tritt und der Kindheit Platz macht, fügen sich die Bruchstücke zu einem differenzierten Bild. Trotz Schmerz und Ausgeliefertsein regen sich Eigenständigkeit und Widerstandskräfte, ein optimistisches Auftreten wird sichtbar. Helene Schjerfbecks Erfolg als Malerin hängt nicht am Mythos einer traumatisierten Kindheit. Die Opferrolle, in die Biografien und Aufsätze zu ihrer Person sie gedrängt haben, entspricht nicht ihrer Persönlichkeit.

Helenes Eltern kamen aus gutsituierten bürgerlichen Familien, die in Västnyland, dem Landstrich zwischen Helsinki und der Westküste Finnlands, zu Hause waren. Zu ihren Vorfahren zählen lutherische Pfarrer und Kaufleute, Ratsherren und Militärs, Apotheker, Verwaltungsbeamte und Ärzte. Die Eltern, Svante Schjerfbeck und Olga Johanna Printz, heirateten 1857 in Karislojo, dem Heimatort der Braut, wenige Kilometer nördlich von Ekenäs gelegen, wo der Bräutigam aufgewachsen war. Olga Johanna war achtzehn Jahre alt, ihr Vater acht Jahre zuvor gestorben. Der vierundzwanzigjährige Svante hatte weder Vater noch Mutter gekannt. Mit gut einem Jahr war er Waise geworden und kam in den Haushalt einer unverheirateten Tante. Zwei Menschen taten sich zusammen in der Hoffnung, den Grundstein für Geborgenheit mit einer eigenen Familie zu legen.

Nach der Heirat zog das Paar hoch in den Norden nach Jakobstad an der finnischen Westküste, wo Svante Schjerfbecks früh verstorbener Vater als Apotheker zu Wohlstand gekommen war. Jetzt trat der Sohn das Erbe an, zu dem zwei Grundstücke und eine wertvolle Bibliothek gehörten. Svante Schjerfbeck, der nach der Schule zusätzlich in Turku einen Kurs an der Handelsschule belegt hatte, erhielt 1857 die Befähigung zum Kaufmann. Doch er hatte kein Talent für Kontor, Buchführung und gewinnbringende Geschäfte. Schon nach einem Jahr ging er in Konkurs und verlor das gesamte Erbe. Da war seine Frau schwanger. 1858 wurde ihre erste Tochter geboren und auf den Namen Olga Sofia getauft. Die junge Familie hielt sich mehr schlecht als recht über Wasser. Im Juni 1860 kam das zweite Kind auf die Welt, der Sohn Svante Magnus, von allen nur Magnus genannt.

1861 fassten die Eltern den Entschluss, in Helsinki einen Neuanfang zu wagen. Die Hauptstadt lockte immer mehr Menschen aus dem Landesinneren an. Auch in Finnland begann die Industrialisierung langsam Fahrt aufzunehmen. Mit der Wirtschaft ging es aufwärts, neue Arbeitsplätze entstanden. Svante Schjerfbeck fand Arbeit in Helsinki als Bürovorsteher einer Eisenbahnwerkstatt.

Noch hatte sich in Finnland zwar keine einzige Lokomotive in Bewegung gesetzt, aber der junge Bürovorsteher Schjerfbeck hatte einen aufregenden Arbeitsplatz. Seine Eisenbahnwerkstatt in Helsinki war Teil eines Pionierprojekts, das die erste Eisenbahnlinie Finnlands realisieren sollte. Hunderte von Arbeitern waren damit beschäftigt, eine Trasse zwischen der Hauptstadt und dem knapp hundert Kilometer nördlich gelegenen Hämeenlinna quer durch das Land zu legen. Nicht nur Profit und Wohlstand, auch der Stolz Finnlands war mit dieser Jahrhundertanstrengung verknüpft.

Ob der tägliche Gang ins Büro und die Arbeit als Angestellter dem entsprach, was der inzwischen Achtundzwanzigjährige und seine Frau sich für die Zukunft erhofft hatten? Wohl kaum. Eine von Olga Schjerfbecks Schwestern hatte einen Gutsherrn geheiratet, die andere einen Bankdirektor. Das waren bessere Partien. Der Posten als städtischer Angestellter bei der Eisenbahn erlaubte keine üppige Haushaltsführung. Aber das bürgerliche Ansehen konnte gewahrt bleiben. In der Georgsgatan 31, im Zentrum des alten Helsinki, hatte die Familie ein kleines weißes Haus gefunden.

Nichts erinnert in diesem Viertel mehr an das Helsinki der 1860er Jahre mit seinen Holzhäusern, seinen Höfen und kleinen Gärten. Heute ist die Georgsgatan – in wenigen Minuten vom quirrligen Narinkka-Platz mit dem größten Einkaufskomplex Skandinaviens quer über die Simonkatu zu erreichen – fast lückenlos mit neoklassizistischen Gebäuden der Zeit um 1900 bebaut. Nur bei Nummer 31 hat sich ein eintöniger moderner Backsteinblock dazwischengeschmuggelt. Im Erdgeschoss lädt »Scandinavien Outdoor« zum Einkaufen, daneben »Kebab & Pizza« zum Essen. Aber damals wie heute sind es nur Minuten bis zur Esplanadi, Helsinkis breiten, in der Mitte parkartig angelegten parallelen Prachtboulevards. Schon seit 1839 steht am östlichen Ende der Esplanadi, mit Blick auf Hafen und Markt, das vielfach erweiterte »Kappeli«, immer noch eines der beliebtesten Café-Restaurants der Hauptstadt.

1861 ließen sich die stolzen Eltern mit der erstgeborenen Olga Sofia fotografieren. Die Familie begann Fuß zu fassen in der großen Stadt. Doch 1861 sollte ein Jahr der Katastrophen für die Neuankömmlinge werden.

Selma, die ältere Schwester von Svante Schjerfbecks Frau Olga, war mit Thomas Adlercreutz verheiratet, studierter Jurist und adliger Besitzer vom Herrenhaus Sjundby. Das mächtige Herrenhaus, ein Schloss im Kleinen, gut sechzig Kilometer westlich von Helsinki gelegen, ist eines der wenigen frühen Steingebäude, die sich über gut fünfhundert Jahre in Finnland erhalten haben. Nach dem Tod seiner ersten Frau war es für Thomas Adlercreutz die zweite Ehe. 1861 war die vierundzwanzigjährige Selma schwanger, und das Paar freute sich auf Nachwuchs. Als Selma mit ihrem ersten Kind niederkam, war Thomas Adlercreutz nicht auf Sjundby. Sein Schwager Svante Schjerfbeck überbrachte ihm in Helsinki die schreckliche Nachricht, dass seine Frau bei der Geburt gestorben war. Die kleine Tochter überlebte und wurde auf den Namen der Mutter getauft. Die Großmutter mütterlicherseits zog nach Sjundby. Sie war verwitwet, aber erst achtundvierzig Jahre alt, kümmerte sich von nun an um die Enkelin Selma und den herrschaftlichen Haushalt. Thomas Adlercreutz hat nicht wieder geheiratet.

Aber der Tod ließ nicht locker, und diesmal traf er Olga und Svante Schjerfbeck mitten ins Herz. Im selben Jahr mussten die Eltern den winzigen weißen Sarg, in dem ihre kleine Olga Sofia lag, von der Georgsgatan zu Helsinkis Friedhof am Ende der Lappviksgatan begleiten. Mutter Olga Schjerfbeck war zweiundzwanzig Jahre, Vater Svante achtundzwanzig Jahre alt. Dass der Tod für werdende Mütter und kleine Kinder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz allen Fortschritts noch ein bedrohlicher Begleiter war, konnte für die, die ihre Frauen, ihre Kinder zu Grabe trugen, kein Trost sein. Aber es hielt sie nicht davon ab, weiter auf das Leben zu setzen.

Das Jahr 1862 begann mit einem viel umjubelten Erfolg auf dem Weg Finnlands in die Moderne. Am 31. Januar um 5 Uhr 30 in der Frühe fuhr eine ausgewählte Gesellschaft mit dem ersten Eisenbahnzug von Helsinki nach Hämeenlinna. Die Premierengäste waren knapp sechs Stunden später am Ziel und bei heiterster Stimmung, denn für Getränke an Bord war reichlich gesorgt. Auch für Svante Schjerfbeck, den Bürovorsteher der Eisenbahnwerkstatt, und für seine Frau Olga wird es ein guter Tag gewesen sein. Aber gewiss war die Freude noch viel größer, als am 10. Juli 1862 in der Georgsgatan 31 eine Tochter geboren und auf den Namen Helena Sofia getauft wurde.

Rund zwanzig Jahre später, fern von Helsinki und der Familie, hat Helena Sofia Schjerfbeck in Paris beschlossen, sich von nun an ausschließlich mit ihrem ersten, leicht veränderten Vornamen »Helene« zu nennen. Für ihr Motiv gibt es nicht den kleinsten Hinweis von ihr oder ihrer Umgebung. Eine Vermutung sei riskiert: dass »Helene« ihrem Selbstbild als freie, internationale Künstlerin, die in Paris zu Hause war und die als Malerin der Moderne tief in den Bildern der alten europäischen Meister wurzelte, sehr viel mehr entsprach als »Helena«, ein Name, der für sie mit familiärer Enge und nationalem Gebundensein verknüpft war. Was sie als junge Frau um 1880 entschieden hat, dabei ist Helene Schjerfbeck radikal und lebenslang geblieben, ob sie ihre Bilder signierte oder einen Mietvertrag unterschrieb. Es ist deshalb gerechtfertigt, in einer Biografie den Namen, der Helene Schjerfbeck lebenswichtig war, von Anfang an zu respektieren.

Zwei Jahre nach Helenes Geburt, 1864, kam wieder eine Tochter zur Welt, Selma Johanna. Schon 1865 mussten die Eltern auch Selma beerdigen. Im selben Jahr fuhr Svante Schjerfbeck zum Begräbnis seiner Tante Hedda, die ihn als Waisenkind aufgenommen hatte, nach Ekenäs. Seine Tochter Helene, inzwischen drei Jahre alt, erlebte, wie der Vater zurückkam und zu seiner Frau sagte: »Das ist das ganze Erbe, eine Spieldose und eine Kommode.« Die bitteren Worte bedrückten, das Kind vergaß sie nicht. Um diese Zeit hatte die Familie einen Umzug in die Henriksgatan 14 hinter sich, nur wenige Minuten von der alten Wohnung entfernt. Es war ein großer Wohnblock an der Straßenecke zur Vladimirsgatan. Wie bei finnischen Häusern üblich, ging es durch einen Torbogen in den Innenhof, wo Lagerschuppen und Wirtschaftsgebäude standen, bevor der Garten und die Wohnungen erreicht wurden.

Nicht die geringsten Spuren sind geblieben, um sich die Bebauungen von damals vorzustellen. Heute locken amerikanische Fastfood-Ketten, »Bar & Nightbar« und ein gewaltiges »Einkaufsforum« an der damals Henriksgatan/Vladimirsgatan genannten Ecke, jetzt Mannerheimintie/Kalevankatu, Touristen und Einheimische an.

1866 ist Olga Schjerfbeck wieder schwanger, der Sohn Tor Fredrik kommt zur Welt. 1867 müssen die Eltern hilflos seinen Tod ertragen. Zehn Jahre sind sie nun verheiratet. In diesem Zeitraum hat die achtundzwanzigjährige Olga Schjerfbeck fünf Kinder geboren, von denen die Eltern drei in kürzester Zeit begraben mussten. Sie werden keine weiteren Kinder bekommen, und von nun an mit Sohn Magnus und der Tochter Helene als kleine Familie um den Tisch sitzen. Aber die Toten bleiben gegenwärtig. Vor allem Helene, als einzige überlebende Tochter, wird mit der erstgeborenen, Olga Sofia konfrontiert, die noch vor ihrer Geburt gestorben ist.

Zu Helene Schjerfbecks belastenden Rückblicken gehört der Eindruck, dass die Mutter nach dem Tod von drei kleinen Kindern dem Leben nichts mehr abgewinnen konnte, nur noch sterben wollte. Die Trauer um die älteste Tochter ließ fast die Tode der anderen Geschwister in den Hintergrund rücken, die noch Säuglinge waren, als sie starben. Die kleine Olga hatte schon eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Immer wieder hörte Helene von der Mutter, wie klug und liebenswert die Schwester gewesen sei. Traurigkeit und Schwermut nahmen kein Ende. Woher hätte die Mutter den Trost nehmen sollen, dessen die überlebende Tochter so sehr bedurfte. Zumal Magnus, der Sohn, ein zartes Kind war, das viel weinte.

Als der kleine Bruder Tor starb, hatte Helene schon ein Jahr nicht mehr die Wohnung verlassen. 1866 war sie die steile Treppe, die außen am Haus in die Wohnung führte, hinuntergestürzt. Wahrscheinlich war der Kopf des linken Oberschenkelknochens verletzt worden, und der Knochen hatte sich aus seiner Position verschoben. Für einen Arzt reichte das Geld nicht. Stattdessen holte Olga Schjerfbeck eine alte Frau aus dem nördlichen Österbotten, Maja, als Pflegerin ins Haus. Während die Mutter sich um den kleinen, schwachen Tor kümmerte, musste Maja dafür sorgen, dass Helene möglichst ruhig im Bett liegen blieb – Tag und Nacht, Monat für Monat. Trotz des vielen Liegens setzte sich der linke Oberschenkelknochen in einer falschen Position fest. Helene hinkte. Irgendwann kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nicht mehr so laufen konnte wie andere Kinder und behindert war.

Das Zimmer, in dem das Kind so viel Zeit verbrachte, war duster; durch die Fenster sah man kaum den Himmel. Aber unscheinbare Ereignisse, deren Leuchten selbst in Jahrzehnten nicht nachließ, durchbrachen diese isolierten Jahre. Einmal ging Maja mit ihr in den Garten im Hof. Dort war ein kleines Mädchen, das brachte Helene eine Rose und ein Sträußchen Tränende Herzen. Zurück im Zimmer, stellte Maja sie auf das Fensterbrett. Helene war vom Anblick dieser Blumen-Schönheit wie verzaubert. Als klar war, dass sich an der Behinderung der linken Hüfte nichts mehr ändern würde, bekam Helene einen Stock. Sie lernte damit zu gehen, das brachte Erleichterung, und sie versuchte, sich möglichst aufrecht zu halten.

Die Tage bekamen mehr Struktur, als die Mutter begann, Helene Lesen und Schreiben beizubringen. Ein solcher Privatunterricht war keine Ausnahme in bürgerlichen finnischen Familien. In der Autobiografie von Helena Westermarck, die in jungen Jahren eine der engsten Freundinnen von Helene Schjerfbeck wurde, erfahren wir, dass auch sie mit ihren Geschwistern den ersten Unterricht zu Hause von der Mutter erhielt. Deren Argument: es sei kleinen Kindern nicht zumutbar, stundenlang still zu sitzen.

In einigen Briefen aus viel späteren Jahren, die sich von Helene Schjerfbeck erhalten haben, nehmen die gegensätzlichen Charaktere ihrer Eltern Gestalt an. Da ist die Mutter, schwermütig, verschlossen, streng und immer mit dem Anspruch, recht zu haben. Die Tochter fühlte sich von ihr unverstanden, ungeliebt. Da ist der Vater, weich, tröstlich, verständnisvoll, bei dem Helene sich aufgehoben fühlte – »zu ihm konnte ich gehen«.

Helene spürte die Spannungen zwischen den Eltern, die ihr in einsamen Stunden buchstäblich den Atem nahmen. Im hohen Alter hat die Mutter, die sich kaum ins Herz blicken ließ, der Tochter gesagt, dass sie ihren Mann Svante nicht geliebt habe. Die Hochzeit sei für sie kein Tag der Freude gewesen, weil sie ihn gegen ihren Willen heiraten musste. Hinzu kam, dass zuvor ein junger Mann um ihre Hand angehalten habe. Doch Olga – zusammen mit ihrer Schwester – habe ihn nur ausgelacht. Er sei wenig später gestorben, und es lag schwer auf ihrem Gewissen, einen edlen Menschen verletzt zu haben. Danach habe sie niemanden mehr lieben mögen.

Der Vater war für die Tochter nicht nur emotionaler Ruhepunkt. Es gab bei ihm auch Interessantes zu entdecken, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam. Svante Schjerfbeck zeichnete in seiner freien Zeit Landkarten und legte historische Tabellen an. Für neugierige Kinder ein Anlass, endlos Fragen zu stellen über das, was auf dem Papier vor ihren Augen entsteht. Eines Tages brachte er Helene Papier und Bleistifte mit. Sie nahm dieses Geschenk stolz an sich und begann, sich mit beidem vertraut zu machen.

Bald schon kam die Zeit, als der Vater nicht mehr zur Arbeit ging. Helene wird bemerkt haben, dass ihm das Atmen schwerfiel und er schnell ermüdete. Er war blass und schwach. Svante Schjerfbeck hatte Tuberkulose, die Massenkrankheit des 19. Jahrhunderts. Wer diese Diagnose erhielt, wusste, dass er nur noch wenige elende Jahre vor sich hatte, und sie war keineswegs den unteren sozialen Schichten vorbehalten. Mit dem Wissen um einen frühen Tod wünschte sich der Siebenunddreißigjährige, noch einmal mit der Familie an den Ort zu reisen, wo er seine Frau kennengelernt und 1857 geheiratet hatte. In einem Brief hat sich seine Tochter 1936 an diesen letzten Ausflug nach Karislojo erinnert.

Von Helsinki ging die Fahrt im Sommer 1870 mit Pferd und Wagen zuerst einmal westwärts bis Sjundby, wo Thomas Adlercreutz seine Schwägerin und ihren kranken Mann großzügig im Herrenhaus empfing. Großmutter Sofie Printz, die seit dem Tod ihrer Tochter Selma 1861 die weibliche Aufsicht über den großen Herrenhof führte und Mutterersatz für die Enkelin war, hatte alles für die Gäste vorbereitet. Helene freute sich auf ihren Patenonkel Thomas, dessen Sohn Henrik aus erster Ehe und auf Selma, die nur ein Jahr älter war als sie. Viele gemeinsame Tage hatten die beiden Kusinen nicht, denn das Ziel war Karislojo, wo die Großmutter noch immer ihr Haus besaß.

Für die achtjährige Helene waren die Wochen im Haus der Großmutter mit Eltern und Bruder ein aufregendes Erlebnis: »Es war ein Sommer an der frischen Luft, mein erster auswärts, und die Kinder waren so freundlich.« Helene und Magnus spielten mit den drei Nachbarskindern von gegenüber – »zwei von ihnen sind jung gestorben«, fügt sie in ihrem Brief hinzu. Kein Wort fällt darüber, dass sie mit ihrer steifen Hüfte beim Laufen nicht so flott mithalten konnte. Nicht der Rede wert, noch aus der Erinnerung spricht das Glück dieses Sommers. Und dass die Familie im Haus der Großmutter von Porzellantellern aß, hat Helene bemerkt und nicht vergessen.

Die elterliche Wohnung hinter sich zu lassen und in der Fremde anderen Kindern im Spiel zu begegnen, eröffnete ein bisher nicht gekanntes Gefühl von Freiheit. Schon im nächsten Jahr, 1871, kamen Menschen und Welt zu ihr nach Hause. Es begann die Zeit, als Helene mit ihren vier Mitschülerinnen im Wohnzimmer um den runden Tisch saß und Fräulein Ingman zuhörte.

Helene hörte gern zu und redete nicht viel. Viele Menschen, denen sie im Lauf ihres Lebens begegnete, haben Helene Schjerfbeck mit dem Etikett »schüchtern« versehen. Sie war zurückhaltend, sie drängte sich nicht vor, das ist wahr; aber sie versteckte sich nicht. Helene Schjerfbeck wusste schon in jungen Jahren, was sie wollte, auch wenn sie nicht darüber sprach. Sie folgte ihrem inneren Kompass, unbeirrt von dem, was ihre Umgebung dazu sagte. Sie wollte kein Opfer sein. Sie war selbstkritisch bis zum Extrem und dennoch überzeugt, ein außergewöhnliches künstlerisches Talent zu haben.

An einem Vormittag während des häuslichen Unterrichts kamen dieses Talent und Helenes kreative Umsetzung zufällig ans Licht. Sie schob hastig einige Zeichenblätter zusammen, als hätte sie etwas zu verbergen. Ihre Mitschülerinnen wurden neugierig, und auf Nachfragen rückte Helene die Blätter heraus. Was Fräulein Ingman und die anderen Kinder sahen, machte sie sprachlos. Helene hatte mit feinem Bleistift eine Folge von sechs Bildern gezeichnet, die die Geschichte einer rührigen Katzenmutter erzählen. Auf dem ersten Bild wird die Katzenmama mit ihren Kindern vorgestellt; dann geht sie zum Markt, kauft Möhren, Äpfel und Kartoffeln für ihre Lieblinge und wandert beladen zurück. Auf dem letzten Bild sitzen die Kleinen um den Einkaufskorb und genießen unter den Augen der zufriedenen Katzenmama die Leckereien. Die Bilder strahlen Harmonie und Lebensfreude aus.

Was für eine anrührende Geschichte, die Mitschülerinnen waren begeistert. Und so fein gezeichnet, als würde die Katzenmama mit ihren Kindern gleich auf samtenen Pfoten aus dem Papier treten. Lina Ingman staunte nicht weniger und ihr fiel noch mehr auf: wie geschickt, geradezu professionell Helene die Komposition auf den jeweiligen Bildern arrangiert hatte. Die kleine Künstlerin freute sich über so viel Bewunderung und schenkte Fräulein Ingman die sechs Zeichnungen.

Die Eltern förderten das Talent ihrer Tochter. Sie schenkten Helene ein Heft, auf dem in schöner Handschrift steht »Zeichenheft für Helena Sofia Schjerfbeck 1872«. Die Besitzerin des Skizzenbuches hat die unterschiedlichen Motive, die sie zeichnete, jeweils mit einem zierlichen Datum versehen. Unter dem 29. Mai 1872 sieht man die Studie eines Ruderboots, das auf dem Trockenen lagert, klassisch, ohne jeden überflüssigen Schnörkel. Am 14. April liegt das Stück eines gefällten Baumstamms wie ein Stillleben im Gras. Es folgt der Blick in einen prall gefüllten Küchenraum, wo in der Pfanne über dem Herdfeuer Essen brutzelt, die Schwaden in den offenen Kamin ziehen, Würste und Schinken am Haken hängen und eine Katze neben dem Butterfass sitzt. Zielsicher sind die Bleistiftstriche gesetzt, wird mit hellen und dunklen Schraffierungen ein Raumgefühl erzeugt; nichts Kindliches oder Amateurhaftes spricht aus den Bildern. Noch keine zehn Jahre ist Helene alt und hatte bisher keine Stunde Zeichenunterricht, denn dieses Fach stand nicht auf Fräulein Ingmans Stundenplan.

Im Frühjahr 1873 ging der Unterricht im Hause Schjerfbeck nach zwei Jahren zu Ende. Für den letzten Teil ihrer Ausbildung musste Lina Ingman Helsinki verlassen und ins Lehrerinnenseminar nach Ekenäs ziehen. Im Februar 1935 bemerkte ihre Schülerin Helene, die nun eine angesehene Malerin war, in einem Brief: »Ich hatte eine wunderbare freundliche alte Lehrerin, meine allererste, sie ist jetzt 82 und schreibt mir einmal im Jahr, auch schon mal zweimal.« Es hatte seinen Grund, dass der Kontakt zwischen Fräulein Ingman und Helene nicht abgerissen war. Über sechzig Jahre zuvor wurde die wunderbare Lehrerin aktiv, als es um Helenes Zukunft ging. Es war ein Wendepunkt, der das Leben ihrer Schülerin beeinflusste wie nichts sonst.

Olga Schjerfbeck besprach mit Lina Ingman, wie es weitergehen könnte mit Helene. Die angehende Lehrerin muss Helenes Zeichentalent angesprochen und einen Plan entwickelt haben. In Helsinki hatte der Finnische Kunstverein 1848 eine Zeichenschule eingerichtet, in der erstmals professionelle Maler und Malerinnen ausgebildet wurden. Und das war um die Mitte des 19. Jahrhunderts revolutionär: In Helsinkis Kunstschule wurden Jungen und Mädchen zusammen unterrichtet, während Frauen in allen europäischen Kunstakademien südlich der Ostsee der Zugang bis ins 20. Jahrhundert hinein verboten war.

Die Ausbildung allerdings kostete Geld, und davon gab es bei Schjerfbecks noch weniger, seit der kranke Vater nicht mehr arbeiten konnte. Die finanziellen Ausgaben für den Schulbesuch des dreizehnjährigen Magnus hatten Vorrang. Lina Ingman gab nicht auf. Sie erhielt die Erlaubnis der Eltern, ihrer Idee eine Chance zu geben, und verabredete einen Termin in der Universität bei Adolf von Becker.

Der Kunstverein war seit seiner Gründung 1846 die Herzkammer finnischer Kunst in einem Land, das bis dahin keine nennenswerte eigene Kunst besessen hatte, keine Gemäldesammlung mit Bildern europäischer Künstler, keine Museen. Der Kunstverein schuf die organisatorischen Grundlagen und Anreize für ein nationales Kunstleben. Neben der Verantwortung für die Zeichenschule organisierte er Ausstellungen, stiftete Preise und Stipendien. Adolf von Becker war ein einflussreicher Mann in der Kunstszene. 1831 in Helsinki geboren, hatte er sich nach dem Jurastudium der Malerei zugewandt. Er reiste 1865 als Finnlands erster Kunststudent nach Paris. Zurück in der Heimat, war er mit seinen Bildern vom bäuerlichen Leben sehr erfolgreich und fühlte sich verpflichtet, sein Wissen über die neue französische Malerei an die nachfolgende Künstlergeneration weiterzugeben. Adolf von Becker war im Vorstand des Kunstvereins und seit 1868 der offizielle Zeichenlehrer der Universität.

Als Lina Ingman ihm die Bilder aus dem Leben einer Katzenmama vorlegte und von der jungen Zeichnerin erzählte, deren Eltern kein Geld für den Unterricht an der Kunstschule hätten, sah Adolf von Becker die Blätter lange an. Er fragte ungläubig nach: »Das hat wirklich ein zehnjähriges Mädchen gemalt?« Schließlich sagte er: »Der Kunstverein ist verpflichtet, ein Kind mit einem so außergewöhnlichen Talent unentgeltlich zu fördern.« Helene könne mit dem Herbstsemester 1873 in der Vorbereitungsklasse der Zeichenschule beginnen. Unmöglich, polterte der Vereinsvorsitzende, als er davon hörte. Mit elf Jahren dürfe hier niemand anfangen. Normalerweise wurden die Mädchen und Jungen mit sechzehn, siebzehn Jahren aufgenommen, nach dem Abschluss der »Frauenzimmerschule« oder des Lyzeums.

Doch Adolf von Beckers Stimme hatte Gewicht; es blieb bei seiner Entscheidung. Am 10. Juli 1873 konnte Helene Schjerfbeck ihren Geburtstag in dem Bewusstsein feiern, im Herbst als Elfjährige einen gewaltigen Schritt hinaus in die Welt zu machen. Sie würde täglich die Esplanadi entlanggehen mit den vielen Menschen, die zum Markt und zum Hafen strömten. Am östlichen Ende der Esplanadi, gleich hinter dem »Kappeli«, würde sie den Mastenwald der Segelschiffe im Hafen sehen, während sie rechts in die leicht ansteigende Unionsgatan bog. Noch vor der nächsten Querstraße, in der Nummer 20, hatte die Zeichenschule einige Räume gemietet.

Was war das für eine Welt, die Helene, fast noch ein Kind und bisher im Familienkokon eingeschlossen, nun erleben würde? Ein klein wenig hatte sie sicherlich im Unterricht von Fräulein Ingman erfahren: dass Finnland, ihr Heimatland, weit über vier Jahrhunderte zum Königreich Schweden gehört hatte und sich seit dem verlorenen Krieg gegen Russland in den Jahren 1808/1809 als Großfürstentum Finnland unter der Herrschaft des russischen Zaren befand.

Es ist an der Zeit, von Finnland zu erzählen. Von einem Stück europäischer Geschichte, das beispiellos ist, spannend und auf unglaubliche Weise modern.