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Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Arne Burchartz, Hans Hopf und Christiane Lutz

Annegret Wittenberger

Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-030206-8

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030207-5

epub:    ISBN 978-3-17-030210-5

mobi:    ISBN 978-3-17-030211-2

 

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. 1 Einleitung
  2. 2 Anamnese und psychologische Untersuchung
  3. 2.1 Das »Hören mit dem dritten Ohr«
  4. 2.2 Das Erstinterview
  5. 2.3 Psychologische Untersuchung des Kindes
  6. 3 Exkurs zum Ödipuskomplex
  7. 3.1 Der männliche Ödipuskomplex
  8. 3.2 Der weibliche Ödipuskomplex
  9. 4 Entwicklung und Neurosenlehre
  10. 4.1 Triebtheorie
  11. 4.2 Objektbeziehungstheorie
  12. 4.3 Ich-Psychologie
  13. 4.4 Selbstpsychologie
  14. 5 Psychoanalytische Schlussbildung
  15. 5.1 Psychodynamik
  16. 5.2 Familiendynamik
  17. 5.3 Diagnose
  18. 5.4 Indikation und Prognose
  19. 6 Beginn
  20. 6.1 Initialgespräch
  21. 6.2 Initiale Idealisierung
  22. 6.3 Arbeitsbündnis
  23. 7 Rahmen
  24. 7.1 Die Schutzfunktion des Rahmens
  25. 7.2 Vertraulichkeit
  26. 7.3 Ausfallhonorar
  27. 7.4 Integrative Wirkung des Rahmens
  28. 8 Haltung
  29. 8.1 Abstinenz und Neutralität
  30. 8.2 Objektverwendung
  31. 8.3 Deutung
  32. 9 Exkurs zur Symbolisierung
  33. 10 Spiel
  34. 10.1 Spiel als Ich-Funktion
  35. 10.2 Spiel als Übergangsphänomen
  36. 10.3 Störung der Spielfähigkeit
  37. 10.4 Spiel als Medium der Analyse
  38. 10.5 Das Spielmaterial
  39. 10.6 Handlungsdialoge im Spiel
  40. 10.7 Zeichnungen
  41. 11 Beziehung
  42. 11.1 Übertragung
  43. 11.2 Projektion
  44. 11.3 Projektive Identifikation
  45. 11.4 Gegenübertragung
  46. 11.5 Handlungsdialog
  47. 11.6 Das analytische Paar
  48. 12 Prozess
  49. 12.1 Widerstand
  50. 12.2 Regression
  51. 12.3 Störungen
  52. 12.4 Deutungen
  53. 12.5 Ziel
  54. 13 Beendigung
  55. 13.1 Ziele
  56. 13.2 Abbruch
  57. 13.3 Endphase
  58. 14 Modifizierte Verfahren
  59. 14.1 Kurzzeittherapie
  60. 14.2 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
  61. 15 Arbeit mit Bezugspersonen
  62. 15.1 Elterngespräche
  63. 15.2 Agieren in der Elternarbeit
  64. 15.3 Getrennte Eltern
  65. 15.4 Adoptiv- und Pflegeeltern
  66. 15.5 Kontakte mit Außenstehenden
  67. Glossar
  68. Literatur
  69. Stichwortverzeichnis

1          Einleitung

 

 

 

 

Ein Vater bittet einen Psychoanalytiker um Hilfe, weil er sich Sorgen macht über das plötzlich veränderte Verhalten seines fünfjährigen Sohnes. Der fröhliche, aufgeweckte Junge zeigt sich immer wieder ängstlich, besonders abends, weint und traut sich nicht mehr aus dem Haus aus Angst, ein Pferd werde ihn beißen. Er ist also an einer Phobie erkrankt. Auslöser für diese Phobie war ein ihn zutiefst erschreckendes Erlebnis: Als er mit der Mutter unterwegs war, hat er gesehen, wie ein Pferd auf der Straße stürzte. Nach diesem äußeren Ereignis, das der Junge zufällig miterlebte, entwickelt sich bei ihm eine lärmende Symptomatik, die eine Psychotherapie erforderlich macht. Das Kind selbst steht unter einem starken Leidensdruck und wendet sich dem Analytiker mit großer Hoffnung und uneingeschränktem Vertrauen zu. Mit dieser positiven Übertragung kann der Analytiker arbeiten und schließlich den Jungen von seiner Phobie befreien. Er kann das Kind deshalb heilen, weil er dessen Symptomatik versteht als Ausdruck eines intrapsychischen Konflikts, der dem Jungen nicht bewusst ist und über den dieser daher auch nicht sprechen kann. Ein solcher intrapsychischer Konflikt – in diesem Fall ein ödipaler Konflikt – ist für die Neurose typisch, und der Analytiker kann ihn dem Kind bewusst machen, indem er ihm Worte dafür gibt. Und weil er die Mitarbeit der Eltern, besonders des Vaters, der ausreichend motiviert ist, nutzen kann, kann er auch dem Jungen bei der Lösung seines Konflikts helfen und in Überwindung des Ödipuskomplexes den Weg zu seiner altersgerechten Weiterentwicklung freimachen.

In dieser kleinen Fallvignette sind die wesentlichen Elemente der Kinderanalyse enthalten. Obwohl der Analytiker Sigmund Freud den »kleinen Hans«, wie er das Kind nennt, nur einmal kurz gesehen hat, gilt diese Fallgeschichte doch als Vorläufer der späteren Kinderanalyse, wie sie von Hermine Hug-Hellmuth und nach ihr vor allem von Melanie Klein und Anna Freud weiterentwickelt wurde. Freud selbst bezeichnet die »Heilungsgeschichte« des kleinen Hans als Analyse, was sie auch aus heutiger Sicht immer noch ist, auch wenn Kinderanalytiker heute ihre kleinen Patienten in einem anderen Setting behandeln, nämlich in der Regel zweimal wöchentlich mit begleitenden Elterngesprächen alle vierzehn Tage. Was sich gut an Freuds Krankengeschichte zeigen lässt, ist die Entstehung einer neurotischen Symptomatik (Pathogenese), ihre Ursache (Ätiologie) und schließlich ihre Auflösung durch Bewusstmachen der Ursache. So hat Freud sie verstanden und dargestellt in seiner Arbeit »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« von 1909. Darüber hinaus lässt sich auch die positive Auswirkung einer der Heilung förderlichen Übertragungsbeziehung, eines für die Therapie unerlässlichen Arbeitsbündnisses mit den Eltern und einer die kindliche Entwicklung unterstützenden Triangulierung in dieser Kranken- und Heilungsgeschichte aufzeigen, obwohl Freud die Übertragung erst drei Jahre später entdeckte (Freud 1912) und die Triangulierung erst Jahrzehnte nach dieser Analyse durch Abelin Eingang in die psychoanalytische Diskussion im deutschen Raum fand (Abelin 1986), nachdem Lacan die Bedeutung des Vaters als dem Dritten im frühkindlichen Beziehungsdreieck herausgestellt hatte (Hopf 2014). Und schließlich können wir beim »kleinen Hans« in seinen Träumen, Phantasien und Spielen entdecken, wie gut neurotisch erkrankte Kinder symbolisieren und damit einen Ausdruck für ihre seelische Not finden können, im Unterschied zu Kindern mit ich-strukturellen Defiziten, denen diese Fähigkeit nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht. So ist seine Geschichte auch ein Vorläufer für unser heutiges Verständnis der Bedeutung von Symbolisierung, wie sie Hanna Segal 1957 beschrieben hat (Segal 1990).

Ich möchte nun versuchen darzustellen, wie wir heute, mehr als 100 Jahre nach dieser ersten Kinderanalyse, Freuds revolutionäre Entdeckung des Unbewussten und dessen Wirksamkeit im Seelenleben nutzen, um Kindern mit seelischen Nöten zu helfen. Dabei lassen sich gelegentliche Vereinfachungen nicht vermeiden. Kopernikus hatte die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums gerückt, Darwin dem Menschen seine Sonderrolle in der Evolution genommen, und Freud hat der Menschheit eine dritte Kränkung zugefügt: das Ich des Menschen ist nun nicht einmal mehr »Herr im eigenen Hause« (Freud 1917, S. 11). Auch wenn ihm diese Erkenntnis viel Anfeindung einbrachte, so hat sie doch unser Verständnis vom Seelenleben enorm erweitert und durch die Einbeziehung des Unbewussten unsere Hilfsmöglichkeiten auch für seelisch erkrankte Kinder vergrößert. Der aktuelle Stand der von Freud ausgehenden Kinderpsychoanalyse, einschließlich ihrer modifizierten Verfahren soll Gegenstand dieses Buches sein. Dabei gibt es keine scharfe Trennungslinie zwischen Analyse und Therapie, da analytisch ausgebildete und praktizierende Therapeuten immer Analytiker bleiben, »auch in modifizierten Verfahren, in denen man sich als Analytiker ebenfalls von den Besonderheiten und Problemen seines jeweiligen Patienten leiten lässt« (Zwiebel 2013, S. 271). Da es eine ausgezeichnete, aktuelle, Theorie und Praxis umfassend darstellende Übersicht über tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit Kindern und Jugendlichen von Arne Burchartz gibt (Burchartz 2015), werde ich dieses Thema hier nur anreißen, ebenso die Elternarbeit, weil hierzu ein eigener Band in dieser Reihe erscheinen wird.

Im Verlauf meiner Darstellung werden analysespezifische Begriffe von Anfang an immer wieder auftauchen. Das liegt im Wesen der Analyse, die aus einem komplexen Zusammenspiel in einem fluktuierenden Prozess besteht. So bleiben Überschneidungen und Wiederholungen nicht aus, denn jede Trennung und Schematisierung wäre künstlich und würde den lebendigen Entwicklungen nicht gerecht. Ich hebe die Fachtermini durch Kursivschreibung hervor, werde sie aber erst nach und nach, jeweils im Zusammenhang ihrer größten Relevanz, erläutern, um den Anfang nicht mit einer Ballung theoretischer Definitionen zu überfrachten. Der interessierte Leser kann aber jederzeit die Definitionen der wichtigsten Begriffe im Glossar am Ende dieses Bandes nachlesen.

2          Anamnese und psychologische Untersuchung

 

 

 

 

Wenn Eltern sich Sorgen machen, weil ihr Kind Auffälligkeiten zeigt, die auf eine Störung in seiner seelischen Entwicklung hinweisen, kommen sie mit ihm zum Kinderanalytiker. Dieser lernt die Familie kennen und macht sich ein Bild. Er beginnt also immer mit einer sorgfältigen Diagnostik. Die Eltern benennen das, was ihnen problematisch erscheint, und er lässt sich von ihnen schildern, wann die Symptomatik aufgetreten ist und wie sie sich bis jetzt entwickelt hat. Darüber hinaus interessiert er sich für die bisherige Lebensgeschichte des Kindes (seine Genese) und die der Eltern, auch im Zusammenhang mit der Familiengeschichte. So erhält er Informationen über Beziehungserfahrungen, Belastungen und Bewältigungsstrategien, Störungen und Ressourcen. Er weiß aufgrund seiner Ausbildung, dass ein Kind immer im Beziehungsgefüge der Familie zu sehen ist und dass es viel dafür tut, ein intrafamiliäres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, unter Umständen dafür sogar Symptome entwickelt. Wenn es sich um ein pathologisches Gleichgewicht handelt, sorgt der Indexpatient, also der Symptomträger, der als behandlungsbedürftig vorgestellt wird, mit der Entwicklung seiner Symptomatik dafür, dass die übrigen Familienmitglieder bleiben können, wie sie sind. Gleichzeitig veranlasst er durch seine störende Symptomatik, dass die Familie sich Hilfe sucht. In diesem Fall ist das auffällige Kind das gesündeste Familienmitglied, weil es die Eltern veranlasst, etwas zu verändern, auch wenn ihnen zu dem Zeitpunkt meist noch nicht klar ist, dass auch sie selbst sich verändern müssen.

 

2.1       Das »Hören mit dem dritten Ohr«

 

Während der Analytiker den Eltern zuhört, nimmt er nicht nur die von ihnen berichteten Daten und Fakten auf, sondern er achtet auch auf sein eigenes Erleben im Kontakt mit ihnen. Das kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal ergibt sich ein geordnetes Bild, und es fällt leicht, die Mitteilungen aufzunehmen in einer Gestimmtheit wohlwollender Aufmerksamkeit. Bei anderen Eltern fällt es schwer, sich eine klare Vorstellung von den geschilderten Ereignissen zu machen, man gerät unter Druck oder in Verwirrung und hat womöglich große Mühe, das Gespräch nach den dafür vorgesehenen 50 Minuten zu beenden. Das, was der Analytiker beim Zuhören fühlt, umfasst auch Körperreaktionen, Phantasien, Fehlleistungen wie Versprechen, Vergessen, Überhören, etc. und wird unter dem Begriff Gegenübertragung zusammengefasst. Diese Reaktion hat immer mit dem zu tun, was unter oder hinter den Worten des Gegenübers mitschwingt. Während seiner langen und fundierten Ausbildung, die nicht nur Theorie und Praxis, sondern auch Selbsterfahrung in einer eigenen Psychoanalyse, der sogenannten Lehranalyse, umfasst, hat der Analytiker gelernt, in einer Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit auf seine spezifischen Reaktionen im Kontakt zu achten, weil gerade sie auf unbewusste Komponenten in der Persönlichkeit des Gegenübers hinweisen, die die Familienatmosphäre oft nachhaltiger prägen als die bewussten. So kann es z. B. sein, dass Eltern sich beklagen über das schwierige Verhalten ihres Kindes und der Analytiker beim Zuhören plötzlich eine gewisse Kurzatmigkeit bei sich bemerkt, die er sonst von sich nicht kennt. Und erst dann, nachdem er nach weiteren Symptomen gefragt hat, erfährt er von asthmatischen Beschwerden des Kindes. Hier hat er über seine eigene Körperreaktion etwas erfahren von einer atemabschnürenden Familienatmosphäre und der Befindlichkeit des Kindes in ihr.

Von Anfang an nutzt der Analytiker also seine Gegenübertragung, um nicht nur bewusste, sondern auch unbewusste Mitteilungen aufzunehmen. Dabei muss er unterscheiden zwischen dem, was er selbst zur Gesprächsatmosphäre beiträgt (seiner eigenen Übertragung in Form unbewusster Wahrnehmungs- und Erlebensmuster) und seiner Reaktion auf das, was vom Gegenüber ausgeht. Gerade hierfür ist seine eigene Analyse unerlässlich, damit nicht eigene neurotische Konflikte das Muster des Patienten verfälschen. Diese Unterscheidung gelingt nie ganz, es bleibt immer eine gewisse unaufgeklärte Verflechtung der beiden Psychen bestehen, da kein Analytiker sozusagen restlos durchanalysiert ist, sondern immer auch vom eigenen Unbewussten bestimmt wird. Dennoch können wir in der Reflexion unserer Gegenübertragung diese diagnostisch nutzen als Hinweis auf das Erleben und die unbewussten Strukturen unserer Patienten. (Ich werde auf dieses komplexe Thema bei der Schilderung des analytischen Prozesses zurückkommen, da das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung ein wesentliches Element der analytischen Arbeit darstellt.)

Dabei gehen wir von Freuds bahnbrechender Entdeckung der Wirkmächtigkeit des Unbewussten aus. Freud schreibt: »Es ist sehr bemerkenswert, dass das Ubw (Freuds Kürzel für das Unbewusste, A. W.) eines Menschen mit Umgehung des Bw (sein Kürzel für das Bewusste, A. W.) auf das Ubw eines anderen reagieren kann« (Freud 1915, S. 293). Ein eindrückliches Beispiel für eine solche Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst, wie sie auch außerhalb der analytischen Situation immer wieder zu finden ist, schildert Katherine Jones in einer kurzen Mitteilung in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse von 1923:

»In dem dritten Band von Bismarcks ›Gedanken und Erinnerungen‹ findet sich in dem Kapitel ›Caprivi‹ ein interessanter Affekt, der von der Person Caprivis, dem Bismarck jeden Vorwurf erspart, auf ein Symbol projiziert wird. Als Bismarck auf seine Entlassung durch den Kaiser und auf seinen Nachfolger zu sprechen kommt, tut er dies mit einer bemerkenswerten Selbstbeherrschung und ohne sichtliche Erregung. Er hebt hervor, dass Caprivi ernste Bedenken gegen die Übernahme des Kanzlerpostens geltend gemacht hat, preist seine Fähigkeiten, und die Kritik Bismarcks hält sich durchaus in den Grenzen der Gerechtigkeit. Er lässt sogar für Caprivi die Entschuldigung einer harten Jugend… als genügenden Grund gelten, den Kanzlerposten als ›eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals‹ anzunehmen. Um so mehr muss es uns überraschen, wenn in einer Fußnote eine Menge von Affekt an eine scheinbar unbedeutende und durchaus nicht zur Politik gehörende Sache verschwendet wird. Bismarck sagt nämlich: ›Ich kann nicht leugnen, dass mein Vertrauen in den Charakter meines Nachfolgers einen Stoß erlitten hat, seit ich erfahren habe, dass er die uralten Bäume vor der Gartenseite seiner, früher meiner, Wohnung hat abhauen lassen, welche eine erst in Jahrhunderten zu regenerierende, also unersetzbare Zierde der amtlichen Reichsgrundstücke in der Residenz bildeten. Kaiser Wilhelm I., der in dem Reichskanzlergarten glückliche Jugendtage verlebt hatte, wird im Grabe keine Ruhe haben, wenn er weiß, dass sein früherer Gardeoffizier alte Lieblingsbäume, die ihresgleichen in Berlin und Umgebung nicht hatten, hat niederhauen lassen, um un poco più di luce zu gewinnen… Ich würde Herrn Caprivi manche politische Meinungsverschiedenheit eher nachsehen als die ruchlose Zerstörung uralter Bäume, denen gegenüber er das Recht des Nießbrauchs eines Staatsgrundstückes durch Detoriation desselben missbraucht hat.‹ Die Identifizierung des Schreibers mit den ›ruchlos zerstörten alten Bäumen‹ liegt auf der Hand. Die alten Bäume mögen Caprivi ebenso im Wege gestanden sein wie kurze Zeit vorher der alte Kanzler, der ihm so lange ›im Licht‹ gestanden war. Es ist ein weiterer Punkt von Interesse, dass Bismarck das Gedächtnis des Vaters, Kaiser Wilhelm I., anruft, der ›keine Ruhe im Grabe hätte‹, wenn er das wüsste. Es ist als ob er sagen wollte, dass der Vater ihm seine ›Bäume‹ belassen habe, doch dass sein Sohn durch die Hand seines Nachfolgers die symbolische Kastration in ruchloser Weise ausgeführt habe. Caprivi, nachdem er Bismarck ›abgesägt‹ hatte, schreitet nun auch zu dem tatsächlichen Absägen der alten Bäume. Man sieht, mit welcher intuiter Schärfe das Unbewusste des Herrn Caprivi von dem Unbewussten Bismarcks verstanden wird.«

Freud hat uns gelehrt, diese Verständigung auf der latenten Ebene des Unbewussten für die analytische Arbeit zu nutzen.

Das Ausgerichtetsein auf das, was unterschwellig mitschwingt im Kontakt, wurde von Theodor Reik 1948 als »Hören mit den dritten Ohr bezeichnet«. Diese Formulierung hat er von Nietzsche übernommen (was insofern interessant ist, als auch Freud einen wesentlichen Begriff seiner Theorie, nämlich den des »Es«, über Groddeck, der ihn darauf aufmerksam machte, bei Nietzsche gefunden hat). Rank schreibt, eine der Eigenarten dieses »dritten Ohrs« sei,

»dass es auf zwei Kanälen hört. Es kann erfassen, was andere Leute nicht sagen, sondern nur fühlen und denken; es kann aber auch nach innen gerichtet werden. Es kann Stimmen aus dem Innern hören, die sonst nicht hörbar sind, weil sie vom Lärm unserer bewussten Gedankenprozesse übertönt werden… Der Psychoanalytiker, der die geheime Bedeutung dieser fast nicht wahrnehmbaren Sprache zu erkennen hofft, muss seine Bereitschaft erhöhen, sie zu empfangen. Wenn er sie entziffern will, so kann er dies nur tun, indem ihm die feinen Eindrücke, die sie auf ihn macht, und die flüchtigen Gedanken und Gefühle, die sie in ihm erweckt, klarwerden. Es ist äußerst wichtig, dass er mit großer Aufmerksamkeit beobachtet, was diese Sprache für ihn bedeutet, was ihre psychologischen Effekte auf ihn sind. Von da aus kann er zu ihren unbewussten Motiven und Bedeutungen vordringen, und dies wird wiederum kein bewusster Gedankengang oder logisches Verfahren sein, sondern eine unbewusste – ich möchte fast sagen instinktive – Reaktion, die in ihm stattfindet. Die Bedeutung wird ihm durch eine Botschaft vermittelt, die ihn wie eine physische Empfindung plötzlich überraschen könnte. Wiederum ist der einzige Weg, in das Geheimnis dieser Sprache einzudringen, der, in sich selbst hineinzusehen, seine eigenen Reaktionen zu verstehen versuchen« (Reik 1983, S. 169).

Reik kritisiert »die Anbetung der heiligen Kuh Objektivität, der Pseudogenauigkeit, der Fakten und Zahlen«, die bewirke, »dass die unbewusste Situation, die fast alle Arbeit leistet, bei analytischen Diskussionen ausgelassen wird.« Er vergleicht dies mit einer Diskussion über Akustik, »ohne das Ohr zu erwähnen, oder über Optik, ohne vom Auge zu sprechen« (Reik 1983, S. 170).

Diese Überbewertung von objektiven Zahlen und Fakten, von Sichtbarem und Messbarem in der Psychologie hat den Wert der Psychoanalyse lange Zeit verdunkelt. Seit einigen Jahren bahnt sich jedoch eine veränderte Sichtweise an: Wenn man heute von »gefühlter« Zeit, Temperatur, etc. spricht, zeigt das m. E., dass man dem subjektiven Faktor gegenüber dem objektiven auch eine gewisse Berechtigung einräumt. Psychoanalytiker beachten ihr Gefühl schon lange als wertvollen Beitrag zum Verständnis von Beziehungen und Befindlichkeiten. Wenn es einen in Gegenwart eines anderen plötzlich fröstelt, hat das nicht unbedingt etwas mit der Raumtemperatur zu tun und es lohnt sich, dieser Empfindung nachzugehen.

 

2.2       Das Erstinterview

 

Seit Argelander kennen wir für diese spezifische Art des Zuhörens, die das eigene Erleben mit einschließt, den Begriff des » szenischen Verstehens«. Argelander wendet das szenische Verstehen besonders im Erstinterview an, wo es sich als erster Zugang zum zentralen Konflikt des Patienten bewährt hat. Aber diese besondere Art des Hörens, Fühlens und Verstehens im Kontakt durchzieht auch den gesamten analytischen Prozess. Das szenische Verstehen erfordert viel Übung und kann während des Berufslebens des Analytikers immer weiter ausgebaut werden, auch wenn es nie vollkommen beherrscht wird. Eigene neurotische Konflikte führen zu blinden Flecken, die auch nach einer Lehranalyse noch vorhanden sind und das Verständnis des Analytikers trüben. Argelander hält das Erstinterview wegen seiner Überschaubarkeit für besonders lehrreich in der therapeutischen Ausbildung. Er benennt drei Arten von Informationen, die aus verschiedenen Quellen stammen: objektive, subjektive und szenische oder situative Informationen. Objektive Informationen lassen sich überprüfen, man gewinnt aus ihnen Erkenntnis mittels intellektueller Einsicht. Subjektive Informationen sagen etwas aus über die subjektive Bedeutung, die der Patient den von ihm berichteten Daten verleiht. Und in den szenischen Informationen dominiert das Erlebnis der Situation in der Persönlichkeit des Analytikers. Die Integration der Informationen aus allen drei Quellen ergibt ein Persönlichkeitsbild, vergleichbar einem Mosaik oder einem Puzzle, wo man zwar beim Betrachten der einzelnen Teile schon etwas ahnt, aber erst aus der Gesamtheit der Einzelteile ein vollständiges Bild erkennen kann (Argelander 1970).

Damit sich ein solches Persönlichkeitsbild, repräsentiert in einer spezifischen Beziehungskonstellation, entfalten kann, empfiehlt es sich, das Erstgespräch möglichst offen zu führen. Wir beginnen etwa mit der Frage »Was führt Sie zu uns?« und lassen dann Raum für die Schilderung der Eltern. Manche Kollegen laden zum Erstkontakt das Kind mit ein, aber dann gerät das Kind leicht in die Position eines Angeklagten. Denn naturgemäß kommen die Eltern wegen der Probleme des Kindes zu uns, bzw. wegen der Persönlichkeitsaspekte, die sie stören, und indem sie diese schildern, besteht die Gefahr, dass sie das Kind vor uns bloßstellen, so dass es sich beschämt fühlt, was ein späteres Arbeitsbündnis des Patienten mit uns erschwert. So halte ich es für sinnvoller, das Erstgespräch mit den Eltern ohne das Kind zu führen. Damit entgeht uns zwar die unmittelbare Beobachtung der Familieninteraktion, andererseits hat diese Vorgehensweise den Vorteil, dass wir später mit dem Kind uns in einer ähnlich offenen Beziehungskonstellation erleben, die wir wiederum szenisch verstehen können. Darüber hinaus ist es aufschlussreich, das durch die Schilderung der Eltern vermittelte Bild vom Kind mit dem Kind zu vergleichen, wie es uns begegnet, und die mögliche Diskrepanz der beiden Bilder wiederum diagnostisch zu nutzen, indem man Rückschlüsse zieht auf Rollenzuschreibungen, Projektionen und Wahrnehmungsverzerrungen der Eltern, die verhindern, dass sie das Kind so sehen, wie es ist, und nicht, wie sie es unbewusst wünschen oder befürchten.

Fallbeispiel

Die Mutter des zehnjährigen Markus, eine kleine, dicke, blonde Frau in hellblauem Kleid sitzt mir im Erstgespräch gegenüber. Durchgängig geht etwas Gepresstes, Gestautes von ihr aus, das mich sofort unter starken Druck bringt und während der ganzen Zeit ihrer Anwesenheit nicht loslässt. Manchmal bricht ein Schnaufen aus ihr heraus, und ich weiß nicht, ob sie gleich lacht oder weint, was mich veranlasst, in ihrer Miene nach einer Erklärung zu suchen. Es ist dann ein hilflos wirkendes, unfrohes Lachen, wohl einfach eine Affektentladung. Doch die Natur des jeweiligen Affekts ist für mich nicht einschätzbar. In mir entsteht ein Gegenübertragungsbild: Dampfkochtopf.

Sie beginnt: »Ich hab ein Problem mit’m Markus. Er lügt und ist mir und seinen Lehrerinnen aufgefallen.« Sie hat noch ein zweites Problem, das die Lehrerinnen angeblich nicht kennen, und das sie seit drei Jahren in Griff zu kriegen versucht: »Er macht in die Hose, tagsüber und groß.« Der Kinderarzt hat festgestellt, dass er gesund sei. Markus habe schon mal sieben Hosen am Tag gebraucht, jetzt braucht er zwei. In der Schule kotet er fast jeden Tag ein, zuhause auch, und beim Spielen. Sie und ihr Mann können nicht mehr. Sie meint: »Er ist effektiv nur zu faul.« In der Schule und bei Freunden habe noch nie jemand was gemerkt, jedenfalls sei sie noch nicht darauf angesprochen worden. Sie schildert dann ausführlich Markus’ Konflikte mit zwei Lehrerinnen: Mit denen sei er einfach nicht klargekommen. Markus werfe ihnen vor, nur Mädchen zu mögen. Er mache nicht mit, »hat mehr Dummheiten im Kopf«. »Er hat ne große Schnutte und is ne Mimose. Ne Zeitlang liefen balde Tränen, wenn sein Vater ihn böse anguckte.«

Wahrscheinlich hänge das mit ihr zusammen. Sie fresse auch sehr lange alles in sich rein, was er wahrscheinlich von ihr habe, da er auch im Kindergarten nie etwas erzählt habe. Wenn es ihr zu viel wird, geht sie »hoch wie eine Furie«, sie brülle, ihre Mutter und Großmutter auch, das liege in der Familie. Mit Hilfe ihres Mannes habe sie es ganz gut hingekriegt. In den letzten zwei Jahren habe es wieder zugenommen. Sie habe das Problem mit Markus in sich reingefressen, weil sie ihrem Mann, der Probleme an seiner Arbeit hatte, noch mehr Belastung ersparen wollte. Deshalb werde er auch nicht kommen. Wenn ihr Mann etwas sage, bleibe er dabei. Wenn sie etwas sage, habe sie kein Durchhaltevermögen, erlasse ein paar Stunden später den verhängten Stubenarrest schon wieder. Wenn Markus zu ihr frech war, hat sie es »runtergeschluckt«. Zum Vater sei er gar nicht frech. Er habe es nur einmal probiert, da habe der Vater ihn böse ausgeschimpft. Später sagt sie, der Vater habe ihn dieses einzige Mal geschlagen. Und ein weiteres Mal, als Markus gelogen habe »wegen den Hosen«. Lügen könne ihr Mann nicht vertragen. »Dann reagiert er sich an Gegenständen aus«, schlage auf den Tisch, schimpfe. Aber sie schlagen sonst nicht, weil sie es nicht für sinnvoll halten. »Wahrscheinlich bin ich dran schuld«, meint sie zu dem Problem.

Die Analytikerin erfährt hier etwas über die objektiven Fakten: Das Kind lügt, kotet ein und hat Probleme in der Schule, besonders mit Frauen, und es ist empfindlich. Die Eltern sind erschöpft, der Vater hält sich raus, und in der Familie gibt es Gewaltdurchbrüche. Daneben erfährt sie auch etwas über die subjektive Bedeutung der Fakten für die Mutter: Das Kind könnte aufhören, Probleme zu machen, wenn es sich nur bemühen würde. Und sie fühlt sich schuldig wegen dieser Probleme, hat überhaupt das Gefühl, irgendwie nicht richtig zu funktionieren, und sieht die Ursache in ihrer Herkunftsfamilie aber auch in ihrer Weiblichkeit. Den Vater dagegen idealisiert sie: in ihren Augen macht er alles richtig. Gleichzeitig muss er geschont werden. Über das Wahrnehmen ihres eigenen Erlebens in der Szene der Gesprächssituation erfährt die Analytikerin etwas über die Familienatmosphäre und die Befindlichkeit des Kindes in ihr: Für bestimmte Affekte gibt es keine Worte. Dafür herrscht ein starker diffuser Druck und eine latente Explosionsgefahr. Aus diesen Informationen lässt sich schon eine erste Hypothese ableiten über die Bedeutung der Symptomatik als Ausdruck einer unbewussten Botschaft des Kindes: Das, was ich in meinem Inneren spüre, ist gefährlich. Es muss gewaltsam unterdrückt werden, sonst bricht es durch und zerstört alles.

 

2.3       Psychologische Untersuchung des Kindes

 

Da die Kinder meist weniger unter Leidensdruck stehen als die Eltern, sondern sich eher in eine unklare, erwartungsgemäß unangenehme Situation mit einem fremden Erwachsenen gezwungen fühlen als an einem Ort, wo sie Hilfe finden können, ist es angemessen, den ersten Kontakt mehr zu strukturieren als das Elterngespräch, um dem Kind Orientierung zu geben und seine diffusen Ängste zu mildern. Das Gespräch mit dem Kind (Exploration) wird sich, nach einem kurzen Abwarten, ob es sich spontan äußern möchte, auf eine knappe Information über die Arbeit des Kinderanalytikers, sowie auf wenige Fragen nach eigenen Sorgen, besonderen Vorlieben, seinem sozialen Umfeld, Zukunftsvorstellungen und Träumen beschränken.

In projektiven Tests stehen dem Kinderanalytiker gute Instrumente zur Verfügung, um sich ein Bild zu machen von der inneren Welt des Kindes, seinen Beziehungen zu seiner Familie und zu sich selbst, seinen Stärken und Schwächen, Wahrnehmungsverzerrungen und Bewältigungsstrategien, sowie seinen inneren und äußeren Konflikten. Stork schreibt, der Zugang zum Kind über die Elternberichte allein sei problematisch, da sie »mehr eine Verarbeitung der elterlichen Ängste und Schuldgefühle in Zusammenhang mit ihren Wünschen und Erwartungen an das Kind widerspiegeln, als dass sie über das Kind und seine inneren Konflikte Auskunft geben« (Stork 1992, S. 7).