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Andreas Förster

Eidgenossen contra Genossen

Andreas Förster

EIDGENOSSEN
contra
GENOSSEN

Wie der Schweizer Nachrichtendienst
DDR-Händler und Stasi-Agenten
überwachte

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, August 2016

ISBN 978-3-86284-328-2

Inhalt

Einleitung

Vom Westen lernen …

König der Schmuggler

Der Schattenmann

»Techno-Bandit Nr. 1«

Dicker Fisch

Der Fichenskandal

Stille Banken, schwarze Gelder

Geld, Gold und Leiterplatten

Kollegiale Hilfe

»Schönheitsspioninnen« und eine geheimnisvolle Stiefschwester

Spionageziel Schweiz. Spionageziel Schweiz?

»Gamma 13«

Eisblume und die Katze

Das Funkgerät in der Zimmerwand

Legale und Illegale

Quelle »Max«

Operation »Maximilian«

Ein Züricher »Rubin«

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Dank

Abbildungsnachweis

Personenregister

Über den Autor

Einleitung

Im Februar 1990 gingen die Menschen auf die Straße. »Die Schnüffelakten gehören uns«, skandierten sie, und »Auf den Misthaufen der Geschichte mit der Stasi«. Sie schwenkten Transparente mit Aufschriften wie »Akteneinsicht jetzt« und »Schluss mit dem Schnüffelstaat«. Diese Demonstrationen aber spielten sich nicht in Ost-Berlin, Leipzig oder Dresden ab, sondern mitten in der Schweizer Bundeshauptstadt Bern – vor der Zentrale der Bundespolizei in der Taubenstraße.

Denn auch die Schweiz hatte damals ihren Geheimdienstskandal: Im Zuge einer Affäre um die damalige Ministerin des Justiz- und Polizeidepartements Elisabeth Kopp war 1989 bekannt geworden, dass die politische Polizei des Landes seit Jahren Zehntausende Schweizer Bürger überwacht hatte. Erst die Ermittlungen einer parlamentarischen Untersuchungskommission aber enthüllten die ganze Dimension dieses Skandals: Über Jahrzehnte hinweg hatte der Polizeidienst der Bundesanwaltschaft rund 900 000 Karteikarten, sogenannte Fichen, über Schweizer und ausländische Bürger, über Parteien und politische Organisationen, Firmen und Banken angelegt. Unter den rund 142 000 Schweizer Staatsbürgern, die vom Staatsschutz ausgeforscht worden waren, befanden sich überwiegend linke, liberale und pazifistische Kräfte. Ihre politischen Aktivitäten in der Friedensbewegung, in Anti-Kernkraft-Initiativen, sozialen Hilfsorganisationen und Jugendgruppen hatten den Argwohn der Sicherheitsbehörden geweckt.1

Der Kampf gegen die »rote Gefahr« war der Schweizer Bundesanwaltschaft, wenn man so will, vom deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck in die Wiege gelegt worden. Bismarck hatte 1878 das Sozialistengesetz erlassen, mit dem er rigoros gegen die erstarkende sozialdemokratische Bewegung im Deutschen Reich vorging. In dem Zusammenhang forderte der Eiserne Kanzler explizit auch die Schweiz auf, das Land nicht zu einem Rückzugsgebiet der SPD und einer Basis von deren Widerstandsaktionen gegen Deutschland zu machen. Bei der Umsetzung dieser Forderung zeigte der kaiserliche Polizeibeamte August Wohlgemuth besondere Eigeninitiative. 1898 hatte der deutsche Beamte von der Kreisdirektion Mülhausen versucht, Spitzel in der Schweiz anzuwerben, um die Aktivitäten dorthin geflohener deutscher Sozialdemokraten auszukundschaften. Allerdings stellte er sich dabei nicht recht geschickt an, und so tappte er zu Ostern 1898 bei einem vermeintlichen Agententreff im Kanton Aargau in die Falle und wurde verhaftet. Die Festnahme veranlasste Bismarck, unterstützt von Russland und Österreich-Ungarn, zu massiven verbalen Angriffen und Drohungen gegen die Schweiz. Nach zehn Tagen wurde der deutsche Polizeibeamte schließlich wieder aus dem Schweizer Bezirksgefängnis entlassen.2

In der Folge der Wohlgemuth-Affäre schuf die Schweiz mit dem Bundesgesetz von 1898 die Stelle eines ständigen Bundesanwalts mit der dazugehörigen Behörde. Dieser Bundesanwalt erhielt eine Doppelfunktion zugewiesen, die das Amt bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts prägen sollte: Einerseits war er staatlicher Ankläger; andererseits leitete er die von den kantonalen Behörden ausgeführten Maßnahmen des Staatsschutzes, die sich nicht nur gegen Ausländer, sondern auch gegen Schweizer Bürger richteten.3 Dabei legte die Behörde von Anfang an ganz im Bismarck’schen Sinne den Schwerpunkt ihrer Überwachungsaktionen auf politisch links stehende Personen und Organisationen.

Die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft für die Spionageabwehr sowie die Verfolgung und Überwachung politischer Aktivisten und Gruppen wurde in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut. Nachdem die Behörde 1929 das Zentralpolizeibüro übernommen hatte, wurde ihr 1935 die neugeschaffene Bundespolizei unterstellt. Die Bundespolizei sollte als eidgenössischer Polizeidienst die kantonalen Polizeidienste ergänzen, ohne allerdings Weisungsbefugnis über sie zu erhalten. 1958 wurden Bundesanwaltschaft und Bundespolizei teilweise entflochten, arbeiteten aber weiter eng zusammen. Dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zugeordnet, waren beide fortan die verantwortlichen Behörden für alle Angelegenheiten des Staatsschutzes. Dazu verfügte die Bundesanwaltschaft über einen eigenen Polizeidienst, der unter anderem für Ermittlungsverfahren – die in der Schweiz gerichtspolizeiliche Verfahren genannt werden – und Beobachtungen im Vorfeld staatsgefährdender Handlungen zuständig war.

Geprägt wurde die Arbeit der Schweizer Sicherheitsbehörden stets von der Vorstellung einer »Fünften Kolonne«, die die Schweiz unterwandere. Vermutete man im Zweiten Weltkrieg den Nationalsozialismus dahinter, wurde nach 1945 die Arbeitsthese von der Unterwanderung auf den Kommunismus übertragen. Zu den zentralen Beobachtungsobjekten zählten daher auch einreisende Außenhändler und Firmenvertreter aus den Warschauer-Pakt-Staaten, deren Geschäftspartner in der Schweiz und aus dem westlichen Ausland sowie Handelsfirmen, die in geschäftlicher Verbindung mit dem Ostblock standen.

Anders als in Deutschland, wo es seit der Zeit des Nationalsozialismus eine strikte Trennung von Polizei und Nachrichtendienst gibt, sind in der Schweiz die Grenzen fließend. So unterhalten die Polizeidienste auch eigene Nachrichtendienst-Abteilungen, vergleichbar etwa mit dem Staatsschutz der deutschen Polizeien, aber mit zum Teil weitergehenden Kompetenzen.

Die Bundespolizei, die anfangs noch der Bundesanwaltschaft unterstand, unterhielt für den Informationsaustausch mit dem In- und Ausland eine eigene Abteilung, das Kommissariat IV. Diese Abteilung war das Verbindungsglied der Ermittlungsbehörde zu den Nachrichtendiensten befreundeter Staaten, also den Ländern des westlichen Nato-Bündnisses. Wenn sich etwa der BND, der deutsche Verfassungsschutz oder die CIA mit der Bitte um Informationen und Unterstützung operativer Maßnahmen an die Schweiz wandten, liefen diese Anfragen über das Kommissariat IV.

Daneben arbeitete die Bundespolizei im Inland eng mit der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA) zusammen. Die UNA war der einzige Auslandsnachrichtendienst der Schweiz und unterstand dem Eidgenössischen Militärdepartement (EMD). Der gegenseitige Informationsaustausch war bis zum Ende des Kalten Krieges durch die seit 1969 bestehende Personalunion zwischen dem Chef der Bundespolizei und dem Chef der UNA-Abteilung Abwehr begünstigt.

Nach Feststellungen einer Parlamentarischen Untersuchungskommission bestand bis Februar 1990 auch ein Auftrag zur Informationsbeschaffung durch die UNA im Inland. Dieser betraf insbesondere sogenannte Front- oder Einwirkungsorganisationen, von denen subversive Aktivitäten gegen die Schweiz befürchtet wurden. Unter solchen Vereinigungen verstand die UNA laut ihrem Chef »von Moskau ferngesteuerte, für die Realisation sowjetischer Ziele nutzbare Organisationen«.4 Dazu zählten etwa Friedenskomitees, Bürgerinitiativen, ökologische Gruppen, religiöse Kreise und bestimmte Medien.

Neben langjährigen Kontakten zur französischen Auslandsaufklärung pflegte die UNA auch stets die Beziehungen zum Bundesnachrichtendienst (BND). Ein erstes Spitzentreffen zwischen leitenden Mitarbeitern des BND und dem Chef der UNA fand allerdings erst Mitte der 1970er Jahre in Form einer Bergwanderung in den Alpen statt.

Neben einem offiziellen Austausch von Informationen bestanden aber schon früher konspirative Kanäle zwischen einzelnen leitenden Mitarbeitern beider Dienste. Laut einem parlamentarischen Untersuchungsbericht von 1980 traf einmal wöchentlich ein Schweizer Nachrichtenoffizier den als Attaché der BRD-Botschaft getarnten BND-Residenten. Bei der Gelegenheit übergab er dem Deutschen ausgewählte nachrichtendienstliche Rohinformationen, vor allem über osteuropäische Staaten. Sie steckten in einem Umschlag, der mit dem Stempelaufdruck einer schwarzen Hand versehen war. Auf dem gleichen Weg soll sich auch der BND mit Material revanchiert haben.5

Wie eng die Schweizer Polizei, Justiz und Nachrichtendienste im Kalten Krieg mit den Nato-Staaten kooperierten und damit die Grundsätze der politischen Neutralität ihres Staates konterkarierten, kann man heute im Berner Bundesarchiv nachlesen. Denn ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Blockkonfrontation lässt sich die Schweiz als erstes westliches Land in die Akten schauen, die sie über östliche Nachrichtendienstler, Firmen und Geschäftsleute sowie deren Kontakt- und Geschäftspartner aus dem Westen zum Teil über Jahrzehnte hinweg geführt hat. Dabei handelt sich nicht nur um die aus der Fichenaffäre zu trauriger Berühmtheit gelangten Karteikarten, sondern auch um umfangreiche Aktenvorgänge der Schweizer Bundesanwaltschaft, die diverse Berichte eidgenössischer Polizeidienststellen, Ermittlungsvorgänge, Zeugenbefragungen und Material westlicher Nachrichtendienste, insbesondere aus der Bundesrepublik und den USA, enthalten.

In den Sammelordnern über Ost-Spionage und Embargohandel, auf den Hunderttausenden Fichen und in zahllosen Personendossiers sind die Erkenntnisse des Schweizer Staatsschutzes, sind die Aktivitäten gegen die vermeintliche »rote Gefahr« aus dem Osten gebündelt. Diese Unterlagen, die oftmals bis in das Jahr 1989/90 reichen, sind noch nicht ohne Weiteres offen zugänglich, eine Einsicht bedarf der Genehmigung des Eidgenössischen Justizdepartements. Aber auch wenn man eine solche Genehmigung erhält, kann man nicht davon ausgehen, dass die bereitgestellten Akten vollständig sind – immer wieder stößt man darin auf Vorgänge, die plötzlich abbrechen oder auf andere Archivsignaturen verweisen, die für eine Einsicht jedoch noch gesperrt sind.

Dennoch ermöglichen die Unterlagen einen erstaunlichen Einblick in den Überwachungswahn der Schweizer Sicherheitsbehörden, die im Kalten Krieg von einem strikten Antikommunismus und eben der Furcht vor einer vermeintlichen Unterwanderung des Landes durch den kommunistischen Machtblock geprägt waren. Daher schlugen sich die Schweizer Staatsschutzbehörden lieber auf die Seite der Nato-Staaten als die Grundsätze der politischen Neutralität ihres Landes zu wahren. Das wird in den Akten immer dann deutlich, wenn etwa beim Kommissariat IV der Bundespolizei Anfragen des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes oder von FBI und CIA aus den USA eingingen. In diesen Anfragen drehte es sich um Informationen zu bestimmten Personen oder Firmen aus dem Ostblock sowie deren Partnern in der Schweiz. Und fast immer wenn eine solche Anfrage eintraf wurden die Behörden aktiv: Bundespolizei und die Nachrichtendienste der kantonalen Polizeibehörden observierten auf Wunsch der Partnerdienste eingereiste Reisekader aus dem Osten, stellten Informationen über Firmen und Geschäftsleute zusammen, informierten über Visumsanträge und sicherten Operationen westlicher Nachrichtendienste auf Schweizer Boden ab. Im Gegenzug erhielten die Eidgenossen von ihren Partnern regelmäßig umfangreiche – wenn auch nicht immer vollständige – Hintergrundinformationen über östliche Spionageaktivitäten und die in den Technologieschmuggel verwickelten Schweizer Tarnfirmen.

Das vorliegende Buch beschränkt sich auf die Auswertung von Akten, die die Überwachung von Stasi-Agenten und DDR-Geschäftsreisenden sowie deren Kontaktpartnern in der Schweiz zum Gegenstand haben. Diese Unterlagen liefern einerseits unbekannte Hintergründe und Zusammenhänge von Vorgängen, die sich bislang – entsprechend einseitig – nur aus den zugänglichen Stasi-Akten rekonstruieren lassen. Andererseits zeigen diese Akten aber auch, welche Aktivitäten der östlichen Seite den Schweizer Sicherheitsbehörden verborgen blieben. Das betrifft insbesondere das Vorgehen von Firmen aus dem Schattenwirtschaftsreich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) des DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski, aber zum Teil auch Aktionen der Stasi-Auslandsspionageabteilung Hauptverwaltung A (HV A). Auffällig ist dabei allerdings, dass über einige dieser Vorgänge, die insbesondere KoKo-Firmen betrafen, westdeutsche Geheimdienste zwar Kenntnis hatten, aber ihre Schweizer Kollegen darüber nicht informierten. Ob dies aus dem Grund geschah, die geschäftlichen Interessen bundesdeutscher Firmen nicht zu gefährden, kann man nur vermuten – Akten von Verfassungsschutz und BND, die möglicherweise Aufschluss über die Motive dieser speziellen Informationspolitik geben könnten, sind nach wie vor für die historische Forschung gesperrt.

Die Schweizer Akten der Berner Bundesanwaltschaft bergen aber noch weitere Überraschungen. So relativieren sie deutlich das bis heute von konservativen Politikern und Medien des Landes gern gepflegte Bild einer angeblichen Bedrohung oder gar Unterwanderung der Schweiz durch den Ostblock und insbesondere die DDR – eine Gefahr, die real aber nie wirklich bestanden hat. Die Akten zeigen darüber hinaus auch eindrücklich, wie willig Bürger und Institutionen der angeblich so diskreten Schweiz ihrem Staatsschutz bei der Ausspähung von östlichen Geschäftsleuten und deren einheimischen Vertragspartnern zur Hand gingen. Das betraf Banken und Hotels ebenso wie viele eidgenössische Firmenvertreter, die etwa zur Leipziger Messe und für Geschäftsverhandlungen in die DDR gereist waren oder anderweitig Kontakt mit DDR-Geschäftsleuten hatten. Letztere wurden im Rahmen einer sogenannten Aktion Ma von der Bundespolizei befragt. Die Abkürzung Ma stand für den seinerzeitigen Chef der bundespolizeilichen Spionageabwehr, Maurer, der die Aktion ins Leben gerufen hatte. Offiziell eine Art Präventionsprogramm gegen nachrichtendienstliche Angriffe aus dem Osten, diente die »Aktion Ma« aber vor allem zur Informationsgewinnung über DDR-Firmen und -Einzelpersonen sowie über Schweizer Bürger, die mit diesen Unternehmen in Kontakt standen. Die in den Akten vorhandenen »Ma«-Protokolle zeigen, dass die befragten Schweizer nicht zuletzt aus Sorge um ihre Geschäftsinteressen oftmals bereit waren, detailliert Auskunft zu geben über ihre östlichen Ansprechpartner. Viele von ihnen erklärten zudem ihre Bereitschaft, sich bei den Behörden zu melden, sollten sie den Eindruck eines nachrichtendienstlichen Hintergrundes bei ihren Verhandlungspartnern haben. Damit wurde der Denunziation auch von einheimischen Konkurrenten Tür und Tor geöffnet.

Einen breiten Raum bei der Überwachung von DDR-Bürgern in der Schweiz und deren Geschäftspartnern nahm schließlich auch die Telefonkontrolle ein. Dazu wurden insbesondere die Anschlüsse der DDR-Botschaft in Bern abgehört, aber ebenso die Telefone DDR-naher Firmen wie etwa der Intrac S.A. in Lugano. Zwar wurden diese Aktionen stets mit gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren begründet – für die Einleitung eines solchen Verfahrens reichte allerdings bereits ein vage formulierter Spionageverdacht, der sich immer leicht konstruieren ließ.

Im Fall der DDR-Botschaft war die Telefonkontrolle dabei nicht nur auf die Dienst- und Privatanschlüsse der Diplomaten beschränkt. Weil die Polizei festgestellt hatte, dass Angehörige des Botschaftspersonals mitunter aus zwei Telefonzellen in der Nähe der Berner Botschaft telefonierten, wurden auch diese öffentlichen Fernsprecher in den 1980er Jahren zeitweise abgehört. Wie viele Gespräche unverdächtiger Schweizer dabei von den Behörden mitgeschnitten wurden, darüber geben die Akten keine Auskunft.

Das vorliegende Buch stützt sich auf mehrere Quellen. Die wichtigste davon sind die bislang weitgehend unveröffentlichten Staatsschutzakten der Schweizerischen Bundesanwaltschaft aus dem Bundesarchiv in Bern (BAR). Hinzu kommen umfangreiche Aktenbestände des MfS über geschäftliche und nachrichtendienstliche Aktivitäten des KoKo-Apparates, der HV A und anderer Stasi-Diensteinheiten, die überwiegend aus dem Bestand des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) stammen, sowie Unterlagen von BND und Verfassungsschutz, die sich im privaten Archiv des Verfassers befinden. Der Autor konnte zudem auf persönliche Gespräche mit Zeitzeugen aus den Jahren 1996 bis 2016 sowie auf persönliche Mitschriften von Sitzungen zweier Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages und deren Abschlussberichte aus den Jahren 1994 und 1998 zurückgreifen.

Im Buch sind die Namen einer Reihe von Akteuren verändert oder abgekürzt worden. Wo dies geschehen ist, wird es entsprechend vermerkt. Abkürzungen und Namensänderungen dienen der Wahrung von Persönlichkeitsrechten in den Fällen, in denen kein überwiegendes öffentliches Interesse oder eine umfangreiche vollständige Berichterstattung in der Vergangenheit eine Nennung des Namens rechtfertigten.

Dieses Buch will neue Perspektiven bei der Aufarbeitung von DDR-Geschichte eröffnen, indem erstmals Akten von Abwehrbehörden eines für die politische und wirtschaftliche Systemauseinandersetzung wichtigen westlichen Landes analysiert und in Bezug gesetzt werden zu entsprechenden Unterlagen aus DDR-Archiven. Dazu werden einzelne Fälle von Spionage, illegalem Technologiehandel und verdeckten Geschäftsaktivitäten von KoKo-Firmen anhand der dazu geführten Akten geschildert.

Die Schweizer Staatsschutz-Akten, die für dieses Buch ausgewertet werden und bis zum Ende des Kalten Krieges reichen, belegen in bislang nicht da gewesener Weise Art und Umfang der Kooperation westlicher Geheimdienste bei der Bekämpfung nachrichtendienstlicher Aktivitäten des Ostens. Gleichwohl müssen viele Fragen offenbleiben, weil sich die Sicherheitsbehörden westlicher Staaten nach wie vor weigern, dem Schweizer Vorbild zu folgen und ihre Unterlagen aus der Zeit des Kalten Krieges Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Forschung zur Verfügung zu stellen. Dieses Buch soll deshalb auch als Anstoß verstanden werden, die Diskussion über die Öffnung westlicher Geheimdienstarchive mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Blockkonfrontation wieder in Gang zu bringen.

Vom Westen lernen …

Seinen Doktortitel hat Alexander Schalck-Golodkowski nie öffentlich geführt. Das war Geheimsache, genau wie seine Dissertation, die er zusammen mit seinem langjährigen Führungsoffizier Oberst Heinz Volpert Ende Mai 1970 an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam verteidigte. Die rund 150 Seiten lange Arbeit wanderte trotz des Prädikats »magna cum laude« sofort in den Giftschrank.6 Bis zur Öffnung der Stasi-Archive war ihr Inhalt nicht bekannt, aus gutem Grund: Schalck und Volpert hatten in der Arbeit jene zwielichtigen Praktiken skizziert, mit denen der Bereich Kommerzielle Koordinierung in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht nur Devisen für die klamme DDR-Volkswirtschaft zu beschaffen vermochte, sondern eben auch Waffen, Maschinen und Technologien, die der Westen den Warschauer-Pakt-Staaten im Kalten Krieg vorzuenthalten versuchte.

Für Schalck und Volpert, die beiden geistigen Väter der KoKo, war der Kalte Krieg vor allem ein heißer Handelskrieg. In dieser Auseinandersetzung musste ihr weltweit agierender Unternehmensapparat aus Handels- und Tarnfirmen nicht nur an der Frontlinie mitkämpfen, sondern eben auch als Partisan im Hinterland des Feindes wirken. Die Devise – festgehalten auf einem während der Dissertationsverteidigung von der Potsdamer Senatskommission gefertigten Notizzettel – lautete: »Vom Kapitalismus holen, was man kann«.7

Dazu empfahlen die beiden in ihrer Dissertationsschrift neben der Gründung abgedeckter Handels- und Produktionsunternehmen, deren DDR-Hintergrund verborgen bleiben sollte, auch die Einrichtung von Tarn- und Briefkastenfirmen. Die Letztgenannten sollten »ausschließlich zur Abdeckung risikovoller Geschäfte und Sonderoperationen eingesetzt werden«, empfahlen die Doktoranden. Solche Schein- und Tarnfirmen, für deren Ansiedlung »sich besonders die Schweiz eignet«, könnten nach der Abwicklung riskanter Geschäfte »ohne finanzielle Verluste und ohne Diskriminierung der DDR wieder liquidiert werden«. Eine »operative Nutzung« dieser Firmen sollte sich auf folgende Schwerpunkte konzentrieren: »Wichtige Forschungsergebnisse bestimmter Industriezweige … sammeln oder aufkaufen. Aufkauf neuentwickelter Spitzenerzeugnisse … Beschaffung von Erzeugnissen und Produkten, die der strengen Embargobestimmung unterliegen und die die DDR offiziell nicht aufkaufen kann.« Diese Ausrichtung könnte »einen großen zusätzlichen ökonomischen, aber auch militärischen Nutzen für die DDR« bringen.8

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Alexander Schalck-Golodkowski im September 1991 im Ost-Berliner Domhotel

Für die vom internationalen Devisenhandel weitgehend ausgeschlossenen Ostblockstaaten war die mitten im Nato-Feindesland liegende neutrale Schweiz neben Schweden und – mit Abstrichen – Österreich die wichtigste »Geldinsel« in Westeuropa. Das kleine Land verfügte über eine Vielzahl erfahrener und nach außen seriös wirkender Geldinstitute, die ein weltweit verzweigtes Filial- und Kontennetz unterhielten. Es existierte dort zudem ein (vermeintlich) unauflösbares Bankgeheimnis, und es gab viele willige Helfer, die sich mit einer ansehnlichen Provision ihre Zweifel ob der Legalität von Finanztransaktionen und Bargeldeinzahlungen abkaufen ließen.

Darüber hinaus aber war die Schweiz für den Ostblock auch ein wichtiges Einfallstor in den freien Markt des Westens. Hier ließen sich spezielle Handelsgeschäfte abwickeln, die in den Nato-Ländern – wenn überhaupt – nur deutlich komplizierter zu realisieren waren. Der Grund dafür war, dass die Schweiz aus neutralitätspolitischen Gründen kein Mitglied des 1949 gegründeten Coordinating Committee for Multilateral Export Controls (CoCom) war, des Koordinationskomitees für multilaterale Ausfuhrkontrollen.

Dem CoCom gehörten alle Nato-Staaten mit Ausnahme Islands sowie Japan und Australien an. Mit dem von den USA initiierten Koordinationsausschuss versuchte die Nato nach offizieller Darstellung, die zahlenmäßige Überlegenheit der Truppen des Warschauer Paktes durch einen rüstungstechnologischen Vorsprung des Westens wettzumachen. Das eigentliche Ziel aber bestand darin, den Zugang der RGW-Staaten und Chinas zu allen modernen Technologien zu blockieren, um auf diese Weise nicht nur einen militärischen, sondern vor allem auch einen wirtschaftlichen Vorsprung vor dem kommunistischen Machtbereich zu bewahren.

Der Sitz des CoCom war Paris. Dort verwaltete der Ausschuss die sogenannte CoCom-Liste, auf der unter anderem Kriegsmaterial, Erzeugnisse für die Kernenergietechnik, Industrieanlagen und Produkte der Mikroelektronik verzeichnet waren, die nicht in den Ostblock ausgeführt werden durften. Diese Liste wurde regelmäßig aktualisiert, indem darauf befindliche ältere Technologie freigegeben und neueste Technologie aufgenommen wurde.

Aber auch wenn die Schweiz kein CoCom-Mitglied war, bedeutete dies nicht, dass die Warschauer-Pakt-Staaten von dort alle Produkte beziehen konnten, die ihnen die Nato verwehrte. Dafür hatte schon frühzeitig Washington gesorgt, da den Amerikanern die sogenannten Umgehungsgeschäfte über Nicht-CoCom-Länder wie die Schweiz bitter aufstießen. Sie setzten die Eidgenossen unter Druck und drohten ihnen unverhohlen mit dem Ausschluss vom westlichen Technologietransfer. Mit Erfolg: 1951 vereinbarten die Unterhändler beider Länder, Jean Hotz und Harold Linder, eine mündliche Abmachung, nach der die Schweiz ihren Warenverkehr mit den kommunistischen Staaten stark einschränkte. Das Hotz-Linder-Agreement sah vor, dass der Export von rüstungsrelevanten strategischen Gütern, den sogenannten Liste-I-Produkten, in den Ostblock völlig verboten oder erheblich eingeschränkt (»courant essentiel«) wurde. Andere Industriegüter wie etwa Werkzeugmaschinen, die in die Kategorie der Liste-II-Produkte fielen, konnten jedoch weiter exportiert werden. Allerdings sollte der Umfang dieser Exporte den durchschnittlichen Handelsumfang der Vorjahre (»courant normal«) nicht überschreiten. Der Historiker Alois Riklin spricht in diesem Zusammenhang von einer Schweizer »Defacto-Mitgliedschaft im CoCom«, ohne die dem Land »der Ausschluss vom amerikanischen Hochtechnologiemarkt« gedroht hätte.9

Die Restriktionen bezogen sich freilich nur auf Schweizer Produkte. Sensitive Erzeugnisse aus dem Ausland – abgesehen von Rüstungsgütern – konnten nach einem Import in die Schweiz sehr wohl reexportiert werden, auch in Richtung Moskau oder Ost-Berlin. Oft genug kam es vor, dass Hochtechnologieprodukte wie Rechneranlagen und IT-Komponenten von Zwischenhändlern bei US-Herstellern erworben und in die Schweiz geliefert wurden, wo sie noch im Transit-Frachtraum des Züricher Flughafens mit einem neuen Luftfrachtbrief ausgestattet und hinter den Eisernen Vorhang geflogen wurden. Solche Umgehungsgeschäfte verletzten bis Ende der 1970er Jahre weder Schweizer Zollbestimmungen noch andere Gesetzesvorschriften.

Nach mehreren aufgeflogenen Fällen von Technologieschmuggel über die Schweiz verschärften die Behörden allerdings die Vorschriften. Nun mussten alle Handelsfirmen vor dem Import von embargobehinderten Erzeugnissen eine 1979 erlassene »Wegleitung« unterzeichnen. Nach dieser Vorschrift sollten solche heiklen Importe mit einem Einfuhrzertifikat versehen werden, das den Empfänger in der Schweiz verpflichtete, die Waren aus dem Ausland nicht im unveränderten Zustand in ein Drittland zu exportieren. Ausdrücklich schloss dieses Wiederausfuhrverbot auch die Übergabe von Importware an diplomatische und konsularische Vertretungen im Inland ein. Wenn die importierten Erzeugnisse allerdings in der Schweiz bearbeitet oder umgewandelt wurden, konnten sie als schweizerische Produkte genehmigungsfrei in den Export gehen. Sollte jedoch der Anteil der importierten Bestandteile eines Schweizer Produkts 15 Prozent oder 30 000 Schweizer Franken des Frakturwertes übersteigen – der letztgenannte Grenzwert konnte beim Einbau etwa von elektronischen Steuerelementen und Messgeräten aus dem Ausland schnell erreicht werden –, dann bedurfte die Ausfuhr dieser Produkte neben der Genehmigung des Bundesamtes für Außenwirtschaft auch einer Zustimmung des Lieferlandes.10

Die Amerikaner ließen sich aber mit solchen kosmetischen Korrekturen nicht milder stimmen, wussten sie doch, dass die Schweizer Behörden selten ganz genau hinschauten, wenn es um Exporte von Produkten »Made in Switzerland« in den Ostblock ging. Tatsache war, dass die Umgehungsgeschäfte über die Schweiz für die Schmuggler nun vielleicht etwas komplizierter wurden, aber nachhaltig unterbinden, wie es die USA forderten, ließen sie sich auf diese Weise nicht.

Wie die im Berner Bundesarchiv einsehbaren Akten der Bundesanwaltschaft zeigen, erhöhten die USA ab 1980 dann auch weiter ihren Druck auf die Schweizer, den Vorgaben des CoCom-Embargos konsequenter zu folgen. Am 9. Januar 1980 etwa übermittelte die CIA-Residentur in Bern (»Verbindung XX«) der Berner Bundespolizei einen Bericht über den sowjetischen Technologieschmuggel. Demnach habe das KGB seine für den Technologietransfer zuständige Abteilung X, auch als »Direktorat T« bekannt, in den vergangenen zehn Jahren physisch und qualitativ erheblich ausgebaut, auch in der Schweiz. »Die Operationen und Aktivitäten der Linie X … in der Schweiz dürften ungefähr gleich gelagert, wenn nicht denjenigen anderer KGB-Residenturen in Westeuropa übergeordnet sein angesichts u. a. … des technologisch hohen Standes der schweizerischen Industrie (und) der nicht unbedeutenden Anzahl amerikanischer Geschäftsleute und der leichten Zugänglichkeit mancher fortgeschrittener sensitiver Technologien«, heißt es in dem CIA-Report.

In diesem Zusammenhang wiesen die Amerikaner auf die Anwesenheit von Juri Iwanowitsch Popow als KGB-Resident in Genf hin. Popow habe bereits zwischen 1969 und 1963 in Tokio »eine wissenschaftlich-technische Zweigstelle (geleitet), die fast 20 äußerst fähige Funktionäre umfasste, die in der klandestinen Beschaffung fortgeschrittener Technologien von japanischen Firmen spezialisiert und sehr erfolgreich waren«. Mit einem ähnlichen Auftrag dürfte Popow nun auch in Genf im Einsatz sein, warnte die CIA.11

Nur wenige Tage später legte der US-Geheimdienst noch einmal nach. Den Sowjets sei es nach amerikanischer Einschätzung bereits gelungen, durch die Beschaffung westlicher Technologien Kosten und Zeit bei der Forschung und Produktentwicklung erheblich zu senken, heißt es in einem CIA-Bericht an die Berner Bundespolizei vom 12. Januar 1981. »Unsere größte Sorge besteht jedoch darin, dass die Sowjets versuchen, westliche Konstruktions- und Produktionstechnologie zu beschaffen, um die militärische Kapazität der Warschauer-Pakt-Truppen gegenüber der Nato bedeutend zu verbessern, was eine größere Bedrohung der westlichen Sicherheit weiterbestehen lässt.« Trotz der CoCom-Regelungen hätten sich die auch über Schweizer Firmen realisierten Verkäufe von sensitiver Technologie an den Ostblock in den letzten Jahren nach CIA-Schätzung auf rund 200 Millionen Dollar summiert. Die Anstrengungen der US-Regierung seien daher darauf gerichtet, sowjetische und osteuropäische Spione und Technologieschmuggler zu identifizieren und gleichzeitig ein System von Handelskontrollen zu schaffen, »um Abzweigungen solcher Technologie vom normalen Handelsweg nach der Sowjetunion vorzubeugen«, erläuterte die CIA. Mit Sorge betrachte Washington zudem, dass US-Unternehmen zunehmend »durch Einrichten von Scheinfirmen (z. B. in Liechtenstein mit Spedition über ZH-Kloten und Wien) ihre Bereitschaft zur Umgehung der Ausfuhrsperre bekundeten«.12

Die Schweiz reagierte auf den Druck der Amerikaner. 1981 beschloss der Bundesrat auf Antrag der Bundesanwaltschaft die Abberufung und Ausweisung von zwei Mitarbeitern bei der sowjetischen Handelsmission in Genf. Wie aus einem Vermerk der Bundespolizei vom 20. Februar 1981 hervorgeht, wollte man damit offenbar auch Handelsrestriktionen begegnen, die die USA gegen die Schweiz verhängt hatten. So habe die Bundespolizei in einem Gespräch mit CIA-Vertretern nach der Ausweisung der beiden Russen »das Funktionieren der schweizerischen Embargokontrolle«, mit der auch amerikanische Interessen gewahrt werden würden, ausdrücklich hervorgehoben. »Dies erfolgte insbesondere auch wegen feststehender Beschaffungsschwierigkeiten schweizerischer militärischer Stellen in den USA«, vermerkte die Bundespolizei.13

Die Amerikaner forderten nun eine engere Kooperation. In einer Besprechung mit CIA-Vertretern am 23. Juli 1981 informierten die Gäste darüber, dass FBI und CIA inzwischen Spezialeinheiten gegründet hätten, die gegen Technologieschmuggel und -spionage vorgehen. Im Mittelpunkt von deren Tätigkeit standen demnach eine »umfassende Aufklärung von Forschungs- und Produktionsbetrieben« sowie die »operative Ansprache von östlichen, besonders sowjetischen Wissenschaftlern, die sich zu Studienzwecken im Westen aufhalten«. Auch die Schweiz solle daran mitwirken, wünschten sich die Amerikaner: »Als Verbraucher von US-Technologien werden wir zur Unterstützung der US-Abwehrmaßnahmen aufgefordert«, heißt es in einem Vermerk der Bundespolizei über das Treffen mit den CIA-Vertretern.

Das Papier listete auch gleich erste Maßnahmen auf, die die Schweizer Behörden umsetzen wollten. Neben der juristischen Verfolgung von Embargo-Verdachtsfällen und Aufklärungsgesprächen in Schweizer Unternehmen gehörte dazu auch die »Gewinnung von Informationen über sowjetische Wissenschaftler und Stipendiaten«. Dabei gehe es »vor allem um die Ermittlung der wissenschaftlichen Kapazität und der persönlichen Verhältnisse dieser Leute«, wie es in dem Vermerk der Bundespolizei heißt. Zu diesem Zweck bereitete der Staatsschutz den »Einstieg« bei den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne sowie bei Einzelfirmen vor, um die Möglichkeit einer Anwerbung oder Abschöpfung der osteuropäischen Studenten und Mitarbeiter zu prüfen.14

Am 29. Dezember 1981 verschärfte US-Präsident Ronald Reagan als Reaktion auf das zwei Wochen zuvor verhängte Kriegsrecht in Polen und den bereits erfolgten Einmarsch der Sowjets in Afghanistan die US-Exportbestimmungen für Erzeugnisse der Hochtechnologie. Zu dieser Zeit lief bereits die »Operation Exodus«, mit der die US-Zollbehörde – unterstützt von den US-Geheimdiensten – Jagd auf weltweit und dabei oftmals über die Schweiz und Liechtenstein operierende Embargoschmuggler machte.

Immer häufiger meldeten sich nun CIA und FBI beim Kommissariat IV der Bundespolizei und bei der Bundesanwaltschaft. Die im Berner Bundesarchiv lagernden Akten zum Embargoschmuggel beinhalten eine Vielzahl von Hinweisen auf verhinderte oder gelungene Schmuggelaktionen des Ostens über das Gebiet der Schweiz. Häufig waren es Firmen und Geschäftsleute, die direkt für Moskau arbeiteten. Aber die Amerikaner hatten inzwischen auch mitbekommen, dass die Stasi ebenfalls über äußerst effektive Beschaffungslinien verfügte.

Im Februar 1989 zum Beispiel reichte die US-Regierung in Bern eine Demarche ein. Es ging um die Lieferung von 24 Kilogramm des synthetischen Textilfaserstoffes Kevlar 1030 des Schweizer Unternehmens Moehl an die KoKo-Firma Textilcommerz. Bereits 1987 hatte die Schweiz nachträglich von einem solchen Geschäft erfahren und die Firma Moehl nun auf Drängen der Amerikaner dazu verpflichten wollen, von Lieferungen des auf der CoCom-Liste stehenden Materials abzusehen. Aber es war zu spät, das Kevlar war bereits in die DDR gelangt.

Die Amerikaner wiesen in ihrer Demarche darauf hin, dass die Ko-Ko-Firma als offiziellen Endverbraucher des Kevlar ein Forschungsbüro für Sportausrüstungen und die Ost-Berliner Yachtwerft angegeben hatte. Washington allerdings war sich sicher, dass die Textilfaser aus der Schweiz in der Rüstungs- oder Raumfahrtindustrie eingesetzt werden sollte. »Kevlar hat zahlreiche strategische Anwendungen … Es könnte für Raumfahrtbestandteile verwendet werden, einschließlich Flugzeuge und Lenkwaffen, für … MX-missile Tanks, … kugelsichere Westen, Combathelme, Bootshüllen und Frachtschiffe«, heißt es in einem Vermerk der Bundespolizei vom 2. März 1989 über die ihrem Kommissariat IV von der CIA (»Verbindung XX«) angekündigte Demarche der US-Bundesregierung.15

Auch BND und Verfassungsschutz schalteten sich stärker ein. Es kam zu Treffen, Arbeitsberatungen und diskreten Informationsaustauschen über die »schwarze Hand«. In den Akten von Bundesanwaltschaft und Bundespolizei finden sich in den 1980er Jahren immer mehr Anfragen, Analysen und Hinweise aus Köln und Pullach zu den MfS- und KoKo-Schmugglern, die trotz des verschärften CoCom-Embargos den Technologietransfer durch den Eisernen Vorhang unvermindert – wenn auch mit stetig wachsenden Kosten verbunden – fortsetzten.

So erreichte die Bundespolizei am 15. Juli 1989 die Kopie einer Original-Quellenmeldung, die einen Monat zuvor im Bereich Wirtschaft des BND eingegangen war. Demnach habe die DDR »bei der Firma Gretag AG, Schweiz, in bedeutendem Umfang Verschlüsselungsanlagen bestellt. Mit Hilfe dieser Anlagen sollen vermutlich die Fernmeldeverkehre in den diplomatischen Vertretungen der DDR verschlüsselt werden«, heißt es in der BND-Meldung. Der Lieferumfang soll etwa bei 4,5 Millionen D-Mark liegen. »Alle Geräte dieser Firma würden beim Export aus den CoCom-Staaten unter strenges Embargo fallen; sie dürften nicht an die kommunistischen Staaten verkauft werden«, warnte der BND eindringlich.16

Vor allem die Amerikaner aber deckten die Schweizer Behörden nicht mehr nur mit Informationen ein, sondern zogen die Schrauben immer stärker an. Wiederholt drohten sie nun damit, die Lieferung wichtiger US-Technologie – insbesondere solcher, die auf der CoCom-Liste stand – in die Schweiz zu verzögern oder ganz zu stoppen, sollten sich die Eidgenossen nicht den Wünschen Washingtons fügen. Am Vormittag des 14. Mai 1985 kam es daher im Konferenzzimmer 620 der Zentrale der Bundespolizei in der Berner Taubenstraße 16 zu einem Krisentreffen. Vertreter vom Bundesamt für Außenwirtschaft, des Zolls und der Bundespolizei wollten sich auf ein gemeinsames Vorgehen in den nächsten Monaten verständigen, um auf den wachsenden Druck Washingtons, den Embargoschmuggel über die Schweiz zu unterbinden, angemessen reagieren zu können.

Das Protokoll des Krisentreffens findet sich im Berner Bundesarchiv. Es dokumentiert, in welch dramatischer Lage sich die Schweizer Behörden damals befanden und wie sie verzweifelt nach Möglichkeiten suchten, den Amerikanern entgegenzukommen, ohne die eigenen neutralitätspolitischen und rechtlichen Grundlagen des Staates zu verletzen. Wilhelm Jaggi, damals im Bundesamt für Außenwirtschaft der zuständige Referent für den Nordamerika-Dienst, fasste bei dem Treffen noch einmal die Forderungen der USA zusammen: »Das Ostexportgeschäft der Schweiz von hochentwickelten Werkzeugmaschinen soll eingeschränkt werden. Die Transitierung offensichtlich illegal abgezweigter, westlicher Embargo-Technologie über die Schweiz in Richtung Oststaaten soll unterbunden werden.«17

Damit steckte die Schweiz in einem Dilemma: Einerseits konnte sie sich aufgrund ihrer Neutralitätspolitik den CoCom-Embargovorschriften nicht einfach unterwerfen; andererseits war der Zugang zu US-Hochtechnologie für ihre Industrie lebenswichtig – »vor allem auch, weil ihre wichtigsten Konkurrenten in Deutschland bevorzugt behandelt worden wären«, wie es 30 Jahre später Othmar Wyss in einem Artikel für die Neue Zürcher Zeitung analysierte.18 Wyss war bis 2008 im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), der Nachfolgeeinrichtung des Bundesamtes für Außenwirtschaft, für Exportkontrollen und Sanktionen verantwortlich.

Mit mehreren Maßnahmen, die auch schon beim Krisentreffen im Mai 1985 beraten worden waren, kam die Schweiz den USA schließlich entgegen. So stoppte der Bundesrat ab 1985 in vielen Fällen und auf jeweiliges Ersuchen der USA vorbereitete Transitlieferungen von Embargotechnik durch die Schweiz. Die Amerikaner hatten stets vorab Informationen über die geplanten Deals erhalten – wohl auch, weil die Schmugglerszene mit vielen CIA- und BND-Agenten durchsetzt war – und die Behörden in Bern alarmiert. Das Einschreiten des Bundesrates erfolgte stets unter Berufung auf den Notrechtsartikel 102 der Bundesverfassung, um den Ausnahmecharakter zu unterstreichen.

Erst Ende 1985 erließ die Schweizer Regierung eine Verordnung, mit der solche Transitlieferungen ohne Zustimmung des Ursprungslandes unmöglich wurden. Nun musste für besonders sensible Produkte ein blaues Einfuhrzertifikat, das sogenannte Blue Swiss, beantragt werden, wenn der ausländische Lieferstaat dies gefordert hatte. Eine Wiederausfuhr dieser Güter aus der Schweiz, auch im Transit, war dann nur möglich, wenn das Bundesamt für Außenwirtschaft dies genehmigte und gleichzeitig das Herkunftsland, das ein Einfuhrzertifikat verlangt hatte, ebenfalls ausdrücklich damit einverstanden war.

Als »neutralitätspolitisch heikler« bezeichnete Othmar Wyss in seinem Artikel die zweite Maßnahme, mit der man einer weiteren Forderung Washingtons nachzukommen versuchte. Demnach hatte der Berner Bundesrat zwar nie – auch wenn es die USA so verlangten – eine Verordnung erlassen, die es ihm erlaubt hätte, Ausfuhrgesuche für strategische Güter aus Schweizer Produktion in den Ostblock abzulehnen. Allerdings ersuchte die Regierung den damaligen Verein Schweizerischer Maschinenindustrieller (VSM), im Falle besonders exponierter Werkzeugmaschinen und Ausrüstungsgüter für die Halbleiterindustrie die entsprechenden Exporteure zu überzeugen, auf die Ausfuhr dieser Erzeugnisse in den Ostblock ganz oder teilweise zu verzichten. »Da damals die meisten CEO dieser Firmen hohe und patriotische Offiziere der Armee waren, war dies nicht allzu schwierig«, schrieb Wyss. »Mit diesen Maßnahmen gelang es dem Bundesrat schließlich, die USA dazu zu bewegen, der Schweiz ab 1986 beim Bezug von kontrollierten Gütern den gleichen Rechtsstatus einzuräumen wie den Mitgliedern des CoCom.«19