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Michael A. Frank, Cornelia von Soisses

Bildnis einer Toten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

Düsseldorf, 1946. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die einst schöne Stadt war zum größten Teil zerstört. Diejenigen, die diesen unsinnigen Krieg überlebt hatten, kämpften auch weiterhin um ihr Überleben in den Trümmern. Viele Menschen hatten ihr Hab und Gut verloren und waren verzweifelt. Der Hunger und die Wohnungsnot machten den Menschen zu schaffen. Wer eine Arbeit hatte und eine Unterkunft, war sie noch so klein, konnte sich damals glücklich schätzen. So auch Erika. Erika war 19 Jahre alt und hatte ihre Eltern und ihren Bruder bei dem Großangriff der englischen Royal Air Force im Juni 1943 verloren. Sie war da erst 15 Jahre alt gewesen und wuchs seitdem in einem Kinderheim auf.

So richtig hatte sie das alles nicht verkraftet, aber sie sagte zu sich: "Anderen geht es auch so, aber das Leben geht weiter. Vielen geht es schlechter als mir." Das gab ihr die Kraft, nicht zu resignieren und weiterzumachen. Als sie dann 18 wurde, versuchte sie eine Arbeit und eine kleine Unterkunft zu finden, um aus dem Heim herauszukommen. So richtig wohlgefühlt hatte sie sich dort nicht. Aber wer fühlte sich in einem Heim wohl. Sie war nicht böse auf die Engländer, die die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten, und die ihr ihre Familie genommen hatten, sie war sauer auf diejenigen, die diesen Krieg begonnen hatten. Nach dem Ausfüllen unzähliger Formulare und dem Besorgen von Nachweisen, dass sie nicht in der Partei gewesen sei und sie selbst entnazifiziert war, bekam sie eine Anstellung als Serviererin in einem englischen Offizierskasino. Schwieriger gestaltete sich die Suche nach einer Unterkunft. Nach langem Suchen fand sie ein kleines Zimmer etwas außerhalb von Düsseldorf bei einer alten Witwe.

Groß war das Zimmer nicht, aber es war ihr eigenes. Ein Bad oder eine Kochgelegenheit suchte man vergebens. Es war gerade Platz für ein Bett, eine Kommode und einen Schrank.

Nicht mal ein Waschbecken gab es, nur einen Krug und eine Schüssel. Die Toilette befand sich auf dem Flur eine Treppe weiter unten. Die musste sie sich mit den anderen Mietern teilen. Wenn sie sich etwas Warmes machen wollte, dann musste sie bis ganz unten in den Keller, wo eine "Küche" für die Mieter eingerichtet war, obwohl man das nicht Küche nennen konnte. Eine Kochplatte und ein Spülbecken, das war die ganze Küche. Sie hatte ihr Zimmer unterm Dach, und in der Etage darunter waren noch drei weitere Zimmer, die ebenfalls von jungen Mädchen bewohnt waren. Strom gab es in ihrem Zimmer gar keinen. Nur Kerzen und eine Petroleumlampe, die sie aber selten anmachte, um Petroleum zu sparen. Ihr reichten die Kerzen, außer wenn sie lesen wollte. Aber da sie abends meistens bei der Arbeit war, hatte sie ja das Tageslicht zum Lesen. Jetzt gerade saß sie im Schein zweier Kerzen vor der Kommode und kämmte sich ihre langen, blonden Haare, auf die sie besonders stolz war. Zu einer gewissen Zeit in Deutschland entsprach ihr Aussehen genau dem, was man unter "arisch" verstand. Sie war nicht zu groß, hatte eine gute Figur und war zwangsläufig auch im Bund Deutscher Mädchen, kurz BDM, gewesen. Aber auch nur, weil sie musste, und nicht, weil sie wollte. Heute ließ sie sich extra viel Zeit, weil sie besonders gut aussehen wollte, da sie heute beim Arzt gewesen war und erfahren hatte, dass sie ein Kind bekommen würde. Sie wollte für Bertram gut aussehen. Bertram war Engländer und ihr Freund. Nur er konnte der Vater sein, und sie wollte es ihm heute erzählen. Sie hoffte, dass er auch heute Abend im Kasino war und sie Gelegenheit finden würde, mit ihm zu reden. Während ihrer Arbeitszeit hatte sie nicht viel Zeit dazu, aber nach Feierabend kam er oft mit ihr nach Hause. Ihre Vermieterin war da sehr großzugig. Männerbesuche waren nicht verboten.

Während sie dort saß und sich schick machte, dachte sie an Bertram. Bertram hatte sie im Kasino kennengelernt, kurz nachdem sie dort angefangen hatte. Er war ihr gleich ins Auge gefallen, weil er groß, schlank und unverschämt gut aussehend war. Zwar wusste sie nicht viel von ihm, nur dass er ein Adeliger und wohl in England ein angesehener Mann war.

Sie war gespannt, was er zu der guten Nachricht sagen würde. Sie war fest davon überzeugt, dass er sich auch freuen würde. Es klopfte an der Tür. Erika legte die Bürste beiseite und öffnete. Draußen vor der Tür stand ihre Vermieterin. "Einen schönen, guten Tag, Frau Mannheimer", sagte Erika und bat sie herein. Frau Mannheimer war Ende fünfzig, klein und rundlich. Dass Frau Mannheimer früher einen Puff betrieben hatte, in dem die Größen der SS verkehrt hatten, wusste Erika natürlich nicht. Deswegen nahm sie auch das mit den Männerbesuchen nicht so genau. Ihren Mieterinnen hatte Frau Mannheimer immer erzählt, dass ihr Mann Rechtsanwalt gewesen war und, wie so viele, im Krieg umgekommen war. Keins von den jungen Mädchen würde auf die Idee kommen, dass das nicht stimmte. "Oh, ein schöner Tag!", meinte Frau Mannheimer höflich. "Dann gehe ich davon aus, dass der Doktor nichts gefunden hat?" Frau Mannheimer wusste von dem Besuch beim Doktor. Erika strahlte sie an. "Doch", sagte Erika. "Er hat etwas gefunden, aber etwas Erfreuliches." "Etwas Erfreuliches?", fragte ihre Vermieterin. "Sie machen mich neugierig!"

"Ich bin schwanger, ich bekomme ein Kind!" "Na, das sind aber wirklich herrliche Neuigkeiten!", meinte Frau Mannheimer. Sie trat auf Erika zu und nahm sie in die Arme.

"Wann soll es denn so weit sein? Denn dann müssen wir doch etwas mit dem Zimmer machen!" Frau Mannheimer sah sich um. "Es ist zwar ein wenig klein hier, aber so ein winziges Würmchen braucht ja noch nicht viel Platz." Erika stimmte ihr zu und sagte dann:  "Ach, das wird ja noch dauern. Ich bin erst in der fünften oder sechsten Woche, meinte der Arzt, und außerdem weiß ich gar nicht, ob ich dann noch hier bleibe. Bertram weiß es noch gar nicht." "Ach?", meinte Frau Mannheimer. "Wollen Sie dann mit nach England?" "Das weiß ich alles noch nicht. Ich wollte es ihm heute Abend sagen. Ich werde ihn heute Abend mit hierherbringen, da haben wir genug Zeit und Ruhe." "Das mach mal, mein Kind. Und weißt du was? Ich spendiere euch eine Flasche Wein!" "Das ist nett von Ihnen. Danke schön!", sagte Erika. "Nun, dann will ich nicht weiter stören. Du musst ja auch bald los. Ich stelle die Flasche vor die Tür."

Erika bedankte sich noch einmal und begann ihre Haare hochzustecken und sich fertig anzukleiden. Sie hatte nur noch eine halbe Stunde, um den Bus zu erwischen. Zum Glück konnte sie mit dem Bus fahren. Straßenbahnen gab es nicht mehr oder noch nicht wieder.

Nur wenn Erika Spätschicht hatte, wurde es knapp. Der letzte Bus fuhr um halb zwölf. Den schaffte sie normalerweise, nur durfte nichts dazwischen kommen. Erika schnappte sich ihre Handtasche, sah sich noch einmal um, ob sie nichts vergessen hatte, und verließ ihr Zimmer.

Jetzt musste sie sich aber beeilen. Zwar fuhren die Busse, aber von einem regelmäßigen Fahrplan konnte man nicht reden. Deswegen war es auch nicht ungewöhnlich, dass sie ab und zu unpünktlich zu ihrer Arbeit kam. Heute allerdings klappte es und sie erreichte den Bus pünktlich. Es schien so, als ob es ein guter Tag werden würde. Sie bekam sogar einen Sitzplatz, was äußerst selten geschah. Sie lächelte in sich hinein. Wenn man denn in absehbarer Zeit sehen konnte, in welchem Zustand sie war, dann würde sie immer einen Sitzplatz bekommen.

Sie freute sich auf die Begegnung mit Bertram und auf sein Gesicht, wenn Erika ihm heute Abend auf ihrem Zimmer die Nachricht überbringen würde, dass er Vater werden würde.

Langsam näherte sich der Bus ihrem Ziel. Von der Haltestelle aus hatte sie nur noch einige Schritte zu gehen. Fröhlich lächelnd legte sie die kurze Strecke zurück. Sie hatte das Gefühl, dass sie alle ansahen und merkten, was los war.

Pünktlich um 16 Uhr betrat sie das Kasino. Ihre zwei Kolleginnen waren schon eher da und rauchten noch eine Zigarette, bevor das Kasino geöffnet wurde. Sie grüßten Erika und widmeten sich gleich wieder ihrem Gespräch. Erika gab sich so gelassen wie möglich. Sie wollte es erst Bertram sagen und dann erst ihren Kolleginnen. Sie ging nach hinten und machte sich bereit für ihre Schicht. Sie gesellte sich zu Sibylle und Irmgard und unterhielt sich noch einen Moment mit ihnen, sagte aber nichts davon, dass sie schwanger war. Der Chef kam hinter die Bar und sagte: "Los, Mädels, genug geschwatzt." Kaum hatte er das ausgesprochen, strömten auch schon die ersten Gäste ins Kasino. Nervös sah Erika zur Tür und wartete auf Bertram.

Endlich nach gut einer Stunde kam Bertram mit einigen Freunden ins Kasino. Er sah Erika und winkte ihr zu. Erika ging auf ihn zu und flüsterte: "Ich muss mit dir reden." Bertram sah sie erstaunt an. "Was ist denn los?", wollte er wissen. "Das sage ich dir heute Abend bei mir zu Hause", sagte sie lächelnd. Bertram grinste. "Ich soll also mit zu dir heute nach Feierabend?", fragte er ebenfalls grinsend und gab ihr einen Klaps auf den Po. Sie schlug ihm leicht auf die Hand. "Nicht jetzt, ich muss arbeiten", sagte Erika lächelnd. Bertram ging zurück zu seinen Freunden, die ihm schon mit gefüllten Gläsern entgegen prosteten. Erika sah ihm hinterher.

Bertram hieß mit ganzem Namen Bertram Arthur Linus Lord of Millhouse und war in England ein angesehener Mann. Er war Mitte 20 und Offizier bei der Royal Air Force. In seiner Uniform sah er gut aus, und es war kein Wunder, dass Erika sich in ihn verliebt hatte. Erika hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er sich freuen würde. Der Abend zog sich heute besonders in die Länge, fand Erika. Sie konnte es gar nicht erwarten, bis sie Feierabend hatte.

Endlich waren die letzten Gäste gegangen. Nur Bertram saß noch an seinem Tisch und wartete auf Erika. Erika musste nur noch ihre letzten Handgriffe erledigen und beeilte sich.

Zusammen mit Bertram machte sie sich dann auf den Heimweg. Unterwegs wollte Bertram immer wieder wissen, was denn nun los sei, aber Erika sagte nichts. Als die beiden bei Erika zu Hause angekommen waren und die Treppe zu ihrem Zimmer hochgestiegen waren, stand tatsächlich eine Flasche Wein vor ihrer Zimmertür. "Wein? Heute? Habe ich deinen Geburtstag oder so etwas vergessen?", fragte Bertram. Erika sagte immer noch nichts und schob ihn in ihr Zimmer. Da Bertram fast einen Kopf größer war als sie, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er wusste kaum, wie ihm geschah, weil ihr Kuss immer fordernder wurde. Sie löste sich von ihm, und während sie begann, sich zu entkleiden, sagte sie: "Mach doch schon mal den Wein auf." Bertram stand immer noch regungslos da, weil sie eigentlich noch nie die Initiative übernommen hatte. Inzwischen lag Erika nackt in ihrem Bett und flüsterte: "Komm!" Das ließ sich Bertram nicht zweimal sagen und stieg schnell aus seinen Sachen. So ungezügelt hatte er Erika noch nie erlebt. Später lagen sie schwer atmend nebeneinander und tranken einen Schluck Wein.

"Jetzt sag mir doch endlich, was los ist!", meinte Bertram ungeduldig. "Irgendetwas muss doch sein. So wie heute Abend habe ich dich doch noch nie erlebt." Erika drängte sich näher an ihn und strich mit dem Zeigefinger über seine muskulöse, breite Brust. Ganz langsam näherte sie sich seinem Gesicht und flüsterte: "Du wirst Vater!" Es herrschte absolute Stille. Nur das Atmen der beiden war zu hören. Erika deutete es als freudige Sprachlosigkeit seitens Bertrams. Sie richtete sich halb auf und sah hinunter zu Bertram. "Freust du dich?" Bertram sagte immer noch nichts. Er musste das Gehörte erst einmal verdauen. Das, was Erika ihm gerade gesagt hatte, konnte er kaum glauben. Er setzte sich auf die Bettkante. Erika rückte näher an ihn heran und umarmte ihn. Sie war immer noch der Meinung, dass er sprachlos vor Freude war. Dass dies nicht der Fall war, merkte Erika, als Bertram flüsterte: "Nimm deine Hände von mir!" Erschrocken nahm Erika ihre Hände weg und setzte sich auf die Bettkante. "Bertram?", fragte sie. "Was ist denn los? Freust du dich denn nicht?"

Mit einem Ruck erhob sich Bertram von der Bettkante. "Freuen?", fragte er. "Ich soll mich freuen?" Bertram geriet immer mehr in Rage. "Spinnst du? Du hängst mir ein Balg an, und ich soll mich freuen?" Erika sah ihn sprachlos an. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. "Aber Bertram ...", begann sie, aber weiter kam sie nicht. Bertram schnappte sich die leere Weinflasche und schmiss sie mit aller Wucht gegen die Wand, wo sie in tausend Stücke zersprang. Erschrocken zog sich Erika die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte, sich klein zu machen. Bertram ließ sich in den einzigen Sessel fallen, der im Zimmer stand. Er rieb sich den Nacken und sah wütend zu Erika, die zitternd immer noch an der äußersten Ecke des Bettes saß.

Sie verstand die Welt nicht mehr. So hatte sie Bertram noch nie erlebt. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Bertram sah sie an und sagte: "Du lässt das Balg wegmachen, sonst ist es aus mit uns. Meine Freunde haben mich schon gewarnt. Mit mir rummachen, mir ein Balg anhängen und dann einen auf englische Lady machen. Was glaubst du, was meine Eltern sagen werden, wenn ich mit dir und einem Bastard ankomme? Hallo Mutter, hallo Vater, das ist Erika, und sie war Serviererin. Dann hat sie mir ein Kind angehängt, damit sie ein schönes Leben bekommt?" Wütend starrte er auf Erika. "Das hast du dir fein ausgedacht. Aber daraus wird nichts. Das kannst du ganz schnell vergessen." Laut schrie er sie an.

Erika waren die Tränen gekommen. "Bertram! Wie kannst du nur so etwas von mir denken?" Sie schluchzte. "Ich will dir doch kein Kind anhängen. Ich dachte, du liebst mich. Und dass zwei Menschen, die sich lieben, ein Kind bekommen, ist doch ganz natürlich."

"Lieben? Ich dich?" Er lachte hart auf. "Du warst ein bisschen Spaß für mich, sonst nichts. Was bitte soll ich mit einer Nazischlampe wie dir anfangen? Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich dich irgendwann heiraten würde? Ich habe zu Hause einen guten Namen.

Da kann ich doch nicht mit so etwas wie dir ankommen." Inzwischen hatte er sich angezogen.

"Also", sagte er. "Lässt du es wegmachen?" Erika sah ihn erschüttert an. Sie konnte nicht verstehen, was gerade vor sich ging, und was er gerade von ihr verlangt hatte.

Erika entgegnete: "Natürlich lasse ich es nicht wegmachen! Was denkst Du?"

"Ist das dein letztes Wort?", wollte er wissen. "Ja", sagte sie. "Na gut, das war es dann. Da ich ein Ehrenmann bin, werde ich dir jeden Monat eine gewisse Summe zukommen lassen. Aber wehe dir, du tauchst mit dem Bastard irgendwann mal in England auf, dann wirst du mich kennenlernen!" Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Zurück blieb eine zutiefst erschütterte Erika. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Sie hörte nicht, dass sich die Tür öffnete, und Frau Mannheimer das Zimmer betrat. Sie besah sich die Scherben, die auf dem Boden lagen. Sie war schon aufmerksam geworden, als sie Bertram herumbrüllen gehört hatte. Und als sie dann mitbekam, wie er die Treppe heruntergestürmt war, entschloss sie sich nachzusehen. Jetzt ging sie zum Bett und nahm das weinende Mädchen in die Arme. Erika bekam das alles nicht mit. Auch nicht als Frau Mannheimer flüsterte: "Wir schaffen das. Ich werde dir helfen."

 

Im September des Jahres 1946 brachte Erika ihre Tochter Sigrid zur Welt.

Bertram hatte sie, auch im Kasino, nie wieder gesehen.

 

1

Heute

 

Chief Inspector Kevin Andrews stand vor seinem Schreibtisch in seinem kleinen Büro und packte seine persönlichen Sachen in eine Jutetasche. Viel war es sowieso nicht. Ein Bild seiner Eltern, dann noch eins von seinem Bruder mit Familie und eins von früher zusammen mit Bruder und Eltern.

Er setzte sich und zog dann die Schubladen auf, um nachzusehen, ob nichts Privates mehr darin lag. Ganz hinten in einer Schublade fand er noch eine Tüte Pfefferminzbonbons. Es war nur noch eins darin. Er besah sich das Bonbon, zuckte mit den Schultern, weil er nicht mehr wusste, wie lange die Tüte schon darin lag, wickelte das Bonbon aus und steckte es sich in den Mund. Anschließend sah er sich noch einmal um und schnappte sich die Tasche. Dann sagte er: "So, Debbie, das ist jetzt Ihr Schreibtisch."

Debbie, das war sein Sergeant Debbie West, die zusammen mit ihrem Kollegen Neil Stanton in der Tür gestanden und dem Treiben zugesehen hatte.

"Muss das sein, Sir?", fragte sie. Kevin hob den Kopf. "Na klar muss das sein!", sagte er erstaunt zu Debbie. "Erstens habe ich die Schnauze voll, zweitens brauche ich endlich einmal ein bisschen Ruhe und Entspannung und drittens hängt mir London im Augenblick zum Hals heraus." "Aber müssen Sie denn gleich weg? Ich meine, wir brauchen Sie doch hier!"

"Wozu?", fragte Kevin. "Im Augenblick liegt doch kein dringender Fall an, oder täusche ich mich da?" "Nein, Sir, aber es könnte ja einer reinkommen." Neil sagte besser gar nichts und schaute nur von Debbie hinüber zu seinem Chef.

"Was sagt Sir Peter dazu?", wollte Debbie wissen.

"Was soll er schon sagen? Er fand keinen Grund, nein zu sagen."

"Aber muss es denn gerade jetzt sein?"

"Meine Güte, Debbie!", rief Kevin. "Ich fahre zwei Wochen in Urlaub, und Sie machen einen Aufstand, als hätte ich gekündigt!"

"Neil, sag doch auch mal etwas", meinte Debbie und stupste Neil in die Seite.

"Ne, ne. Ich halte mich da raus! Schließlich wollen Colin und ich auch noch in Urlaub dieses Jahr!" Colin war Neils Freund und Lebensgefährte.

"Kommen Sie mal her und setzen Sie sich, damit Sie ein Gefühl bekommen, wie es sich als stellvertretender Chef anfühlt", sagte Kevin grinsend zu Debbie.

"Nein danke", sagte Debbie. "Das werde ich dann ja morgen merken." Debbie fühlte sich leicht auf den Arm genommen. Sie drehte sich demonstrativ um und ging zu ihrem Schreibtisch.

Kevin und Neil sahen sich an und lächelten. Debbie war zwar wirklich eine gute Kollegin und fähige Polizistin, aber dass sie sich immer schnell veräppelt vorkam, konnte man ihr nicht abgewöhnen. Es war aber schon wesentlich besser als noch vor einem Jahr.

Kevin gab Neil die Hand und sagte: "Halten Sie die Ohren steif und grüßen Sie Colin. Es sind ja nur zwei Wochen und lassen Sie sich von Debbie nicht auf der Nase herumtanzen. Sie wissen ja, wie sie ist."

"Ich werde mir schon zu helfen wissen, Sir", sagte Neil und schüttelte Kevin die Hand.

Dann ging Kevin zu Debbie und klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schulter.

"Machen Sie es gut. Sie schaffen das schon. Sind ja nur zwei Wochen. Und Sir Peter ist ja auch noch da." Debbie gab ihm dann doch die Hand und wünschte ihm einen schönen Urlaub.

Kevin sah sich noch einmal um und machte sich fröhlich pfeifend und in Urlaubsstimmung auf nach Hause.

Kevin betrat den Parkplatz, der zu dem Revier gehörte und ging auf seinen Wagen zu.

Für Mitte Mai war es schon reichlich warm, und die Sonne knallte vom Himmel. In London eine Seltenheit, auch wenn das Gerücht, dass in London immer Nebel wäre, schon lange nicht mehr stimmte. Kevin schloss seinen Wagen auf, legte die Tasche mit seinen paar Sachen auf den Beifahrersitz und setzte sich hinters Steuer. Langsam fädelte er sich in den fließenden Verkehr ein, legte eine CD ein und fuhr nach Hause. Unter anderen Umständen wäre er gereizt vom Verkehrsgetümmel zu Hause angekommen. Aber heute nicht.

Zu sehr freute er sich auf seine zwei Wochen Urlaub. Er war einfach zu seinem Chef, Sir Peter, gegangen und hatte um Urlaub gebeten. Sir Peter war zwar etwas überrascht, aber da nichts anlag, wollte er nur noch wissen, was Kevin im Urlaub vorhatte und wünschte ihm gute Erholung. Kevin konnte beruhigt sein, was Debbie und Neil anging. Sir Peter würde schon ein Auge auf sie haben. Das hatte er Kevin versichert. Kevin war zu Hause angekommen und stellte seinen Wagen auf seinen Stellplatz, der zu seiner Wohnung gehörte. Er schloss den Wagen ab und betrat das Haus, in dem er eine Eigentumswohnung hatte. Im Treppenhaus kam ihm seine Nachbarin entgegen. "Ach, gut, dass ich Sie treffe, Mr. Andrews", hielt sie ihn an. "Ich brauche dann noch den Schlüssel von Ihnen, wenn ich Ihre Pflanzen versorgen soll." "Moment, das machen wir gleich", sagte Kevin. Er ging schnell zu seiner Wohnung, schloss auf und gab dann den Ersatzschlüssel an seine Nachbarin weiter.

"Danke vielmals, und einen schönen Urlaub wünsche ich Ihnen! Wo geht es denn hin?"

"Ich mache eine Fahrt nach Cornwall", sagte Kevin ihr.

"Oh, das wird schön sein! Als mein Mann noch lebte, waren wir auch oft dort. Also, viel Spaß dann." Kevin bedankte sich noch einmal für das Blumengießen und verschwand in seiner Wohnung. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, ging er in sein großes Wohnzimmer, legte die Tasche mit seinen Sachen auf das Sofa und verschwand anschließend in der Küche. Dort öffnete er den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Außer zwei Dosen Bier war nichts mehr darin. Er wollte den Kühlschrank nicht so voll lassen, wenn er jetzt zwei Wochen nicht zu Hause war. Zum Glück war der Tiefkühlschrank noch gut gefüllt. Er schnappte sich irgendeine Pizza, packte sie aus und schob sie in den Ofen. Bis sie fertig war, machte er es sich bequem und wechselte seine Jeans gegen eine Jogginghose. Mit einer Dose Bier ging er zurück ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Nachdem er einige Zeit durch die Kanäle gezappt hatte, blieb er bei einem Nachrichtensender hängen. Der Duft der Pizza drang aus der Küche, und Kevin ging sie sich holen. Auf dem Weg in die Küche fiel sein Blick auf den Reiseprospekt. Er nahm ihn in die Hand und warf ihn auf den Wohnzimmertisch.

Mit der Pizza auf einem Teller kam er zurück ins Wohnzimmer und machte sich hungrig darüber her. Nachdem er den ersten Hunger gestillt hatte, nahm er den Prospekt in die Hand und lehnte sich bequem zurück. Luxury & Comfort stand in großer Schrift darauf. Darunter war ein Bild von einem Oldtimerbus in den Farben blau und grün. Darunter stand noch:

"Genießen Sie eine Luxusfahrt durch das schöne Cornwall." Kevin hätte sich auch eine Reise ins Ausland leisten können, aber er hatte keine Lust, sich in irgendwelchen Touristenhochburgen herumzutreiben. Außerdem reizte ihn Cornwall. Er schlug die erste Seite auf und las den kurzen Text.

"Wir sind ein neues Reiseunternehmen, das luxuriöse und komfortable Reisen für Menschen anbietet, die etwas Besonderes erleben wollen. Fahren Sie mit uns durch das wild-romantische Cornwall. Übernachten Sie in alten englischen Gasthöfen und Herrenhäusern.

Genießen Sie mit uns die Fahrt abseits der Autobahnen, und lassen Sie sich von der Landschaft verzaubern."

"Unser Fahrer und unsere Reiseleiterin versuchen, Ihnen die Reise so angenehm wie möglich zu machen. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Ihre Erholung und Zufriedenheit stehen für uns im Mittelpunkt."

Darunter waren einige Bilder von Cornwall und den Gasthöfen und Häusern, in denen sie übernachten würden.

Kevin schaute auf die Rückseite des Prospekts, auf dem die Reiseroute beschrieben war.

Die Reise sollte von London aus über Plymouth, Veryan, St. Austell bis zu Land´s End  in der Nähe von Penzance führen. Auch die Sehenswürdigkeiten, die auf dem Weg lagen, wurden aufgeführt. Die Reise war nicht billig gewesen, deswegen hoffte er, dass sie wirklich so toll war, wie der Prospekt es versprach. Kevin rappelte sich auf. Kofferpacken musste er auch noch. Er überlegte nur, was er mitnehmen sollte. Es wurde auch um Abendgarderobe gebeten. Einen Anzug hatte er zwar, aber der war unpassend. Er beschloss, dass er zwei elegante Hosen, zwei Krawatten, zwei Hemden und ein Sakko mitnehmen würde.

Sonst würde er sich so bequem wie möglich anziehen. Er wollte gerade in sein Schlafzimmer und anfangen zu packen, als das Telefon klingelte. Seufzend ging er zum Telefon und sah auf dem Display, dass es seine Mutter war. Auch das noch, dachte er. Kevin setzte sich wieder hin und nahm das Gespräch an.

"Hallo, Mutter", meldete er sich.

"Kevin, mein Junge!", kam es durch den Hörer. "Wie geht es dir?"

"Danke, soweit gut. Ich wollte gerade mit dem Packen anfangen. Wie geht es euch?"

"Uns geht es gut! Seit dein Vater im Ruhestand ist, geht er mir nur manchmal auf die Nerven. Aber ich weiß ihn schon zu beschäftigen. Außerdem hilft er Randolph zweimal die Woche in der Praxis."

Randolph war sein Bruder und lebte seit Kurzem wieder in Cardiff, sehr zur Freude seiner Mutter. Zuvor hatte er an einem Krankenhaus in Schottland gearbeitet.

"Wie geht es Ran und seiner Familie?" Er nannte seinen Bruder immer schon Ran. Aber wenn man ihn Kev nannte, wurde er grantig. Das mochte er gar nicht, was seinem Bruder aber egal war.

"Ach, denen geht es allen gut. Du solltest dich einmal wieder bei ihm melden."

"Ja, ich weiß, aber ich hatte viel zu tun. Du weißt ja, wie das ist."

"Ja, ich weiß, wie das ist, leider. Du hättest wie dein Bruder Arzt werden sollen und nicht zur Polizei gehen! Dann hättest du mehr Zeit."

Es war immer das Gleiche, dachte Kevin. Dass er damals sein Studium aufgegeben hatte, um zur Polizei zu gehen, das passte seiner Mutter immer noch nicht.

"Wohin fährst du eigentlich genau?"

"Nach Cornwall, aber das sagte ich doch schon."

"Ich hatte es vergessen, entschuldige."

"Macht ja nichts. Wolltest du etwas Besonderes? Ich muss wirklich noch packen."

"Weißt du schon, wer alles dabei ist? Vielleicht eine nette, junge Frau?"

"Mutter! Bitte nicht schon wieder! Wenn du wieder damit anfängst, lege ich gleich wieder auf." Seit seiner kurzen Ehe, die nicht funktioniert hatte, ging ihm seine Mutter immer wieder damit auf die Nerven. Sie hatte sogar schon vermutet, dass er schwul geworden war. 

"Ja, entschuldige, ich bin ja schon still, aber fragen darf ich ja wohl einmal, ich bin immer noch deine Mutter!", schob sie trotzig hinterher.

Kevin grinste. Sie konnte es einfach nicht lassen.

"Na, dann werde ich dich nicht weiter stören. Einen schönen Urlaub und schreib eine Karte.  Schöne Grüße von deinem Vater, und melde dich einmal bei deinem Bruder!"

Kevin ließ seinem Vater noch schöne Grüße ausrichten und beendete das Gespräch.

Er ging in das Schlafzimmer und wuchtete den Koffer, der auf dem Schrank lag, herunter.

Dann musste er sich erst einmal ein feuchtes Tuch holen, um den Staub wegzuwischen, der sich angesammelt hatte. Er öffnete seinen Schrank und stand ratlos davor. Handtücher und solche Dinge brauchte er wohl nicht mitzunehmen. Aber für zwei Wochen konnte ein Koffer vielleicht etwas wenig sein, überlegte er. Soweit war er aber noch nicht. Er begann T-Shirts, Unterwäsche und zwei Pullover aus dem Schrank zu holen und sie in den Koffer zu packen.

Dann nahm er sich zwei Jeans und zwei andere Hosen und legte sie dazu. Er wusste immer noch nicht so richtig, was er einpacken sollte. Schlafanzug brauchte er auch nicht. Er schlief immer nur in Shorts und T-Shirt. Im Bad packte er noch Zahnbürste, Rasierer und was er da sonst noch brauchte, in eine Kulturtasche und warf sie zu den anderen Sachen im Koffer.

Das Sakko wollte er nicht mit in den Koffer geben, damit es nicht so zerknitterte. Dafür wollte er noch eine Extratasche mitnehmen. Eigentlich war er schnell fertig damit und sah sich noch einmal suchend um, was er noch einpacken könnte. Seinen MP3-Player würde er so mitnehmen. Auf seine Musik wollte er nicht verzichten. Er war nicht neugierig darauf, wer alles mitfahren würde. Er rechnete damit, dass wohl hauptsächlich ältere Leute dabei sein würden. Für junge Leute war die Reise durch Cornwall bestimmt nicht so interessant. Alt war Kevin auch noch nicht, aber er wollte lieber seine Ruhe haben. Da war es ihm egal, wer noch dabei war. Er schloss den Koffer und stellte ihn mit der Reisetasche in den kleinen Flur neben die Tür. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass es bald schon Zeit zum Schlafengehen war. Um halb sechs musste er aufstehen. Die Fahrt sollte um 8 Uhr an der Victoria-Busstation losgehen. Er ging noch einmal zurück ins Wohnzimmer und wollte noch ein wenig fernsehen, als erneut das Telefon klingelte. Kevin verdrehte die Augen. "Was ist denn nun noch!", stöhnte er in der Annahme, dass es noch einmal seine Mutter war. Weit gefehlt. Es war die Privatnummer seines Chefs Sir Peter Collins. Ihm wurde angst und bange um seinen Urlaub. Er meldete sich.

"Guten Abend, Chief Inspector!", sagte Sir Peter. "Keine Panik, dass ich anrufe. An Ihrem Urlaub ändert sich nichts! Ich wollte Ihnen nur noch eine gute Reise wünschen. Machen Sie sich zwei schöne Wochen, und denken Sie nicht an die Arbeit. Mit Constabler Stanton und Sergeant West werde ich schon klarkommen. Meine Frau lässt Sie auch herzlich grüßen."

"Das ist nett von Ihnen, Sir!", bedankte sich Kevin. "Ich werde die zwei Wochen genießen, das kann ich Ihnen versichern. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Notfalls haben Sie und auch Sergeant West ja meine Handynummer." Sir Peter wünschte noch einmal alles Gute und beendete das Gespräch.

Wenn jetzt noch einmal das Telefon klingelt, gehe ich nicht mehr ran, beschloss Kevin.

Zum Glück brauchte er sich nicht daran zu halten. Es rief niemand mehr an. Um kurz vor zwölf schaltete er den Fernseher aus und ging schlafen. Den Wecker hatte er vorhin schon gestellt, also würde er nicht verschlafen. Bevor er das Licht löschte, ging er in Gedanken noch einmal durch, ob er auch an alles gedacht hatte. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch vergessen haben könnte. Plötzlich fielen ihm seine Reiseunterlagen ein. Er sprang aus dem Bett und durchwühlte den kleinen Tisch, der im Flur stand. Gott sei Dank fand er die Unterlagen schnell und legte sie auf den Koffer.

2

 

Barbara Schumacher saß nicht gerade auf heißen Kohlen, aber sie war froh, dass sie morgen hier wegkam. Barbara war 29 und kam aus Deutschland. Sie wollte ein paar Wochen Urlaub in England verbringen. Im Augenblick wohnte sie bei Logan Willis. Die beiden kannten sich schon seit vier Jahren über eine Brieffreundschaft. Zu einem Treffen war es bis jetzt aber noch nicht gekommen. Jetzt aber, da Barbara sich für eine Reise durch Cornwall entschlossen hatte, hatte sie sein Angebot wahrgenommen, ihn einige Tage zu besuchen. Die Reise war eine spontane Entscheidung von Barbara gewesen. Die Anzeige des kleinen Reiseunternehmens hatte sie beim Surfen im Internet gesehen. Die Reise war zwar teuer, aber sie hatte etwas Geld geerbt, und sonst war sie auch sehr sparsam, weil sie alleine lebte.

Mittlerweile ging ihr Logan ganz gewaltig auf die Nerven, und sie war froh, dass morgen die Fahrt nach Cornwall losging.

Logan war ein schmächtiger Bursche und sah auch nicht besonders gut aus. Ihr Typ war er jedenfalls nicht. Logan war 27, hatte rote Haare und etwas im Gesicht, was wohl einen Bart darstellen sollte. Er hatte einen Job in einem Supermarkt, den ihm sein Sozialarbeiter, bei dem er sich alle zwei Wochen melden musste, besorgt hatte. Dass Logan vorbestraft war, hatte er Barbara nie erzählt. Und auch jetzt ließ er sie im Ungewissen. Dass er aber in einer Tierschutzorganisation tätig war, das hatte er Barbara geschrieben. Ihr Name war Free All Animals. Dort verbrachte Logan seine gesamte Freizeit. Deswegen hatte er wohl auch keine anderen Freunde und Bekannte.

Jetzt saßen sie sich gegenüber und aßen etwas zu Abend.

"Ich könnte kotzen, wenn ich das wieder sehe", sagte er gerade zu Barbara, die in eine gefüllte Pastete biss.

"Wenn du was siehst?", fragte sie ihn.

"Na, dass du Fleisch isst!" Logan war strenger Veganer, der sogar schon einmal in ein Steakhouse gestürmt war und den Gästen die Steaks auf den Boden geschmissen hatte.

"Weißt du was? Lass mich mein bisschen Fleisch essen und futtere du dein Grünzeug. Du gehst mir auf die Nerven damit." Logan sah sie böse an.

"Weißt du auch, wie ungesund das ist? Wegen Menschen wie dir müssen Tiere sterben und werden gequält, nur damit du Käse und Honig und so essen kannst!"

"Also weißt du, du hast ja manchmal echt einen Knall!"

"Das sagst du, aber warte einmal ab, was ich geplant habe! In ganz England wird man von mir reden!"

Barbara sah ihn an. Sie beschloss, die Brieffreundschaft langsam aber sicher zu beenden.

Wer wusste, was er vorhatte. Er hatte schon einmal angedeutet, dass er die Tiere im Londoner Zoo freilassen wollte. Sie hoffte, dass er das machen würde, wenn sie weit weg wäre, am besten zurück in Deutschland. Einmal hatte er sie in den vier Tagen, die sie jetzt bei ihm war, zu einem Treffen der Organisation mitgenommen. Selbst dort hatte er alle beleidigt, die tierische Produkte gegessen hatten, selbst wenn es Käse war oder Butter oder - noch viel schlimmer - Eier.

Das ging in Logans Augen gar nicht. Na ja, ihr sollte es egal sein. Morgen wäre sie weg.

"Willst du wirklich auf diese Fahrt mit diesen alten Spießern und Fleischfressern gehen?"

"Also, ob das Spießer sind, weiß ich nicht. Ich kenne ja noch niemanden. Und selbst wenn es Spießer sind, ist es mir auch egal, mich interessiert die Landschaft!"

" Na, du wirst schon sehen, was du davon hast. Es wäre besser, du würdest hierbleiben und mir bei etwas Sinnvollem helfen."

"Ne du, das zieh einmal alles alleine durch, ich hab andere Pläne."

"Und was sind das für welche?"

"Das werde ich dir bestimmt nicht auf die Nase binden. Und außerdem war die Reise zu teuer, um sie sausen zu lassen."

"Na ja, das musst du ja wissen. Aber du wirst etwas verpassen, das garantiere ich dir."

"Wenn es so etwas Besonderes ist, dann werde ich das ja irgendwie mitbekommen, oder?"

"Das bestimmt. Soll ich dich morgen früh zum Busbahnhof bringen?"

"Nein. Erstens, wie soll das gehen mit deinem Motorroller? Und zweitens habe ich einen Koffer dabei, wenn du dich erinnern solltest. Ich fahre mit der U-Bahn. Aber danke für das Angebot."

"Na gut, dann nicht. Du musst ja sowieso früh los."

Damit war das geklärt.

Logan sah hinüber zu Barbara. Sie wäre ja schon sein Typ, aber irgendwie traute er sich nicht an sie heran. Sie wirkte auf ihn unnahbar, so als hätte sie etwas gegen Männer. Aber wie eine Lesbe wirkte sie auch nicht. Aber Logan hatte auch nicht die meiste Erfahrung mit Frauen.

Vielleicht war das ja so bei den Frauen. Logan freute sich auf das, was er vorhatte. Er hatte niemandem etwas davon erzählt, auch nicht bei den Treffen der Tierschutzorganisation.

Er hatte nicht nur Probleme mit Frauen, sondern mit Menschen im Allgemeinen. Er hatte auch keine leichte Kindheit gehabt. Ob es daran lag, wusste er nicht. Sein Vater war ein Säufer gewesen, seine Mutter hatte sich auch nie wirklich um ihn gekümmert, und in der Schule wurde er gehänselt wegen seiner roten Haare. Zu seinen Eltern hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. Vielleicht hatten sie sich ja schon totgesoffen. Deswegen fing es bei ihm auch schon in der Schule an, dass er immer öfter in Prügeleien verwickelt war. Dann kamen so nach und nach diverse kleine Diebstähle. Danach wurde er auf Free All Animals aufmerksam. Dort fühlte er sich wohl und unter seinesgleichen. Na gut, nicht so richtig unter seinesgleichen, weil es dort Leute gab, die immer noch tierische Produkte zu sich nahmen.

Verstehen konnte er das nicht, aber er konnte sich damit arrangieren. Er war auch immer der Erste, wenn es darum ging, die Leute zum Verzicht auf alles Tierische zu bekehren.

Er selbst trug nur Kleidung aus Baumwolle und Leinen. Er hatte sogar stricken gelernt, um sich seine Pullover selbst zu stricken. Schuhe gab es für ihn nur aus Synthetik.

Das erste Mal kam er mit der Justiz in Kontakt, als er auf einem Londoner Markt den Stand einer Metzgerei verwüstet hatte. Dann hatte er den Vertreter eines Pharmakonzerns verprügelt. Später war er in verschiedenen Filialen einiger Hamburgerketten aufgetaucht und hatte die Leute angepöbelt, bis dann die Geschichte in dem Steakhouse passierte. Selbst seine Kollegen bei Free All Animals fanden seine Aktionen schon reichlich heftig. Aber rausschmeißen wollten sie ihn auch nicht, da er doch sehr brauchbar war. Er scheute sich vor keiner Arbeit und war eh fast jeden Tag nach dem Job in den Räumen der Organisation zu finden. Wenn er einmal nicht dort anzutreffen war, gammelte er meistens in irgendwelchen Parks herum oder putzte seinen Motorroller, der auch schon bessere Jahre gesehen hatte. Aber wenigstens konnte er ab und an ein bisschen durch die Gegend fahren und auskundschaften, wo man eine Aktion starten konnte. Seit letzter Woche hatte er eine Zoohandlung im Visier. Er hatte vor, dort einzusteigen, um die Tiere freizulassen. Sein großer Plan, den er irgendwann einmal verwirklichen wollte, war der mit dem Londoner Zoo. Aber das war noch in weiter Ferne. Er musste für den Plan noch andere gewinnen. Der war dann doch eine Nummer zu groß für eine Person alleine. Aber zuerst war die Sache wichtiger, die er jetzt geplant hatte. Seit Barbara hier war, hatte er seine Pläne ruhen lassen. Er musste vorsichtig sein, dass ihm niemand seine Idee stehlen würde und vor ihm handelte. Er wollte den Ruhm für sich einstreichen.

Eine kurze Zeit saßen Barbara und Logan noch zusammen und schauten ein wenig fern. Barbara sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach zehn. "Du kannst ja noch weiter schauen, aber ich gehe ins Bett, ich muss ja früh raus", sagte Barbara und wünschte Logan eine gute Nacht.  Logan murmelte irgendetwas vor sich hin und hob nur die Hand.

Barbara zuckte mit den Schultern und verschwand im Schlafzimmer. Logan hatte ihr sein Schlafzimmer zur Verfügung gestellt, solange sie bei ihm war. Er schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa. Barbara zog sich aus und legte sich ins Bett. Einiges schoss ihr durch den Kopf.

Sie hatte ja eigentlich vorgehabt, wenn sie aus Cornwall zurück war, noch zwei Wochen bei Logan zu bleiben. Ihr Urlaub dauerte insgesamt vier Wochen. Barbara hatte geplant, ihm dafür etwas zu zahlen, denn Geld hätte Logan gut gebrauchen können. Aber seitdem sie nun hier bei ihm war, war sie doch von dem Gedanken abgekommen. Sie hatte ja gewusst, dass Logan Veganer und Mitglied in einer Tierschutzorganisation war, aber dass er so ein Spinner war, das hatte sie nicht gewusst. Barbara hatte es ja auch nicht so einfach gehabt in ihrem Leben. Trotzdem war sie noch normal geblieben. Sie hatte einen Beruf, der ihr gefiel und ihr Spaß machte. Barbara fand es nur immer noch traurig, dass sie ihre Eltern nie kennengelernt hatte. Ihre Mutter war drei Monate nach ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und ihren Vater kannte sie nicht. Der hatte das Weite gesucht, als ihre Mutter mit ihr schwanger war. Ihre Mutter war schon in den Vierzigern, als sie zur Welt kam.  Aufgezogen hatte Barbara ihre Großmutter, die mit über achtzig vor zwei Jahren gestorben war. Auch Barbara selbst hatte irgendwie Pech mit Männern. Ihre Großmutter hatte sie immer vor Männern gewarnt. Männer wollten immer nur das eine, sagte sie. Erst hängen sie dir ein Kind an, dann sind sie weg. Im Augenblick hatte sie auch keinen festen Freund. Ab und zu einmal etwas fürs Bett war schon in Ordnung, aber mehr wollte sie auch nicht. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, dass auf ihnen ein Fluch liegen würde, was sie natürlich nicht glaubte. Sie öffnete das Medaillon, das sie um den Hals trug. Darin waren eine Locke von ihrer Mutter und ein Bild ihrer Großmutter. Bilder ihrer Mutter hatte sie zu Hause in ihrer Wohnung. Sie hatte eben eine stärkere Bindung zu ihrer Großmutter gehabt. Ihre Großmutter hatte sich so gut um sie gekümmert, wie es eben ging. Als Barbara noch klein war, ging das alles gut. Ihre Oma hatte immer ein offenes Ohr für sie und ihre Probleme. Eigentlich hatte sie ja studieren wollen, aber daraus wurde dann nichts, weil sie nach einem Schlaganfall ihre Oma pflegen musste. Da war an ein Studium nicht mehr zu denken. Warum ihre Großmutter nie verheiratet gewesen war, hatte sie auch nur erfahren, als sie nach deren Tod die Tagebücher gelesen hatte. Sie wusste daher, dass ihre Großmutter sitzen gelassen wurde. Es war kurz nach Kriegsende gewesen. Sie wusste auch von wem. Aber das ging nur sie alleine etwas an. Den Urlaub, den Barbara jetzt vor sich hatte, konnte sie sich auch nur leisten, weil sie sparsam lebte und von ihrer Oma etwas geerbt hatte. Ihre Großmutter hatte die ganzen Jahre über Geld bekommen, obwohl ihr damaliger Freund von ihr gefordert hatte, das Kind abzutreiben. Das war aber nie infrage gekommen. Genau das Geld hatte ihre Oma nie angefasst. Deswegen war eine hübsche Summe zusammengekommen.

Im Grunde genommen hatte sie das Geld dafür bekommen, dass ihre Großmutter nie mit dem Kind in England auftauchen sollte. Barbara aber wusste nicht, warum sie sich daran halten sollte. Sie war schließlich ein freier Mensch und würde sich von so etwas nie abhalten lassen. All das ging ihr durch den Kopf, als sie versuchte einzuschlafen. Inzwischen war es schon nach zwölf, und sie konnte irgendwie nicht einschlafen. Auch die komischen Andeutungen von Logan gingen ihr durch den Kopf. Weshalb sie sich darüber Gedanken machte, wusste sie nicht. Der sollte doch sein eigenes Süppchen kochen und sie in Ruhe lassen. Endlich schlief sie dann doch ein, bis um halb sechs der Wecker bimmelte.