Kadir, der Krieg und die Katze des Propheten

Benno Köpfer / Peter Mathews

Kadir, der Krieg und die Katze des Propheten

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Benno Köpfer / Peter Mathews

Benno Köpfer studierte Ur- und Frühgeschichte sowie Islamwissenschaften in Freiburg, Kairo und Sanaa. Er arbeitet als wissenschaftlicher Analyst beim Verfassungsschutz mit an der Bekämpfung islamistischen Terrors. Die Idee zu diesem Buch bekam er nach langen Gesprächen mit ratlosen Eltern, deren Söhne nach Syrien, ins Gebiet des IS, reisen wollten.

 

Peter Mathews hat seit 30 Jahren Bücher, über ein Dutzend Romane, Kriminalromane, aber auch Sach- und Drehbücher geschrieben. Er hat Volkswirtschaft studiert, war Werber, Verleger und hat sich mit der Geschichte des Islam und der Türkei über viele Jahre beschäftigt.

Über das Buch

Im Fußball hätte er vielleicht Karriere machen können, aber Kadir entscheidet sich anders. Nachdem er die Brüder vom Kulturverein kennengelernt hat, radikalisiert er sich immer mehr und rutscht ab. Irgendwann zählen seine alten Freunde nicht mehr, auch Mark nicht, mit dem er seit Kindertagen abhing. Stattdessen bricht er nach Syrien auf. Er will IS-Kämpfer werden. Eine dunkle Reise beginnt.

Impressum

1. Auflage 2021

2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

© 2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign | Lisa Höfner

Umschlagmotive: Getty Images / Joel Gerone Larupay / EyeEm und shutterstock.com

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43038-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-62746-7

 

ISBN (epub) 9783423430388

Fußnoten

(https://www.welt.de/regionales/hamburg/article155940036/Hamburger-IS-Kaempfer-fuer-Attentat-verantwortlich.html 3.6.16)

(https://www.welt.de/regionales/hamburg/article 155700247/Warum-Pastor-Wilms-Kirche-auch-um-IS-Kaempfer-trauert.html)

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Terroranschlag _in_Wien_2020

Quelle: https://www.focus.de/politik/sicherheitsreport/verfassungsschutz-studie-jung-extrem-fanatisch-warum-deutsche-frauen-in-den-is-terrorkampf-ziehen_id_ 11376652.html

Hells Bells

Wie viele Leben hat eine Katze? Kadir, der sich ABU HUREIRA, Vater des Kätzchens, nannte, hatte alle Leben aufgebraucht. Jetzt, am Ende seines Weges, sollte Blut fließen. Blut im Krieg für seinen Gott.

Das war verdammt noch mal nicht witzig. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben beschissene Angst. Eine andere Angst als in der Achterbahn oder bei einem Horrorfilm, wo alles explodiert, Arme und Autos durch die Gegend fliegen und die Helden sich nach dem Weltuntergang einen Splitter aus dem Auge wischen, als wäre nichts passiert. Es war eine Angst, bei der dich jemand von innen würgt, dir der Atem wegbleibt und die Füße keinen Boden mehr spüren.

Kadir wollte sich auf das höchste Level, das er Paradies nannte, bomben und alle um ihn herum in die Hölle schicken. Er schrie »Allahu Akbar, Gott ist groß!«. Und an seinem Blick sah ich, dass er es ernst meinte, sich aber gleichzeitig nichts sehnlicher wünschte, als dass ihn jemand von seinem Vorhaben abhielt. Er streckte sein Handy in die Höhe, den Zeigefinger gen Himmel gerichtet, den Daumen über der Tastatur wie einen Finger am Abzug. Zwischen seinen Beinen stand die verdammte Sporttasche. Wieso, zum Henker, wollte Kadir im Trainingsanzug sterben?

Kadir liebte den Anzug mit den drei Streifen, da war er schon immer eigen. Er hatte einmal mit mir den Verein gewechselt, nur weil wir als Ablöse einen Trainingsanzug, zwei paar Treter und eine Sporttasche bekamen. Jetzt trug er den Anzug wie eine Ritterrüstung oder eine Uniform. War er Lancelot oder Rambo? Jedenfalls war das nicht mehr Kadir, sondern ein gehirngewaschener Alien, der vor seinem Tod Katzen fütterte und sich und andere in die Luft jagen wollte. Zum Lobe des Herrn.

MAMA, DU SOLLST DOCH NICHT UM DEINEN JUNGEN WEINEN. Diese Uraltschnulze, die eigentlich nur noch Rentner kannten, hatten Kadir und ich manchmal nach einem Spiel gesungen, wenn wir unsere Gegner auf dem Platz schwindelig kombiniert hatten und die sich in der Nachbarkabine grämten und ihre Beine zu entknoten versuchten. Ich wusste nicht, warum mir in diesem Augenblick das blöde Heintje-Lied in den Sinn kam.

Wir standen vor dem Millerntor-Stadion in Hamburg St. Pauli. Vor dem Eingang drängten sich die Fußballfans, die das Spiel ihrer Mannschaft sehen wollten. Die B-Jugend unseres Vereins hatte für dieses Spiel Freikarten bekommen, und wir freuten uns auf den Kick und die Show im Stadion. Kadir war wie so oft zu spät gekommen. Unser Trainer Harry nannte ihn deshalb auch den »Schläfer«. Eigenartigerweise trug er seinen Trainingsanzug und hatte seine Sporttasche dabei. Er hatte seine Kapuze weit über die Stirn gezogen und war ganz ernst und kaum ansprechbar gewesen, als Harry ihm die Karte gab. Kadir war in den letzten Wochen manchmal so. Wir sagten uns, er braucht noch Zeit, denn er hatte wohl einiges Schlimmes erlebt. Da wollten wir ihn nicht auch noch aufziehen mit seinem Rumgezicke. Am Eingang sagte der Ordner: »Damit kommst du hier nicht rein.« Das hätte Kadir wissen müssen, dass er nicht mit einer Tasche in ein voll besetztes Stadion kommen würde. Sonst würden die Hools mit ihrer Pyrotechnik ständig Feuerwerk und Nebelkerzen zünden. Oder ihr Bier mitbringen. Echt naiv von Kadir.

Er hatte sich daraufhin wortlos umgedreht und war zurück vor das Stadion gegangen, direkt vor den Eingang. Nun stand er auf dem Vorplatz, die Tasche zwischen seinen Beinen, hob beide Hände vor die Brust und blickte gen Himmel. Er betete.

Ich war ihm gefolgt, in der Hoffnung, ihn überreden zu können, die blöde Tasche an der Garderobe abzugeben oder sie bei Harry ins Auto zu packen. Die Zeit drängte, denn wir waren spät dran und das Spiel würde bald angepfiffen. Aber Kadir war schon ganz woanders. Er hatte einen finalen Plan.

Plötzlich brach Hektik aus. Polizeisirenen heulten, auf der Straße hielten Mannschaftswagen der Polizei, und Polizisten in schwarzen Kampfmonturen mit Gewehren sprangen aus den Autos. Kadir bemerkte das, riss sich die Kapuze vom Kopf und die Jacke auf. Es schien so, als fühlte er sich ertappt. Er blickte sich um, suchte nach einem Ausweg, aber es gab keinen. Er trug ein schwarzes Stirnband mit arabischen Zeichen drauf und ein schwarzes T-Shirt mit dem Bild eines Wolfes. Er reckte den rechten Arm in die Höhe, den Zeigefinger gen Himmel. Am Arm eine dicke Uhr und in der Hand ein Handy. Er schrie: »ALLAHU AKBAR.« Die Polizisten stoppten sofort ihren Sprint, orientierten sich und scheuchten die Leute vom Platz. Sie richteten ihre Waffen auf Kadir.

In diesem Moment läutete aus dem Stadionlautsprecher die große Glocke BBBOING einmal, BOOOING zweimal, BOIIING dreimal, BOINGGG viermal. Ein Gitarrenriff dröhnte durch die Luft. Im Stadion hatte einer »Hells Bells« von AC/DC aufgelegt. Damit liefen die Mannschaften bei St. Pauli durch einen weißen Tunnel ins Stadion ein. Aber so weit war es doch noch gar nicht. Jetzt dröhnte das in voller Lautstärke durch die Arena und über den Platz. HELLS BELLS. Waren das die Totenglocken oder ein IS-Terror-Wunschkonzert? Glockenläuten. Schlagzeugbeats, Gitarrenriffs. Nach einer gefühlten Ewigkeit die Stimme des AC/DC-Sängers Brian Johnson, die sich anhörte, als würde jemand ein Motorrad ohne Bremsbeläge stoppen.

I’m a rolling thunder, a pouring rain / I’m comin’ on like a hurricane /White lightning’s flashing across the sky / You’re only young but you’re gonna die / Ich mache keine Gefangenen, schone niemanden / Keiner, der sich mir widersetzt / Mit dieser Glocke nehme ich dich mit in die Hölle / Ich werde dich kriegen, Satan kriegt dich.

Kadir war in diesem Moment der Herr der Höllenkatzen. »HELLS BELLS.« Ein Schrei aus Tausenden Kehlen. Die Musik brach plötzlich ab. Stille. Ein Mikrofon quietschte, und eine sehr beherrscht klingende Stimme sagte: »Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei. Bitte verlassen Sie sofort das Stadion. Bitte verlassen Sie sofort das Stadion über die Ausgänge zum Heiligengeistfeld. Benutzen Sie nicht die Ausgänge Richtung Feldstraße.«

Ein Aufschrei und endlose Buhrufe hallten herüber. Hier wurden Männer um ihren Sonntag, den Sinn ihrer Woche, gebracht. Und das von der Polizei, also vom Staat, den man noch nicht einmal für zuständig hielt, wenn es darum ging, den Verkehr auf der Straße und zwischen den Geschlechtern zu regeln. Jetzt wollte die Bullerei die Fans so einfach nach Hause schicken. Protest, Widerstand, Rebellion. Viele wollten bleiben. Sie ahnten nicht, dass sie mit ihrem Leben spielten.

Denn Kadir hielt sein Handy in die Höhe und den Daumen über der Tastatur, im Gesicht die große Leere. Um ihn herum das Chaos. Die Leute hatten ihre Fahnen und Pappbecher weggeworfen, sonst heilige Dinge. Kadir stand allein mitten auf dem Platz vor dem Eingang. Alles rannte durcheinander, flüchtete, schrie. Die Polizei versuchte, den Platz zu räumen. Keiner wollte mit auf diesen Trip, viele wussten aber nicht, wohin.

Ich hätte auch wegrennen sollen, denn die GROSSE SCHEISSE war im Anmarsch, und je weiter ich mich von Kadir entfernen konnte, desto wahrscheinlicher war es, dass ich diese Himmelfahrt überleben würde. Doch ich machte genau das Gegenteil. Ich hatte Angst, aber anstatt wegzurennen, rannte ich auf Kadir zu, der vielleicht fünfzig Meter entfernt war. Ich rannte im wahrsten Sinne des Wortes um mein und Kadirs Leben und hoffte, schneller als der Freund mit seiner Himmelsbotschaft zu sein. Ich wusste nicht, warum ich es tat. Meine Füße dachten für mich. Vielleicht glaubte ich, ich könnte es verhindern, weil ich doch der Einzige war, der wusste, wie es um Kadir stand. Ich fühlte mich schuldig, weil dieser Selbstmörder doch mein Freund war. Aber in Wahrheit dachte ich in diesem Moment an gar nichts. Ich rannte und hoffte, dass ich ihn erreichen und umgrätschen konnte, bevor Kadir oder die Polizisten abdrückten. Auch wenn es mich erwischen sollte. Es war so ernst wie ein Endspiel, ach was, es war das Endspiel. Ich stand auf Mädchen, aber nicht auf 72 oder wie viele Jungfrauen auch immer, von denen Kadir und seine »Brüder« immer quatschten und dann doch, wie sie sagten, »beste Fleisch« nachgafften.

Ich rannte an einer Mauer mit Graffiti entlang, da vorne war Kadir, der Terrorist. Über ihm hing eine schwarze Fahne mit einem weißen Totenkopf und dem St.-Pauli-Emblem darauf. Daneben hatte jemand auf die Wand gesprüht »Das Beste zum Schluss«. Wenn das lustig sein sollte, war ich ab sofort ein Spaßverderber. Ich lebte und rannte, ich wollte in die Zukunft und wurde in Gedanken doch Schritt um Schritt jünger, bis ich wieder sechs Jahre alt war und wie damals auf dem Bolzplatz Kadir das erste Mal von den Beinen holte. Gegen seine Schnelligkeit wusste ich mir nicht anders als mit einer Blutgrätsche zu helfen. Ich rannte, und Kadir schrie: »Allahu Akbar. Gott ist groß.«

1 Wo ist Kadir?

Das Endspiel

Ich hatte gehört, angesichts des Todes würden im Kopf wie im Zeitraffer die Stationen des Lebens ablaufen. Während ich rannte, zeigte mir mein Kopfkino noch einmal als Film, wie ich in diese Scheiße geraten war. Was Kadir hier vor dem Stadion am Millerntor zu Ende bringen wollte, hatte ein halbes Jahr vorher begonnen.

Ich stand damals mit den anderen aus der Mannschaft auf dem Parkplatz vor dem Vereinsheim des Fußballvereins HEBC in Hamburg-Eimsbüttel. Aus der Tür der Vereinskneipe zog der Geruch von Bier und wehten Fetzen eines Helene-Fischer-Songs herüber. Es war Samstag, dreizehn Minuten nach zwölf Uhr. Einige der Jungs rieben sich noch den Schlaf aus den Augen, denn samstags war für Männer um die sechzehn selbst Mittag noch recht früh. Vor ihren Füßen die Sporttaschen mit den Schuhen und Trikots, in der Mitte ein Netz mit Bällen, am Rand zwei Väter, die uns zum Spiel fahren wollten. Wir warteten auf Kadir, denn Kadir fehlte.

Harry, der Trainer, zog an seiner Zigarette. Ganz langsam und ausdauernd, die Glut der Kippe wurde lang und hell. Das war kein gutes Zeichen. Wenn Harry so rauchte, brannte die Hütte. Ich versuchte zum siebten Mal, Kadir per Handy zu erreichen. Aber sein Anschluss war mausetot. Noch nicht einmal die Sprachbox sprang an. Ich schickte ihm eine SMS: »Kadir, wo bleibst du? High Noon ist Treffen! Endspiel!« Nichts.

Harry schmiss den Glimmstängel auf den Boden und trat ihn aus. Er zog den Zipper an seiner Lederjacke hoch, guckte in die Runde und fragte: »Sonst alle da?« Nicken und Grummeln rundum. Alle wussten, nun ist Schicht. Zuspätkommen war bei Harry schlimmer als ein Eigentor schießen. Oder auf dem Feld die Position verlassen. Er musste gar nichts mehr sagen, denn jeder wusste, dass Kadir sich soeben selbst ausgewechselt hatte. Die Regel lautete, wer zu spät zum Treffen kommt, läuft pro Minute eine Platzrunde extra. Wer fünfzehn Minuten zu spät kommt, ist für diesen Tag raus aus der Mannschaft.

Kadir war raus. Und das ausgerechnet zu diesem Spiel. Auch wenn er jetzt noch um die Ecke gehetzt käme, würde Harry ihn auf die Bank setzen. Er müsste schon eine verdammt gute Ausrede haben, um begnadigt zu werden. Zu behaupten, die Oma wäre gerade gestorben, würde nicht reichen. Für Harry war Fußball kein Spiel. Wie für die meisten, die hier auf dem Parkplatz standen, war es das Leben an sich. Heute wollten wir um den Aufstieg in die B-Jugend Verbandsliga spielen und könnten – bei Erfolg – Vereinsgeschichte schreiben. Ohne Kadir würde das verdammt schwer werden. Denn Kadir spielte auf der Sechs, in der Mitte hinten, er war ein sogenannter Schlüsselspieler, den jede Mannschaft braucht. Die einen haben einen Messi oder Ronaldo, wir hatten Kadir – und mich. Aber ohne Kadir war ich eben nur ein halber Messi. Kadir war auf dem Platz so etwas wie meine Lebensversicherung. Er hatte die Fähigkeit, einen Gegner »aus dem Spiel zu nehmen«, das heißt, er konnte jemandem auf den Füßen stehen und ihn buchstäblich »zustellen«, sodass der den Ball gar nicht erst bekam. Kadir räumte hinter mir ab, sicherte, schob mir den Ball perfekt in den Lauf, und ich machte dann was damit. Kurzer Pass, langer Ball, Seitenwechsel. Was man so macht, um nach vorn zu kommen und das Spiel zu machen. Ohne Kadir spielte Lukas auf der Sechser-Position. Lukas war eher der Typ Grobmotoriker. Er konnte den Gegner stellen und stoppen und die Pille weghauen. Aber den Ball auflegen, hinten rausspielen, das war nicht sein Ding. Wir nannten Lukas auch »Hölzenbein« nach dem legendären Spieler von Eintracht Frankfurt, der besser flog als lief. Aber nur, um ihn nicht Holzbein zu nennen, was die ehrlichere Bezeichnung gewesen wäre.

Harry sagte: »Mark, Lukas, Bernd, ihr fahrt bei mir mit. Die anderen verteilen sich auf die Wagen. Vergesst die Bälle nicht.« Der Tross setzte sich in Bewegung.

Kaum war der Wagen auf die Fruchtallee eingebogen, legte Harry auch schon los. »Mark, du musst heute hinten mehr helfen. Lukas, du suchst Mark und achtest darauf, wo er den Ball hinhaben will. Nicht nur raushauen, mit Köpfchen spielen. Bernd, weil Mark hinten absichern muss, will ich dich für zwei laufen sehen. Hol dir den Ball. Verstehst du? Wechsel öfter mal die Seiten und lauf dich frei, damit Mark dich leichter findet.«

»Ja, Trainer«, sagte Bernd, der sowieso nichts lieber tat, als rumzurennen. Lukas ahnte, dass es heute auf ihn ankam. Er nickte schwer, und ihm war die Aufregung an seinen Ohren anzusehen.

»Was ist mit Kadir?«, fragte Harry plötzlich. »Hat der eine Freundin, oder was?« Bernd lachte.

»Eher nicht«, sagte ich. »Der arbeitet jetzt viel bei seinem Onkel im Supermarkt.«

»Glaube ich jetzt nicht.«

»Doch, er muss arbeiten. Sein Vater ist doch abgehauen.«

»Holy Moly«, sagte Harry vor sich hin. »Dabei weiß sein Vater doch, wie gut Kadir ist. Etwas verrückt, aber verdammt talentiert. Aber ohne professionelle Einstellung wird das nichts. Unfassbar, dass er uns hängen lässt.« Damit war das Thema Kadir für Harry durch. Harrys Weltsicht war einfach. Es gab Fußball und dann noch mal Fußball. Und was dann kam, war ihm egal.

Als wir in Bergedorf unsere Gegner sahen, wussten wir, dass es schwer werden und Kadir uns definitiv fehlen würde. Zuerst dachten wir noch, das sei ein Irrtum, aber da stand ein unbekannter Typ auf dem Platz, der von einem anderen Fußballstern zu kommen schien. Offenkundig ein Afrikaner, groß, breit, schnell. Mit dem Ball konnte der alles, das sah man schon beim Aufwärmen. Harry starrte bei der Kontrolle der Spielerpässe durch den Schiedsrichter ungläubig auf den Pass des Neuzugangs unseres Gegners. Dieser Kerl sollte erst sechzehn Jahre alt sein?

»Wo habt ihr denn die schwarze Perle her?«, fragte Harry den Betreuer der 85er.

»Wir haben einen Flüchtling aus Somalia ins Boot geholt. Richtung Curslack ist ein Heim«, sagte der und fügte entschuldigend hinzu: »Die sind alle körperlich schon etwas weiter.«

»Oder älter«, sagte Harry trocken und steckte sich eine an.

Ich hoffte die ganze Zeit, dass Kadir doch noch irgendwie kommen würde. Dass ein Cousin ihn mit quietschenden Reifen herfährt und er auf den Platz stürmt. Harry hätte ihn – trotz aller gegenteiligen Behauptungen und Regeln – spätestens nach einer Viertelstunde eingewechselt. Und er hätte den Wunderstürmer in den Griff bekommen, das traute ich ihm zu. Manchmal macht einer den Unterschied. Und der Unterschied spielte nun bei Bergedorf. Nach fünf Minuten musste Harry das Spiel umstellen, sonst wären wir von dem Wüstensturm überrannt worden. Jojo, wie die anderen den schwarzen Bomber riefen, sprach kein Deutsch und spielte wie ein Alien. Einfach klasse. Lukas lief sich einen Wolf und guckte meist hinterher, wenn der mit dem Ball am Fuß an ihm vorbeizog. Bis er frustriert war und ihn im Strafraum von den Beinen holte. Elfer. Die Perle schoss selbst. Trocken unten rechts. Null zu eins.

Harry dirigierte mich dann nach hinten. Doppeldeckung für Afrika. Aber es half nichts, denn die anderen konnten auch Fußball spielen, und Mehmet, der sonst immer trickreich für Bergedorf die Tore machte, war jetzt öfter frei und fummelte uns auch diesmal einen rein. Null zu zwei. Lukas holzte, ich rannte hinter Jojo her, und Bernd verhungerte ohne Ball vor dem Strafraum der Gegner. Es gibt solche Spiele, da geht einfach nichts zusammen, und man hofft nur noch, dass es endlich vorbei ist. Aufstieg ade. Wir schoben Frust, Harry rauchte ununterbrochen, und die Bergedorfer Väter standen mit dem satten Lächeln der Sieger am Rand. Alle klopften dem Migranten auf die Schulter, und wir Eimsbütteler Jungs waren sicher, dass wir nicht gegen Bergedorf, sondern gegen die Afrika-Auswahl gespielt hatten.

Wer weiß was?

»Kannst mich am Hauptbahnhof rauslassen«, sagte ich, nachdem wir schweigend die Rückfahrt auf Harrys Rückbank abgesessen hatten.

»Ich guck mal, ob ich Kadir finde.«

»Wer ist Kadir?«, fragte Harry mit bitterer Miene. Er meinte das ernst. Kadir war für ihn Vergangenheit.

»Wir sehen uns am Dienstag.« Ich klatschte mit Bernd und Lukas ab, warf die Sporttasche über die Schulter und latschte los Richtung Steindamm.

Im Bahnhofsviertel in Hamburg St. Georg wohnten nicht nur viele Menschen, sondern hierher kamen Touristen zu den Hotels und Leute, die sonst nicht wussten, wohin. Früher war das hier wie ein kleines St. Pauli gewesen, mit Straßenstrich und vielen Bars, aber inzwischen gab es nur noch einige Spielhallen und Sexshops, an denen verschleierte Frauen vorbeiliefen. In der nahen Böckmannstraße und am kleinen Pulverteich gab es Moscheen. Kadirs Onkel hatte hier einen türkischen Supermarkt. Vor dem Laden wurde jede Art von Obst und Gemüse angeboten und drinnen alles, was man braucht, um türkisches Essen zu kochen. Man bekam hier Kichererbsen, grünen Apfeltee, Sucuk, das ist scharfe Knoblauchwurst, und Blätterteig mit Nüssen und Zuckersirup, Baklava. Kadir jobbte hier gelegentlich, wenn er nicht in der Autowäscherei eines anderen »Onkels« arbeitete. Er musste den Laden aufräumen und den Boden wischen. Es war ihm peinlich, wenn jemand ihn dort besuchte. Er wollte nicht, dass ihn jemand beim Putzen sah.

Vor dem Laden stand Zeki, einer von Kadirs vielen Cousins. Er war für das Obst und Gemüse zuständig: auffüllen, einpacken, abwiegen und so. Zeki war achtzehn und hatte gerade den Führerschein gemacht. Deshalb durfte er, nachdem Kadirs Vater sich aus dem Staub gemacht hatte, den »Dolmus« der Familie fahren. Dolmus war der Lieferwagen, mit dem die Ware vom Großmarkt geholt wurde. Das war wiederum für Zeki bitter, denn Großmarktzeit war morgens um sechs. Ich sah, wie Zeki gerade dabei war, Auberginen auf die Waage zu packen. Er redete mit der Kundin türkisch.

»Hi, Zeki«, sagte ich. »Ist Kadir da?«

Zeki packte weiter und sagte: »Was los, Alter. Kadir hat heute Spiel. Hat frei. Was machst du hier?«

»Kadir war nicht da.«

»Was sagst du?«

»Kadir war nicht beim Treffpunkt und nicht beim Spiel. Wir haben verloren.«

Die Frau mit dem Kopftuch zeigte auf den Weißkohl. Zeki warf den Kohlkopf in die Höhe und fing ihn mit der linken Hand auf, bevor er ihn auf die Waage legte. Die Frau lachte erschrocken.

»Mist, Alter. Und wo ist er?«

»Das frage ich dich.«

»Allah, Allah, woher soll ich das wissen? Bin doch nicht Kindermädchen. Ihr habt echt verloren?«

»Ja, zwei zu null.«

»Blöd, ay. Hast mal Handy probiert?«

»Zehnmal«, sagte ich.

»Frag meinen Vater. Der sitzt in der Moschee in der Teestube.«

»Ach, nicht so wichtig«, log ich. Ich war nicht sicher, ob Zeki mir die Wahrheit sagte. Wenn die Familie dahintersteckte, würde ich nichts erfahren. Wenn nicht, würden sie mir auch nichts sagen, weil es ihnen peinlich wäre, dass jemand, der nicht zur Familie gehörte, sich mehr Sorgen um ein Familienmitglied machte als die Familie selbst.

Es war klar, dass Zeki sofort seinen Vater anrufen und berichten würde. Auch sie würden jetzt Kadir suchen. Ob ich davon etwas erfahren würde, war schwer zu sagen. Zeki wandte sich wieder seinen Kohlköpfen zu, klebte Preisschilder auf die Tüten und gab der Frau die Plastiktüten mit dem Gemüse.

»Echt verloren, Alter?« Zeki lachte. Ich dachte mir meinen Teil, denn Zeki war auch nicht gerade ein Gewinner.

»Sag Kadir, er soll sich melden«, sagte ich und klatschte Zeki ab.

»Geht klar, Alter.«

Es muss etwas passiert sein

Dass Kadir ein Spiel versäumte, war ungewöhnlich und wäre bis vor ein paar Wochen undenkbar gewesen. Ich kannte ihn seit zehn Jahren, und er hatte noch nie ein Spiel verpasst. Ja, er war unpünktlich, verschlief schon mal. Aber er war immer da, wenn es darauf ankam. Deshalb musste etwas passiert sein. Vielleicht hatte er einen Unfall und lag irgendwo im Krankenhaus. Vielleicht hatte ihm jemand K.-o.-Tropfen in die Cola getan, und er wachte irgendwann in einer Gartenlaube auf. Oder die Bullen hatten ihn mit einer Tüte voll Gras erwischt. Er hatte mal angedeutet, dass einer seiner Freunde aus dem Getto mit Stoff handelte und er als Kurier ausgeholfen hatte. Mir gingen jedenfalls einige Horrorszenen durch den Kopf, in denen Kadir die Rolle des unschuldigen Opfers spielte.

Zugegeben, Kadir war in letzter Zeit etwas komisch gewesen. Und außer beim Training hatte ich ihn selten gesehen. Er traf sich wohl oft mit anderen in einem Kulturverein. Aber das war nichts Besonderes. Jeder muss sein Ding machen.

Kadir war nach der neunten Klasse von der Schule abgegangen, weil er meinte, Abi bringe sowieso nichts und er könne viel mehr Geld verdienen, wenn er auf der Tankstelle Autos wusch und bei seinem Onkel arbeitete. Das war zum Teil eine Ausrede, denn er hatte schon ein paar Probleme in Mathe, Physik und Deutsch, eigentlich überall, außer in Sport. Jedenfalls hatte er, seitdem er arbeitete, immer die neuesten Sneakers und Caps.

Vielleicht hatte sein Verschwinden auch mit seinem Vater zu tun. Der war nämlich seit ein paar Monaten weg. »Familiensache«, hatte Kadir nur geantwortet, als ich ihn einmal danach fragte. Eigentlich konnte er doch froh sein, dass sein Alter weg war. Der war nämlich hart drauf und langte auch schon mal zu, wenn Kadir nicht so spurte, wie er es wollte. Und er war immer dabei, wenn sie ein Heimspiel hatten. Dann stand er am Spielfeldrand und schrie auf den Platz, was Kadir tun und lassen sollte. Zum Glück hörte man das nicht, wenn man spielt. Es nervte auch, dass der Alte immer auf alles wetten wollte. Jedenfalls kam da einiges zusammen: Kadir war von der Schule abgegangen, sein Vater war weg, und jetzt war er auch noch verschwunden. Komisch, so ein Gefühl, wenn der beste Freund weg ist. Ich kannte Kadir, solange ich denken kann.

Die Grätsche

Weggegrätscht hatte ich Kadir zum ersten Mal an meinem fünften Geburtstag. Ich hatte mir von meiner Mutter Marshmellows und jede Menge zu trinken (außer Cola, die war auf Mamas No-Go-Liste) gewünscht und von Paps einen Fußball. Einen echten Fifa-Ball natürlich, nicht so eine Plastikpille.

Die Katastrophe begann beim Frühstück. Ich hatte meinen Topfkuchen mit Smarties und fünf brennende Kerzen auf dem Frühstückstisch. Mamika heulte, weil der Kindsvater mal wieder nicht da war. Dabei hatte er versprochen, wenigstens am Geburtstag seines Sohns zu kommen. Aber das war bei ihm immer so, erst große Worte, dann eine Ausrede. Diesmal hieß sie: »Schaffe es leider nicht.«

Mein Papa war eigentlich schon länger ausgezogen, kam aber gelegentlich, um mich zu besuchen. Wir spielten dann immer Fußball und gingen Eis oder Pommes essen. Wenn Papa und Mamika länger als fünf Minuten alleine waren, dann stritten sie, und am Schluss heulte einer. Meist Mamika, und Papa schmiss dann die Tür zu. Von außen. Danach war er »verreist«, wie sie es nannte. Von da an sagte sie, sie sei »alleinerziehend«.

Wenigstens hatte Papa mir den Ball geschickt. Mamika ging mit mir, Kuchen und Saft zum Spielplatz. Richtig feiern wollten wir mit Oma und anderen Kindern am Wochenende. Der Bolzplatz lag zwischen der Straße mit dem kleinen Reihenhaus, in dem wir wohnten, auf der einen und der Hochhaussiedlung auf der anderen Seite. Die Hochhaussiedlung war wie eine Burg gebaut. Am Rand unterschiedlich hohe Häuser mit acht bis vierzehn Stockwerken, dazwischen Durchgänge, die in einen großen begrünten Innenhof führten. Insgesamt wirkten die Häuser zu groß und zu gleich. Und sie warfen am Abend lange Schatten bis in unseren Garten, denn sie standen in Richtung Sonnenuntergang. In den Aufgängen wohnten viele, die woandersher kamen. Türken, Araber, Vietnamesen und Russlanddeutsche. War o.k. Wir hatten damit wenig zu tun. Die Jungs, die dort wohnten, nannten das Viertel selbst »das Getto« und sich die »Gettoboys«.

Kadir war an diesem Tag der einzige Junge auf dem Bolzplatz. Die anderen Jungs aus der Siedlung waren wie vom Erdboden verschluckt. Kadir hatte nur einen elenden Plastikball, der noch nicht einmal gerade kullern, geschweige denn fliegen konnte.

Meine Mutter setzte sich auf die Bank am Rand des Spielfelds, lächelte gequält und heulte vor sich hin. Man kann alleine Fußball spielen, aber man sollte nicht. Ich schoss mit meinem neuen Ball aufs Tor, und Kadir sah mir zu. Mit einer Kopfbewegung, die bedeuten sollte »darf ich auch mal?«, nahm er einen Abpraller auf und passte ihn zu mir zurück. Ich schob den Ball vor Kadirs Füße, sodass der mit einem Schritt ausholen und aufs Tor schießen konnte. Ein Ball macht Freunde.

Ich im Tor, und Kadir schoss, dann umgekehrt. Wir spielten Einschuss. Jeder darf dabei nur ein Mal gegen den Ball treten. Nix mit Dribbeln und so. Wir spielten gefühlt zwei Halbzeiten mit Verlängerung. Unentschieden. Und dann stritten wir uns, weil ich ihn umgegrätscht hatte. Es gab Elfer. Und dann stritten wir uns, ob der Ball drin war oder nicht. Er war drin, zeigte Kadir an. Ich schüttelte den Kopf, Wiederholung. Wir stritten uns ohne Worte, ich wusste gar nicht, welche Sprache er konnte. Plötzlich nahm Kadir den Ball, schoss ihn über den Zaun und rannte los. Der Ball war weg. Ich rannte hinterher, weil ich den Ball nicht verlieren wollte. Ich stürmte ins Gebüsch.

Kadir stand da und hatte gerade den Ball aus dem Graben gefischt. Er rieb ihn an seinem Pullover sauber und reichte ihn mir. Dann war Kadir weg. So begann unsere Freundschaft.

Lass, ist Baba

Noch bevor ich in die Schule kam, war ich im Fußballverein. Mamika wollte das nicht, denn sie hatte keine Zeit und auch keine Lust, mit mir immer zum Training und am Wochenende zum Spiel zu gehen. Außerdem fand sie, Fußball sei nichts für »uns«. Was immer sie damit meinte. Sie sollte ja nicht selber spielen. Für Fußball ist dein Papa zuständig, sagte sie zu mir. Aber der war ja nicht da. Deshalb spielte ich oft allein oder traf mich mit Kadir auf dem Bolzplatz. Kadir fragte dann irgendwann, ob ich mit zum »Verein« komme. Ich zuckte mit den Schultern. Dann quengelte ich zu Hause, dass Kadir auch darf und wir zusammen gehen können.

Beim ersten Mal brachte Kadirs Vater uns zum Training, zu den Spielen fuhr er immer mit. Das mit dem Training ging so, dass ich mit meiner Sporttasche Kadir im Getto abholte. Das war auf dem Weg zum Sportplatz. Er wohnte im siebten Stock. Seine Mutter war immer zu Hause, es gab ständig etwas zu essen, und der Fernseher lief. Ganz gleich, wann und was in den nächsten zehn Jahren passierte. Ich bekam Börek, das ist so eine Teigpastete mit Hack oder Schafskäse, es gab Cola oder Apfeltee und eine Familienserie im Türk-TV. Kadirs Mutter, genannt »Anne«, das heißt auf Türkisch Mutter, war immer in der Küche und kochte. Meine Mamika kochte auch, aber schnell, abends, wenn sie von der Arbeit kam. Bei »Anne« war es immer lecker. Am leckersten waren Köfte, diese Hackfleischbällchen aus Lamm oder Rind.

Kadir hatte ein Zimmer, das aussah, als wäre er zu Hause auf Besuch. Links ein Schrank, daneben das Bett, über dem Bett die gelb-dunkelblaue Fahne von Fenerbahce Istanbul, einem Verein aus dem asiatischen Teil von Istanbul. Der wurde meist Türkischer Meister. Auf der anderen Seite ein kleiner Schreibtisch, an der Wand darüber ein Regal für die zukünftigen Pokale. Bei »Fener« sollte Kadir einmal spielen. Das war jedenfalls der Plan von Kadirs Vater Mehmet, der, wie er sagte, aus Kadiköy, dem Stadtteil von Fener, kam. Geboren war er allerdings, wie auch seine Frau, in einem Dorf in der Nähe von Malatya in Zentralanatolien. Aber alle Türken wollten lieber aus Istanbul kommen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls war Kadirs Zimmer immer aufgeräumt, denn Spielsachen wie bei mir, Lego, Playmobil oder so, gab es nicht. Und seine Mutter räumte ständig hinter ihm her, er musste nicht aufräumen oder sonst was machen. Wir haben da auch nie gespielt, den Eltern war das nicht so angenehm, wenn ein fremder Junge in der Wohnung war. Denn Meral, die ältere Schwester, war ja auch da. Und die hatte Freundinnen zu Besuch. Da gehörte es sich nicht, wenn fremde Jungs in der Wohnung sind, also mussten wir nach draußen. Die Nachbarn könnten ja reden.

Also, wenn ich Kadir abholte, zog ich die Schuhe aus, setzte mich ins Wohnzimmer vor den Fernseher und wartete, dass Kadir fertig wurde. Der Fernseher war riesig und stand neben der Schrankwand auf einer Konsole mit Spitzendeckchen. Gegenüber stand das Sofa für alle, außer für den Vater, der hatte einen Sessel mit Schonlappen auf den Lehnen. Später saß da dann der Onkel. Über dem Sofa ein Kupferbild mit arabischer Schrift und einem schwarzen Würfel; das sei die Kaaba in Mekka, wurde mir erklärt. Davor ein gekachelter Tisch, den man hoch- oder runterkurbeln konnte.

Kadirs Mutter trug auch in der Wohnung Kopftuch und sprach nicht so gut Deutsch, genau genommen sprach sie nur ein paar Worte wie »schön«, »Essen«, »gut Wetter« und so. Und ich lernte »Merhaba«, »Hos Geldiniz«, »tamam«, »ekmek«, »Çay«, »lütfen« und »güle, güle«. Und die Abla, Kadirs große Schwester Meral, übersetzte, was sonst nötig war. Dass sie an was glauben, merkte man nicht so. Kadir meinte einmal, als ich zur falschen Zeit kam: »Psst, Baba namazda«, das hieß: Vater betet. Er deutete mit dem Kopf Richtung Schlafzimmertür.

Ich wartete, bis Kadir seine Sachen gepackt hatte. Er wusste zwar, wann Training war, aber seine Sachen hatte er nie gepackt, und seine Mutter schimpfte, dass er die dreckigen Socken vom letzten Mal immer noch in der Tasche hatte und so weiter. Immer dasselbe. Wenn er fertig war, kam er ins Wohnzimmer sagte: »Lass los«, und wir gingen.

Kadirs Vater war streng und von Beginn an zu hundert Prozent davon überzeugt, dass Kadir einmal ein ganz großer Kicker wird. Er erzählte auch, dass er einen Kollegen hat, der einen Cousin hat, der Gündogans Vater aus Balikesir kennt. Gündogan war Profi und spielte in der deutschen anstatt der türkischen Nationalmannschaft, jammerte der Baba. Wenn Özil und Gündogan und Emre Can in der türkischen Nationalmannschaft spielen würden, dann wäre die Türkei Weltmeister, sagte er. Mindestens. Er wisse, wie das Geschäft geht. Er hielt Trainer und Schiedsrichter grundsätzlich für bestochen und die Spiele für verschoben. Als Beweis führte er immer die Skandale um Fenerbahce an. Er regte sich auf, schimpfte auf alles und jeden, und hinter allem gab es eine Verschwörung, besonders die Amerikaner waren schuld. Nicht beim Fußball, aber sonst. Wenn Kadir mal ausgewechselt wurde, beschimpfte er den Trainer, bei Fouls die Gegner oder den Schiedsrichter. Kadir war das peinlich, denn er spielte meist gut und brauchte gar keinen Hooligan an der Linie. Aber er sagte nie etwas, sondern nur: »Lass, ist Baba.«

Gettoboys

Meine Mutter sagte: »Ihr habt euren Kopf gegen einen Ball getauscht. Und weißt du, was in einem Ball drin ist? Luft, nichts als Luft.« Sie versorgte meine kaputten Knie und schimpfte über die Grasflecken in den Jeans. »Wenn du schlecht in der Schule wirst, ist Schluss«, war ihre Ansage. Ich war fast jeden Tag auf dem Sportplatz und lief nie ohne Ball herum. Der Ball gab Sicherheit und war das beste Mittel gegen Langeweile. Wenn man ihn gut behandelte, machte er manchmal, was man wollte. Wenn man wütend war, konnte man ihn, ohne schädliche Folgen für andere, gegen die Wand dreschen. Einfach so. Gegen einen Ball gab es nichts einzuwenden.

Ich sah Kadir manchmal draußen schon auf dem Platz spielen, aber ich musste immer erst meine Hausaufgaben vorzeigen, bevor ich rausdurfte. Das nervte mich ganz schön. Kadir interessierte die Schule nicht besonders, für mich war die Schule o.k. Aber Kadir konnte Übersteiger wie auch manch andere Tricks von Ronaldo und Co., und das brachte auf dem Platz mehr Scorerpunkte als in der Schule eine Eins in Mathe. Kadir träumte davon, Fußballprofi zu werden. Ins Stadion einlaufen. Das klackernde Geräusch von Stollen auf Beton, wenn man durch den Tunnel auf den Platz läuft. Was Geileres gibt es für einen Spieler nicht. Draußen die Wand der zehntausend Fans. Und zehntausend Mäuse auf dem Konto. Ein Traum? Klar. Aber einer aus dem Getto hatte es geschafft. Der hieß Owo, Patrick Owomoyela. Der hatte erst im Getto, dann bei Werder und Dortmund und in der Nationalmannschaft gespielt. Der wohnte früher um die Ecke, hatte Kohle ohne Ende, und Kadir durfte jetzt sein Auto waschen.

Kadir wurde langsam eine große Nummer im Getto. Er checkte alles und wusste, wo was lief. »Auge, Alter«, sagte er nur, wenn ich ihn fragte, woher er wusste, dass Serkan ein Fahrrad geklaut hatte. Durch Kadir konnte ich mich ohne Gefahr im Getto bewegen. Wenn mal jemand meinte, mich »abziehen« zu können, und versuchte, mir Handy, Jacke oder Schuhe zu klauen, sagte Kadir: »Der gehört zu uns«, und die Sache lief nicht. Wer dazugehörte, stand unter dem Schutz von allen. Das war so und galt auch »auswärts«, das heißt zum Beispiel in der Schanze. Das Schanzenviertel liegt zwischen Schlump und St. Pauli und hat einen eigenen Park mit Spielfeld und eine eigene Gang. Wenn wir da hingingen, passierte uns nichts, weil die Jungs von der Schanze wussten, dass wir zu den »Gettoboys« gehörten.

Nur wenn die türkischen Jungs zahlenmäßig in der Mehrheit waren, weil Typen aus Altona sich ins Getto verirrten, »Cousins« da waren oder so, dann gehörte ich plötzlich nicht mehr so richtig dazu. Sie sprachen dann türkisch untereinander, steckten die Köpfe zusammen und guckten mich schräg an. Dann galt nicht mehr die Gang, sondern nur, wer Türke war. Das war dann komisch.

Kadir ist Dschihad

Auf dem Rückweg vom Spiel war ich zu der Dönerbude in der Lutterothstraße gegangen. Da hingen immer die Jungs ab, die nicht, noch nicht oder nicht mehr, wissen, wohin. Keine Arbeit, keine Freundin, und zu Hause wollte sie auch keiner haben, aber Hunger und Durst nach allem. Ich hatte Hunger und bestellte Döner mit allem und scharf.

Volkan und Tayfun waren so zwei Jungs von nebenan und langweilten sich gemeinsam am Stehtresen bei Lahmacun, so eine Art gerollte türkische Pizza, und einem Mate-Tee. Ich nickte ihnen kurz zu.

»Hab gehört, ihr habt verloren. Echt?«, sagte Volcan, gleich als ich reinkam. Die schlechte Nachricht hatte sich also schon verbreitet. Volkan hatte auch einmal in unserer Mannschaft gespielt, dann aber schnell wieder aufgehört, weil er keinen Bock auf so viel Training hatte und lieber am Freitag Party machte, anstatt ausgeschlafen zum Spiel zu kommen. Egal. Ich nickte ihm zu.

»Ja, wenn wir nicht mitspielen, geht nix«, sagte Tayfun von hinten und lachte.

»Wen meinst du denn mit wir?«, fragte ich, während neben mir Ahmet, der Kebabista, mit dem elektrischen Messer das Gebratene rasierte.

»Türkiye, Türkiye«, rief Volkan und hob die Faust.

»Bei uns spielen nur HEBCler«, sagte ich. Ich wusste, die Jungs brauchten etwas, was sie besonders machte. Ich hatte keine Lust auf Stress und drehte mich zu ihnen.

»Mal im Ernst. Ihr habt doch den Überblick. Und vor allem den Durchblick. Ihr wisst doch alles. Sagt mal, wo ist Kadir?«

»Das willst wohl wissen, was?« Volkan stellte sich dicht neben mich und sah mich an. Der Dönermann wickelte das gefüllte Brot in Alufolie und reichte es mir zusammen mit einer Serviette.

»Ja, wäre super, der hat nämlich heute geholfen, dass Bergedorf gewinnt.«

»Wie? Echt?« Tayfun war kurzzeitig verwirrt.

»Ja, er war nämlich nicht da, und wir hatten Löcher in der Deckung, die waren so groß wie das Maul vom weißen Hai.«

»Hahaha. Weiß nicht.« Tayfun lachte Volkan zu, die beiden lösten sich aus ihrer Ecke und gingen zur Tür.

»Müssen los«, sagten sie. »Selam aleyküm, Ahmet.«

»Tschüss«, erwiderte Ahmet.

»Komm, wartet. Ihr hört doch sonst immer das Gras wachsen. Wo ist Kadir?«, rief ich ihnen nach.

»Brauchst du Gras?«, fragte Volkan. Tayfun lachte. Sie machten aus Gras Heu, das heißt, sie hatten immer irgendwo Marihuana oder Haschisch gebunkert.

»Nein. Ich suche Kadir.«

In der Tür stehend, sagte Tayfun: »Kadir? Weißt du nicht? Der ist Dschihad, du Kafir.« Sie gingen raus.

»Zweifünfundneunzig«, sagte der Verkäufer.

Ich sah ihn an.

»Ahmet. Was ist Kafir?«

»Ungläubiger, glaub ich«, sagte Ahmet.

»Das sind doch Spacken.«

Wo sollte Kadir sein? In oder auf oder mit Dschihad? Was sollte das sein? Ein Badeort oder ein neuer Freund? Wenn jemand Volkan, Tayfun oder Hartmut heißt, kann er auch Dschihad heißen.

Ich hatte in den Nachrichten gehört, dass Dschihad »Heiliger Krieg« bedeuten soll. Irgendwas mit Islamisten und Irak. Aber vielleicht war das auch ein neues Computerspiel für Playstation. Um sich bei Ahmet nicht ganz zum »Heinz« zu machen, behielt ich mein Unwissen für mich. Wozu hatte man zu Hause die allwissende Maschine?

Zurück in meinem Zimmer hatte ich dann den PC angeschmissen und in die Suchmaske den Begriff »Dschihad« eingegeben.

»Der Begriff Dschihad [dʒiˈhaːd] (arabisch Dschihād, DMGǦihād‚ Anstrengung, Kampf, Bemühung, Einsatz; auch Djihad oder gelegentlich in der englischen Schreibweise Jihad, bezeichnet im religiösen Sinne ein wichtiges Konzept der islamischen Religion, die Anstrengung/den Kampf auf dem Wege Gottes

Und dann folgte ein endloser Text von Wenns und Abers, mit Zitaten aus dem Koran und was über großen und kleinen Dschihad. Das hatte ich aber nicht mehr gelesen, war mir zu viel.

Ich wusste nicht, wie lange ich den Bildschirm gescrollt und nichts verstanden hatte. Dann erinnerte ich mich, dass Kadir immer mal von Syrien und Irak gesprochen hatte und dass dort die Muslime in Not seien. Er war dann immer sehr ernst gewesen. Ich hatte das nicht so wichtig genommen, ihm aber mal bei einer Altkleidersammlung geholfen. Sonst hatte meine Mutter immer alte Sachen in den Container vom Roten Kreuz geschmissen. Für Kadir stopfte sie das Zeug in einen blauen Müllsack, und er nahm es mit zu seinem Verein. Er wollte nicht, dass ich da mit hinkomme. Er redete nicht darüber, was er da, wie er sagte, mit seinen »Brüdern« machte. Er wollte nicht, dass ich davon etwas erfuhr.

Aber zum Training kam Kadir regelmäßig, und dann war er auch wie immer. Nur nach dem Training schwang er sich auf sein Fahrrad und war meist schnell weg.

Aber etwas war doch anders. Das war mir aber eher peinlich. Nach dem Fußball war es üblich, dass alle duschten. War ja auch nötig, denn wir waren nach dem Training und nach dem Spiel immer ziemlich verschwitzt und eingesaut. Also scheuchte Harry uns unter die Dusche. Irgendwann fingen einige von den türkischen, besser, den muslimischen Jungs an, ihre Unterhosen oder Trikothosen anzubehalten. Kadir auch. Die Begründung war, sie seien doch nicht schwul. Yalcin sagte was von Aura. Das Mädel kannte ich nicht.

Und jetzt war Kadir »Dschihad«? Krieg, Muslim, Islam. Was sollte das denn bedeuten, und was hatte Kadir damit zu tun?

Ich hatte dann bei WhatsApp eine Rundfrage gestellt: »Wo ist Kadir?«, und bekam wie üblich schnell Antworten. Jamal wollte besonders witzig sein und schrieb: »Bist du verliebt?«, Benny: »Jurassic World« und Julian: »Ab durch die Mitte, hahaha.« Sehr witzig.

Danach hatte ich eine ernsthafte Frage ins Netz gestellt: »Kann mir mal einer erklären, was Islam ist?« Erst mal kam gar nichts. Dann wieder – das war zu erwarten – Jamal: »Schwul und beten geht gar nicht.« Jamal hatte ein Problem, aber das war nicht meins. Andere Meldungen waren auch nicht hilfreicher, wie »Guck auf Wiki« – »Allah ist groß« – »Die wahre Religion« – »Lies Koran« – »Was soll das denn?«, das waren die guten Ratschläge. Der Mist à la Jamal, der dann noch so kam, rauschte in den Papierkorb.

Merals Lächeln

Abends war ich dann zur Wohnung von Kadirs Eltern gegangen. Vielleicht lag Kadir ja einfach im Bett. Meral öffnete die Tür. Sie war inzwischen siebzehn und lernte Krankenschwester im ersten Lehrjahr. Zu Hause war sie die Tochter, und Töchter hatten die Älteren zu bedienen. So ist das bei den meisten Türken. Als ich Kadir einmal gefragt habe, warum seine Schwester ihm Tee brachte, sagte er nur: »Ist bei uns so. Respekt.«

Meral brachte Tee in kleinen Gläsern für alle, und der Onkel saß mit seinem dicken Schnäuzer, dem Käppi und der hellbraunen Strickweste im Sessel vom Vater.

»Wo ist Kadir?«, fragte ich.

Meral zuckte mit den Schultern.

»Ich bin hier, weil er heute nicht zum Spiel gekommen ist.«

»Aber er ist gestern doch schon mit der Tasche zu dir gegangen«, sagte seine Mutter erschrocken auf Türkisch zu ihrer Tochter. »Er sagte, er wollte heute Vormittag mit dir zum Spiel.«

»Er war nicht bei mir«, erwiderte ich. Manchmal hatte Kadir in der letzten Zeit bei uns übernachtet, wenn wir am anderen Morgen ein Spiel hatten. Dann konnten wir abends noch auf der Konsole daddeln.

»Seine Sporttasche und ein paar Sachen sind weg«, sagte Meral. »Vielleicht ist er wieder zu so einem Seminar gefahren.«

»Was für ein Seminar?«, fragte Enischte, der Onkel.

»Na, so ein Islamkurs vom Moscheeverein. Da war er doch schon einmal.«

Die Mutter nickte mit dem Kopf und legte Kuchen nach.

»Moscheeverein? Bei uns gibt es solche Seminare nicht. Bei uns gehen die Kinder in die Koranschule«, sagte der Onkel in Richtung Meral. »Wenn du gekommen wärst, wüsstest du das. Nermin ist freitags immer im Unterricht. Wo ist sie überhaupt?«

»Bei einer Freundin«, sagte die Mutter fast entschuldigend. Nermin war die kleine Schwester von Meral und Kadir.

»Um diese Zeit?«, fragte der Onkel und schaute auf die Uhr. »Aber Meral könnte sich auch mal in der Moschee sehen lassen.«

»Ach, Meral musste immer so viel für die Schule lernen, und jetzt hat sie ja im Krankenhaus so viel zu tun«, nahm die Mutter ihre Tochter in Schutz.

Der Onkel machte eine abwehrende Handbewegung und murmelte: »Wird Zeit, dass sie heiratet.«

»Vor drei Monaten war er auf so einem Islamseminar«, erzählte Meral, die die letzte Bemerkung ihres Onkels ignorierte. »Da war Kadir drei Tage, und seitdem betet er ständig.«

Die Mutter nickte wieder.

»Und seitdem hat er genervt. Ständig wollte er mir Vorschriften machen. Meral, setz ein Kopftuch auf, eine muslimische Frau geht nicht feiern und so.« Meral wirkte ganz aufgeregt.

»Na, recht hat er. Seit dein Vater nicht mehr da ist, muss ja jemand auf die Ehre der Familie achten«, warf der Onkel ein.

»Ich kann auf mich selber aufpassen«, sagte Meral trotzig und erntete von Mutter, Tante und Onkel strafende Blicke.

»Die Jungs im Imbiss sagen, Kadir sei Dschihad«, sagte ich leise.

Der Onkel sah nun mich böse an. Er hatte schon vergessen, dass ich bei dieser Familiensache anwesend war.

»Dschihad. Meinst du die Idioten in Syrien? Ich werde ihm die Beine brechen, wenn er diesen Verrückten hinterherläuft. Glaube nicht, was die Typen sagen. Ich sage dir, Islam ist Frieden, und Allah sagt, wer einen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit. Damit haben wir nichts zu tun. Das liegt an den Computern, auf denen ihr Jungs ständig spielt. Da schießen sie alle tot und klauen Autos. Das kommt aus Amerika, das ist Teufelszeug. Ich sag euch, das sind die wahren Teufel und Verführer. Komm mal in die Moschee. Dann zeig ich dir alles.«

Ich nickte. »O.k.«

»Ich bin da jeden Tag. Ich zeig dir alles, und der Hodscha kann dir erklären, was ist.«

Ich nickte. Was sollte ich auch anderes tun.

»Versprochen?«, fragte der Onkel.

Ich nickte wieder. Ende der Debatte.

So Sprüche wie Beine brechen, Augen ausstechen und tot umfallen kannte ich schon von den Gettoboys. Das waren Ansagen, die meinten die nicht wörtlich, sagten sie wenigstens.

»Ich werde mal deinen Mann anrufen. Seit der nicht mehr im Haus ist, geht alles schief«, sagte Enischte zu Kadirs Mutter.

Die Frauen murmelten etwas mit Allah vor sich hin. Meral schenkte Tee nach und wollte die Lage beruhigen: »Vielleicht hat er bei einem anderen Freund geschlafen und taucht morgen wieder auf. Und sein Handy ist kaputt.«

Kadirs Mutter fing an zu weinen.

Mir war das alles peinlich. »Vielen Dank für den Tee.« Ich stand auf und verabschiedete mich per Handschlag vom Onkel. Meral brachte mich zur Tür. Als ich dort die Schuhe anzog, sagte ich zu ihr. »Ruf mich an, wenn du was hörst. Ich hör mich auch um.«

»Tamam«, sagte Meral.

Ich sah sie an und bemerkte zum ersten Mal, dass sie ganz große braune Augen hatte. Eigentlich sah sie ziemlich gut aus. Komisch, dass mir das nicht schon vorher aufgefallen war. Lächelte Meral, bevor sie die Tür schloss?

In der Moschee