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 Über das Buch:

Wenn der Maskenmann kommt, sterben Liebespaare. Meist nachts, meist auf abgelegenen Parkplätzen. Das Ermittlerteam um Kommissarin Eva Lendt und dem Fallanalytiker Marco Brock steht vor einem Rätsel, bis es merkt, dass die Morde den Taten eines berüchtigten Killers gleichen, der Ende der sechziger Jahre in der San Francisco Bay Area gewütet hat.  "Eine atemberaubende Hetzjagd zwischen Fakten und Fiktion-der Thriller des Jahres!"

Folge II

Linus Geschke

Die Akte Zodiac

FOLGE II

Edel Elements

Sechzig Kilometer von Köln entfernt stand inmitten eines dichten Mischwalds eine vor mehreren Jahren aufgegebene Jagdhütte. Das blanke Holz schimmerte durch die abblätternde Farbe hindurch, der Rasen davor war von Unkraut durchsetzt und kaum noch als solcher zu erkennen. Wenn man sich quer durch den Wald schlug, konnte man das Internat von hier aus in weniger als zehn Minuten erreichen – was einer der Gründe war, warum sich Philipp Redel mit seinen Freunden so gern hier traf.

Es war ihr Platz. Niemand sonst wusste davon, nicht einmal Julia.

Während Philipp mit einem Kloß im Hals an sie dachte, erfüllte Vogelgezwitscher die vor ihm liegende Lichtung. Dazwischen war das schnelle Hämmern eines Spechtes zu hören und ein Eichhörnchen huschte aufgeschreckt durch das Unterholz.

Ein Geräusch, das nicht an diesen Ort gehörte, drang an sein Ohr, die Tiere verstummten. Ein alter, klopfender Motor, der asthmatisch röchelte. Das Geräusch wurde immer lauter, bis ein grünes Dach zwischen den Bäumen auftauchte und schließlich ein mit Rostflecken übersäter VW Polo auf die sonnenbeschienene Lichtung fuhr. Der Kleinwagen holperte den Waldweg entlang und blieb vor der Hütte stehen. Adam Lesch stieg aus. Vor vier Jahren war er in der Schule sitzengeblieben und somit der einzige der Sons of Sam, der schon volljährig war und ein Auto besaß – sofern man den nur noch durch Aufkleber und Spachtelmasse zusammengehaltenen Polo als solches bezeichnen konnte.

„Was geht, Alter?“, begrüßte er Philipp.

„Alles gut.“

„Du siehst aber scheiße aus“, stellte Adam fest.

„Vielleicht wegen dem Stress mit Julia. Heute in der Schule hat sie mich kaum angeschaut und ich … Keine Ahnung, es läuft gerade nicht so, wie es laufen sollte.“

„Weiber – was soll man dazu noch sagen?“

Philipp schaute Adam unter hochgezogenen Augenbrauen an. Bislang war ihm nicht bewusst gewesen, dass Adam in diesen Dingen ein Experte war, obwohl er nicht schlecht aussah. Er hatte ein paar kürzere Beziehungen gehabt, aber darunter war bislang noch nichts Ernstes gewesen, zumindest nichts, von dem Philipp wusste.

Da wechselte sein Kumpel auch bereits das Thema. „Hast du heute schon ins Internet geschaut?“, wollte er wissen. „In Köln haben sie gestern einen Rentner abgestochen, der mit seinem Hund Gassi gegangen ist. Wahrscheinlich ein Raubüberfall.“

Philipp nickte, obwohl der Mord ihn nicht interessierte. Sein Thema waren Serienkiller, keine gewöhnlichen Verbrecher. Normalerweise zumindest – momentan jedoch waren seine Gedanken ausschließlich mit Julia beschäftigt.

„Mann, Alter, jetzt lass dich nicht so hängen!“, sagte Adam und schlug ihm die Hand auf die Schulter. „Lass uns über was Anderes quatschen; die beruhigt sich schon wieder. Manchmal sind Mädels eben so. Man muss sie nur in Ruhe lassen, dann kommen sie von ganz alleine zurück.“

Philipp hatte ein paar passende Antworten auf Lager, die er sich aber samt und sonders verkniff. Wozu auch? Adam hatte ihn noch nicht einmal gefragt, worum es eigentlich bei dem Streit mit Julia gegangen war – deutlicher hätte er sein Desinteresse an Philipps Liebesleben gar nicht ausdrücken können.

Philipp beschloss, das Thema zu wechseln. „Hast du denn noch etwas über den Doppelmord am Heider Bergsee herausgefunden?“

Adams Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Hatte er gerade noch genervt gewirkt, sah er jetzt aus wie jemand, der es kaum erwarten konnte, über sein Lieblingsthema zu sprechen. Bei den Sons of Sam war Adam der Computerexperte – er überwand Firewalls, schrieb eigene Programme und kommunizierte mit mehreren Hackern rund um den Globus. Einmal hatte er es sogar geschafft, sich in den Polizeirechner der Gummersbacher Wache zu hacken und Einblick in deren Einsatzpläne zu erhalten. Mit denen konnten die Sons of Sam zwar nichts anfangen, aber es hatte genügt, um Adams Ruf als Computercrack noch weiter zu festigen.

„Ich habe noch mal die ganzen Verwandtschaftsverhältnisse der Opfer gecheckt, ihre Hintergründe und so weiter. Dazu alles, was ich über die Waffe und den Tatort herausbekommen konnte. Irgendwie erinnert mich der ganze Ablauf immer noch an den zweiten Mord des Zodiac-Killers, aber das müsstest du ja besser wissen.“

Adams letzter Satz kam nicht von ungefähr, die Aufgaben innerhalb der Gruppe waren klar verteilt: Adam war der Computerexperte, Kai wusste alles über die Psyche bereits gefasster Serienmörder und Philipp kannte sich mit Killern aus, die die Polizei nie gefasst hatte.

„Ich weiß nicht“, sagte Philipp jetzt zweifelnd. „Das ist alles immer noch ziemlich dünn. Kann sein, dass die Übereinstimmungen nur Zufall sind.“

„Aber wenn es stimmt – wie geil wäre das denn!? Ein Psychopath, der jetzt und hier auf dieselbe Art wie der Zodiac killt, und wir sind live dabei. Mann … das wäre der Burner!“

Bis vor wenigen Tagen hätte Philipp ihm noch begeistert zugestimmt, doch dann war das Gespräch mit Julia gekommen. Ihre Sicht der Dinge hatte auf ihn abgefärbt und ihn nachdenklich gemacht. „Ganz ehrlich – so geil finde ich das gar nicht mehr. Ich meine, wenn wir uns mit Serienkillern von früher beschäftigen, das ist eine Sache … Aber bei dem Irren jetzt hoffe ich einfach nur, dass die Polizei ihn bald schnappt. Überleg doch mal: Wenn der Typ wirklich den Zodiac kopiert, dann wird er noch mehr Menschen umbringen. Ist dir das völlig egal?“

„Was hab‘ ich denn bitteschön mit denen zu tun? Wenn‘s nach mir geht, bekommen die Bullen ihn nie“, erwiderte Adam, um dann entschlossen noch einen draufzusetzen. „Mensch, Digga, einmal nicht nur dumm herumlabern über Killer, die schon lange tot sind. Ich sag‘s dir: Wenn der Typ wirklich ein neuer Zodiac ist, dann mach in ‘nen Fanclub auf!“

„Spinner“, sagte Philipp lachend, um dann sofort wieder ernst zu werden. „Wenn man dir zuhört, kann man direkt Angst bekommen, dass du irgendwann selbst zum Killer wirst.“

Philipp hatte damit gerechnet, dass Adam mit einem Lachen reagieren würde. Stattdessen schaute er ihn nur mit einem durchdringenden Blick an.

Unangenehm berührt wechselte Philipp erneut das Thema: „Wo warst du eigentlich gestern Abend? Wir wollten doch zusammen Fußball gucken?“

Einen Moment lang sah Adam aus, als hätte die Frage ihn aus dem Konzept gebracht. Dann fing er sich wieder, lächelte und sagte: „Ach, ich war einfach nur müde. Bin ausnahmsweise mal früh ins Bett gegangen.“

Nachdenklich schaute Philipp seinen Freund an und fragte sich, warum er ihn wegen so einer Kleinigkeit anlog. Kurz bevor das Fußballspiel angefangen hatte, war Philipp noch zu ihm gegangen, um ihn an die Champions-League-Begegnung zwischen Barcelona und Porto zu erinnern, doch Adams Zimmer war leer gewesen, sein Bett unbenutzt. Was auch immer er gestern gemacht hatte – früh geschlafen hatte er nicht.

Einen Moment lang überlegte Philipp, ob er seinen Freund auf die Lüge ansprechen sollte, dann verwarf er den Gedanken wieder.

Jeder Mensch hatte seine kleinen Geheimnisse.

Nicht nur Adam.

Auch er.

*

Marco Brock hatte eigentlich vorgehabt, den Rest des Tages zu Hause zu verbringen. Er wollte sich in die Akten der alten Zodiac-Fälle einarbeiten, um sich alle Fakten wieder bewusst zu machen, und dann für Eva und Oliver diejenigen auswählen, die ihnen bei der Ergreifung des jetzigen Täters weiterhelfen konnten. Als ihm jedoch auffiel, dass er jetzt denselben Absatz schon zum dritten Mal gelesen hatte, gab er es auf. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren – die Decke fiel ihm auf den Kopf, die Wände schienen immer näher zu rücken.

Er musste aus der Wohnung heraus und irgendwohin, wo ihm der Blick nicht durch Beton verstellt war. Wo er freier atmen konnte und seine Gedanken Platz hatten, ihre Kreise zu ziehen.

Kurz darauf jagte er den Porsche schon über das graue Band der A4. Schnell erreichte die Tachonadel die 200-Kilometer-Marke und kletterte weiter, während im Radio Depeche Mode ihren Personal Jesus besangen. Als die Ausfahrt Untereschbach in Sicht kam, bremste er ab und verließ die Autobahn. Anschließend folgte er der sanft geschwungenen Landstraße, die nach Lindlar führte. Er fuhr jetzt langsamer, ohne Hektik, immer wieder ließ er seine Blicke schweifen. Mischwälder, die sich mit saftig grünen Wiesen abwechselten, auf denen Kühe dösten.

Zu Hause hatte Brock noch versucht, den Fall als abstrakte logische Herausforderung zu betrachten. Wie ein Schachspiel mit einer ungewissen Anzahl von Figuren, bei dem es seine Aufgabe war, den nächsten Zug des Gegners vorauszuahnen. Doch diesmal war der Einsatz so hoch und sein Wissen so gering, dass er sich nicht in der Lage sah, einen Zug zu machen. Bislang hatte er noch von keinem einzigen Fall gehört, wo ein Mörder eine Mordserie kopiert hatte, die mehr als 45 Jahre lang zurücklag.

Instinktiv würden die meisten Menschen in einem solchen Fall wohl dazu neigen, die Gefährlichkeit des neuen Killers zu unterschätzen, und ihn lediglich als einen Abklatsch seines Vorbilds betrachten.

Brock jedoch befürchtete, dass eher das Gegenteil der Fall war. Jeder Kriminelle machte Fehler. Auch die, die nie gefasst wurden. Wenn man sich also einen solchen Fall zum Vorbild nahm, konnte man dessen Schicksalslinien erkennen. Man wusste, welche Fehler der Killer gemacht hatte – und man wusste, warum die Polizei ihn dennoch nicht hatte fassen können. Ein intelligenter Täter konnte daraus lernen. Er würde die Fehler der Vergangenheit vermeiden und das blutige Spiel noch besser spielen.

Damals, Ende der 60er Jahre, hatte die Polizei sich irgendwann in ihr Schicksal ergeben. Sie waren zunächst planlos wie kopflose Hühner umhergeirrt, ohne der Identität des Killers auf die Spur zu kommen – und hatten sich dann frustriert darauf beschränkt, auf den nächsten Mord zu warten. Immer in der Hoffnung, dass der Zodiac dann endlich den einen, entscheidenden Fehler begehen würde.

Brock dagegen hatte nie daran geglaubt, dass es das Beste war, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Diese Einstellung vertraten Menschen, die ihr Schicksal akzeptierten und es in dem jämmerlichen Versuch, damit klarzukommen, als „unausweichlich“ bezeichneten. Er dagegen wollte selbst die Initiative ergreifen.

Er wusste, dass ihm dafür nicht mehr viel Zeit blieb, ganz unabhängig davon, was er am Vormittag in Werners Büro gesagt hatte. Irgendwann würde der Killer wie sein Vorbild Briefe an Zeitungen schicken, und dann war es vorbei. Das Chaos würde über sie hereinbrechen. Zodiac hier, Zodiac da – im Fernsehen, in den Zeitungen, im Internet. In der Bevölkerung würde Panik ausbrechen, der Druck auf die Ermittlungsbeamten unmenschlich werden.

Brock vermutete, dass dieses Chaos Teil des Plans des Killers war. Die beste Chance, ihn zu fassen, war jetzt, bevor der Druck der Öffentlichkeit wie eine Monsterwelle über sie hereinbrechen würde.

Du bist verdammt clever, aber du bist nicht perfekt – auch, wenn wir dir bislang nicht auf die Spur gekommen sind!

Brock wusste, dass es für alles im Leben eine Zeit gab. Momentan war für ihn und die Beamten noch genügend Zeit, um Fakten zu sammeln und Spuren zu sichern. Sie mussten genug zusammentragen, bevor die Briefe kamen.

Wenn sie das schafften, würden sie es sein, die auf die Jagd gingen.

*

Gut möglich, dass dieser Abend für Wochen der letzte sein würde, an dem Eva so etwas wie Freizeit hatte, und sie war fest entschlossen, die zu nutzen. Als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, feuerte sie ihre Tasche in die Ecke, fütterte schnell die Katzen, setzte sich an den Computer und loggte sich dann in das Partnerportal ein. Ein grünes Licht neben seinem Namen zeigte ihr, dass Lars online war. Sie klickte auf das Chat-Symbol und schrieb ihm eine Nachricht.

„Wenn du mich kennenlernen willst, wäre heute die Gelegenheit dazu. Hast du Lust auf einen spontanen Kaffee in irgendeinem netten Café?“

Anschließend stand sie auf, ging in die Küche und holte sich eine Apfelschorle. Als sie zurückkam, hatte er ihr bereits geantwortet.

„Klingt verlockend! Wo würde es dir denn passen?“

Sie dachte kurz nach. In solchen Dingen war sie durch und durch pragmatisch. Am besten also ganz in der Nähe, damit sie schnell wieder nach Hause kam, wenn er ihr nicht gefallen sollte.

„Kennst du das Café Schmitz auf der Severinstraße?“

„Kenne ich nicht, werde ich aber finden. Wann genau?“

Sie schaute auf die Uhr. Zehn vor sieben. Sich schnell frisch machen, umziehen, ein wenig Make-up.

„Wie wär‘s um halb acht? Oder ist dir das zu früh?“

Seine Antwort ließ nur kurz auf sich warten.

„Halb acht ist prima. Wenn‘s nach mir geht, kann‘s gar nicht schnell genug gehen!“