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Über dieses Buch:

1891 in den unendlichen Weiten der Sahra: Die schöne und mutige Désirée reist nach Algier, um nach ihrem verschollenen Vater zu suchen. Doch als sie der Spur in ein sagenumwobenes Wüstengebirge folgt, fällt sie in die Hände des stolzen Tuaregkriegers Arkani. Wider besseres Wissen erliegt sie der Faszination des exotischen Mannes und seiner Kultur. Die junge Liebe wird jedoch schon bald auf die Probe gestellt, denn die Tuareg leisten erbitterten Widerstand gegen die französischen Besatzer und die junge Französin wird in Arkanis Stamm nicht geduldet …

Über die Autorin:

Susan Hastings ist gelernte Geologin und war lange als Sachverständige für Geologie und Ökologie tätig. Während eines späteren Studiums entdeckte sie schließlich ihr schriftstellerisches Talent. Zunächst schrieb sie Kurzgeschichten, später zahlreiche Liebes- und Historienromane, die sie unter verschiedenen Pseudonymen erfolgreich veröffentlichte.

Bei venusbooks sind von Susan Hastings auch folgende eBooks erschienen:
Die Braut des Wikingers
Die Sklavin und der Wikinger
Das Verlangen des Gladiators
In den Armen des Raubritters

Die Website der Autorin: www.susan-hastings.de

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eBook-Neuausgabe September 2016

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel Im Bann des roten Mondes bei Heyne

Copyright © der Originalausgabe 2006 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Margarita Borodins

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95885-404-8

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Susan Hastings

Die Geliebte des Wüstenkriegers

Roman

venusbooks

Mein großer Dank gilt Petra Bode
und ihrer Initiative im Tuareg e. V.
für ihre überaus wertvolle Hilfe
bei der Recherche zum Roman
und ihr Engagement
für das Überleben
dieses faszinierenden Volkes
(
www.tuareginfo.de).

Kapitel I

Sie hätte es nicht tun dürfen! Dessen war sich Désirée sicher. Das sagte ihr eine innere Stimme, die Stimme der kühlen Logik. Aber sie musste es einfach tun. Das sagte ihr eine zweite innere Stimme, die Stimme des Herzens.

Vater hatte Recht. Frauen waren zweigeteilte Wesen, zwiespältig in Kopf und Seele. Doch im Gegensatz zu anderen Männern war er schon immer der Überzeugung gewesen, dass Frauen keineswegs einen unterlegenen Geist besaßen. Frauen konnten zumindest genauso klug sein wie Männer. Auch wenn die anderen Herren der Schöpfung über dieses wirre Gedankengut des Etienne Montespan nur den Kopf schüttelten.

Dieser Etienne war schon immer ein Spinner, ein Fantast, der, in der Erde kratzend und die Hinterlassenschaft der Altvorderen untersuchend, die Antworten auf die Fragen nach der Zukunft suchte. Kein Wunder, dass sich seine arme Frau hatte scheiden lassen und lieber den gesellschaftlichen Makel einer geschiedenen Frau als die Bürde eines verrückten Ehemanns auf sich genommen hatte. Dass sich jedoch die halbwüchsige Tochter der beiden ausgerechnet dem Vater zuwandte und lieber mit ihm in einem unzüchtigen Haushalt als in den bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen bei der Mutter leben wollte, war nun doch nicht mehr akzeptabel, selbst für die skandalgewohnte und immer auf pikante Neuigkeiten erpichte Pariser Gesellschaft. Der feine Unterschied bestand darin, dass Etienne Montespan keiner der Künstler war, die in den bekannten Pariser Vierteln ein Leben führten, das sich so mancher Konventionen entledigte. Auch gehörte er nicht zu den Kunden der diversen Pariser Nachtclubs und Etablissements, Spielcasinos und Vergnügungstempel. Etienne Montespan war Archäologe, somit ein normalerweise geachtetes Mitglied der Pariser Akademie, Gastprofessor an der Sorbonne, bekannter Erforscher von Karthago, Spezialist für antikes Rom, Griechenland und Nordafrika. Warum widmete er sich nicht den wissenschaftlich geführten Ausgrabungen und ließ seine Frau und seine Tochter ein Bestandteil der Gesellschaft sein? Doch statt sich der Analyse der ausgegrabenen Kunstschätze im kühlen und Ehrfurcht gebietenden Gewölbe des Pariser Museums zu widmen und nach Feierabend zu seiner Familie in der hübschen Wohnung in der Rue de Voisin zurückzukehren, trieb er sich monatelang auf irgendwelchen Grabungsfeldern herum, ungewaschen, verstaubt, in der unschicklichen Kleidung der Einheimischen, weil die seiner Meinung nach praktischer für das betreffende Klima war als der Anzug nach der neuesten Pariser Mode.

Nicht genug damit, er hatte auch dem Drängen seiner halbwüchsigen und frühreifen Tochter nachgegeben, sie mit in diese von Männern, Ausländern und Ungeziefer dominierten Brutstätten der Unsittlichkeit zu nehmen. Sie hatte in einem Zelt gleich neben den Zelten der Männer geschlafen, die Kleidung der Einheimischen oder gar Männerkleidung wie lange Hosen und langärmelige Hemden getragen. Sie hatte sich mit den einheimischen Arbeitern in ihrer Sprache unterhalten, die sie scheinbar mühelos lernte, und hielt wenig von Anstand, Etikette und der gebotenen geistigen und körperlichen Zurückhaltung einer Frau. Sie hatte in irgendwelchen Erdgruben gekniet, um mit Pinsel und Spachtel pietätlos die knochigen Überreste vorzeitlicher Könige oder Sklaven herauszukratzen, alte Schriftzeichen zu entziffern oder den verworrenen Gedankengängen längst untergegangener antiker Völker zu folgen. Wenn sie wenigstens einen Goldschatz mit nach Hause gebracht hätte. Aber es waren nur kleine Tonfiguren, die sie hütete wie seltene Kostbarkeiten, Fragmente von Papyrusrollen oder Scherben von Gefäßen. Zum Glück bekam Professor Montespan noch sein regelmäßiges Gehalt von der Akademie, damit sie beide wenigstens ein bescheidenes Auskommen hatten. Die große Wohnung in der Rue de Voisin mussten sie natürlich aufgeben und mit einer bescheideneren Behausung vorlieb nehmen, aber das schien den beiden nichts auszumachen. Auch legte der Professor mehr Wert auf die Bildung seiner Tochter als auf ihre standesgemäße Kleidung. Als sich ihre weiblichen Formen zu runden begannen, weigerte sie sich vehement, ein Korsett zu tragen. Ihre Kleider waren nur wenig geschnürt, und sie trug niemals mehr als einen Unterrock. Und wenn es ihr in den Kopf kam, kleidete sie sich nach Art eines Mannes mit langen Hosen, Seidenhemd und Jackett. So spazierte sie an der Seite ihres Vaters, so er denn überhaupt in Paris weilte, sonntags durch die Straßen und ließ sich von den Passanten begaffen.

Désirée strich mit einer fast liebevollen Geste über das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Gleichzeitig trat ein spöttischer Glanz in ihre blauen Augen. Sie spürte die Blicke der Paare, die auf dem Sonnendeck des Schiffes lustwandelten – die Damen züchtig geschnürt, dass sie kaum zu atmen vermochten, die Herren in steifem Gehrock, gebundenem Kragen und hartem Hut. Alle Damen schützten sich mit Schirmen gegen die unbarmherzige Sonne, die vor der Küste Nordafrikas auf sie herniederbrannte. Lediglich Désirée lag auf ihrer Sonnenliege bar jeden Schutzes, das Kleid lässig über die Beine gebreitet, sodass ihre schlanken Waden zu sehen waren. Ihr Gesicht hatte sich leicht gerötet, und eine Unzahl von Sommersprossen zierte ihre kesse, kleine Nase.

Für einen Augenblick hatte sie von ihrer Lieblingslektüre gelassen und sich ihren Tagträumen hingegeben. Ja, diese George Sand war eine Frau ganz nach Désirées Geschmack. Sie hätte sie gern kennen gelernt, wenn sie nicht vor fünfzehn Jahren gestorben wäre und sich die ganze Geschichte nicht bereits vor fast vierzig Jahren zugetragen hätte. Da begleitete diese außergewöhnliche Frau ihren erkrankten Lebenspartner Frédéric Chopin auf die Insel Mallorca, der in klarer Luft und absoluter Ruhe seine Krankheit auskurieren wollte. Dass er mit dieser Frau gar nicht verheiratet war, dass sie von ihren beiden unehelichen Kindern begleitet wurden, dass sie wie auch ihre Tochter häufig Männerkleider trug, dass sie sogar in aller Öffentlichkeit Zigarren rauchte, war nicht nur zur damaligen Zeit, sondern auch jetzt noch ein Skandal.

Mit einem wohligen Kribbeln im Bauch hatte Désirée just in dem Augenblick, als das Schiff auf dem Weg von Marseille nach Algier an jener berühmten Insel im Mittelmeer vorbeifuhr, das Buch aus ihrem Reisegepäck genommen und sich auf das Flanierdeck gesetzt. Alle Vorbeikommenden sollten sehen, welcher Lektüre sie sich da widmete, und alle Welt sollte sehen, dass sie sich so ziemlich mit dieser skandalumwitterten Frau identifizierte.

Nun, Désirée rauchte öffentlich keine Zigarren, nur manchmal heimlich. Auch hatte sie keine Kinder, und sie war verlobt mit Philippe Duval, einem Bergbauingenieur. Das war ihr Tribut an die gutbürgerliche Welt, den sie zollte. Philippe hatte trotz ihrer wenig standesgemäßen familiären Verhältnisse um ihre Hand angehalten, und Papa hatte erfreut zugestimmt. Philippe konnte ihr eine gesicherte Existenz bieten. Sein Gehalt bei der Montagne Nationale war zwar nicht üppig, aber durchaus akzeptabel, er nahm nur wenig Anstoß an Désirées Kaprizen und vertröstete sich selbst damit, dass Désirée sich schon von selbst beruhigen würde, wenn sie erst einmal mit ihm verheiratet sei. Das Dumme war nur, dass er sich derzeit in Algerien befand, um dort im Atlasgebirge Rohstoffvorkommen zu erschließen. Und nun war auch ihr Vater nach Algerien aufgebrochen, weil er Kunde von irgendwelchen geheimnisvollen Felsmalereien in der Sahara erhalten hatte. Sehr zu Désirées Verdruss hatte er diesmal darauf bestanden, dass Désirée daheim in Paris blieb.

Zunächst kamen die Nachrichten von Vater regelmäßig, dann unregelmäßig und schließlich blieben sie gänzlich aus. Der letzte Brief war über zwei Monate alt. So weit kannte Désirée ihren Vater, dass er es immer ermöglichte, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, wenn sie ihn nicht auf seinen Ausgrabungen begleitete. Beunruhigt hatte sie Philippe informiert und ihn gebeten, Erkundigungen anzustellen. Doch auch Philippes letzter Brief hatte keine Klarheit bringen können. Der Professor sei zu einer Expedition in die Sahara aufgebrochen. Sie solle sich keine Sorgen machen, das Innere des Landes sei noch nicht wie gewünscht mit Poststellen ausgestattet, wie man es sich in einer Kolonie eigentlich vorstellte. Aber das beruhigte Désirée keineswegs. Ihr Gefühl sagte ihr, dass ihr Vater in Gefahr sei.

Etienne Montespan war ihre eigentliche Bezugsperson, sei es, dass er ihr die gewünschte persönliche Freiheit gelassen hatte, sei es, dass sie in ihm den Mann sah, der ihr das Leben schlechthin ermöglichte. Er war stark wie ein Fels in der Brandung auch gegen seine Feinde, unerschütterlich, zielbewusst und trotzdem ein zärtlicher, liebevoller, aufmerksamer Vater. Durch ihn hatte sie die Welt, die Kultur, das ungeschminkte Leben kennen gelernt. Die gesellschaftliche Enge des bürgerlichen Paris erstickte sie. Durch ihn schaffte sie es, in dieser feindlichen Umwelt zu überleben. Es gab ja immer wieder die Hoffnung, ihn auf die nächste archäologische Expedition begleiten zu können.

Dass sie die Verlobung mit Philippe eingegangen war, hatte allerdings auch eine andere Ursache. Der Vater konnte einer jungen Frau eben doch nicht alles bieten. Philippe sah gut aus, war sportlich, intelligent, nicht unvermögend, weltoffen und eben ein Mann. Mit ihm hatte sie die Freuden der körperlichen Liebe kennen gelernt, die sie nun auch nicht mehr missen mochte. Und es wäre schon längst zur Hochzeit gekommen, wenn er nicht dieses Projekt in der Kolonie übertragen bekommen hätte.

Philippe hatte ihr fest versprochen, sie nachkommen zu lassen. Désirée träumte sogar von einer orientalischen Hochzeit in Algier. All das Exotische reizte sie ungemein, und sie stellte sich vor, umweht von kostbaren Düften und hauchzarten Schleiern, mit Philippe in ein riesiges Bett unter einem Baldachin mit golddurchwirkter Seide zu sinken. Hinter einem Paravent spielten arabische Musikanten, und bildschöne, verschleierte Tänzerinnen stimmten sie auf die Nacht aller Nächte ein.

Désirées Brust entrang sich ein sehnsuchtsvoller Seufzer, und ihre Augen suchten den Horizont ab, dort, wo der Hafen von Algier bald auftauchen müsste. Sie hatte Philippe eine Depesche zukommen lassen, dass er sie vom Schiff abholen solle. Sie würden einstweilen in einem Hotel wohnen, bis Désirée herausbekommen hätte, wohin ihr Vater gereist war.

Was Désirée nicht wusste, war, dass Philippe ihr eine Nachricht gesandt hatte mit der inständigen Bitte, nicht nach Algerien zu kommen. Da saß sie bereits im Zug nach Marseille.

Kapitel II

Sie lehnte sich in den harten Lederpolstern der offenen Droschke zurück. Der Geruch des Orients drang ungehindert zu ihr und füllte ihre Lunge. Sie liebte den Orient, dieses Flair aus Exotik, Geheimnis, Duft und fremdartigen Geräuschen. Der Kutscher fluchte laut und trieb das knochige Pferd an, sich einen Weg durch die hoffnungslos verstopfte Straße zu bahnen. Dampfautobusse hupten, erschreckten die kleinwüchsigen Pferde und Maultiere. Eselkarren, beladen mit Früchten und Gemüse, säumten den Straßenrand, Händler boten lauthals ihre Waren an oder feilschten mit den Kunden um Preise. Die Bauern und meisten Einheimischen trugen lange, hemdartige Gewänder und Kappen auf dem Haupt. Aber es gab auch viele europäisch gekleidete Männer, während Frauen kaum im Straßenbild zu sehen waren. Sie gingen tief verschleiert in Gruppen oder begleitet von Männern ihrer Familie, als bestünde die Gefahr, dass sie entweder geraubt würden oder von selbst davonliefen.

Doch Désirée kannte das Frauenbild des Islam. Sie konnte nur mitleidig lächeln. Sie konnte sich nicht vorstellen, selbst unter solchen Bedingungen leben zu können. Bei aller Exotik zog sie das freie europäische Leben vor. Und sie war sich sicher, dass sich durch die Kolonialisierung Algeriens dieses Bild bald wandeln würde. Der französische Lebensstil zog sich unübersehbar durch das Alltagsleben dieser Stadt. Und auch wenn noch die Männer in den Cafés saßen und ihre Wasserpfeife rauchten, dabei fast gleichmütig das Treiben auf der Straße betrachteten oder untereinander Neuigkeiten austauschten, so würde es doch nicht mehr lange dauern, bis die Annehmlichkeiten der europäischen Zivilisation auch zum Leben der Einheimischen gehören würden. Bildung für die Frauen war ebenso wichtig wie eine umfassende ärztliche Versorgung, die Durchsetzung hygienischer Normen ebenso wie eine straff organisierte Arbeitsmoral.

Sie dachte an Philippes Erzählungen von den Schwierigkeiten in den Bergwerken. Oft waren die Arbeiter störrisch wie ihre Esel und Kamele, nahmen es weder mit den Arbeitszeiten noch mit der Disziplin so genau. Nur wenn es um die Gebete ging, unterbrachen sie ihre Arbeit pünktlich, selbst wenn ein neu aufgefahrener Stollen einzubrechen drohte. Allah würde sie schon beschützen, bis sie gebetet hatten. Danach könne man den Stollen doch sichern. Kein Wunder, dass dieses allzu starke Vertrauen in Allah zu mehreren folgenschweren Bergwerksunglücken geführt hatte.

»Hotel Oasis, Mademoiselle«, riss sie die kehlige Stimme des Kutschers aus den Gedanken. Sie blickte auf. Vor sich sah sie die hohe Fassade eines imposanten Kolonialbaus. Fast fühlte sie sich wieder nach Paris zurückversetzt, würden die Fenster der Eingangshalle nicht die orientalischen Rundbögen aufweisen. Sie kletterte aus der Kutsche, ohne dass der Kutscher Anstalten machte, ihr dabei behilflich zu sein. Dafür starrte er sie ungeniert an und entblößte seine bräunlichen, lückenhaften Zähne zu einem hintergründigen Grinsen. Zwei livrierte Pagen des Hotels eilten zu ihr, um das Gepäck entgegenzunehmen. Désirée bezahlte den Kutscher, ohne ihm ein zusätzliches Trinkgeld zu geben. Sollte er sich doch erst einmal um europäische Höflichkeit bemühen und sich an dem Dienstpersonal in Tunesien ein Beispiel nehmen!

Neugierig geworden, betrat sie die Eingangshalle des Hotels. Sie war gediegen ausgestattet, in einem arabisch-europäischen Stilmix. An der Rezeption stand ein kleiner Südfranzose mit flinken Augen.

»Bonjour, Mademoiselle«, grüßte er sie mit einem unterwürfigen Lächeln. Ein wenig distanziert blieb Désirée einen Schritt vor dem Empfangstresen stehen.

»Mein Name ist Désirée Montespan«, sagte sie. »Meine Zimmer sind bestellt.«

»Oui, Mademoiselle Montespan, natürlich«, dienerte der kleine Franzose und kam hinter dem Tresen hervorgewirbelt. Mit hektischen Handbewegungen forderte er die Pagen auf, ihr Gepäck auf ihr Zimmer zu schaffen, und sprang dabei wie ein wild gewordener Ziegenbock umher.

»Wir fühlen uns geehrt, Mademoiselle Montespan, dass Sie unser Haus besuchen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und viel Freude in unserem schönen Algier. Wenn Sie einen Wunsch haben, brauchen Sie nur am Klingelband zu ziehen. Wünschen Sie ein Bad? Wünschen Sie eine Erfrischung? Eine Schale mit Obst befindet sich bereits auf Ihrem Zimmer. Wenn Ihnen das Bett nicht weich genug ist …«

»Danke, ich werde mich melden, wenn ich etwas benötige. Im Moment benötige ich nur Ruhe. Ach, können Sie mir vielleicht sagen, wo sich mein Vater augenblicklich befindet?«

Schlagartig blieb der kleine Franzose stehen und schlug die Augen nieder, als wäre die Feder eines mechanischen Spielzeugs gesprungen. Désirée befürchtete, dass der Mann einfach nicht mehr funktionierte.

»Haben Sie mich verstanden, Monsieur?«, fragte sie ihn vorsichtshalber.

»Naturellement, Mademoiselle«, murmelte er. »Aber ich kann Ihnen da leider nicht helfen. Ich habe Ihren Vater seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen und …« Er stockte wieder und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Was und?«, forschte sie nach.

»Naja, er hat ja auch sein Zimmer nicht mehr bezahlt, und keiner weiß doch, ob er jemals aus der Wüste zurückkehren wird, wo doch alle wissen, wie gefährlich die Wüste ist.«

Désirée zog die Augenbrauen zusammen. »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie irritiert. »Mein Vater kennt sich in allen Wüsten aus. Er gräbt nicht das erste Mal in einer Wüste und spricht sogar arabisch.«

»Das wird ihm wohl wenig nützen, wenn er den Tuareg in die Hände fällt.«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Meinem Vater passiert nichts, davon bin ich felsenfest überzeugt. Wahrscheinlich sind die Ausgrabungen so interessant, dass es einige Zeit dauert. Er hat doch noch sein Zimmer in diesem Hotel, oder?«

Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als der Mann noch immer die Augen gesenkt hielt und sich wand wie ein Wurm am Haken.

»Nun ja, in gewissem Sinne …«

»Was soll das heißen?«

»Wir haben sein Zimmer weitervermietet. Wir können uns nicht leisten, Zimmer freistehen zu lassen. Und da Ihr verehrter Herr Vater seit Wochen die Miete nicht mehr bezahlt hat …«

Mit wenigen Schritten war Désirée bei ihm und blickte auf ihn herab. »Wo sind die Sachen meines Vaters?«, rief sie erregt.

»Wir haben sie in eine Besenkammer eingeschlossen.«

»Was haben Sie?«

»Hören Sie, Mademoiselle, ich versichere Ihnen, dass nicht das kleinste Stückchen fehlt. Außer ein paar Dingen, die wir gewissermaßen als Pfand für die ausstehende Miete …«

»Das ist doch die Höhe!«, rief sie aufgebracht. »Lassen Sie sofort die Sachen meines Vaters in meine Zimmer bringen. Und beten Sie, dass nichts fehlt, sonst werde ich mich beim zuständigen Präfekten über Sie beschweren, wie Sie mit dem persönlichen Eigentum Ihrer Hotelgäste umgehen!«

Kapitel III

Das Gewimmel auf den Straßen Algiers war genauso faszinierend wie beängstigend. Für Désirée war diese orientalische Betriebsamkeit nichts so Ungewöhnliches, dass es sie abschrecken würde. Zudem besaß die Stadt ein unverkennbar französisches Flair. Sechzig Jahre französischer Herrschaft hatten ihr diesen Stempel aufgedrückt. Auch wenn sich immer wieder Widerstand der Einheimischen regte, der letzte große Aufstand 1871 war erfolgreich niedergeschlagen worden.

Diese Mischung aus dem europäischen Lebensstil und der faszinierenden Exotik der Berber, dem kühlen Charme Frankreichs und dem heißen Atem der Wüste berauschte Désirée. Wie ein Amphitheater schmiegten sich die Häuser an die Hänge der Bucht, die das Mittelmeer einschloss. Die weitläufigen Parks, Paläste, Villen, öffentlichen Gebäude hatten unverkennbar französisches Gepräge. Dazwischen ragten wie mahnende Finger die schlanken Minarette der Moscheen in den Himmel. Vom Hafen her erklang der geschäftige Lärm von den vielen Schiffen, die ihre Fracht ausspien und mit neuer beladen wurden. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelte es von Menschen: Hafenarbeiter, Tagelöhner, Händler, Seeleute. So vielfältig wie ihr Äußeres waren auch ihre Sprachen. Désirée wurde für einen Augenblick an das biblische Babel erinnert. Im Stillen lächelte sie, weil ihr zum wiederholten Male bewusst wurde, dass sie stets mit ihren Gedanken in der Vergangenheit weilte. Was wusste sie eigentlich von den Menschen, die jetzt lebten?

Ein breiter Boulevard, beidseitig von hohen, schlanken Palmen gesäumt, führte zu mehreren repräsentativen Gebäuden.

Eines war der Palast des Gouverneurs, ein anderes das Regierungsgebäude. Aber diese waren nicht Ziel von Désirées Suche. Vor einem großen Bau blieb sie stehen. Zwei Pylonen flankierten das imposante Portal. Darauf waren die Umrisse von Löwen eingeritzt. Berberlöwen. Es war nicht das Zoologische Institut, sondern das Museum des Altertums von Algier. Wenn Désirée einen konkreten Hinweis auf den Verbleib ihres Vaters zu finden hoffte, dann hier.

Entschlossen stieg sie die Steinstufen hinauf und öffnete die schwere, mit Metall beschlagene Tür. Sie kannte den etwas morbiden Geruch von Museen. Wahrscheinlich rochen alle Museen der Welt so. Auf jeden Fall die in Paris. Auch hier war es nicht anders, aber sie fühlte sich im gleichen Augenblick sicher.

Fast instinktiv fand sie das Büro des Direktors. Ausgestattet mit schweren Teppichen, die Désirées Schritte verschluckten, fand sie sich in einem luxuriösen Ambiente wieder. Übereifrig kam ihr der Direktor Charles de Latour entgegen.

»Ich bin entzückt, Mademoiselle Montespan«, rief er und küsste mehrfach ihre Hand. Ein wenig irritiert zog Désirée sie zurück.

»Es freut mich ebenfalls, Monsieur le Directeur.«

Latour wies einladend auf einen reich verzierten Lederstuhl, der eine wertvolle Kunstarbeit der Berber darstellte.

»Wie gefällt Ihnen unser Algier? Haben Sie schon etwas besichtigen können? Haben Sie die Seereise gut überstanden? Ach, ich fühle mich geehrt, dass eine so berühmte Frau … ähäm … die berühmte Tochter eines so berühmten Mannes …«

»Womit wir gleich beim Thema wären«, erwiderte Désirée, der derartige Vorstellungen unangenehm waren. Sie benötigte keine Schmeicheleien. Sie erwartete, zuvorkommend, aber gleichberechtigt behandelt zu werden. Dieser glotzäugige, übergewichtige Direktor wirkte ölig wie verschwitzt glänzende Haut. Sie blieb mitten im Raum stehen. »Ich nehme an, dass Sie wissen, wo sich mein Vater zurzeit aufhält.«

Das Gesicht des Direktors wechselte fast schlagartig von übertriebener Freundlichkeit zu theatralischer Tragik. Er rang die Hände und hob sie dann zum Himmel. »Weiß Gott, ich habe ihn gewarnt. Er hätte so vieles hier unter diesem Dach erforschen können. Unser Fundus hätte ihm all das geboten, was sein Herz begehrt. Aber nein, er musste unbedingt diese Expedition ausrüsten, wollte an den Ort, von dem noch keine menschliche Seele je zurückgekehrt ist.«

»Sie wissen also, wo er sich aufhält?«

»Ich weiß es nicht, bei Gott, ich weiß es nicht. Und ich glaube auch nicht, dass er diesen Ort überhaupt erreicht hat. Die Tuareg nennen ihn den Ort, wo die Geister wohnen. Selbst sie fürchten ihn.«

Désirée nahm nun doch Platz, denn ihr Interesse war geweckt. »Die Tuareg?«

»Ja, diese unseligen Wüstensöhne. Sie sind schnell wie der Wind, grausam und gottlos. Sie halten sich Sklaven, überfallen Karawanen, und wehe dem, der in ihre Hände fällt. Sie tragen Schwerter und Dolche, mit denen sie trefflich umgehen können. Ihre Schmiede sind Hexenmeister, kommen direkt aus der Hölle.«

Désirée hörte ihm mit wachsender Verwunderung zu. Dann schüttelte sie mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf. »Sie müssen mir keine Angst einjagen«, sagte sie. »Ich kenne die Berber bereits aus Tunesien. Für jeden Europäer sind die Wüstenbewohner zunächst Furcht einflößend, wenn sie auf ihren schnellen Pferden und unter Geheul dahergejagt kommen.« Sie lachte. »Es gehört zu ihrem Stolz, sich so aufzuspielen und Eindruck zu schinden. Ich weiß, dass das alles nur Theater ist. In Wirklichkeit sind sie Kamelhirten, die nach Knoblauch und Pfefferminze riechen und froh sind, am Abend ihre Wasserpfeife rauchen zu können.«

Monsieur de Latour schien verärgert darüber zu sein, dass Désirée ihn nicht ernst nahm.

»Sie irren sich«, sagte er und verengte dabei seine Augen zu zwei Schlitzen. Jetzt sah er aus wie ein schlafendes Schwein.

»Dann schauen Sie sich das an.« Er führte sie zu einer gläsernen Vitrine, in der ein kunstvoll gearbeitetes Schwert lag. Es besaß einen roten Griff. Das Metall glänzte gefährlich im Licht der einfallenden Sonnenstrahlen. Unwillkürlich schauderte Désirée.

»Sie reiten nicht auf Pferden, sondern auf weißen Kamelen, und niemand sieht ihre Gesichter, weil sich darunter die Fratze des Teufels verbirgt.« Wichtigtuerisch lief er vor der Vitrine hin und her.

»Wieso sieht niemand ihre Gesichter?«, wollte sie wissen.

»Weil sie stets verschleiert sind. Und man sagt, dass ihre Haut so blau ist wie ihre Schleier. Die gewickelten Turbane verbergen ihre Hörner.«

Désirée warf einen nervösen Blick auf das Schwert, wie um sich zu vergewissern, dass es noch immer bewegungslos unter dem Glas lag.

»Woher wissen Sie das, wo sie doch noch niemand von Angesicht zu Angesicht gesehen hat?«

»Oh, es gibt unzählige Berichte der Einheimischen, der Araber und Juden, der Berber und Neger. Sie alle fürchten die Tuareg, diese Wüstenräuber. Diese machen rücksichtslos von ihren verwunschenen Schwertern Gebrauch.«

Désirée schwieg. Sie war überzeugt, dass Monsieur de Latour maßlos übertrieb. Sie wandte sich wieder zur Vitrine um, und diesmal hatte sie die Nerven, die weiteren Ausstellungsstücke zu betrachten. »Und was ist das hier?«, wollte sie wissen und zeigte auf ein silbernes Kreuz mit filigraner Verzierung und einem Oval in der Mitte.

»Das Kreuz des Südens«, antwortete der Direktor. »Die Tuareg tragen es als Amulett. Es soll vor bösen Geistern schützen.«

Interessiert beugte sich Désirée herab. »Es ist wunderschön«, murmelte sie. »Wer so etwas herstellt, kann kein blutrünstiger, seelenloser Teufel sein.«

»Ach, hören Sie doch nicht auf diese Märchen, die über die Tuareg kursieren«, schnaufte Latour.

»Was für Märchen?«

»Diese romantischen Hirngespinste, die man sich in den Salons von Paris erzählt. Ich versichere Ihnen, kein Wort davon ist wahr.«

Désirée bedauerte, dass sie nicht in den Pariser Salons verkehrte. Offensichtlich hatte sie etwas Entscheidendes verpasst. Oder zumindest etwas Interessantes. Aber sie verzichtete darauf, den Direktor weiterhin dazu zu befragen. Etwas anderes war im Augenblick wichtiger als diese geheimnisvollen Wüstenmenschen.

»Was war das Ziel der Expedition meines Vaters?«

Der Direktor rang wieder die Hände. »Die Höhle der toten Seelen, das sagte ich Ihnen doch schon. Sie befindet sich irgendwo im Hoggar-Gebirge. Niemand aus der zivilisierten Welt hat sie jemals gesehen. Die Araber sprechen davon, dass es dort unermessliche Schätze geben soll, die die Tuareg ihren Ahnen ins Jenseits mitgeben. Und dass es an den Felswänden bunte Bilder gibt, Felsmalereien und geheimnisvolle Schriftzeichen, die niemand versteht.«

»Oh, darauf versteht sich mein Vater«, erwiderte sie schnell. »Er hat auch ägyptische Hieroglyphen entschlüsselt und …«

»Deshalb wollte ich ihn ja von dieser Wahnsinnsidee abbringen. Soll er doch Hieroglyphen entschlüsseln. Das ist nicht so gefährlich wie diese Expedition.«

»Und wo befindet sich das Hoggar-Gebirge?«

»Hier!« Er tippte mit dem Finger auf eine vergilbte Landkarte an der Wand des Büros.

»Oh, das sieht ziemlich weit aus«, stellte Désirée überrascht fest.

»Ist es auch. Nur die erfahrenen Karawanen sind in der Lage, die Wüste zu durchqueren. Und das hier …«, sein Finger vollführte einen großen Kreis auf der Karte, »… ist das Herrschaftsgebiet der Tuareg.«

Eigentlich war das Ganze schrecklich entmutigend. Doch Désirée war bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Sie hob stolz den Kopf. »Mein Vater hat noch nie unüberlegte Dinge getan. Deshalb vertraue ich ihm, und ich bin sicher, dass ihm nichts passiert ist. Es ist eine gewaltige Entfernung, deshalb ist er so lange verschwunden. Und sicher nimmt die Erforschung der Felsmalereien viel Zeit in Anspruch.«

Im Blick des Direktors stand nachsichtiges Bedauern über Désirées offensichtliche Naivität.

»Sicher«, erwiderte er und wich ihrem Blick aus. »Sie sollten die Schönheit dieser Stadt genießen und sich zerstreuen. Ich kann Ihnen einige Salons empfehlen. Meine Frau würde Sie gern dort einführen. Und wenn Sie in meinem Museum eine Aufgabe finden, würde ich mich sehr geehrt fühlen, eine so berühmte und …«

»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Auskünfte, es war wirklich interessant.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Mademoiselle Désirée, wenn ich etwas für Sie tun kann … Sie sind allein hier, eine schwache, schutzlose Frau und so schön …«

»Sie irren sich, Monsieur Latour. Ich bin zwar eine Frau, aber keineswegs schwach und schutzlos. Und Schönheit …«, sie zögerte und betrachtete ihn von oben bis unten, »… ist relativ. Au revoir!«

Direktor Latour schaute ihr nach, während er sich mit seinem zusammengefalteten Taschentuch über die lichte Stirn wischte. Offensichtlich war die ganze Familie Montespan verrückt!

Kapitel IV

Das Gewimmel der Prachtstraße nahm sie wieder gefangen, als sie die stillen, Ehrfurcht gebietenden Hallen des Museums verließ. Dieser Besuch hatte nicht den Erfolg gebracht, den sie erwartet hatte. Aber was hatte sie denn erwartet?

Jedenfalls war dieser Direktor nicht der Mann, der ihr helfen könnte und helfen würde. Zumindest nicht so, wie sie es sich vorstellte. Warum sahen die Männer in ihr nur die schutzbedürftige Frau? Schön, aber schwach, klug, aber dumm genug, sich in die Abhängigkeit eines Mannes zu begeben, berühmt, aber nur als Tochter ihres Vaters …

Sie ballte die Hände zu Fäusten, und ihr Schritt wurde energischer. Dann musste sie eben die ganze Sache selbst in die Hand nehmen, notfalls auch ohne fremde Hilfe.

»Madame, eine Kutsche? Guter Preis!«

Désirée sprang erschrocken beiseite, als eines der abenteuerlichen Gefährte mit klapprigen Pferden dicht neben ihr hielt. Sie drohte dem Kutscher mit ihrem Sonnenschirm.

»Danke, nein«, antwortete sie ihm auf Arabisch. »Eine Frau braucht keine Hilfe. Schon gar nicht von einem fremden Mann!«

Der Kutscher blickte sie entgeistert an, als würde sie im nächsten Moment explodieren. Das war selbst ihm noch nie passiert. Diese seltsamen fremden Frauen! Er schwang seine Peitsche und trieb das Pferd an. Sicher war sicher, man konnte schließlich nicht wissen …

Nein, Désirée brauchte keine Hilfe, nicht hier und nicht bei der Verwirklichung ihrer Pläne. Ein wenig trotzig reckte sie das Kinn nach vorn.

Der Boulevard war breit und modern. Europäische Passanten prägten das Bild, dazwischen gut gekleidete Einheimische, häufig in europäischen Anzügen. Allerdings, und das fiel Désirée ebenfalls auf, ging kaum eine europäische Frau allein. Sie befanden sich stets in männlicher Begleitung. Es nötigte ihr ein belustigtes Lächeln ab. Sie selbst hatte damit keine Probleme.

Das Hotel Oasis kam in Sicht. Désirée überlegte, ob sie noch einen Abstecher in den Basar unternehmen sollte. Das orientalische Gewimmel eines Marktes nahm sie seit je gefangen. Und es gab dort so wunderschöne Dinge zu kaufen: herrliche Tücher, Geschmeide, Ledertaschen, Gürtel, handgetriebene Messingteller und -kannen … Und erst der Duft der Gewürze, Öle und Parfüms! Sie seufzte. Eigentlich hatte sie davon schon jede Menge zu Hause, in Paris.

Sie stutzte, als sie zwischen den Passanten eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt in einem braunen Anzug bemerkte. Philippe!

»Philippe!« Mit ausgebreiteten Armen schwebte sie auf ihn zu, ungeachtet der missbilligenden Blicke der Männer auf der Straße. »Philippe!« Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn überschwänglich. »Endlich bist du da!«

Philippe hatte sie nach einem kurzen Zögern in die Arme genommen und hielt sie nun fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Dann bog sie jedoch den Oberkörper etwas nach hinten und blickte ihn tadelnd an.

»Warum hast du mich nicht am Hafen abgeholt?«

Einen langen Augenblick schaute Philippe sie an, dann schob er sie sanft von sich. »Wieso bist du überhaupt hier?«, wollte er wissen. »Hast du meinen Brief nicht erhalten?«

»Welchen Brief?« Sie schüttelte kurz den Kopf, dann fasste sie nach seiner Hand. »Komm mit, ich habe ein hübsches Appartement im Hotel Oasis reserviert. Ich lasse das Abendessen aufs Zimmer bringen.« Sie lächelte ihm verschmitzt zu. »Und zum Nachtisch eine Wasserpfeife.«

Mittlerweile gab es um sie beide einen kleinen Auflauf. Teils kopfschüttelnd, teils ungläubig lächelnd, teils ungehalten und missbilligend schauten die Männer ihnen zu. Désirée nahm es nicht zur Kenntnis, während Philippe nur einen kurzen Blick auf die Menschen warf, dann seiner Verlobten bereitwillig zum Hotel folgte.

»Ich habe dich etwas gefragt, Désirée«, sagte er, während sie zum Hotel gingen. »Wieso bist du gekommen?«

»Na hör mal, Philippe, wieso sollte ich nicht kommen? Ich werde doch meinen Vater nicht im Stich lassen. Hat er sich inzwischen bei dir gemeldet?«

Philippe schüttelte stumm den Kopf und rettete sich aufatmend ins Hotelfoyer,

»Bitte den Zimmerkellner auf meine Suite«, rief Désirée dem kleinen Franzosen an der Rezeption zu. Dann zog sie Philippe mit sich die mit rotem Teppich belegte Treppe hinauf. »Schau, was für einen wunderbaren Blick wir von hier auf Algier haben«, schwärmte sie, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Philippe zog Désirée in seine Arme und suchte ihre Lippen. Bereitwillig gab sie sich ihm hin. Doch dann entwand sie sich seinen Armen und eilte zum Fenster. Sie schlug die Vorhänge zurück, die die Hitze des Tages abhalten sollten. »Ist es nicht wundervoll?«

Philippe trat neben sie und legte einen Arm um ihre schlanke Taille. »Es war keine gute Idee, herzukommen. Ich wollte dich warnen, dich davon abbringen.«

»Aber warum?« Sie starrte ihn von der Seite an. »Es geht um meinen Vater!«

»Ich weiß«, erwiderte er und ließ nun seinerseits seine Augen über das Panorama der quirligen Stadt gleiten. »Aber du wirst nichts für ihn tun können.«

Sie lachte auf. »Wie kommst du denn darauf? Wir werden gemeinsam etwas für ihn tun. Schließlich ist der Name Montespan auch in Algerien mittlerweile bekannt. Und du kennst dich hier bei den Behörden aus, wirst mir einige Wege ebnen können.«

Philippe seufzte leise. »Als ich dich kennen lernte, wusste ich gleich in der ersten Minute, dass du ein kleines, eigensinniges Mädchen bist. Es hat mir gefallen. Aber glaubst du nicht, dass Pariser Kaprizen etwas anderes sind als waghalsige Abenteuer in der Wüste?«

»Ich kenne die Wüste, hast du das vergessen? Und meinem Vater zu helfen, betrachte ich nicht als Kaprize, lieber Philippe. Jede Expedition will genau durchdacht sein. Das hat mich auch mein Vater gelehrt. Niemals würde ich mich gedankenlos in ein Abenteuer stürzen. Deshalb schlage ich hier mein Basislager auf und bereite alles bis ins kleinste Detail vor.«

Es klopfte an der Zimmertür, und ein Kellner trat ein. Désirée gab die Bestellung für ein mehrgängiges Menü auf und orderte für danach eine Wasserpfeife. Mit einer Verbeugung entfernte er sich wieder.

»Hör mir zu, Désirée«, sagte Philippe mit ernstem Gesicht, als sie wieder allein waren. »Eigentlich wollte ich heute Abend wieder zurückkehren, es gibt Probleme in den Minen, und ich habe keine Zeit, dir bei der Suche nach deinem Vater behilflich zu sein. Ich rate dir dringend ab, es auf eigene Faust zu versuchen. Es ist viel zu gefährlich. Ich bringe dich morgen zum Hafen, und du nimmst das nächste Schiff zurück nach Marseille. Sobald sich die Situation in den Minen wieder beruhigt hat, werde ich mich um deinen Vater kümmern.«

»Dann kann es schon längst zu spät sein«, begehrte Désirée auf. Sie senkte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen. »Ich dachte, du liebst meinen Vater«, flüsterte sie.

Philippe zog sie in die Arme und strich ihr sacht übers Haar, während sie ihre Wange an seine Schulter legte. »Natürlich mag ich deinen Vater. Ich habe großen Respekt vor ihm und bewundere ihn wegen seines Mutes und seiner Zähigkeit. Aber ich habe auch eine verantwortungsvolle Arbeit, die ich im Augenblick nicht vernachlässigen kann.«

Trotzig warf Désirée den Kopf zurück. »Was sind ein paar tote Steine gegen das Leben meines Vaters?«

Er blickte auf sie herab wie auf ein unartiges Kind. »Es hat etwas mit Verantwortung zu tun. Und jetzt, wo dein Vater auf dieser Expedition ist, auf die er dich aus gutem Grund nicht mithaben wollte, obliegt mir die Verantwortung. Sowohl für dich als meine zukünftige Frau als auch für das Geld, von dem wir einmal leben müssen. Und ich habe die Verantwortung für die Minen. Ich kann nicht zulassen, dass rebellische Bergleute dort großen Schaden anrichten. Schließlich sind die Bodenschätze wichtig für Frankreich.«

»Mein Vater ist auch wichtig für Frankreich«, erwiderte sie.

Philippe zog sie wieder fester an sich. »Daran hätte er eher denken sollen, bevor er ein solch waghalsiges Unternehmen startete. Erst wenige unserer Leute waren bei den Tuareg.«

»Den Tuareg?«

»O ja, Wüstenkrieger von der unangenehmen Sorte. Désirée, ich weiß, dass dich weder die Wüste noch ihre Gefahren schrecken. Aber diesmal muss ich hart bleiben. Es ist kein Vergleich zu euren Ausgrabungen in Tunesien. Algerien ist nicht Karthago.«

»Wüste ist Wüste«, gab sie zurück. »Mein lieber Philippe, ich habe den Verdacht, dass du nur zu feige bist, meinem Vater zu helfen. Dir ist deine Arbeit in den Minen wichtiger, weil es für dich einträglich ist. Die Suche nach meinem Vater kostet Geld.«

Ungehalten wandte Philippe sich ab. »Jetzt wirst du ungerecht. Du weißt, dass mir nichts zu teuer ist, was dich betrifft, Désirée, und da schließe ich deinen Vater mit ein. Aber bitte vergiss nicht, dass er ein erwachsener Mann ist und sich sehr wohl überlegt hat, dass er ein Risiko eingeht. Akzeptiere seine Entscheidung, und respektiere sie. Du sagtest selbst, dass er jede Expedition gründlich vorbereitet. Er wusste, was er tat. Außerdem sind die Entfernungen in der Westsahara nicht mit dem zu vergleichen, was du bisher kennen gelernt hast.«

»Du willst mich nur davon abbringen, meinen Vater zu suchen«, schmollte sie.

»Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Und da ich mich für dich verantwortlich fühle, wirst du morgen nach Frankreich zurückkehren.«

»Mein lieber Philippe, du vergisst, dass auch ich ein erwachsener Mensch bin und durchaus selbst entscheiden kann.«

»Das streite ich auch nicht ab. Aber manchmal kommt eben dein Trotzköpfchen zum Vorschein, und da muss ich einfach ein bisschen regelnd eingreifen.«

Désirée presste die Zähne zusammen, um nicht antworten zu müssen. Philippes Einstellung brachte sie auf. Fast erstickte sie an ihrer unterdrückten Enttäuschung.

»Denkst du auch so, wenn wir verheiratet sind?«, wollte sie wissen.

»Dann denke ich erst recht so«, erwiderte er lächelnd und schob sie zum Tisch. »Dann bist du ja meine Frau.«

Das Essen wurde serviert, aber in Désirées Bauch ballte sich ein Knoten zusammen. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Nicht einmal die Wasserpfeife, deren Genuss sie in Tunesien schätzen gelernt hatte, konnte sie jetzt noch locken.

»Bedeutet das, dass ich dann dein Eigentum bin, mit dem du machen kannst, was du willst?«, beschwerte sie sich, ohne auf die betretenen Gesichter der beiden diskret servierenden Zimmerkellner zu achten. »Dann kannst du mich ja gleich hinter schwarze Schleier stecken wie diese unglücklichen Frauen in diesem Land.«

»Bitte schrei nicht so«, versuchte Philippe sie zu beschwichtigen. »Erstens würde ich dich niemals als mein Eigentum betrachten, schließlich sind wir keine Sklavenhalter. Zweitens würde ich bedauern, wenn ich nicht jeden Tag dein hübsches Gesicht sehen könnte. Und drittens gibt es zur Eheschließung so etwas wie ein Versprechen, nämlich dass ich für dich sorgen werde, dich lieben und achten in guten wie in schlechten Tagen. Und manchmal hast du eben schlechte Tage.«

»So wie jetzt?«, klagte sie und warf sich demonstrativ auf den mit rotgoldenem Stoff bezogenen Diwan.

»Beweise mir, dass du ein erwachsener Mensch bist, der selbst entscheiden kann«, erwiderte Philippe ungerührt und nahm am Tisch Platz. Er entfaltete sorgfältig eine blütenweiße Serviette und steckte sie sich in den Hemdkragen. »Und zu einem erwachsenen Menschen gehört, dass er sich nicht so kindisch benimmt wie du. Ein erwachsener Mensch setzt sich an den Tisch und genießt dieses vorzügliche Mahl.«

Désirée war sich im Klaren darüber, dass sie auf diese Weise nicht weiterkommen würde. Auch Tränen würden Philippe wahrscheinlich nicht erweichen, zumindest nicht in dieser Angelegenheit. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durchs Haar. Ihre kunstvolle Frisur hatte sich schon seit der Fahrt in der Droschke aufgelöst. Sie würde einen französischen Frisör aufsuchen müssen.

Ein wenig sollte sie jedoch noch mit Philippe schmollen, um ihm zu zeigen, dass sie keineswegs bereit war, seinen Machtansprüchen nachzugeben. Für einen Augenblick überlegte sie sogar, ob es wirklich ein so guter Plan war, zu heiraten. Auch wenn Philippe ein moderner, sehr toleranter Mann war, einen großen Teil ihrer Freiheit würde sie durch die Hochzeit auf jeden Fall einbüßen. Was, um alles in der Welt, unterschied sie dann noch von diesen rabenschwarzen weiblichen Unglücksvögeln, die durch die Gassen der Stadt huschten, um schnell hinter einer der Türen zu verschwinden, die die dicken hohen Mauern verschlossen, hinter denen sie gefangen waren? Gefangen von einer Männerwelt, die auf diese Weise ihre Macht ausspielte. War das wirklich der gleiche Philippe, in den sie sich in Paris verliebt hatte?

Der Duft des in Honig gebackenen Hühnchens stieg ihr in die Nase. Seufzend erhob sie sich, um sich mit schleppendem Schritt zum Tisch zu begeben. Sie setzte sich, warf den Kopf in den Nacken und betrachtete Philippe unter gesenkten Lidern. Keineswegs würde sie zugeben, dass sie der Hunger an Philippes Tisch getrieben hatte. Und da sie sich lange mit den antiken Griechen beschäftigt hatte, wusste sie auch, was Diplomatie war. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, und ihr Blick wurde eine Spur verführerisch.

»Du bist ein starker Mann«, sagte sie. »Dir kann ich einfach nicht widerstehen.«

Philippe ließ sich beim Essen nicht stören. »Schön, dass du wieder vernünftig geworden bist. Koste mal von dem köstlichen Ingwergemüse.« Für ihn schien sich die ganze Angelegenheit erledigt zu haben.

Désirée beschäftigte sich intensiv mit ihrem Essen, probierte die verschiedenen Gemüsesorten, knabberte an dem gebackenen Hähnchen und nippte dazu von einem vorzüglichen Bordeaux.

»Allein schon wegen des Weins würde ich niemals zum Islam übertreten«, sagte sie.

»Ich muss dir Recht geben. Mittlerweile werden hier fast bessere Weine angeboten als daheim.«

Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, kuschelten sie sich zusammen auf den Diwan, neben sich den Rest des Bordeaux, und teilten sich die Wasserpfeife. Während sie abwechselnd den gereinigten Tabakrauch aus dem Mundstück sogen und beim Schein einer orientalischen Öllampe die gluckernden Blasen in dem Glasbehälter beobachteten, breitete sich in Désirée plötzlich eine tiefe Friedfertigkeit aus. Jetzt wusste sie, wie sie ihren Plan verwirklichen konnte. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Du hast Recht, Philippe, es war keine gute Idee, nach Vater suchen zu wollen«, sagte sie nachdenklich. »Du wirst verstehen, dass ich mir um ihn Sorgen mache. Aber es ist wahrscheinlich leichter, ein Sandkorn in der Wüste zu finden als ihn, zumal er sich ja trefflich wie die Einheimischen zu kleiden weiß.«

Philippe nickte. »Gut, dass du es einsiehst. Ich verspreche dir, dass ich mich darum kümmern werde.«

»Danke!« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Und ich verspreche dir, nach Marseille zurückzukehren. Allerdings, da ich nun schon mal die lange Seereise gemacht habe, würde ich mir gern noch ein, zwei Tage Algier anschauen.«

»Es tut mir Leid, chérie, aber dazu habe ich keine Zeit. Spätestens morgen früh muss ich in die Mine zurückkehren. Deshalb fände ich es besser, wenn ich dich noch zum Hafen bringen könnte.«

»Nun, ich glaube, in Algier brauche ich keine männliche Begleitung, schließlich herrschen hier ja französische Verhältnisse. Niemand würde es wagen, mir etwas anzutun. Aber du kannst mir ja die Schiffspassage besorgen, damit du beruhigt bist.« Ihre Hand fuhr spielerisch durch sein Haar. Sie wusste, dass sie ihn auf diese Weise besänftigen konnte.

Trotzdem richtete er sich etwas auf und schaute sie prüfend an.

»Ich möchte mir irgendetwas Hübsches als Andenken kaufen«, sagte sie mit einem koketten Augenaufschlag. »Es gibt so wunderschöne Tücher und Stoffe, vielleicht auch eine kleine Wasserpfeife.«

»Hast du nicht schon eine ganze Sammlung daheim?«

»Sicher, aber noch keine aus Algerien.«

»Ich bin beruhigt, dass du doch wie alle anderen Frauen bist. Frauen kaufen gern schöne Dinge.«

»Hast du je daran gezweifelt?«, fragte sie und knabberte an seinem Ohrläppchen.

Er lachte auf. »Eigentlich nicht.« Er legte den Schlauch der Pfeife beiseite und schlang seine Arme um sie. »Und wenn du schon einmal da bist, hätte ich auch gern ein kleines Andenken von dir.«

»Oh, du kannst ein großes Andenken von mir bekommen. Ich schenke dir die ganze Nacht!«

Kapitel V

Philippe half ihr noch, das Mieder zu schnüren, das sie wohl oder übel anlegen musste. Désirée steckte ihr Haar selbst auf und beschloss, den Frisör später aufzusuchen. Das Frühstück nahmen sie im Speisesaal des Hotels ein. Danach verabschiedete sich Philippe, nicht ohne vorher das Schiffsticket von einem Boten besorgen zu lassen. Désirée umarmte und küsste ihn und wischte sich sogar verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Fast bekam sie so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil sie Philippe hinterging. Aber auch sie verspürte dieses Gefühl des Verantwortungsbewusstseins, und zwar ihrem Vater gegenüber.

Sosehr sie Philippe liebte, sie liebte ihren Vater ebenso. Im Augenblick war sie zwischen beiden Männern hin- und hergerissen. Manchmal überwog das Gefühl zu Philippe, nach dem gestrigen Streit jedoch war sie überzeugt, dass sie ihren Vater suchen müsse. Dabei störte Philippes übertriebene Sorge nur. Und dass er sie doch ein wenig als sein Eigentum ansah, konnte sie ihm nicht ganz verzeihen. Wahrscheinlich würde es nach der Hochzeit noch viel schlimmer werden. Dann würde er sich darauf berufen, dass sie ja seine Frau sei und ihm zu gehorchen habe, auch wenn er nicht darauf bestand, dass sie in aller Öffentlichkeit verschleiert ging. Waren die Männer nicht überall auf der Welt gleich?

»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, mahnte sie Philippe. »Schreib mir, sobald du in Paris angekommen bist.«

Sie nickte. »Ja, Philippe, das verspreche ich dir. Mach dir keine Sorgen um mich.«