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Titelseite

Prolog

„Nein … nein …“

Sie wälzte sich unruhig in ihrem Himmelbett hin und her und murmelte im Schlaf. „Nein, bitte bleib weg. Bleib weg!“

Wenn sie doch nur aufwachen würde. Wenn sie ihre Augen öffnen könnte, wäre sie sicher. Sicher in ihrem Bett, sicher im Haus in der Fear Street.

Aber sie konnte nicht aufwachen.

„Nein … nein …“ Ihr Jammern wurde immer lauter.

„Neeein!“

Plötzlich saß sie aufrecht in ihrem Bett und war hellwach. Sie schauderte und rang nach Luft. Panisch krallte sie sich an ihrer Decke fest und blickte sich im dunklen Zimmer um – ihrem vertrauten Schlafzimmer.

„Hier ist niemand. Es war nur ein Albtraum“, versuchte sie sich zu beruhigen. „Nur ein furchtbarer Traum.“ Unablässig wiederholte sie diesen Satz wie ein Schlaflied.

Vom Bett aus konnte sie durchs Fenster schauen. Sie blickte in eine weitere kalte Herbstnacht. Der mächtige alte Ahornbaum zitterte in der eisigen Brise und ließ seine letzten Blätter fallen. Durch seine kahlen Äste hindurch konnte sie die Straßenlaterne sehen, von der ein unheimliches gelbes Licht ausging. Schweißgebadet sank sie zurück in die Kissen.

„Es wäre klüger, wenn ich gar nicht mehr schlafen würde“, sagte sie sich.

Sie seufzte leicht auf und fühlte sich gleich etwas besser. Dann schloss sie die Augen.

Und genau in dem Moment spürte sie die Anwesenheit eines anderen.

Sie war also doch nicht allein.

Schlagartig öffnete sie die Augen. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so wach und alarmbereit gewesen.

Doch warum war sie sich so sicher, dass jemand in ihrer Nähe war?

Sie wusste es nicht.

„Wer ist da?“, flüsterte sie.

Keine Antwort. Sie setzte sich langsam auf und hielt die Bettdecke an ihren Körper gepresst. Ihr Blick wanderte durch das dunkle Zimmer.

Dann sah sie es.

Ein Lichtschimmer in der hinteren Ecke.

Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, war aber vor Angst völlig gelähmt. Denn jetzt konnte sie auch den Menschen erkennen, der sich in ihrem Zimmer versteckt hielt.

Dann wurde plötzlich alles stockdunkel. Das Mädchen stürzte so schnell auf sie zu, dass sie gar keine Zeit hatte zu reagieren.

Blitzschnell senkte sich das Messer.

Der erste Hieb ging daneben. Sie kämpfte verzweifelt und versuchte, sich wegzudrehen.

Doch jetzt hatte sie sich in der Decke verfangen und das andere Mädchen presste sie nieder.

„Schwester!“, kreischte sie und bemühte sich verzweifelt, die andere von sich wegzudrücken.

„Aber du bist doch meine Schwester!“

Um Hilfe schreien wollte sie, aber dafür bekam sie zu wenig Luft. Sie zwang sich aufzustehen, doch die Angreiferin schubste sie zurück und sie prallte mit dem Kopf gegen den Bettpfosten.

Einen Moment lang war alles schwarz.

Dann erst fühlte sie den beißenden Schmerz.

Und plötzlich war alles um sie herum still.

1

Maggie Travers’ Albträume begannen, als sie das erste Mal im Himmelbett schlief.

Das Bett war lediglich eine der Überraschungen, die auf Maggie und ihre Familie im neuen Haus in der Fear Street warteten.

Aber eine Weile hatten die Travers das Gefühl, sie würden das Haus gar nicht erst finden.

Maggie hatte in die Straßenkarte auf ihrem Schoß gestarrt und versucht, mit dem Finger eine Route zur Fear Street zu finden.

Sie klemmte sich eine ihrer langen roten Haarsträhnen hinters Ohr, die sich sofort wieder löste und ihr zurück ins Gesicht fiel. „Ich glaube, wir müssen hier an der Kreuzung links abbiegen“, meinte sie zu ihrer Mutter.

Mrs Travers drosselte das Tempo und fuhr langsam an die Kreuzung heran. Sie blickte durch die Windschutzscheibe ins gleißende Sonnenlicht. Es war ein Nachmittag im Frühling. „Bist du sicher?“

„Nein, sie ist sich nicht sicher“, grummelte Andrea auf dem Rücksitz. „Wir hätten vorhin rechts abbiegen müssen. Aber nein, wenn Maggie sagt, du sollst geradeaus fahren, dann fährst du geradeaus. Das ist total bescheuert.“

Maggie blieb ruhig, denn sie hatte keine Lust, mit ihrer Schwester aneinanderzugeraten.

Gus, Maggies alter Golden Retriever, teilte sich die Rückbank mit Andrea. Er hatte seinen Kopf durchs Fenster gesteckt und jaulte erbärmlich.

Maggie warf einen Blick in ihren Seitenspiegel. Wie bei jeder Autofahrt sah Gus irgendwie hilflos aus. „Ich weiß, wie du dich fühlst“, dachte Maggie. „Ich wünschte auch, wir wären schon da.“

Es war Samstag und der Tag ihres großen Umzugs war endlich gekommen. Eigentlich sollten sie dem großen weißen Umzugswagen folgen, doch dann hatte Andrea darauf bestanden, wegen einer Cola an einer Raststätte zu halten.

Dadurch hatten sie den Wagen aus den Augen verloren, Maggie hatte die Landkarte falsch gelesen und jetzt irrten sie durch die Straßen nördlich des Fear-Street-Walds. Und das bereits mehr als …

Maggie schaute auf ihre Armbanduhr. Schon zehn nach drei!

Wie sollte sie jetzt noch pünktlich zum Training kommen? Die anderen Mädchen vom Schwimmteam der Shadyside High wunderten sich sicherlich, wo sie blieb.

„Wir verpassen das Training“, informierte sie ihre Schwester.

Andrea rollte genervt die Augen. „Natürlich“, murmelte sie.

„Wenn wir doch einen Fußgänger fragen könnten“, sagte Mrs Travers und strich sich nervös das rötlich graue Haar zurück.

„Wir sind verloren“, meinte Andrea sarkastisch. „Wir sind im Nirgendwo. Und das dank du-weißt-schon-wem.“

„Wir hätten dem Umzugswagen folgen sollen“, versuchte Maggie ihre Schwester so ruhig wie möglich zu erinnern.

„Was hat das denn damit zu tun?“, keifte Andrea zurück.

Maggie seufzte. Ihre Schwester schien es auf einen Streit angelegt zu haben. „Hör mal“, meinte Maggie, „ich will nur sagen, dass es nicht allein meine Schuld ist. Okay?“

„Und wer hat behauptet, wir müssen geradeaus fahren?“, stichelte Andrea. „Gus?“

Maggie versuchte, keine Miene zu verziehen, aber sie spürte, wie sie langsam wütend wurde. So lief es jedes Mal ab. Egal, wie oft sie sich vornahm, sich nicht mehr über Andrea zu ärgern – ihre Schwester schaffte es immer wieder, sie zu reizen.

Sie reichte die unhandliche Straßenkarte nach hinten. „Möchtest du das übernehmen?“, fragte sie. „Wenn du glaubst, es besser zu können, kannst du es gerne versuchen.“

„Nein danke“, murmelte Andrea. „Sicher kann ich das nicht so gut wie du. Denn du kannst alles besser.“

„Na ja –“, begann Maggie.

Mrs Travers warf ihrer älteren Tochter einen warnenden Blick zu. „Maggie“, sagte sie. „Bitte.“

Maggie fühlte, wie sie rot wurde. Immer schien Mrs Travers sie aufzufordern, mehr Rücksicht auf ihre Schwester zu nehmen. Und stets erklärte sie ihr, wie viel schwerer Andrea es hätte.

Maggie war siebzehn, Andrea sechzehn. Doch dem Verhalten der Mutter nach zu urteilen war Andrea erst fünf.

Noch einmal warf Maggie einen Blick auf ihre Schwester, die gerade schmollend aus dem Fenster starrte. Dabei streckte sie ihren Unterkiefer nach vorne – das machte sie jedes Mal, wenn sie frustriert war.

Maggie merkte, wie sich ihr Ärger legte und einem Anflug von Mitleid Platz machte. Mom hatte recht. Sie sollte wirklich mehr Rücksicht auf Andrea nehmen.

Die beiden Schwestern sahen einander sehr ähnlich. Doch die gleichen Merkmale, die Maggie so gut aussehen ließen – die grünen Augen, das rote Haar, die hohen Wangenknochen –, passten bei Andrea nicht so recht zusammen.

Maggie war groß und schlank, Andrea war etwas kleiner und wirkte mit ihren breiten Schultern fast schon untersetzt.

Außerdem war Maggies langes rotes Haar dick und ein wenig gewellt. Andreas schulterlanges Haar hingegen war fein und hing stets schlaff und strähnig herab – egal, was sie dagegen unternahm.

Doch nicht nur im Aussehen war Maggie besser weggekommen. Hinzu kam, dass sie ihrer Schwester in allem stets einen Schritt voraus war – Schulnoten, Sportarten, Jungs.

„Daran gibt es keinen Zweifel“, dachte sie traurig.

Dieser Umzug würde Andrea schwerer als dem Rest der Familie fallen.

Im Grunde war Andrea an ihrer alten Schule nie sehr beliebt gewesen, sie hatte nur Glück gehabt, ein Mädchen aus North Hills zu sein.

Denn North Hills war das angesehenste Gebiet in Shadyside. Andrea hatte es geliebt, im Country Club abzuhängen und sich über andere lustig zu machen. Die Erinnerung daran, wie verächtlich Andrea und ihre Freundinnen die Kinder aus anderen Gegenden behandelt hatten, ließ Maggie zusammenzucken.

Doch jetzt lag North Hills bereits weit hinter ihnen und alle Kinder, die Andrea über Jahre hinweg gehänselt hatte, freuten sich.

„Ich werde nicht mehr mit meiner Schwester streiten“, ermahnte sich Maggie. „Das werde ich nicht, das werde ich nicht“, dachte sie, als wäre ihr Gedächtnis eine Tafel und der Lehrer hätte sie aufgefordert, immer wieder denselben Satz aufzuschreiben.

Noch immer fühlte Maggie sich schuldig, denn sie hatte sogar an dem Tag mit Andrea gestritten, an dem ihr Vater gestorben war.

Andrea hatte Maggie beim Frühstück vorgeworfen, in der Nacht heimlich die Milch fürs Müsli ausgetrunken zu haben. Maggie hatte heftig protestiert und ihre Unschuld beteuert. Und dann hatte Andrea sie als Lügnerin beschimpft.

Im Gegenzug hatte Maggie Andrea Dinge vorgeworfen, die schon Jahre zurücklagen. So ging es eine Weile hin und her, bis sie sich nur noch angeschrien hatten und Andrea irgendwann in Tränen ausgebrochen war. Daraufhin hatte Mr Travers verlangt, dass Maggie aufhörte, ihre Schwester zu piesacken. Maggie war fuchsteufelswild geworden und hatte ihre Müslischale auf den Boden geschmettert.

Das war eine der größten Ungerechtigkeiten in Maggies Leben: Andrea konnte einen Wutanfall haben, schreien, heulen, Teller zertrümmern, was auch immer – ihre Ausbrüche war man gewohnt.

Doch wenn Maggie sich einmal nicht unter Kontrolle hatte, verhielten sich ihre Eltern so, als wäre das ganze Haus in die Luft gegangen.

Kurz nachdem sie die Müslischale auf den Boden geschmissen hatte, schämte sie sich dafür.

Das Gesicht ihres Vaters war tiefrot angelaufen. „Ich habe diese Zankerei satt“, hatte er gebrüllt. „Maggie, warum kannst du dich nicht wie jeder andere normale Mensch in deinem Alter verhalten?“

Dann hatte er den Tisch lautstark zurückgeschoben, seine Zeitung weggeworfen und war aus dem Haus gestürmt.

Danach hatte Maggie ihn nie wieder gesehen.

An besagtem Nachmittag hatte Mr Travers einen Schlaganfall erlitten, während er am Schreibtisch in seinem Büro gesessen hatte. Als seine Sekretärin ihn damals fand, war er schon tot gewesen.

„Ich werde mich nie bei ihm entschuldigen können“, dachte Maggie voller Trauer.

Sie standen noch immer an der Kreuzung. „Nun“, sagte Mrs Travers seufzend, „wir sollten zumindest irgendwas probieren.“ Sie bog links ab.

Natürlich hörst du auf Maggie“, meckerte Andrea.

Gus bellte zweimal.

„Hast recht, Gus“, lobte ihn Mrs Travers, „geig ihnen die Meinung.“ An ihre Töchter gewandt, fügte sie hinzu: „Gus möchte, dass ihr mit dem Gezanke aufhört.“

Trotz der Anspannung grinsten sich Maggie und Andrea kurz an. Der Glaube ihrer Mutter an das Wissen und die Weisheit der Tiere war in der Familie Travers nichts Neues.

Der Postkasten der Travers war stets vollgestopft mit Briefen von all den Tierhilfeorganisationen, denen Mrs Travers Geld gespendet hatte. Schon immer hatte sie den Mädchen erzählt, was Gus gerade dachte.

„Hoffentlich nähern wir uns nicht unserem neuen Haus“, murmelte Andrea, die aus dem Fenster starrte. „Bitte sag mir, dass wir nicht ausgerechnet hier leben werden.“

„Andrea hat recht“, dachte Maggie. Als ihre Mutter sie damals zu dem neuen Haus gefahren hatte, um es ihnen zu zeigen, hatte es ziemlich schlecht ausgesehen. Doch an dem Tag hatte es geschüttet, und sie hatten seitdem angenommen, dass allein der Regen das Haus und die Nachbarschaft so düster wirken ließ.

Doch gerade der strahlende Sonnenschein ließ die Gegend an diesem Tag noch trostloser erscheinen. Alle Häuser brauchten einen neuen Anstrich. Sie wirkten schäbig und heruntergekommen.

„Willkommen in der Stadt der Diebe“, scherzte Andrea und versuchte dabei, wie ein Touristenführer zu klingen. „Unsere Gegend ist stolz darauf, Ihnen mitteilen zu können, dass sie die höchste Kriminalitätsrate des Landes aufweist.“

Maggie lachte, aber sie merkte gleichzeitig, wie unruhig ihr Herz schlug. Der Gedanke an Einbrecher hatte sie schon immer in Panik versetzt, sogar in North Hills, wo solche Vorkommnisse äußerst selten waren.

Mrs Travers runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass dieser Teil der Stadt nicht unbedingt der tollste ist“, sagte sie. „Doch was anderes können wir uns momentan nicht leisten.“ Sie zwang sich zu lächeln. „Außerdem haben wir ja Gus, der uns beschützt.“

„Klar“, dachte Maggie. „Wenn jemand bei uns einbricht, wird Gus sich sofort auf ihn stürzen. Doch die einzige Gefahr für den Räuber wäre die, dass Gus ihm übers Gesicht schlecken und ihn damit schockieren würde!“

„Schau!“, rief Maggie plötzlich und deutete auf das grüne Zeichen, das in eine Straße wies. „Fear Street! Wir haben es gefunden! Wir sind also doch nicht verloren!“

Mrs Travers’ Laune verbesserte sich schlagartig und auch Maggie war erleichtert. Die gute Stimmung hielt an, bis sie das Haus sahen.

Die Nummer 23 wirkte sogar noch maroder und vernachlässigter als beim letzten Mal. Zwei der grünen Fensterläden hingen jeweils an einem rostigen Scharnier. Im Rasen waren große braune Stellen und er wirkte tot.

So wie das gesamte Gelände.

Maggie fröstelte.

Der große weiße Umzugswagen parkte davor und Männer trugen die Möbel zum Haus. Maggie beobachtete, wie zwei stämmige Männer durch die Eingangstür verschwanden und dabei mit der Anrichte zu kämpfen hatten.

Sie wollte die beiden schon auffordern, umzukehren und alles nach North Hills zurückzufahren. Doch das hier war jetzt ihr neues Zuhause.

Mrs Travers schaute ihre Töchter nacheinander an. Sie lächelte, aber Maggie sah die Sorge, die sich unter dem Lächeln verbarg. „Hört zu“, sagte sie, „mir ist klar, dass dieses Haus nicht allzu viel hergibt, aber wenn wir mehr Geld haben, können wir es anstreichen, alles reparieren und Blumen pflanzen. Dann wird es richtig nett hier. Wartet’s nur ab. Und bestimmt macht das Renovieren auch Spaß.“

Maggie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Der Umzug fiel auch ihrer Mutter schwer, das war ihr bewusst. „Na dann“, sagte Maggie und klatschte in die Hände, „los geht’s.“

Sie kletterte flink aus dem Wagen, hob ihre Arme und streckte sich. Währenddessen trommelte Gus mit seinem Schwanz ungeduldig auf den Rücksitz und beobachtete jede ihrer Bewegungen. „Sekunde, Gus“, sagte sie zu ihm.

Mrs Travers winkte den Umzugsleuten. „Wir haben uns verfahren“, rief sie ihnen zu.

Die Männer nickten nicht einmal mit dem Kopf.

„Mom“, sagte Maggie und zog leicht an ihrem Arm. „Ich brauche den Schlüssel für den Kofferraum.“

Mit dem eigenen Auto hatten sie ihre Wertsachen und Klamotten transportiert. Maggie schob den Schlüssel ins Schloss, öffnete den Kofferraum und begann, eine Tasche nach der anderen auszuladen. Sie zog ihre grüne Tasche heraus und stellte sie vorsichtig auf den Gehweg.

Gus bellte wie verrückt, während Andrea sich gegen das Auto lehnte und Löcher in die Luft starrte. „Andrea, willst du uns nicht helfen?“, fragte Mrs Travers mit scharfer Stimme.

Lustlos kam Andrea zu ihnen und wählte die kleinste – und leichteste – Tasche und ließ sie sofort auf den Weg plumpsen. „Oh, armer Gus“, sagte sie und öffnete die Wagentür. „Die Hitze da drin bringt dich bestimmt um.“

„Warte, Andrea, noch nicht“, warnte Maggie ihre Schwester.

Zu spät.

Gus stürmte aus dem Auto. Er umkreiste Andreas Beine, sprang Mrs Travers an und rannte dann zu Maggie.

„Ruhig, Gus!“, beschwichtigte Maggie ihn. Gleich darauf sah sie, wie er die Straße entlanglief, doch sie hatte keine Hand frei. „Gus!“, schrie sie.

Der dumme Hund wollte nicht hören.

„Schnell, Andrea. Schnapp ihn dir!“, rief Mrs Travers.

„Das ist Maggies Hund“, entgegnete Andrea trotzig. „Soll Maggie ihn doch einfangen.“

Maggie wollte Andrea gerade klarmachen, dass sie Gus rausgelassen hatte, aber dann sah sie den Ärger im Gesicht ihrer Mutter. „Ich hol ihn“, sagte Maggie und seufzte.

Sie ließ die Koffer fallen und rannte Gus hinterher. Er war schon am Ende der Häuserreihe angekommen und gerade dabei, die Hecke eines Nachbarn zu düngen. „Gus!“, schrie sie noch einmal.

Er hob nicht mal den Kopf, sondern lief weiter.

Sie rannte noch schneller hinter ihm her, ihre Turnschuhe schlugen hart auf den Asphalt.

Gus war um eine Ecke verschwunden und nicht mehr zu sehen. „Gus!“, rief sie erneut.

Dann erreichte sie die Ecke und blieb abrupt stehen.

Gus trottete über eine Rasenfläche auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Doch als er Maggie sah, wollte er zu ihr rennen.

Er nahm den kürzesten Weg.

Über die Straße.

Direkt vor einen rasenden Lastwagen.

„Gus – stopp!“, kreischte Maggie.

Sie schloss ihre Augen und hörte den schrillen Schmerzensschrei des Hundes.

2

Reifen quietschten, eine Hupe ertönte, der Lastwagen kam ins Schleudern.

Maggie hatte das entsetzliche Jaulen des Hundes noch in den Ohren und schrie auf.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie sich die Hände vor die Augen gepresst. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie die Hände wieder runternahm.

Und dann starrte sie ungläubig auf Gus, der völlig verängstigt, aber dennoch unverletzt, auf dem Bürgersteig stand.

„Der arme Hund“, dachte sie, „hat nicht vor Schmerzen, sondern vor Panik aufgeheult.“

Der Lastwagen hatte einige Meter entfernt gehalten und der Fahrer lehnte sich aus dem Seitenfenster. Sein Gesicht war rot vor Wut. „Nimm den blöden Köter an die Leine!“, brüllte er.

„’tschuldigung“, rief Maggie. Als sich der Wagen endlich entfernte, entfuhr Maggie ein Jubelschrei.

„Oh, Gus! Dir geht es gut! An dir ist noch alles dran!“ Sie ließ sich auf die Knie fallen und hielt ihre Arme weit auf. „Gus! Komm her!“

jetzt