Eine WG in Frankfurt am Main: Eva (Moderedakteurin, Kunsthistorikerin, »Prinzessin«), Genoveva (autodidaktische Sexualwissenschaftlerin, Forschungsschwerpunkte: Autogynophilie und Selfie Culture) und Venus (androgynes Model, Kulturwissenschaftlerin, Forschungsschwerpunkt: die Kolonien deutscher Vormärz-Auswanderer in Texas, insbesondere die Geschichte der nach Bettina von Arnim benannten libertären Kommune am Llano River). Sie schießen Modestrecken in der Baustelle der EZB, werden Zeuge der polizeilichen Erstürmung des Instituts für Vergleichende Irrelevanz, tanzen im »Robert Johnson« und suchen nach Zärtlichkeit jenseits einer von Freud, Foucault oder Butler als Gefängnis geschilderten Sexualität. Sie sind die Hauptfiguren in einem mal platonischen, mal erotischen Postgender-Liebesreigen, inszeniert von Thomas Meinecke, feministischer Autor, Anhänger weiblichen Schreibens und Schriftsteller-Darsteller im eigenen Roman.

Thomas Meinecke, 1955 in Hamburg geboren, Schriftsteller, Musiker, DJ und Mitbegründer der Band F. S.K., in der er bis heute spielt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. 2012 hatte er die Poetikdozentur an der Goethe-Universität Frankfurt inne, 2014 war er Writer in Residence an der Queen Mary University in London und 2016 Fellow am IFK in Wien.

Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Bände: Ich als Text. Frankfurter Poetikvorlesungen (es 2651), Lookalikes. Roman, 2011, Jungfrau. Roman, 2008.

Thomas Meinecke

Selbst

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:

Erste Auflage 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner, Zeichnung und Konzept: Michaela Melián

eISBN 978-3-518-74799-5

www.suhrkamp.de

My pussy tastes like Pepsi-Cola.

Lana del Rey

Ach. Venus ist gar nicht dein richtiger Name? Eigentlich heißt du Karin? Ja. Mir gefiel ganz einfach die männliche Endung. Die Agentur führt mich seit dem ersten Tag unserer Zusammenarbeit unter VENUS.

Venus als GEFALLENES MÄDCHEN, vor der Kamera, in ihrer Heimatstadt, in die sie kürzlich (mit ihrer Rückkehr nach Europa) wieder gezogen ist. Der Fotograf, immer wieder: Also, Karin passt ja gar nicht zu dir. Dann soll Venus einfach einen Träger von ihrer Schulter gleiten lassen. Egal welchen. Aber nicht lasziv, befiehlt der Fotograf, sondern unbekümmert. Er sagt das alles auf Englisch. Sure, antwortet Venus und hätte beinahe ein bisschen gelächelt. Lächeln ist nun aber überhaupt nicht drin.

Die Große Nelkenstraße. Das Haus Thomas. Die schwierigen Jungen hinter dem hohen Zaun. Ihre außergewöhnliche Vorbildlichkeit. (Juvenile Delinquenten.) Karin auf ihrem täglichen Schulweg. Auch die Mädchen hinter dem Zaun sind mindestens einen zweiten Seitenblick wert. Die mahnenden Worte der Eltern. Das Nicken der wohlerzogenen Tochter. Der Umzug in den Taunus. Das Abitur. Die beiden Amerikas. Die durchgehend geöffneten, nachts illuminierten Universitätsbibliotheken von Johns Hopkins und Harvard. Der akademische Grad. Schallplattenläden, Zeitschriften über Musik. Die undogmatischen Modestrecken der Musikmagazine.

Der Fotograf heute stammt aus Padua, zeichnet sich durch einen weich fließenden (Venus findet: femininen) Vollbart aus und heißt mit Vornamen Andrea. Völlig undenkbar, dass Andrea in Italien ein Frauenname wäre, sagt er. Ich weiß, entgegnet Venus, aber ihr fallen auf Anhieb nur genetisch weibliche Andreas von Gewicht ein. Sie nennt Andrea Dworkin, 1946 in Camden, New Jersey, geboren, frühvollendet verstorben in Washington, D. C., 2005, und ihre Bücher PORNOGRAPHY (Men Possessing Women untertitelt), 1981, INTERCOURSE aus dem Jahr 1987, gefolgt von PORNOGRAPHY AND CIVIL RIGHTS (Untertitel: A New Day for Women’s Equality), 1988, und auch SCAPEGOAT (The Jews, Israel, and Women’s Liberation), 2000. Unverzichtbarer Lesestoff, sagt Venus zu Andrea und Eva, der Redakteurin sowie dritten in diesem bereits entkernten und dem Abbruch preisgegebenen Gebäude aus Stahlbeton anwesenden Person, die augenblicklich riskant rittlings auf einem mitgebrachten Klappstuhl aus Kunststoff sitzt. Klassische Pin-up-Pose, befindet Venus, Eva würde sich in der Öffentlichkeit niemals breitbeinig präsentieren (selbst in langen Hosen nicht). Ob sie vielleicht gern auch einmal vor der Kamera agieren würde? (Evas nonchalante Art besitzt etwas ausgesprochen Körperbewusstes, sagen alle.) Dem freiberuflichen Fotografen fällt der Industrielle Andrea Agnelli ein.

In der Mittagspause ein längeres Gespräch darüber, worin der Unterschied läge, wenn man sich selbst fotografierte.

Cindy Sherman said:

I feel I’m anonymous in my work. When I look at the pictures, I never see myself, they aren’t self-portraits. Sometimes I disappear.

Eva als Kunsthistorikerin (mit im vergangenen Jahr per Promotion abgeschlossenem Studium), ihre beinahe komplette Sammlung der Kataloge Cindy Shermans; aber man hat ja gar keinen Überblick mehr. Eva als Venus’ Mitbewohnerin (die Mutter eine geborene Adam). Der Vater über alle Berge mit seiner zweiten Ehefrau (die gerade mal drei Jahre älter ist als Eva), im Großherzogtum Luxemburg verschollen. Venus urteilt über Eva: Komplett die Prinzessin. (Das muss dein Papa so angerichtet haben.) Venus auch zunächst ganz Prinzessin, kann man ja auch ablegen wie ein Kostüm, sagt sie (das hat sie jedenfalls während ihrer Studienzeit in den USA getan), jetzt androgynes Model überwiegend in den Modestrecken von Musikzeitschriften. Wobei die meisten androgynen Models heutzutage Männer seien, klagt sie, und die unterminierten mit ihren Dumpingpreisen die traditionell hohen Gagen der weiblichen Models. Andrea kann aber auch eine Handvoll androgyner Models genetisch weiblichen Geschlechts aufzählen. Seine Favoritin: Erika Linder. She was the first woman to appear on a men’s board, back in 2011, and models for both women’s and men’s fashion.

Wie Andrej Pejic umgekehrt für Männer- und Frauenmode.

Und dann sollen die beiden ja sogar ein Liebespaar sein, ist immer wieder zu lesen, sagt Eva. Weil es ihre heteronormierten Fans so wünschen, wendet Venus ein. Nein, sieh doch, Andrej verkündet am 20. April 2012 um 18:13 Uhr via Twitter: It’s official. Erika Linder is my prince. Und Erika textet: The next time I see Andrej Pejic I’m gonna give her a kiss she’s never gonna forget.

Zudem gibt es ja dieses berühmte Shooting, in dem die beiden in einem Fotostudio miteinander raufen, weiß Andrea und wischt behände kreuz und quer über die illuminierte Oberfläche seines kachelförmigen Telefons. Schaut mal hier, wie Andrej Erika in die Wange beißt. Cute. (Sie soll dabei übrigens auf einer Kiste gestanden haben.)

Huffington Post: The Battle of the Sexes shoot, commissioned for Forward by Elyse Walker, puts Andrej in womenswear from Givenchy, Alexander McQueen and Proenza Schouler, while Erika’s clad in menswear from Yohji Yamamoto, Rick Owens, and 3.1 Phillip Lim. In the series of chic black-and-white photos, Pejic, in his trademark blond hair, plays the feminine-looking lead, while Linder’s appearance, with her cropped hair and rugged clothes, appears traditionally masculine.

Was hat sie da eigentlich für eine Tätowierung unter dem Arm? (Lässt sich nicht entziffern.)

Allgemein bekannt: Rainer Maria Rilkes deutsche Dichterworte (in japanischer Fantasie-Fraktur), auf den Innenarm Lady Gagas tätowiert. Wortlaut: Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt. Gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Muß ich schreiben?

Hab ich schon fotografiert, behauptet Andrea. Der Klassiker, sagt Venus, wäre: Schreiben, um nicht verrückt zu werden.

Auch Casey Legler arbeitet als Model für Männermode. Sie sagt: We’re social creatures and we have a physical language of communicating with each other. But it would be a really beautiful thing if we could all just wear what we wanted, without it meaning something. Aber wenn es keine Bedeutung gäbe, könnten wir sie nicht einmal gegen den Strich lesen oder kämmen, sagt Venus. DAS WÄRE DAS ENDE DER MODE. Andrea jedoch hängt Casey Leglers Utopie einer Auflösung der geschlechtlichen Binarität an. Wäre doch echt toll, behauptet er.

Erika bekennt: I love the fact that people I used to go to school with when I was a kid think I’m a lesbo and dating a hot girl named Andrej.

Eva bleibt dabei: Eigentlich steht Andrej Pejic auf Männer. Kein Widerspruch, wendet Venus ein: Erika präsentiert sich ihm doch als Mann. She makes him feel mighty real.

Diese Konstellation gibt es ja jetzt noch einmal in David Bowies aktuellem Videoclip zu The Stars (Are Out Tonight), in dem Saskia de Brauw Andrejs Mann spielt. Sie ist zehn Jahre älter als er, aber noch immer Top Model, sagt Andrea. Und die große Tragödin Tilda Swinton spielt David Bowies Frau. Und einmal macht sich Andrej Pejic in einer Art Traumsequenz über David Bowie in seinem Bett her. Und küsst ihn. Hätte sich Bowie in seinem Clip auch von einem männlich gewandeten Mann küssen lassen? So weit sind wir noch nicht, befindet Andrea. Bowie sei seiner Zeit doch schon manches Mal voraus gewesen, sagt Venus. Was es aber ja eigentlich gar nicht gibt, bemüht sie sich rasch zu ergänzen. Manchmal weiß man auch überhaupt nicht mehr, wer hier wen spielt, beklagt sich Eva. Alle drei bewundern das brandneue, von Floria Sigismondi (Marilyn Manson, Björk, Sigur Rós, Christina Aguilera) geschossene Video David Bowies und eigentlich das ganze Album namens The Next Day, das eine Art Palimpsest zu seinem epochalen Album HEROES bildet. Sogar die alte Hülle wurde übernommen und überklebt.

Rolling Stone: Bowie and Tilda Swinton play a nicely settled middle-aged couple whose comfortable existence is upended when a celebrity pair (Saskia De Brauw and Andrej Pejic) follow them home from the grocery store and take over their space, both physical and emotional. The couples’ roles slowly reverse, calling into question exactly what Swinton and Bowie’s characters mean at the market when they agree: We have a nice life.

Genderfuck, sagt Venus. Hot topic, findet Eva, als Kunsthistorikerin (Frankfurt am Main) und Bildredakteurin (jede zweite Woche in Berlin).

The Daily Mail wiederum verwechselt in ihren Bildunterschriften konsequent Saskia de Brauw und Andrej Pejic, freut sich Andrea: Sie ist bei denen die Frau, er der Mann. Zu komisch, finden alle. Auch im Fließtext. Andrea liest vor: After Bowie comes face to face with Pejic through a brick wall, De Brauw climbs into his bed and plants a tender kiss on his face, while Swinton experiences a series of terrifying night tremors.

The Guardian schrieb: Bad news for the authors of the blog Tilda Stardust, a noble attempt to prove that David Bowie and British actor Tilda Swinton are one and the same person through the painstaking juxtaposition of photos of the pair. Because here she is, starring in the video to Bowie’s second single from The Next Day, The Stars (Are Out Tonight), as his happily married wife.

Of course, he is married to himself, sagt Andrea und wischt weiter auf seinem Telefon herum.

The Awl schrieb über das Video: It co-stars Tilda Swinton, who plays David Bowie’s wife in the most masturbatory coupling we’ve seen since Mick Jagger married himself in the form of Bianca Peres Moreno de Macias in 1971.

Venus ist aber der Meinung, dass masturbatorisches Denken gerade nicht tautologisch ausgerichtet ist. Andersherum: Ob nicht auch in der Selbstbefriedigung DIALEKTIK realisiert werden könne?

Für einen kurzen Moment schließt Eva ihre Augen. In Hinsicht auf die Mode ist dieser Film ziemlich auf der Höhe der Zeit, befindet sie und hat nun ihrerseits das Telefon gezückt.

Bowie wears a McQueen coat, a Lanvin suit, some checks from Kim Jones at Vuitton. Tilda wears a coat from Raf for Jil, some Raf for Dior, some Lanvin, Pringle, and Rick Owens. For the video’s last scene, when they have crossed back to the dark side of fame, Bowie and Swinton are all Hedi-for-Saint Laurent rock ’n’ roll glitz. The succubi sport a smorgasbord of the here and now, from VPL to KTZ.

* * *

Als Venus am Abend vom Workout nach Hause kommt, findet sie Eva in dem hellerleuchteten, weißgekachelten Badezimmer vor, wie diese (quasi schwarz auf weiß) im KLEINEN SCHWARZEN KLEID (wie selbstvergessen, doch letzten Endes selbstbewusst, durchaus etwas aufgekratzt), das lange, blonde Haar hochgesteckt, auf der zugeklappten Toilette sitzt, und, das Telefon in ihrer ausgestreckten linken Hand, immer wieder den Auslöser betätigt, das heißt Fotos von sich macht. Nicht für eine Zeitschrift, sondern für sich selber, sagt sie, ohne Venus weitere Aufmerksamkeit zu schenken. In der Küche sei noch etwas Couscous übrig. Venus schließt die Badezimmertür (lässt ihre Freundin weitermachen) und klappt ihr Notebook am Küchentisch auf. Gibt ja massenhaft Webseiten, auf denen Frauen ihre Physis zu ausgesprochen pikanter Darstellung bringen. Manche davon erwecken den Eindruck, von männlichen Wesen eingerichtet (kompiliert) worden zu sein, wenn es etwa heißt: Celebrating women celebrating themselves. From their point of view. Und man dann endlos Fotos serviert bekommt, auf denen Frauen in Rückenlage zentralperspektivisch an ihren Körpern hinab fotografieren, zwischen den Wölbungen ihrer Brüste hindurch, in den Schritt, der häufig von aufgestellten Oberschenkeln flankiert wird. Zahlreiche direkt pornographischer Natur (Körperflüssigkeiten auf der Bauchdecke).

Wer sagt mir, dass diese sogenannten AUTOGYNOPHILEN Betrachtungen nicht überwiegend von transsexuellen Frauen stammen, denkt Venus, womit sie eine zugleich transgressive wie affirmative Perspektive offenbarten. The (masturbatory) love of oneself as a woman: Ein weites Feld für die Sexualwissenschaft, deren autodidaktische Pflege das Steckenpferd Genovevas ist, Venus’ und Evas Mitbewohnerin, die augenblicklich mit ihrem Ex auf Malta weilt.

Charles Moser, Department of Sexual Medicine am Institute for Advanced Study of Human Sexuality in San Francisco, befragte 29 genetisch weibliche, nach ihrer Selbstauskunft von heterosexuellem Begehren geleitete Krankenschwestern und andere Mitarbeiterinnen danach, ob sie durch die Idee ihrer selbst als Frauen stimuliert würden. 15 gaben zu, dass die Vorstellung ihres Körpers in unbekleidetem Zustand sie sexuell erregte. 16 von ihnen fanden es erotisch stimulierend, sich in aufreizender Unterwäsche auszumalen; 14, wenn sie dies in Vorbereitung eines Rendezvous mit einem Mann taten. Das mag ja auch an dem Mann liegen, denkt Venus. Da kann man schon mal, in Gedanken verloren, mit (in Anführungszeichen) dessen Fingerspitzen über und in den eigenen Körper fahren. 12 bejahten, sexuell erregt worden zu sein, wenn sie sich für solch ein Rendezvous die Beine rasierten; 10, dass sie in sexy Wäsche gekleidet waren, wenn sie masturbierten. Aber konnten sie die nicht ohnedies angehabt haben? Venus trägt auch unter ihren eher maskulinen Outfits nach landläufigen Maßgaben feminine Unterwäsche. Für wen tut sie das überhaupt, fragt sie sich nun angesichts Dr. Mosers irgendwie fadenscheinig erscheinender Untersuchung. Manchmal sieht die Wäsche den ganzen Tag über niemand, und abends wandert sie ungesehen in den Puff. Für wen ist Unterwäsche eigentlich sexuell kodiert? Für den Betrachter oder die Trägerin? Respektive: den Träger, die Betrachterin? 13 Mitarbeiterinnen hatten deutliche Anzeichen erotischer Erregung verspürt, wenn sie sich als aufreizender denn in Wirklichkeit fantasierten. Und 19 der 29 wurden schon dadurch erregt, dass sie sich vorstellten, andere fänden sie erregend. (Was man bei Krankenschwestern allerdings als einschlägig gegeben voraussetzen dürfte, findet Venus; hier müsse man bereits die Berufswahl unter fetischistischen Aspekten analysieren.)

Das androgyne Model, mit einem anthrazitfarbenen Harvard-T-Shirt (Schriftzug bordeauxrot) und werksseitig zerschlissenen Blue Jeans angetan, geht offline. Mal demnächst, nach den Osterferien, mit Genoveva darüber reden. (Eva fällt bei derlei Fragestellungen leider weitgehend aus.) Und was würde Cindy Sherman zu all dem sagen?

Ob Eva vielleicht auf dem Klodeckel eingeschlafen ist?

Jean-Luc Nancy notierte vor zehn Jahren: Wie das Genießen die Lust ist, die weder terminal noch einleitend ist, sondern Lust, die davon freigestellt ist, beginnen und enden zu müssen, so ist der genießende Sinn der Sinn, der weder in der Signifikation noch im Unbezeichenbaren endet. (Womit man sich schon mal in unmittelbarer Nähe zu Hélène Cixous’ ozeanischer Definition weiblichen Schreibens bewegt, befindet Venus.)

Genießen sei stets sinnlich spüren, hielt Nancy fest, und weil spüren immer auch darin bestehe, sich spüren zu spüren (und also eine Alteration und eine Alterität voraussetze), so sei Genießen, sich vom anderen her und im anderen zu spüren. (Nie ganz klar: Wann ANDERS mit großem und wann mit kleinem A zu buchstabieren wäre.)

Die Geschlechtlichkeit habe in dieser Hinsicht den Wert des Sinns der Sinne.

Weiter: Der Sinn hängt an nichts anderem als an einer Rezeptivität, einer Affizierbarkeit, einer Passibilität: Was es an Sinn gibt, das kommt mir, trifft mich, verschiebt mich, bewegt mich.

Es gibt keinen Sinn für einen allein, sagte Bataille. Was Sinn macht, das ist das, was nicht aufhört zu zirkulieren und sich auszutauschen, tatsächlich wie das Geld, jedoch wie eine Währung, die einen inkommensurablen Wert ohne jede Äquivalenz hätte.

Das Genießen genießt, dass es kein letztes Wort hat, dass seine Worte oder sein Schweigen keine des Schlusses, der Konklusion sind, sondern der Öffnung und des Appells, des Rufes.

Irgendwann steht Venus in ihrem Pyjama vor der Badezimmertür und klopft an; sie möchte sich die Zähne putzen.

* * *

DAS DELTA DER VENUS

Pierre streckte den Arm aus, ähnlich einer Katze, die gestreichelt werden will. Manchmal warf er den Kopf zurück und ließ sich von Elena mit Schmetterlingsküssen bedecken. Wenn er die seidigen, kitzelnden Berührungen nicht länger ertragen konnte, machte er die Augen auf und bot ihr seinen Mund wie eine reife Frucht dar, in die sie gierig hineinbiß, als wollte sie daraus den Urquell des Lebens saugen.

Dann wollte er wissen, wann sie das erste Mal sexuelle Erregung empfunden hätte. Beim Lesen, erzählte ihm Elena, und dann, als sie auf einem Rodelschlitten talwärts gerast sei und ein Junge auf ihr gelegen hätte, und dann, als sie sich in Männer verliebte, die sie nur von weitem kannte.

Es gab Tage, da sie Pierre kraftlos, passiv, unsicher und mit trägem Körper vorfand, Tage, an denen er nicht einmal genug Energie aufbrachte, um sich anzuziehen, geschweige denn aus dem Haus zu gehen. Dann fühlte sich Elena stark und aktiv. Im Halbschlaf überkam sie ein merkwürdiges Gefühl: schlafend erschien ihr Pierre so verletzlich. Sie wollte in ihn eindringen wie ein Mann, sie wollte ihn besitzen. Sie wollte ihn wie mit einem Dolchstoß aufspießen. So lag sie da, zwischen Schlafen und Wachen. Sie identifizierte sich mit seinem Geschlecht, stellte sich vor, sie wäre er geworden und nähme ihn wie er sie genommen hatte. Dann fiel sie wieder in die Kissen zurück, wurde wieder sie selbst: Meer, Sand und Feuchtigkeit.

* * *

CITY PAPER, Baltimore, 13. Februar 2013

Gabi Moskowitz: It was 1999 and I was 17 years old when I discovered my then boyfriend’s collection of porn. I had never seen pornography before and I was mesmerized by the smooth, tanned models, whose hairless nether region looked absolutely nothing like mine.

How come they don’t have pubic hair?

Because they wax.

They wax their vaginas?

Yeah, totally. It’s so hot. And I heard it makes you so much more sensitive because there’s no hair getting in the way. You could do it, you know. I would be so into that.

I don’t know. It sounds really painful.

Eine Woche später fährt Gabi mit dem Volvo-Kombi ihrer Eltern bei einem Waxing Salon vor und lässt sich entsprechend behandeln.

Don’t touch or you will infect. Pay at the front desk.

I lay on the table, breathing heavily, tears streaming out of the corners of my eyes. Eventually I stood up. I looked down at my raw red crotch and then, horrified, turned my eyes immediately away. Pulling on my underwear and jeans proved to be an excruciating task. Every bend and stretch hurt. I hobbled to the front desk, paid the receptionist, and made my way home.

After a few days and some very careful showers, the pain eventually went away and I had the opportunity to show my boyfriend my new look. Unsurprisingly, he was thrilled. With my enormous DD breasts and Jewess hips on top of what looked like the groin of a child, I, on the other hand, felt freakish, not sexy.

Ausschneiden und für Genoveva aufbewahren. Next story.

Jacq Jones: We got a really awesome class coming up in March: Two folks just wrote a book on prostate stimulation. The prostate is essentially the G spot for folks who have penises. City Paper: You’re teaching a G spot class. It’s rare that there is a body part which people debate whether it even exists. Tell me what people will get out of it. Jacq Jones: The G spot can be a really intense pleasure center for the people who have vaginas and clitorises. When I say that it’s because I come from a place of understanding that your genitals don’t define your gender. The G spot is really the urethral sponge, a spongy material that surrounds the urethra and can be felt through the front wall of the vagina. That’s all it is. And that’s a real structure. There’s no question that that structure exists in everybody who has that kind of body type. The bottom line is that everyone with a vagina and a clitoris has a G spot, and we can teach you how to find it and we can teach you how to stimulate it in ways that most people find pleasurable, and through stimulation of the G spot, anybody who has one can squirt and have female ejaculation happen.

Hinten der Anzeigenteil, Research & Wellness.

Volunteers needed for investigational vaginal gel research study. Stable, monogamous relationship. Sexually active. Willing to accept risk of pregnancy. (Johns Hopkins Medicine)

* * *

Die deutsch-amerikanische Siedlung BETTINA wurde von ihren idealistischen Gründervätern nach Bettina von Arnim benannt. 1847 nahe der Stelle errichtet, wo Elm Creek und Llano River im steinigen Hill Country des Staates Texas zusammenfließen, existierte sie nur für die Dauer eines Jahres. Heute lassen sich keine Überreste der Siedlung mehr ausmachen, obwohl zwei ihrer drei Begründer, Gustav Schleicher (später Abgeordneter im US-Kongress und Namensgeber von Schleicher County) sowie Dr. Ferdinand Ludwig Herff (1854 der erste Chirurg, der in Texas Anästhesie mittels Chloroform praktizierte) zu einiger Berühmtheit gelangten.

Venus erzählt Genoveva von ihren Reisen durch Texas, die sie von Cambridge und Baltimore aus anstellte, dem linguistischen Atlas der texasdeutschen Sprache in der Universität Austins, dem legendären Beethoven Männerchor San Antonios (wichtige Station der Underground Railroad gegen die manchesterkapitalistische Sklaverei; standen nicht selbst die Turnvereine der Deutschen auf sozialistischem Fundament?), von ihren peniblen Recherchen in deutsch-texanischen Ortschaften wie Boerne, Uhland, Comfort, Castell, Loyal Valley, Sisterdale, Luckenbach, Fredericksburg oder New Braunfels, wo sie auf von Spinnweben durchzogenen Dachböden einige wenige, sowie im sorgfältig geführten Archiv der Sophienburg zahlreiche Spuren der rasch wieder untergegangenen, tendenziell lateinisch-sprachigen, kommunistischen Kommunen, THE LATIN COLONIES, sichern konnte. (Wozu sie manchen Widerwillen mürrischer Nachfahren der einstigen Kommunarden hatte brechen müssen, die ihren steinigen Weg in diese Wildnis einst über den Nassauischen und Mainzer Adelsverein gefunden hatten.)

Der Frankfurter Bettinaplatz, lang hingestreckt zwischen Bettina-, Arndt-, Mendelssohn- und Beethovenstraße, im Tauwetter. (Die Frau mal wieder unter ihrem Vornamen, die Männer unter ihren Nachnamen geführt.) Umstritten (nach wie vor ungeklärt), ob Bettina von Arnim Ludwig van Beethovens UNSTERBLICHE GELIEBTE gewesen ist. (Sie stand auch mit den Komponisten Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann in persönlichem Kontakt.) Belegt dagegen: ihre eigenartige Freundschaft mit Johann Wolfgang von Goethe, ihre Begegnung mit Karl Marx, sowie jene mit ihrem ergebenen Leser Michail Bakunin.

Ihr Konterfei zierte den letzten 5-Mark-Schein der alten Bundesrepublik Deutschland. (Wenn man ihn geschickt faltete, konnte man Bettina lächeln lassen.)

Bettina von Arnim, die einen innovativ sprudelnden Erzählstil (gegen den herrschenden männlich erhabenen) aus dem als weiblich (alltäglich, nebensächlich, oberflächlich und unsystematisch, sprunghaft) kodierten Briefroman schöpfte: DIE GÜNDERODE. Die reale Korrespondenz zweier Frauen, zur Freude der Literaturwissenschaft auf fiktionales Niveau hochgerechnet. (Gewidmet DEN STUDENTEN.)

Siehe auch Bettina von Arnims ähnlich angelegten Bestseller GOETHES BRIEFWECHSEL MIT EINEM KINDE, in dem sie (beziehungsweise ihr Alter Ego) als génie enfant, vermeintlich naiv, androgyn, rätselhaft, darin an Goethes Mignon angelehnt, firmiert, sowie, Jahre später, CLEMENS BRENTANOS FRÜHLINGSKRANZ AUS JUGENDBRIEFEN IHM GEFLOCHTEN, WIE ER SELBST SCHRIFTLICH VERLANGTE.

Ein Akt der Reeducation: Die US-amerikanische Militärbesatzung benennt 1947 die Frankfurter Viktoriaschule in Bettinaschule um. Wenige Straßen entfernt von hier (im Westend) gelegen. Eva machte dort 2001 ihr Abitur.

Venus lässt sich von Genoveva erklären, inwiefern sich Sex mit dem Ex von dem Geschlechtsakt vor der Trennung unterscheiden (nämlich noch besser sein) kann.

In gewissem Sinn haben Henri und ich jetzt erst richtig zusammengefunden, sagt sie.

Dann biegen die beiden Frauen vom Kettenhofweg in die Senckenberganlage ein, auf deren gegenüberliegender Straßenseite der gesellschafts- sowie erziehungswissenschaftliche Turm des Campus Bockenheim steht, vor vier Jahrzehnten das höchste Gebäude der Stadt, nunmehr geräumt und dem baldigen Abriss geweiht. An der Dachkante haben Studierende den Turm mit einem gigantischen Graffito versehen: Elfenbein.

Genoveva und Venus erreichen das INSTITUT FÜR VERGLEICHENDE IRRELEVANZ.

* * *

BETTINA, TEXAS, a short-lived commune on the north bank of the Llano River in western Llano County, was settled in 1847 by a fraternity of highly educated German communitarian freethinkers influenced by the writings of Étienne Cabet and Charles Fourier. Bettina was the seventh, and last, of the Adelsverein colonies in Texas. It was one of five settlements attempted by the Adelsverein within the Fisher-Miller Land Grant after John O. Meusebach concluded a treaty with the Comanches in the spring of 1847. It was named for Bettina Brentano von Arnim, a German liberal and writer.

The first building was a thatched common house forty feet long by twenty-two feet wide. An adobe house, with a shingled roof and a massive fireplace, was built next. Crops were planted, and the first harvest was satisfactory.

However, cooperation gradually foundered because of dissention over work details and the role of a young woman cook, a Hispanic captive presented as a gift by a Comanche chief who underwent successful eye surgery while visiting Bettina.

Note: This communistic settlement did not allow women as members.

The utopian venture lasted less than a year, but many of the members of this group went on to make major contributions to Texas life. Notable were Dr. Ferdinand von Herff, an eminent San Antonio physician and surgeon; Gustav Schleicher, an engineer who helped to expand the state’s rail system and who thereafter became a member of Congress; and Jacob Kuechler, a vocal Unionist who became commissioner of the General Land Office in Austin. Others, such as Christoph Flach and Johannes Hoerner, founded large and prominent Hill Country families that for four or five generations retained vestiges of freethinking liberalism and ethics. The writings of Louis Reinhardt and Friedrich Schenck, two members, illustrate the everyday experiences of the group in Texas; Herff wrote a political treatise in which he touches on the colony and generalizes on the founding principles. The former commune is commemorated, along with the nearby Adelsverein settlements of Castell and Leiningen, by a state historical marker placed in 1964 on the north side of the Llano River across from Castell.

BIBLIOGRAPHY: Rudolph L. Biesele, The History of the German Settlements in Texas, 1831–1861 (Austin: Von Boeckmann-Jones, 1930; rpt. 1964). Vera Flach, A Yankee in German-America: Texas Hill Country (San Antonio: Naylor, 1973). Ferdinand von Herff, The Regulated Emigration of the German Proletariat with Special Reference to Texas, trans. Arthur L. Finck (San Antonio: Trinity University Press, 1978). H. T. Edward Hertzberg, trans., A Letter from Friedrich Schenck in Texas to His Mother in Germany, 1847, Southwestern Historical Quarterly 92 (July 1988). Glen E. Lich and Dona B. Reeves, eds., German Culture in Texas (Boston: Twayne, 1980). Glen E. Lich, The German Texans (San Antonio: University of Texas Institute of Texan Cultures, 1981). Louis Reinhardt, The Communistic Colony of Bettina, Quarterly of the Texas State Historical Association 3 (July 1899).

* * *

THE VILLAGE VOICE, New York City, 13. Februar 2013

Michael Mustos Kolumne. Er hat sich mit Michael Formika Jones getroffen, dem wir auch (bereits bei Nan Goldin) unter dem Namen The Mistress Formika begegnet sein können, sagt Venus, die das Blatt (wie auch Baltimores City Paper) letzten Monat aus Amerika mitbrachte. Eva kennt Mistress Formika als legendären Deep House DJ in den Drag Bars am Times Square, nicht persönlich, schon vom Alter her nicht, aber aus der mit drastischen Legenden gespickten Geschichtsschreibung der Underground Dance Music. Außerdem, weiß sie, hat Wolfgang Tillmans 1995 ein Portrait von ihm geschossen. Genoveva erinnert die Fotografien Goldins aus der Frühzeit dieser Szene. Darüber hinaus hat sie den Dokumentarfilm Wigstock gesehen. The Mistress Formika habe damals eine wirklich auffallend hübsche Frau abgegeben. (Auch die anderen eigentlich: Misty, Cody, Jimmy Paulette, Miss Guy, und wie sie alle hießen.)

Normal, sagt Genoveva; das gesamte Konzept sogenannter Weiblichkeit sei spätestens seit der Französischen Revolution eine genuin männliche, phallologische Konstruktion, für deren Stabilität Philosophen, Pädagogen, Gynäkologen und Couturiers verantwortlich zeichneten. Interessant finde sie eher, wie diese Konstruktion neuerdings vielerorts umgestülpt werde und auch die Künstlichkeit der traditionell definitionsmächtigen Maskulinität, durch Frauen (Ausrufezeichen), performativ hervorgehoben werde. Zunehmend aber auch durch Männer, ergänzt Venus, denke nur mal an all die wallenden Bärte gezielt effeminierter Bohemisten. Oder hier, sieh dir mal diese Anzeige von Louis Vuitton an: Junger Mann auf Segelyacht, in zweireihigem Blazer, weißem Oberhemd, mit silbriger Krawatte, aber einer eigentümlichen Brosche in Form einer zierlichen goldenen Takelage am Revers sowie einer sehr damenhaften Vuitton-Handtasche, und zwar geschultert. Hatten wir doch auch schon, gibt Eva zu bedenken: Das klassische Dandy-Programm. Charles Baudelaire. Peter Altenberg. Quentin Crisp.

Aber jedes Mal anders, insistiert Venus, die sich im vergangenen Sommer ihr wallendes, kastanienbraunes Haar abschneiden ließ und nun mit einer Art Jungenfrisur herumläuft. Jedes Mal NEU.

Spätestens seit dem berühmten Cover des zweiten Hefts von THE GENTLEWOMAN, das die führende Modefotografin Inez van Lamsweerde mit angelegtem Vollbart zeigt, haben wir es auch auf genetisch weiblicher Seite mit einer produktiven Aneignung (sagen wir ruhig: emanzipatorischen Eroberung) dieses patriarchalen Topos zu tun, hält Genoveva fest. (Könnte man aber auch bis zu Frida Kahlo zurückverfolgen.)

Penny Martin, die Chefredakteurin von The Gentlewoman (dem äußerlich in jeweils einer Pastellfarbe gehaltenen Pendant zu FANTASTIC MAN), bekannte vor einigen Monaten in der Musikzeitschrift SPEX: Wir verfolgen einen sehr warmherzigen, großzügigen Ansatz. Wir wollen interessante Geschichten erzählen, in einem Tonfall, der dem gleicht, wie Frauen miteinander sprechen, und einem Look, der dem entspricht, wie sie sich tatsächlich kleiden. Natürlich erfordert auch das ein gewisses Maß an Styling. Wir versuchen den persönlichen Stil der Frauen, die wir vorstellen, in das Magazin zu überführen. Dabei ist es nicht immer einfach, niemanden verkleidet aussehen zu lassen.

Michael Musto berichtet in der Village Voice von Michael Formika Jones’ letztem Liebhaber, einem schwulen Mann, dem er den Decknamen Pat verleiht und der bald transsexuelle Tendenzen entwickelte, sich zunehmend als heterosexuelle Frau, die in einem Männerkörper gefangen sei, zu begreifen lernte. Michael, der seit Jahren nur mehr sporadisch in drag (The Mistress Formika) erscheint, aber dessen Kleiderschränke noch von BHs, Nylons und Stöckelschuhen überquellen, fiel aus allen Wolken, als er seinen Freund erstmals auf hohen Hacken erwischte (What are you doing in my pumps?). Doch dann entwickelte er einen gewissen erotischen Sinn für das neue Erscheinungsbild seines Freundes.

Genoveva liest vor: Pat decided to have implants, said Formika, but she still had her male genitalia. She still looked like a cute little boy and she had boobs, and who doesn’t like boobs? A cute boy with boobs? Dream come true. But once the hair grew out and the makeup and the feminization came, I realized: I’m a fag, I’m not a lesbian. In Pats Worten: Michael is definitely not attracted to the complete female anatomy. (He does like pretty boys, but the key word there is boys.)

Trotzdem wohnten die beiden weiterhin zusammen, und ein alter Freund Formikas unterzog die chirurgisch emulierte Vagina der Mitbewohnerin einem praktischen Test. Es kommt noch besser, sagt Venus und nimmt Genoveva das Blatt aus der Hand, denn Michael Formika Jones geht jetzt mit einem Transmann namens John. Stell dir vor, Genoveva: Während ihn eine transsexuelle Frau mit einer Vagina abstieß, fühlt er sich von einem transsexuellen Mann mit einer Vagina angezogen. Das ist (als ob er sich um zwei Ecken dann doch quasi zum Real Thing bekennte) nicht unkompliziert.

Michael: I asked John if he likes to take it up the ass. And he wrote back: I prefer pussy sex. I thought: Oh my God, he still has a pussy. (Of course that questions your masculinity: Can I do it, or am I gonna look lame?)

Michael und John trafen sich letzte Woche in der Nowhere Bar, East 14th Street. Sie redeten über ihre Lebensumstände und gerieten auf einem in einer Ecke aufgestellten Sofa leidenschaftlich ins Küssen. Ehe er sich versah, war Michael mit seiner Hand unter Johns Hosenbund gefahren. Es war aufregend und neu, bekennt er, so etwas hatte ich seit meiner Schulzeit nicht erlebt.

I was definitely playing with his clitoris.

Alles in allem eine Boy-meets-Girl-Geschichte, findet Eva. Ein Roman.

Bereits das Liebesverhältnis Virginia Woolfs mit Vita Sackville-West (in Klammern: ihrer changierenden Romanfigur Orlando) könne nicht wirklich als lesbisch bezeichnet werden. Rosi Braidotti umschreibt es als ethisches Modell, where the play of sameness-difference is not modeled on the dialectics of masculinity and femininity; rather it is an active space of becoming which is productive of new meanings and definitions.

Das Begehren zieht die Bahnen für die möglichen Formationen eines Anderswerdens (becoming) und kreuzt hierbei Sexualität als eine temporäre Fixierung, eine Art Verknotung, die durch andere, intensive Affekte wieder gelöst und neu gebildet wird. Dieses Begehren wird als BETWEEN THE NO LONGER AND THE NOT YET bestimmt.

Und John, fragt Genoveva, wie erging es dem dabei?

Michael: He said he came five times right there. He said: This was hot. I can’t wait till we fuck. His closing words were: God, I’m so sticky now. I said: I’m glad I got that pussy all worked up. Which is what I’ve said to some gay guys too.

Logisch ließe sich John auch als gay guy begreifen, sagt Genoveva, und Venus und Eva stimmen ihr zu.

Wird John zum Arzt gehen und sich einen Penis hinmachen lassen? Nein, sagt Michael, er ist absolut perfekt (so wie er ist) und rundherum glücklich mit seiner Physis.

* * *

Dear sweet Katelyn,

What a wonderful day we had yesterday.

First that hot steaming shower together (the water was pretty warm too), lathering each other up, taking turns sitting on the shower bench while we scrubbed and massaged each others feet, with a delicate kiss at each toe to seal the deal, washing our hair, then drying and brushing it, playing with different ways we would wear each other’s hair, picking out what to wear for the day. Then we quickly did our faces, dressed for a day of shopping, and jumped in the car for a ride to downtown Carmel.

Venus hat sich in den Blog eines autogynophilen Crossdreamers eingewählt (Heather Roslyn’s Blog). Gegenstand: Ein Ausflug in die Stadt, Seite an Seite mit der tautologischen Traumfrau (the genetic girlfriend Katelyn).

Then we hit the clothing boutiques, and tried on every single pretty thing that caught our eyes: the hot pink halter dress, that lavender evening gown, that coral red gauze sun dress that laced up the plunging bare back, that white eyelet ruffled peasant dress we both liked, that very sexy grey knit dress with the silver lame accents you looked so slinky in. We also found some very sexy bathing suits with completely see-through gauze sun dresses to wear over the top.

(Würde Venus natürlich gern auch aus Katelyns Perspektive geschildert lesen. Falls es Katelyn überhaupt gibt.)

And then we did the shoe stores: the black peep-toe pumps with red soles, the sensible ballet-slipper-style flats with dainty straps across the top with tiny red roses at the buckles, some summer sandals, and then you and your spring-floral print sky-high platforms with the six inch stiletto heels and the ribbon ties up the ankle (have you no mercy for the poor boys my dear? Of course you don’t.).

Gegenschnitt: War die androgyne Sängerin Annie Lennox in dem Videoclip zu dem Song Love Is a Stranger (Eurythmics, 1982) eine Homöovestitin oder eine Transvestitin? Verkleidet sieht sie aus, findet Venus, in ihrer glamourösen Aufmachung, mit Pelzbesatz, Rhinestones und voluminöser blonder Lockenperücke, hinten in einer teuren Limousine, die ihr Mann (und Mitmusiker) chauffiert. Dann reißt sie sich die Perücke herunter (dekuvriert sich), steigt aus, und kurze Zeit später finden wir sie in einem schwarzgekachelten Bad und einem schwarzen Lederkleid wieder, in schwarzer Perücke jetzt auch, aus schnurgeradem Kunsthaar. Die wird ebenfalls demonstrativ heruntergerissen, ganz wie in der klassischen Travestie-Show. Dann steigt die Geheimnisvolle (was sie natürlich ein Weib sein lässt, notiert Venus) abermals in den Wagen (zu ihrem läppischen Mann): im dunklen Männeranzug, weißen Oberhemd, mit Krawatte. Mit dem für sie charakteristischen, gelblich getönten Kurzhaarschnitt.

Kann es sein, dass sich Tilda Swinton (beziehungsweise Floria Sigismondi diese) in The Stars (Are Out Tonight) ein bisschen auf Annie Lennox trimmte? Oder Annie Lennox sich damals bereits auf David Bowie?

Interessant wäre es auch, einmal zu prüfen, welche androgynen Models sich bei Shootings die Brüste WEGBINDEN müssen und welche nicht. (Welche den Schwanz und welche nicht.) Stichwort: Unerwünschte Hervorhebungen. Kein einfaches Feld (Andrej Pejics Penis etwa zeichnet sich deutlich durch die von ihm gemodelten Badeanzüge ab). Genoveva hatte Venus kürzlich (im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Erhebungen) entsprechende persönliche (private) Fragen gestellt.

* * *

Jack Halberstam, als Judith Halberstam Autorin berühmter Werke wie FEMALE MASCULINITY, THE DRAG KING BOOK oder GAGA FEMINISM, die Genoveva sämtlich gelesen hat, schrieb auf ihrer (respektive seiner) Webseite über den äußerst sensiblen Gebrauch von Personalpronomen: Alle paar Wochen erhalte ich eine E-Mail aus dem Kollegium, dem Freundeskreis oder von Studierenden, die mich fragen, welches Pronomen sie für mich nun verwenden sollten. Heute werde ich meistens mit Jack angesprochen, obwohl mich Leute, die ich schon wirklich lange kenne, auch Mitglieder meiner Familie, nach wie vor Judith nennen. Dann gibt es einige Leute, darunter meine Schwester, die mich mit Jude anreden.

Genoveva, auf der Fensterbank lehnend an diesem grauen Märznachmittag in Henris Zimmer. Henri derweil seitwärts aufgestützt auf seinem Bett, ganz Ohr.

Amtlich, vor dem Gesetz, ist Jack noch immer eine Frau, doziert Genoveva, während sie ihr dichtes, kupferblondes Haar zu einem Pferdeschwanz bindet, und behauptet auch, sich deutlich von regulären transsexuellen Männern, die ihren identitären Übergang mit Hilfe wirkmächtiger Sexualhormone und sogenannter angleichender operativer Eingriffe vollziehen, zu unterscheiden. Er sei aber auch nicht gerade häufig eine nicht-ambige SIE, am ehesten noch innerhalb der Waschräume öffentlicher Toiletten. Die regelmäßige Benutzung der offenen Umkleidezonen in Schwimmbädern und Fitness-Studios habe Jack auch von einer Brustamputation Abstand nehmen lassen.

Yes, schreibt er, like Bartleby, that wonderful and doleful example of a refusenik who declined to explain his refusal to work, to comply, to communicate even, I prefer not to transition. I prefer not to clarify what must categorically remain murky. I prefer not to help people out in their gender quandaries and yet, I appreciate you asking.

Ich stelle diese Frage jeden Tag, sagt Henri, der mit seinem ärmellosen maltesischen Hemd eigentlich viel zu dünn bekleidet ist, und zwar, wie er es ausdrückt, im Interesse der Frauen. Gerade gestern habe er sich einen ganzen Schwung 12-Zoll-Schallplatten von Produzentinnen elektronischer Musik zugelegt. Wenn die von Männern gewesen wären, hätte er nicht zugegriffen. Allein das Wort Zugriff, mosert Genoveva. Glaubst du denn, dass sich auf den Platten (sie malt mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft) weibliche Musik finden lässt? Du wirst verstehen können, dass diese Produzentinnen nicht andauernd als Frauen klassifiziert werden wollen.

Aber warum denn nicht? Sie haben sich doch als solche in Dachverbänden zusammengeschlossen, wendet Henri ein. (Darunter beeindruckenden wie FEMALE PRESSURE in Wien oder WOMEN ON WAX in Detroit.) Kein männlicher Produzent werde als MÄNNLICHER PRODUZENT gehandelt, entgegnet Genoveva. Logisch, weil das ja der Regelfall ist. Wie blöde, dass die Ausnahme stets als solche gekennzeichnet werden muss. Und dadurch die diskriminierende Regel bestätigt. (Die Andere. Das Andere. Le deuxième Sexe.)

Das alte Los der Frauen, unter Männern nicht zu zählen. Allenfalls (wie man ihnen von Zeit zu Zeit einzubläuen pflegt): für eine Frau nicht schlecht zu sein.

Talsohle: die Auszeichnung als Best Female Producer.

* * *

Die Traktate der Neuen Materialisten, diejenigen der Spekulativen Realisten. (Da braut sich was zusammen.)

Die verstärkte, verschiedentliche Rede von einer Rückkehr der Körper.

Aber die waren doch gar nicht weg gewesen, nicht wahr? Genoveva: Inwiefern fallen Körper ins Gewicht? (How do they matter?)

Süddeutsche Zeitung, München, Dienstag, 9. April 2013. Titelseite, Titelfoto, farbig, zentral, großes Querformat. Bildunterschrift: Nackte Wut. Fünf Frauen gegen einen Präsidenten: Beim Eröffnungsrundgang von Kreml-Chef Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Hannover-Messe stürmten die jungen Aktivistinnen mit entblößtem Oberkörper den Stand des Volkswagen-Konzerns. Dabei beschimpften sie Putin als Diktator. Hau ab, Putin, steht (vorsichtig übersetzt) auf dem Rücken einer der Aktivistinnen der ukrainischen Gruppe Femen. Sie hat mir gefallen, sagte der Präsident über die Aktion.

Ausführlicher Bericht auf Seite 5; wieder großes Farbfoto, mittig: Attraktive junge Frau mit entblößten Brüsten, darüber gepinselt die Vokabel FUCK, geballte Faust in die Luft gestreckt, zwischen zwei dümmlich dreinblickenden Polizisten in diesen neuartigen, mittlerweile in beinahe sämtlichen Bundesländern verbreiteten Uniformen (aus Schwulen-Comics). Genoveva, etwas übernächtigt, beim Morgenkaffee, übernimmt einzelne Formulierungen des journalistischen Fließtexts von Daniel Brössler in ihr leise surrendes Notebook fernöstlicher Provenienz:

Noch bevor sich die Sicherheitsleute auf die Frauen stürzen können, gelingt es zumindest einer der Barbusigen, sich vor Merkel und Putin aufzubauen. Der Präsident schaut belustigt und durchaus interessiert, die Kanzlerin bläst die Backen auf.

(Aber sehr wahrscheinlich sind ihre Wangen gemeint.)

So laut und so verzweifelt brüllt eine der Frauen ihren Protest in ein Mikro, dass ein unheimlicher, ein beklemmender Moment entsteht. Danach zerren die Sicherheitsleute die Barbusigen vom Stand weg.

(Tatsächlich sind diese Frauen barbusig von Beruf.)

Was die Demonstrantinnen geschrien haben, will der Präsident nicht gehört haben. Die Security sei sehr streng gewesen. Ich finde, das war nicht richtig, zwitschert Putin, der nun auch auf die Frage zu sprechen kommt, ob die Damen blond oder brünett gewesen seien. Er sehe in der Aktion nichts Schreckliches, aber wenn man eine politische Diskussion will, müsste man auch angekleidet sein.

* * *

Wenn man ihren Nachnamen wegließ, nannte man sie oft auch Bettine.

Bettina von Arnims Die Günderode ist ein erstaunliches Konvolut, findet Venus, die sich seit Tagen durch diesen Wälzer in der 1982 von Elisabeth Bronfen verantworteten Ausgabe arbeitet. Die Autorin hat alles Erdenkliche irgendwie hinein- und zusammengeschmissen und dabei ihr schöpferisches Selbst, nicht wenig eitel, im Urteil der Anderen gespiegelt. Zudem hat sie manche ihrer Fundsachen manipuliert (frisiert). Ist das Ergebnis überhaupt ein Roman über die (genau wie sie, Bettine) ZERRISSENE Brief- und Busenfreundin Karoline von Günderrode oder nicht vielmehr eine Autobiographie, gestülpt in das Œuvre der kongenialen Freundin, die hier (bei aller heterosexuellen Orientierung der Protagonistinnen) als sapphisches Medium dient? Ein romantischer Roman über die Arnim, aus der Feder der durch forcierte Entfremdung (durch einen Mann) Verflossenen und durch ihren Freitod (wegen eines Mannes) Frühvollendeten gesogen? Die Günderode ist ja nicht allein ein Briefroman, sondern auch so etwas wie Gesammelte Werke. (Mit Bühnenstücken drin, Gedichten, Essays.)