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Erkenne die Wahrheit, Christina

Betrügt sie der geliebte Mann?

Roman von Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden war gerade dabei, noch einmal die Krankengeschichte des Patienten zu studieren, dem er vor wenigen Minuten die Empfehlung gegeben hatte, sich einer längeren Kur zu unterziehen, als Helga Moll das Sprechzimmer betrat.

Das Anklopfen hatte Dr. Norden wieder einmal überhört, aber eigentlich war es auch nicht nötig, denn Molly wusste genau, wann sie nicht stören durfte.

Dr. Norden sah auf. Seine Gedanken waren noch bei dem Patienten mit dem eigenartigen Krankheitsbild.

»Also«, sagte Molly schnaufend, »so was ist mir nun doch noch nicht passiert, dass sich ein Patient gleich mit der Visitenkarte vorstellt. Ein feiner Mann, Chef, aber mit dem Reden scheint er es nicht zu haben.«

Molly war sichtlich beeindruckt, dazu bedurfte es keiner besonderen Menschenkenntnis.

Um aber den Mann zu durchschauen, der dann kurz darauf das Sprechzimmer betrat, musste man schon über ganz besondere Menschenkenntnis verfügen. Die besaß Daniel Norden zwar, aber in diesem Fall ließ sie auch ihn im Stich.

Dr. Björn Reuwen hieß der Mann. Daniel hatte es auf der Visitenkarte gelesen, und diese betrachtete er jetzt noch einmal. Rechtsanwalt war der Fremde, auch das ging aus der Karte hervor.

»Ich komme nicht als Patient zu Ihnen«, sagte Dr. Björn Reuwen nun mit tiefer, wohlklingender Stimme.

Dr. Norden sah ihn wieder an, mitten hinein in zwei tiefliegende graue Augen, die kein Lächeln zu kennen schienen. Um den herbgeschnittenen Mund lief ein kurzes Zucken, eine sehr schmale Hand fuhr durch das dichte Haar, das mehr grau als blond war.

»Ja?«, fragte Daniel Norden irritiert. »Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Dr. Reuwen setzte sich. »Ich komme in einer ganz besonderen Angelegenheit«, begann er. »Meine Mutter war in ihrer Jugendzeit mit Ihrem Vater befreundet.«

Was soll das, dachte Daniel überrascht, aber da fuhr Dr. Reuwen schon fort.

»Meine Mutter hat den Werdegang Ihres Vaters immer verfolgt. Sie hat ihn Jahre vor seinem Tod auch einmal wiedergetroffen. Er erzählte ihr von seinem Plan, ein Sanatorium zu gründen.«

»Die Insel der Hoffnung«, sagte Daniel. »Es wurde gegründet.«

Dr. Reuwen nickte. »Nach dem Tode Ihres Vaters, ich weiß. Auch meine Mutter erlebte diesen Tag nicht mehr. Doch ich komme heute zu Ihnen, weil ich in einem ganz besonderen Fall alle Hoffnungen auf diese Insel setze.« Ein tiefer, schwerer Atemzug folgte. »Das war eine lange Einleitung, doch ich muss Ihnen eine Erklärung geben, warum ich mich mit meinem Anliegen ausgerechnet an Sie wende.« Wieder machte er eine kurze Pause. »Meine Mutter hieß Agnete von Tandris. Vielleicht ist Ihnen der Name doch bekannt, Dr. Norden?«

Daniel war überrascht. »Gewiss«, erwiderte er. »Die berühmte Sängerin! Mein Vater hat oft von ihr gesprochen.«

»Sie verbrachte die letzten sechs Jahre ihres Lebens im Rollstuhl. Ihr guter Freund Friedrich Norden konnte ihr nicht mehr helfen.« Dr. Reuwens Stimme wurde immer leiser. »Aber ich erbitte Ihre Hilfe für eine andere Frau. Sie darf nur nicht erfahren, dass ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt habe.«

Spannungsgeladene Stille herrschte eine Minute zwischen ihnen, dann endlich kam Dr. Reuwen zur Sache.

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Felicitas Norden, die bezaubernde junge Frau des Arztes, musste an diesem Tage wieder lange warten, bis ihr Mann zum Mittagessen erschien. Sie hatte das gute Lenchen, das murrend erklärt hatte, der Lendenbraten würde steinhart werden, immer wieder beruhigen müssen.

»Sie haben doch gesagt, dass er gleich kommt«, meinte Lenchen zum wiederholten Male.

»Ich habe nicht geahnt, dass er so lange aufgehalten wird«, erwiderte Fee sanft. »Es ist bestimmt ein ganz dringender Fall, Lenchen. Sie wissen doch, wie gern er Lendenbraten isst.«

Lenchen schüttelte empört den Kopf.

»Immer sind es dringende Fälle. Die Grippewelle ist endlich vorbei, und es kehrt doch keine Ruhe ein.«

Doch da schlug der Gong an. Fee eilte zur Tür. »Endlich«, empfing sie aufseufzend ihren Mann.

Daniel küsste sie auf die Nasenspitze. »Ich konnte Dr. Reuwen nicht wegschicken, Liebling«, erklärte er. »Ich habe selbst gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.«

»Worum ging es denn?«, fragte Fee interessiert.

»Kann jetzt endlich gegessen werden?«, fragte Lenchen energisch.

Daniel nickte. »Ich erzähle es dir später, Fee. Jetzt habe ich einen Mordshunger.«

»Also wenigstens ein Fall, bei dem dir der Appetit nicht vergangen ist«, meinte sie lächelnd.

»Augenblicklich ist es noch gar kein Fall für mich.« Er blinzelte ihr zu. »Bereite dich darauf vor, dass wir morgen Nachmittag zum Tee eingeladen sind, mein Schatz.«

»Bei wem?«, fragte Fee überrascht.

»Bei Dr. jur. Björn Reuwen.«

»Du schließt doch sonst nicht so schnell Freundschaften, Daniel, und außerdem hätten wir wahrhaft genug alte Freunde, um die wir uns aus Zeitnot nicht kümmern können.«

Fee sagte es sehr kritisch und sogar ein bisschen aggressiv.

»Nicht gleich fauchen, Kätzchen«, sagte Daniel zärtlich. »Reuwens Mutter war Agnete von Tandris und eine Jugendfreundin meines Vaters.«

»Die berühmte Sängerin, von der Paps auch noch uralte Platten hat?«, fragte Fee staunend.

»Genau die, aber sie ist tot. Es geht dabei um eine andere Frau, und wenn ich dir die Geschichte erzähle, wirst du auch gespannt sein und nichts mehr dagegen einzuwenden haben, wenn wir ihr helfen.« Daniel sah seine Frau kurz an.

»Wobei?«, fragte Fee.

»Zu gesunden«, erwiderte Daniel.

»Erzähle«, bat Fee, schon wieder weichgestimmt.

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Zur gleichen Zeit betrat Dr. Björn Reuwen sein Haus am Isarhang. Auch auf ihn war mit dem Essen gewartet worden. Allerdings bekam er von der schlanken Frau, die ihm die Tür öffnete, nicht die Andeutung eines Vorwurfs zu hören.

»Guten Tag, Christina«, sagte er. »Verzeih bitte, dass ich so spät komme. Ich hatte noch eine wichtige Besprechung.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Björn«, erwiderte Christina. »Du bist zu rücksichtsvoll. Es bedrückt mich.«

Monoton klang ihre Stimme. Starr war das zarte Antlitz, das von schönem Haar umrahmt war, durch das sich über der Stirn eine breite weiße Strähne zog.

Sie ging ihm voraus, schleppend, wie eine Marionette an zu langen Fäden. Immer wieder krampfte sich ihm das Herz zusammen, wenn er dies sah.

Sie setzten sich an den geschmackvoll gedeckten Tisch. Katinka brachte das Essen. Sie war klein und rundlich, aber flink auf den Füßen. In Niederbayern war sie geboren, und für Christina war es anfangs schwer gewesen, sie überhaupt zu verstehen. Aber kochen konnte sie, das musste man ihr lassen, wenn sie sonst auch manchmal ihre Mucken hatte.

Hier wurde bei Tisch nicht gesprochen, und so zuckte Christina erschrocken zusammen, als Björn seine Serviette zusammenlegte und sagte: »Ich habe einen guten Freund wiedergetroffen. Er kommt morgen nachmittag mit seiner Frau zum Tee, und ich bitte dich sehr herzlich, uns Gesellschaft zu leisten.«

»Ich würde doch nur stören«, sagte Christina.

»Ich wüsste wirklich nicht, wieso«, sagte er und erhob sich. »Ich bitte dich eindringlich, Christina. Es liegt mir sehr viel daran, dass du Daniel Norden kennenlernst. Meine Mutter war mit seinem Vater sehr befreundet.«

Demütig senkte sie den Kopf. »Wenn du es wünschst, werde ich selbstverständlich zugegen sein«, sagte sie leise.

Björn machte einen Schritt auf sie zu. Er hob die Hände, als wolle er nach ihr greifen, aber resigniert ließ er sie wieder sinken, als sie schnell zum Fenster ging.

»So kann es doch nicht weitergehen, Christina«, sagte er heiser. »Du lebst. Du kannst nicht so dahinvegetieren.«

»Ich lebe? Wie lebe ich denn? Soll ich froh sein, dass ich am Leben geblieben bin?« Sie warf den Kopf herum, und seit langer Zeit sah er wieder Leben in ihrem Blick. Doch er wusste nicht, was er auf ihre Worte erwidern sollte.

»Bob ist tot«, sagte Christina. »Er war dein Bruder. Wie kannst du dich nur so leicht über seinen Tod hinwegsetzen?«

So leicht? Hatte sie eine Ahnung, was ihn peinigte? Nein, sie hatte keine, nicht die geringste Ahnung hatte sie. Und er war es doch gewesen, der alles getan hatte, damit sie die ganze Wahrheit nie erfahren sollte. Aber damit hatte er ihr wohl mehr geschadet als genützt, und das war es, was ihn von Tag zu Tag mehr quälte.

Sie ging an ihm vorbei, und er machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Er ging in sein Zimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Was er so lange von sich geschoben hatte, forderte er nun heraus. Er rief sich jenen Tag vor zwölf Monaten ins Gedächtnis, als in einer Dorfkirche in der Nähe von Kopenhagen die Hochzeitsglocken für seinen Bruder Bob Reuwen und für Christina Hammerdonk läuteten.

Sie läuteten umsonst. Niemals hatte das Brautpaar die Kirche betreten. Niemals war Christina Bobs Frau geworden.

Doch das wusste sie nicht. Sie wusste so vieles nicht, was Björn seit zwölf Monaten peinigte und ihn oftmals an den Rand völliger Verzweiflung gebracht hatte.

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Fee sah ihren Mann fassungslos an. »Dann denkt diese Christina, dass sie verheiratet sei?«, fragte sie.

»Verheiratet gewesen, mein Liebes«, berichtigte Daniel sie nachsichtig. »Sie wurde schwer verletzt bei dem Unglück und lag sechs Monate in einem Krankenhaus. Ihr Zustand muss ziemlich hoffnungslos gewesen sein.«

»Und deshalb hat sich dieser verhinderte Ehemann abgesetzt? Wie schrecklich«, flüsterte Fee.

»Ich blicke da nicht richtig durch«, sagte Daniel nachdenklich. »Dr. Reuwen hat sich, was seinen Bruder anbetrifft, sehr vorsichtig ausgedrückt. Das Unglück passierte jedenfalls auf dem Wege zur Kirche.« Daniel machte eine kleine Pause.

»Und Christina Hammerdonk saß mit ihrem Vater allein im Wagen«, fiel ihm Fee ins Wort.

»Und mit dem Chauffeur. Ihr Vater war auf der Stelle tot, als sie von dem Lastwagen überrollt wurden, der Chauffeur starb noch an der Unfallstelle, und Christina kam, lebensgefährlich verletzt, in das Krankenhaus. So hat Dr. Reuwen es mir erzählt.«

»Und Bob Reuwen?«, fragte Fee voller Spannung.

Daniel zuckte die Schultern. »Darüber hat sich Dr. Reuwen nicht geäußert. Er hat mich gebeten, keine Fragen nach seinem Bruder zu stellen. Er will nur, dass Christina wieder ganz gesund wird. Nach seinen Schilderungen scheint sie gemütskrank zu sein.«

Fee sah ihren Mann nachdenklich an. »Nach allem, was du mir erzählt hast, grenzt es an ein Wunder, dass sie noch lebt. Wenn ein Mensch solche Verletzungen übersteht, kann man kaum erwarten, dass er von heute auf morgen wieder so wie früher ist.«

»Sie ist vor einem halben Jahr als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen worden, Fee. Dr. Reuwen hat sie in eine völlig neue Umgebung gebracht und tut allem Anschein nach alles, um sie in ein normales Leben zurückzuführen. Er möchte, dass wir sie dazu bewegen, auf die Insel der Hoffnung zu gehen, da er das Gefühl hat, dass sie das tägliche Zusammensein mit ihm zusätzlich belaste.«

Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen.

»Das alles ist sehr merkwürdig«, sagte Fee schließlich. »Warum nimmt er sich ihrer so an? Er hat doch keine Verpflichtung. Anscheinend hat sich doch sein Bruder vor einer Verantwortung gedrückt.«

»So sieht es aus. Ich kann es nicht beurteilen, mein Liebes. Was weiß ich, was da alles mitspielt. Mich interessiert der Fall als solcher. Es geschieht recht oft, dass ein Mensch sein Erinnerungsvermögen infolge eines Unfalls, eines Schocks oder harten Schicksalsschlägen verliert, dass er sich aber an etwas erinnert, was nicht geschah, habe ich noch nicht erlebt. Christina Hammerdonk fühlt sich als Frau Reuwen.«

»Sie wollte es sein«, fiel ihm Fee ins Wort. »Es war ihr Wunsch, und so wurde es zu einer Wahnidee, zu einer fixen Idee.«

»Sie trauert um ihren toten Mann, der gar nicht ihr Mann und auch nicht tot ist«, sagte Daniel sinnend.

»Und warum hat ihr niemand die Wahrheit gesagt?«, fragte Fee.

»Das eben ist das Rätsel, das ich gern lösen möchte«, murmelte Daniel.

»Seit wir verheiratet sind, haben wir schon eine ganze Anzahl von Rätseln gelöst, aber wenn dich der Fall so interessiert, gehen wir eben zum Tee zu Dr. Reuwen.«

Daniel lächelte flüchtig. »Du bist ja auch schon neugierig geworden, Feelein«, sagte er hintergründig, und das stimmte.

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Der Stil des Hauses, vor dem sie am nächsten Tag aus dem Wagen stiegen, war der Landschaft angepasst. Es war ein altes Haus, das schon einige Generationen überdauert hatte. In die Gartenmauer war eine Kupferplatte eingelassen, in die in verschnörkelten Buchstaben der Name von Tandris eingraviert war.

Ein Herrenhaus war es, im ländlichen Stil und mit so viel Behutsamkeit renoviert worden, dass dieser nicht zerstört wurde.

Dr. Reuwen kam ihnen entgegen. Er trug einen dunkelgrünen Trachtenanzug. Sein Gesicht war so verschlossen wie gestern, aber in seinen grauen Augen war ein heller Schein, der seine Erleichterung ausdrückte.

Er neigte sich über Fees Hand. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er leise, um dann schnell hinzuzufügen: »Bitte, wundern Sie sich nicht, wenn Christina überhaupt nicht spricht.«

Hatte Fee sich von diesem Dr. Reuwen schon eine ganz andere Vorstellung gemacht, so war sie restlos verblüfft, als sie nun Christina kennenlernte. Sie trug ein dunkelgraues Kleid ohne jeden Schmuck. Es war ihr zu weit und ließ die Zierlichkeit des so verhüllten Körpers kaum ahnen.

Ein heißes Mitgefühl durchströmte Fee, als sie in das starre, ausdruckslose Gesicht blickte, in glanzlose rehbraune Augen.

Dennoch war es ein sehr junges Gesicht. Fee hatte nicht vermutet, ein noch so junges Mädchen kennenzulernen.

»Christina«, sagte Dr. Reuwen leise und mit einem mahnenden Unterton, nachdem er Fee und Daniel vorgestellt hatte.

Christina richtete ihren Blick jetzt auf Fee, und nun zeigte ihr Gesicht doch eine Regung.

»Ich bin Christina Reuwen«, sagte sie monoton. »Ich heiße Sie willkommen.« Dann sah sie Björn an. »War es so richtig?«, fragte sie.

Ihm stieg das Blut in die Stirn. Fee und Daniel tauschten einen kurzen Blick.

»Sie wohnen sehr schön«, sagte Daniel, um sich erst einmal von der Beklemmung zu befreien.

»Meine Mutter ist in diesem Hause aufgewachsen«, erklärte Björn.

»Es war nicht nur deine Mutter, es war auch Bobs Mutter«, sagte Christina. Diesmal war ein aggressiver Unterton in ihrer Stimme.

»Gewiss, Christina«, sagte Björn rau.

»Ich bin gern hier, weil Bob dieses Haus liebte«, erklärte Christina. »Es stimmt doch, Björn?«

»Ja, es stimmt.« Man sah Björn an, wie hilflos er sich fühlte. Nun, immerhin ist sie nicht stumm, dachte Daniel. Ob es Björn Reuwen nicht lieber gewesen wäre, wenn ihr Mund verschlossen bliebe? Dem Mienenspiel des andern war nur Überraschung zu entnehmen.

Sie nahmen nun an einem runden Tisch Platz, und Daniel überlegte krampfhaft, wie man ein Gespräch in Gang bringen könnte. Er trank einen Schluck Tee und hätte sich fast daran verschluckt, als Fee sagte: »Ich kann mich nicht erinnern, wann Bob das letzte Mal hier war.«

Klirrend stellte Björn seine Tasse auf den Tisch zurück. Sie warf ihm einen Blick zu, der bittend und warnend zugleich war.

»Sie kennen Bob?«, fragte Christina so überrascht, dass die Starre von ihrem Gesicht abfiel.

Fee nickte ohne Gewissensbisse. »Es ist ziemlich lange her, dass wir uns trafen«, sagte sie.

»Bob ist tot«, murmelte Christina. »Hast du deinen Freunden nicht gesagt, dass Bob tot ist, Björn?«

Atemberaubende Stille herrschte in dem Raum. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Fee, »Bob war auf der Insel der Hoffnung, als wir uns das letzte Mal trafen.«

»Auf der Insel der Hoffnung?«, fragte Christina stockend. »Davon hat er nie gesprochen.«

»Sie werden es vergessen haben, Christina«, sagte Fee. »Sie waren lange krank.«

Daniel trat ihr unter dem Tisch ganz leicht auf die Fußspitze, aber Fee blieb beherrscht.

»Ja, ich habe viel vergessen«, sagte Christina schleppend. »Ich war lange krank. Wo ist die Insel, von der Sie sprachen? Insel der Hoffnung … Ein eigenartiger Name.«

»Ein bedeutungsvoller«, sagte Fee betont. »Bob liebte die Insel. Er wollte Sie dorthin bringen, Christina.«

Guter Gott, ist Fee ganz und gar verrückt, schoss es Daniel durch den Sinn. Wie kann sie nur dieses Spiel so weit treiben?

Doch Fee schien die richtige Intuition gehabt zu haben.

»Bob wollte mich dorthin bringen?«, fragte Christina mehr sich selbst, aber ihre Stimme hatte viel mehr Klang als zuvor. »Er hat mir gesagt, dass das Ziel unserer Hochzeitsreise eine Überraschung für mich sein solle. Die Insel der Hoffnung!« Sie machte eine kleine Pause. »Warum hast du mich nicht dorthin gebracht, Björn?«, fragte sie aggressiv.

»Ich dachte nicht an die Insel«, erwiderte er tonlos und mit erstarrtem Gesicht.

»Du wolltest nur, dass ich Bob vergesse«, sagte Christina erregt. »Du wolltest, dass ich alles vergesse.« Ein zitternder Seufzer folgte. »Dabei muss ich mich doch erst wiederfinden. Ich erinnere mich doch nur an Bob, nur an Bob.«

Sie schluchzte laut auf und lief dann schnell aus dem Zimmer.

»Es war ein bisschen viel, Fee«, sagte Daniel mit sanftem Vorwurf.

»Die einzige Möglichkeit, sie aufzurütteln«, erklärte Fee darauf.

»Ich bewundere Sie, gnädige Frau«, sagte Björn.

»Wollen wir der Einfachheit halber doch nicht so formell sein«, meinte Fee. »Es ist auch besser, wenn Christina uns für gute Freunde hält. Sie müssen uns sehr viel von Ihrem Bruder erzählen, damit die Lüge glaubwürdig wird.«

»Wie bist du nur darauf gekommen, Fee?«, fragte Daniel, der sich von seiner Verblüffung allmählich erholte.

»Weiß ich selbst nicht. Es war eine Eingebung. Ich denke jetzt, dass eine Frau sie besser versteht als ein Mann. Wo ist ihr Zimmer?«

»Himmel, riskiere nicht zu viel«, sagte Daniel warnend.

»Es war das erste Mal, dass Christina wie ein lebendiges Wesen reagierte«, erklärte Björn. »Schlimmer, noch schlimmer kann es doch gar nicht mehr werden. Ich vertraue Ihrer Frau, Daniel Norden. So, wie meine Mutter Ihrem Vater vertraute.«

»Dann kapituliere ich«, sagte Daniel.

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Fee stand vor der Zimmertür, zu der Björn sie geführt hatte. Sie vernahm ein erschütterndes Schluchzen, das ihr sehr zu Herzen ging. Aber jetzt gab es für sie kein Zurück mehr. Sie hatte A gesagt, nun musste sie auch B sagen. Bevor sie die Klinke niederdrückte, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.

Das Zimmer war hell und luftig. Christina lag auf einem breiten Bett, das mit einer zartgrünen Decke bedeckt war. Zartgrün waren auch die Vorhänge, weiß und flauschig der Teppich. Es war ein bezauberndes Jungmädchenzimmer, und nun wurde es Fee erst so richtig bewusst, dass dieses schluchzende Geschöpf noch ein halbes Kind war.

Sie setzte sich auf den Bettrand und legte sanft die Hand auf den schmalen Rücken. Christina zuckte zusammen, aber sie wehrte die streichelnde Hand nicht ab.

Es dauerte lange, bis das Schluchzen verebbte, aber Fee sprach nicht auf Christina ein, sondern streichelte nur ihr Haar, das unter ihren Fingern knisterte.