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Für unsere Töchter Sara, Delia und Timna,
unsere Enkeltochter Amelina Thatayame und
die Enkelkinder, die noch kommen werden,
sowie unsere Schwiegersöhne Timm und Steffen.

Und für all diejenigen, die Mut brauchen,
um wieder aufzustehen und weiter zu gehen …

Ute und Theobald R. Jäger

Inhalt

  1. 1.Zwei wie Pech und Schwefel
  2. 2.Ein Montag im Mai
  3. 3.Einer von Zehntausend
  4. 4.Wach endlich auf!
  5. 5.Er wird gesund werden!
  6. 6.Mäuschen!
  7. 7.Ich lebe nur im Augenblick
  8. 8.Das sind also die schlechten Zeiten
  9. 9.Kannste vergessen!
  10. 10.Kommst du oder gehst du?
  11. 11.Stippvisite im Leben
  12. 12.Merkt denn hier niemand, dass ich kein Gedächtnis habe?
  13. 13.Papa, warum machst du zweimal Salz ans Nudelwasser?
  14. 14.Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit
  15. 15.Alleinerziehend mit Mann
  16. 16.Von Gummibooten, Campingplätzen und Sofas
  17. 17.War’s das jetzt?
  18. 18.Ach, Papa!
  19. 19.Als das Leben von Schwarz-Weiß auf Farbe umschaltet
  20. 20.Ein Sonntag im Mai

Epilog

Dank

Nachwort und Dank

Viten

1

Zwei wie Pech und Schwefel

Wenn das Glück sich unfassbar anfühlt, wenn die Vorfreude auf den nächsten Tag und all das, was vor einem liegt, durch den Körper kribbelt, mischt sich manchmal, ganz leise, ein banger Gedanke in das Staunen darüber, so reich vom Leben beschenkt zu sein: Es kann nicht sein, dass ich so glücklich bleibe. Irgendetwas wird passieren. Dieses wunderschöne, pralle Leben ist nicht von Dauer.

Die unglaubliche Geschichte von Ute und Theo Jäger beginnt genau an diesem Punkt. Ihr Leben ist so ausgefüllt und rund, sie sind so glücklich miteinander und schauen mit diesem zuversichtlichen Selbstbewusstsein in die Zukunft, wie man es nur selten im Leben hat. Dass diese geballte Ladung Glück nicht der Normalzustand ist, wissen sie, auch wenn sie noch jung sind. Doch gerade weil sie so jung sind, sind sie sicher: So wird es weitergehen, wir werden alles im Leben gemeinsam meistern. Warum auch nicht?

Ute Ein Sonntagnachmittag im Mai 1982. Theo ist 25, ich ein Jahr jünger. In unserem alten roten Passat Variant fahren wir durch die sanften Hügel des Solling im Weserbergland. Die zwei für mich wichtigsten Menschen dieser Erde befinden sich in diesem Wagen. Mein Mann und unsere Tochter. Eine warme Welle von Glücksgefühlen überschwemmt mich. Nun sind wir schon über drei Jahre verheiratet, seit sieben Jahren ein Paar und es geht uns so gut. Der Frühling ist spät dran, doch jetzt scheint die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, die Bäume tragen endlich wieder Knallgrün. Ich atme tief durch, will mich auffüllen mit dieser sauberen Frische. Diesen Augenblick möchte ich jetzt anhalten, besser noch festhalten können. Ich bin einfach nur glücklich und könnte vor Übermut explodieren.

Dass die verschwenderische Naturpracht sie schon 24 Stunden später regelrecht anwidern wird, ist im Moment unvorstellbar. Und doch hat Ute seit Wochen eine Vorahnung, es könne mit ihrem großen Glück von jetzt auf gleich vorbei sein. Immer wieder schreckt sie nachts aus demselben bedrohlichen Traum hoch: Nägel, Unmengen von Stahlnägeln, stürmen auf sie zu, von allen Seiten. Noch bevor der Schmerz sie treffen kann, wacht sie schweißgebadet auf. Und versucht, sich mit Allerweltsparolen zu beruhigen – irgendeine unbewusste Angst, davon lässt man sich nicht die Lebensfreude verderben.

Theo hatte vor ein paar Tagen ein komisches Gefühl im linken Arm, nicht wirklich taub, aber manchmal kann er ihn nicht richtig bewegen. Er beschließt, das mal einem Arzt zu zeigen. Doch an diesem Wochenende, mit Frau und Kind, denkt er schon nicht mehr daran.

Sie sind ein auffälliges Paar, allein wegen des Größenunterschieds. Theo überragt seine zierliche kleine Frau um mehr als 30 Zentimeter. Es war eine ziemliche Überraschung für die Klassenkameraden damals in der Zehnten, dass ausgerechnet diese beiden sich fanden.

Ute Theo war ein Jahr älter und hatte seine Clique außerhalb der Schule. Als er dennoch zu einer Klassenfete kommt, prahle ich gerade mit ein paar Jungs um die Wette, wer das PS-stärkste Kleinkraftrad hat. Meine nagelneue Yamaha und ich sind offensichtlich die Schnellsten in der Runde. Wir schaffen 110 Kilometer pro Stunde ohne „frisiert“ zu sein. Da setzt sich Theo zu uns. Es wundert mich, dass er mitmischen will, sonst steht er meist wie ein Baum da und macht einen überlegenen Eindruck. Ein bisschen wie ein Indianerhäuptling: groß, breitschultrig, dunkle, schulterlange Haare. Das hat was. Insgeheim haben wir Mädchen uns auch schon gefragt, was dieser coole Typ in seiner Freizeit so treibt. Noch überraschender kommt seine Frage: „Hast du Lust zu tanzen?“ Ich bin sprachlos: „Wie, ich?“, rutscht es mir heraus. Meint der das wirklich ernst? Wie sieht das denn aus, ich habe doch gerade erst die 1,50 Meter-Marke überschritten. Offenbar schon, denn er steht wartend vor mir. Wir gehen zur Tanzfläche, er nimmt mich in den Arm und wir bewegen uns ganz langsam zur Musik von Santana. Können gar nicht mehr aufhören. Etwas Feines, Zärtliches geht von ihm aus. Etwas, das ich vorher so noch nicht an ihm bemerkt habe. Lange habe ich mich nicht so beschützt und geborgen gefühlt.

Ganz so zielgerichtet, wie er auf Ute wirkt, ist Theo nicht. Schließlich weiß er, dass er nicht der einzige Junge in der Klasse ist, dem Ute gefällt. Sie ist zwar winzig, aber unerschrocken. Sagt ihre Meinung, ist Klassensprecherin, dennoch keine von den Vorlauten. Theo strotzt keinesfalls vor Selbstbewusstsein. Er hält sich lieber zurück, auch wenn er zu vielem eine Meinung hat. Von seinem Glauben zum Beispiel weiß niemand etwas, dass er sonntags in den Gottesdienst der kleinen Baptistengemeinde geht und zuvor mit dem Auto die Rentner aus den entfernteren Regionen abholt. Dabei versucht er, sich möglichst unauffällig zu verhalten, denn er weiß, dass Utes beste Freundin neben dem Gotteshaus wohnt. Und die soll ihn auf keinen Fall mit Kirche in Verbindung bringen.

Theo Ute ist echt ein niedliches Mädchen, so klein und zart, aber überhaupt nicht schüchtern. Sie bewegt sich so ganz anders als die anderen Mädchen, das fiel mir sofort auf, als ich vor einem halben Jahr in ihre Klasse kam. Und wenn sie auf ihrer Yamaha sitzt, hat sie auch etwas herrlich Wildes. Jetzt ist es Ende Januar 1975 und ich bin zu Fuß auf dem Weg in eine Disco, in der ich mich immer mit meiner Clique treffe. Alles Jungs von außerhalb der Schule. Ich komme an der Kirche vorbei, in deren Keller gerade die Halbjahres-Party läuft. Irgendwie interessiert es mich ja doch, wie meine Klassenkameraden feiern. Laute Musik dröhnt bis nach draußen. Ich gehe hinein und wen sehe ich als Erstes? Ute! Jetzt ist klar, dass ich bleibe. Wann, wenn nicht heute, kann ich ihr endlich näherkommen? Denn genau das habe ich schon eine ganze Weile vor. Seit einigen Wochen sitzt sie im Unterricht schräg vor mir. Ich bin ständig abgelenkt, weil mein Sitznachbar ununterbrochen von ihr schwärmt – und weil sie auch mir ziemlich gut gefällt. Jetzt sitzt sie da, umgeben von anderen Jungs. Unerreichbar. Ich hole mir ein Bier, setze mich, ohne Ute aus den Augen zu lassen, und richte mich in meinem Nichtstun ein, bis mir klar wird: Jetzt oder nie. Ohne weiter nachzudenken, gehe auf sie zu und frage, ob sie mit mir tanzen will. Sie ist irgendwie erstaunt und scheint nicht sicher, ob ich tatsächlich sie meine. Doch sie geht mit. Sie spielen ein ziemlich langsames Stück von Santana. Als wir tanzen fällt mir sofort auf, wie leicht sie ist, wie eine Feder. Sie bewegt sich fast schwebend, wie eine Elfe, ganz zart. Wow! Das haut mich um. Ich bekomme nichts mehr um uns herum mit. Aber ich schaffe es noch, wie auch immer, ihr zu sagen, wie gut sie mir gefällt. Viel zu schnell geht das Licht an und die Party ist vorbei. Ich bringe sie nach Hause, sie zeigt mir die Fenster ihrer Wohnung, dann geht sie. Auf meinem Heimweg komme ich an einem Bistro vorbei, in dem noch einige meiner Freunde sind. Sie fragen, was mit mir los sei, ich sei so komisch. Ich antworte: „Könnte gut sein, dass ich gerade die eine kennengelernt habe.“

Tags drauf verabreden sich Ute und Theo fürs Kino – „Zwei wie Pech und Schwefel“ mit Bud Spencer und Terence Hill läuft, ein Kultfilm damals, 1975. Heute, in der Rückschau, finden beide, der Titel könne auch als Motto über ihrer Partnerschaft stehen; aber damals, an jenem Winterabend, ist der Klamaukstreifen schlicht der Rahmen für ihr erstes Date. Ab jetzt sind sie ein Paar. Richtig Tiefgang bekommt ihre zarte Liebe dann ein paar Monate später. Als Theo Ute auf dem Klavier eine Ballade vorspielt, den Titelsong aus „Love Story“. Im Nachhinein erscheint auch das beinahe prophetisch – keine alberne Schmonzette, sondern ausgerechnet das Lied des Erich-Segal-Melodramas, in dem eine tödliche Krankheit das Glück eines jungen Liebespaares zerstört.

Theo Es ist Samstagnachmittag. Wir sind allein im Haus meiner Eltern. Es ist das erste Mal, dass Ute etwas anderes von meinem Zuhause sieht als mein Zimmer im Souterrain. Während ich in der Küche Kuchen schneide und Kaffee koche, entdeckt Ute im Wohnzimmer mein Klavier. Natürlich will sie unbedingt, dass ich etwas spiele. Wie komme ich jetzt aus der Nummer raus? Ich habe seit Jahren keinen Unterricht mehr, das kann nur peinlich enden. Aber sie lässt sich nicht mit Ausreden abspeisen, also setze ich mich und spiele ein Stück, für das ich nie Noten gesehen habe: „Love Story“. Der Film hatte mich vor ein paar Jahren schwer beeindruckt und ich habe mir den Titelsong selbst beigebracht, in meiner ganz eigenen Version.

Ute Ich wundere mich, dass Theo mir gar nicht erzählt hat, dass er Klavier spielt. Ich muss ziemlich lange betteln, bis er endlich, zögerlich, seine Hände auf die Klaviatur legt. Vom ersten Ton an bin ich gebannt, seine langen Finger gleiten über die Tasten. Die Melodie erkenne ich sofort – „Love Story“. Schokolade unter Wärmezufuhr könnte nicht schneller schmelzen. Der satte Klang des alten Instruments, ausgerechnet dieses Lied – das ist zu viel für mich, zu überraschend. Mir wird heiß, ich löse mich auf, fließe dahin. Völlig überwältigt – von der Musik, aber auch davon, dass dieser coole Indianerhäuptling so ein zärtliches Lied spielt – nur für mich. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich weiß nicht, was gerade mit mir geschieht. Hätte mir eine Freundin von solch einem Erlebnis berichtet, hätte ich sie als hoffnungslos romantisch ausgelacht. Ich stehe hinter ihm. Nach dem letzten Takt dreht er sich auf dem Klavierhocker um. Wir sind auf Augenhöhe. Ich nehme ihn in den Arm und versuche gar nicht mehr, cool zu sein. „Das war total schön. Jetzt bin ich ziemlich platt.“

Ab diesem Tag ist etwas anders. Als legten wir beide unsere Fassade ab. Wir gehören zu der Generation, die ohne Sicherheitsgurt, Kindersitz und Airbag aufwuchs. Niemanden interessierte, wie viel Gift in dem Spielzeug steckte, mit dem wir spielten. Wurde es kalt, drehte man die Heizung nicht höher, sondern zog sich einfach wärmer an. Gebadet wurde einmal die Woche, dann feuerte die Mutter den Heizofen im Bad an und alle mussten in die Wanne. Wir spielten draußen, bis es dunkel wurde, auch im Winter. Waren die überfluteten Wiesen im Winter gefroren, testete kein TÜV, ob uns das Eis tragen würde. Das machten wir selber. Brach man ein, schleppte man sich in klatschnassen, kalten Klamotten auf dem Körper durch die eisige Luft nach Hause. Das prägt. Aber in diesem Moment, hier mit Theo, merke ich, dass ich nicht mehr zwingend so cool sein möchte. Mein Herz hat das Bedürfnis, Gefühle zu spüren und zu zeigen. Gegenüber Theo habe ich keine Angst, mein Inneres preiszugeben. Er, der immer so unbeeindruckt, stark und standfest wirkt, lässt mich jetzt seine zarte, verletzliche Seite sehen. Das soll so bleiben, ich wünsche mir, dass diese Offenheit für Gefühle zu einem Teil unserer Beziehung wird. Wir sprechen es nicht aus, wissen aber beide, dass heute etwas anders geworden ist zwischen uns. Schöner. Tiefer. Ehrlicher.

Vier Jahre später, im Januar 1979, heiraten Ute und Theo. Sie sind ganz sicher, den Rest des Lebens miteinander gehen zu wollen. Ihren Traupastor haben sie zuvor mit vielen Fragen bestürmt. Ob sie vielleicht zu jung sind für die Ehe? Was sie tun können, um sich nicht auseinanderzuentwickeln? Würde es problematisch sein, dass Theo noch einige Jahre studieren und deshalb kein Einkommen haben würde? Bedenken über Bedenken. Doch die Sicherheit, gemeinsam durchs Leben gehen zu wollen, bleibt. Sie sind während ihrer Ausbildungen räumlich getrennt, aber ihre gemeinsame Lust, die Welt und das Leben zu entdecken, trägt sie. Knapp zwei Jahre später, im Dezember 1980, kommt ihre Tochter Sara zur Welt.

Ute Hinten im Wagen sitzt Sara. Wie immer, sobald der Motor läuft, schläft sie. Theo und ich sprechen über das Fest, von dem wir gerade kommen, und planen die nächsten Wochen. Über Pfingsten wollen wir ein paar Tage mit Freunden verreisen. Ach, wir haben so viele Pläne! Theo hat nach der Ausbildung zum Fernmeldehandwerker sein Abitur nachgeholt, studiert jetzt in Göttingen Physik. Ich arbeite als Industriekauffrau in einem Holzbetrieb in Höxter. Vielleicht werde ich auch noch das Abi nachholen, wenn Theo mit der Uni fertig ist. Mal sehen. Diesen Sommer wollen wir an den Wochenenden viele Fahrradausflüge machen. Endlich haben wir ein Peugeot-Rennrad gefunden, dessen Rahmengröße für meine 1,52 Meter passt. Und Theo hat einen Kindersitz montiert.

Als die kleine Familie zu Hause in Höxter ankommt, schläft Sara tief und fest. Dann geht sie eben einfach mal ohne Brei ins Bett. Schnell noch eine frische Windel, danach haben Theo und Ute den Abend für sich. Normalerweise müssen sie sich sonntags verabschieden, weil Theo nach Göttingen fährt, doch morgen hat er in Höxter einen längeren Zahnarzttermin mit Narkose, deshalb bleibt er. „Das Gute an der OP ist, dass ich ein paar Tage länger bei euch bin“, stellt Theo zufrieden fest.

Am nächsten Tag wird sich ihr Leben radikal verändern, doch in diesem Moment inniger Zweisamkeit verfliegen alle bösen Vorahnungen. Die Unbeschwertheit dieses schönen Tages, das Glück als Paar, bleibt beiden als Erinnerung auf den getrennten Wegen, die sie ab morgen gehen werden, und trägt sie durch das, was jetzt kommt.

2

Ein Montag im Mai

Der Tag beginnt routiniert, Handgriffe und Abläufe sind eingespielt. Gerade, weil sich in ihrem Alltag inzwischen so etwas wie Routine eingestellt hat, sind Ute und Theo glücklich. Alles ist geordnet und sicher; nichts steht infrage. Was für ein großes Glück das sein kann, wird erst am Abend wirklich klar.

Sara krabbelt durch die Wohnung, sitzt beim Frühstück in ihrem Hochstuhl, brabbelt fröhlich vor sich hin und versucht, die klein geschnittenen Brotstücke selbst in ihr Schnütchen zu stopfen. Sie weiß sich der Aufmerksamkeit ihrer Eltern sicher, die ihr Gespräch unterbrechen, sobald sie einen Mucks macht. „Toll, Sara!“, loben sie ihre Tochter, wenn wieder ein Happen unfallfrei in ihrem Mund landet. Das ist das Privileg der Erstgeborenen: Ich bin das große Glück von Mama und Papa, das wichtigste Wesen auf der Welt, ihr Fixstern, um den alles kreist. Saras Sicherheit ist ein wohliges Gefühl, das sie so für die nächsten Jahre nicht mehr erleben wird. Denn ab jetzt wird im familiären Miteinander immer auch die Sorge um Theo mitschwingen. Mamas Blick ist nicht mehr permanent stolz auf die Tochter gerichtet, sondern immer wieder bekümmert auf den Papa.

Ute startet schwungvoll in diesen Tag, das ist ihre Art. Kind anziehen, Frühstück, dann Sara zu den Großeltern bringen – mit den Gedanken ist sie schon beim Job. Und am Nachmittag will sie zeitig Feierabend machen, um Theo nach seiner Zahn-OP ein bisschen zu umsorgen. Der Alltag geht ihr leicht von der Hand. Auch wenn Theo unter der Woche in Göttingen ist. Klein, aber tatkräftig, das ist Ute Jäger. Und seitdem sie Theo kennt, lebt sie auch getragen von dem Gefühl, richtig zu sein, so wie sie ist, und angekommen zu sein in dem Leben, das sie führen möchte.

Theo trinkt seinen Kaffee, scherzt mit Sara, wischt ihr zwischendrin ein bisschen Marmelade von der Wange. Standardverabschiedung: ein Kuss für Ute, ein Kuss für Sara, noch mal winken. Dann geht er ins Wohnzimmer, setzt sich dort an den Tisch, nimmt seine Bibel und liest. Das ist für ihn ein Moment des Innehaltens, so macht Theo das jeden Tag. In jungen Jahren hat er zwar auch mal ein bisschen mit dem Glauben, den seine Eltern ihn gelehrt hatten, gefremdelt, aber seitdem auch Ute mit in die Gemeinde geht, ist seine Verbindung zu Gott ebenfalls wieder stärker geworden. Theo ist gern derjenige, der die Familie beschützt. Sich sorgt und kümmert und mit den bescheidenen Mitteln, die sie haben, die erste gemeinsame Wohnung für sie drei schön macht. Zweieinhalb Zimmer unterm Dach. Dass Ute derzeit die Ernährerin ist, bedrückt ihn manchmal. Muss sie zu viel Last tragen, weil er sich den Luxus des Studiums leistet? Und was ist, wenn ihm mal was passiert? Er hat zwei Lebensversicherungen abgeschlossen, die Unterlagen liegen in einem der Holzregale. Das Studium hatte er sich leichter vorgestellt, es gibt Vorlesungen, in denen er so gut wie nichts versteht. Aber das geht seinen Kommilitonen auch so. Und wenn er sich, so wie in den vergangenen Wochen, in einer Aufgabe festbeißt, dann bekommt er sie auch gelöst. Den Mathe-Schein für dieses Semester hat er damit schon in der Tasche.

Alle Lebensentwürfe, Wertigkeiten und Sicherheiten der kleinen Familie werden am Abend erschüttert. Die Anspannung, unbedingt pünktlich bei der Arbeit aufzuschlagen, erscheint plötzlich nichtig, die Möglichkeit, morgens gemeinsam zu frühstücken, dafür als ein kostbares Gut. Was als Nächstes passiert, weiß Theo nicht mehr. Offenbar geht er zum Zähneputzen ins Bad und bricht dort zusammen. Bis ihn Ute findet, vergehen sieben Stunden. Sieben Stunden, in denen sich ihr mulmiges Gefühl zu der Gewissheit steigert: Es ist etwas passiert!

Ute Ich packe Sara ins Auto, um sie zu den Großeltern zu bringen, und fahre weiter ins Büro. Kurz nach acht Uhr ruft mich die Zahnarzthelferin an und fragt, wo mein Mann bleibt. Ich sage ihr, dass er jeden Moment eintreffen müsse. Als ich nichts mehr von der Arztpraxis höre, gehe ich davon aus, dass Theo inzwischen dort angekommen ist. Dennoch – irgendwie bin ich unruhig. Zwei Stimmen streiten in meinem Kopf. Die eine sagt: Fahre nach Hause! Die andere: Warum solltest du, es ist alles in Ordnung. Gegen Mittag rufe ich zu Hause an, Theo müsste längst wieder da sein, doch er hebt nicht ab. Ob er sich schlafen gelegt und das Telefon leise gestellt hat? Um 15 Uhr halte ich es nicht länger aus. Ich mache früher Feierabend. Jetzt bin ich völlig aus der Ruhe. Irgendwie weiß ich, dass etwas nicht stimmt, und trotzdem bleibe ich stur bei meiner Routine und schaue erst bei meinen Schwiegereltern vorbei, ob Sara mich braucht. Aber sie macht noch ihren Mittagsschlaf, also fahre ich doch allein nach Hause. Als ich die Treppen zu unserer Wohnung im zweiten Stock hochgehe, trommelt mein Herz. Mit jeder Stufe werde ich kurzatmiger. Mit jeder Stufe steigt meine Gewissheit, dass etwas passiert ist. Kurz vor der Tür höre ich mich sagen: „Lieber Gott, mach mich bitte stark für das, was mich jetzt erwartet!“ Als ich die Wohnung aufschließe, sehe ich Theo sofort durch die offene Badezimmertür. Er liegt diagonal im Raum auf den kalten Fliesen, sein Kopf auf der Personenwaage. Die Augen sind weit aufgerissen, Schaum an den Lippen, die Zunge blutig gebissen, die Hose eingenässt. „Theo, was ist los? Was ist passiert?“, rufe ich. Er reagiert nicht.

Jetzt geht alles ganz schnell und gleichzeitig wie in Zeitlupe. Ich telefoniere mit der Arztpraxis, um zu fragen, ob es bei der Operation heute Morgen eine Komplikation gegeben hat. „Aber, Ihr Mann ist gar nicht bei uns gewesen!“, sagt man mir. Ich erstarre: „Was? Ich verstehe das nicht, aber er liegt hier vor mir und reagiert nicht!“, stammele ich hilflos. „Rufen Sie den Notarzt!“, höre ich die Stimme am anderen Ende sagen. „Wie war noch mal die Telefonnummer?“, frage ich völlig kopflos. „112!“ Ich lege auf und wähle mit zittrigen Fingern die drei Ziffern. Wie in Trance spule ich Name und Adresse runter. „Bitte, kommen Sie schnell!“, presse ich noch hervor, lege auf, gebe der Oma Bescheid und renne zurück ins Bad zu Theo.

Bevor der Kopf die Ungeheuerlichkeit des Moments erfassen kann, reagiert der Körper. Die Eingeweide brennen, der Mund ist trocken, Übelkeit kriecht vom Magen hoch. Hinten im Kopf macht sich schon die schlichte und schreckliche Erkenntnis breit, dass Theo mit dem Leben ringt, doch der Rest kämpft gegen die Wahrheit an. Der kopflose Aktionismus ist ein einziges lautes Nein, der verzweifelte Versuch, eine völlig harmlose Erklärung für das Unfassbare zu finden. Vielleicht sagen die in der Zahnarztpraxis jetzt etwas, das den Schrecken nimmt. Oder der Mann in der Feuerwehrleitstelle hat eine ganz simple Erklärung, was mit Theo sein könnte. Dann das Warten auf den Krankenwagen, auf Hilfe, auf Erklärungen.

Ute Jäger denkt nicht so weit, ob Theo einen Schlaganfall oder ein Aneurysma hatte. Wie auch, sie beide sind jung, Krankheitsgeschichten sind jenseits ihrer Welt. Wenn etwas passiert wäre, hätte er sich doch gemeldet, denkt sie. Und zwischendrin immer wieder: Das kann, das darf nicht wahr sein! Wann wache ich endlich aus diesem schrecklichen Traum auf?

Ute Bis der Krankenwagen eintrifft, vergeht eine gefühlte Ewigkeit. Ich hocke neben Theo und streichle ihn. Er liegt leblos da, aber sein Herz schlägt. Ich denke darüber nach, wie er bei seiner Größe überhaupt auf unseren Badezimmerboden passt, und dass der Kopf auf der Waage liegt, als sei sie ein Kissen. Endlich klingelt es. Notarzt und Sanitäter eilen mit einer Trage zu uns ins Dachgeschoss. Was sie sagen, höre ich nicht wirklich. Ich spüre, dass sie nervös sind. Sie nehmen die Situation sehr ernst, sind hochkonzentriert. Mich nehmen sie scheinbar nicht wahr. Die Männer stöhnen vor Anstrengung, als sie ihn aus der Wohnung heraus durchs Treppenhaus tragen. Ich laufe einfach hinterher und steige in den Krankenwagen ein. Mir ist übel. Meine Beine zittern. Mit Blaulicht und Martinshorn rasen wir durch die Stadt zum Krankenhaus. Durchs Fenster sehe ich vertraute Bilder, vertrauten Alltag: Höxter, mein Heimatort, Häuser, Menschen, Autos rauschen an uns vorbei. Ich könnte schreien: Stopp! Jemand muss diese Normalität anhalten! Theo liegt doch hier! Wie können alle einfach so weitermachen, wenn Theo in diesem Krankenwagen ist?

Eine Sekunde verändert den Rest des Lebens. Für die Passanten auf der Straße ist der Krankenwagen ein lästiges Störgeräusch, manche durchfährt vielleicht ein banger Schauer, was da wohl passiert sei. Für die Unfallmediziner ist es ein sicherlich besonders schwerer, aber doch ein Standardfall. Für Verwandte und Freunde, die nun peu à peu von dem Vorfall erfahren, eine Schreckensnachricht. Für Ute ist die Fahrt im Krankenwagen der Beginn eines neuen Lebens und einer Lebensaufgabe. Hier im Krankenwagen ist sie noch nicht bereit, sie anzunehmen. Sie hat ja nicht mal eine Idee, wie die nächste Stunde aussehen könnte. Sie hat noch nicht mal begriffen, dass es nie wieder so sein wird wie noch am Morgen. Wie sollte sie auch! Jetzt geht es nur um Theos Überleben. So laut das Martinshorn auch kreischt, so stark ihr Herz auch pocht, für Ute ist es ein letzter stiller Moment mit ihrem Mann, weil sie an seiner Seite sitzen kann, bevor sie Theo den Ärzten überlassen wird. Es ist der unbewusste Abschied aus ihrem bisherigen Leben.

3

Einer von Zehntausend

In der Notaufnahme herrscht Hektik. Das St.-Ansgar-Krankenhaus in Höxter ist erst wenige Jahre alt – modern, funktional. Ab jetzt ist Theo in den Händen der Mediziner. Eine Schwester schirmt Ute Jäger von ihrem Mann ab, fordert sie auf, in den Wartebereich zu gehen. „Das ist mein Mann und ich will wissen, was mit ihm los ist!“, empört sie sich. Ein Arzt fragt lapidar, ob Theo diese Krämpfe häufiger habe. Krämpfe? Öfter? Was sollen diese Fragen? Aufgebracht antwortet sie: „Mein Mann war bis heute kerngesund!“ Dennoch wird sie nun aus dem Behandlungszimmer geschickt. Die Tonlage, in der hier mit ihr gesprochen wird, gefällt ihr überhaupt nicht. Routiniert, sachlich, pragmatisch. Für die Ärzte, so scheint es, ist Theo einfach irgendein medizinischer Fall. Für sie bedeutet er das Leben.

Eine Freundin der Familie kommt vorbei, sie arbeitet als Dialyseschwester hier im Krankenhaus. Jemand aus der Familie hat ihr Bescheid gegeben. Sie erkennt Utes Verzweiflung und handelt. Geht in das Zimmer, in dem Theo untersucht wird, versucht bei den Kollegen etwas in Erfahrung zu bringen. Ute schöpft Hoffnung, jetzt wird sie gleich eine Erklärung bekommen. Doch als die Freundin zurückkommt, weiß sie sofort: So schnell wird es keine Antworten auf ihre drängenden Fragen geben. „Theo wird für die Hubschrauberüberführung nach Göttingern vorbereitet.“ Jetzt ist auch Ute klar, dass Theo in Lebensgefahr ist. Wenn selbst das Kreiskrankenhaus ihn nicht retten kann.

Theos Schwester trifft ein, auch sie ist Krankenschwester. Die drei Frauen liegen sich in den Armen, weinen, drücken sich fest. Doch die Zeit drängt: Ute und ihre Schwägerin machen sich auf den Weg nach Göttingen. Die knappe Stunde im Auto vergeht still. Ute ist völlig überfordert: Sie hat weder eine Ahnung, was passiert sein könnte, noch, was jetzt auf Theo zukommt. Anders ihre Schwägerin, die die spärlichen Informationen, die sie bisher haben, mit ihrem medizinischen Hintergrund ganz anders einschätzen kann. Doch sie hält sich mit Prognosen zurück.

Gegen 17 Uhr, zwei Stunden, nachdem Ute Theo gefunden hat, kommen sie im Universitätskrankenhaus an. Erst mal sind die beiden überfordert, sich auf dem riesigen Klinikareal zurechtzufinden. Immer wieder müssen sie fragen, wo Theobald Jäger zu finden ist. Schließlich wissen sie zumindest, dass sie in der richtigen Wartezone sind. Wieder still sitzen, obwohl Ute am liebsten losrennen möchte, in den Operationssaal, zu Theo. Was für eine Kraftanstrengung, sich zum Sitzen zu disziplinieren. Zwischendrin geht sie kurz zum Münzfernsprecher, hält die Eltern auf dem Laufenden, benachrichtigt ihren Arbeitgeber. Dann wieder sitzen und warten. Ein Arzt kommt vorbei, den Utes Schwägerin aus Höxter kennt. Er versucht, für sie mehr in Erfahrung zu bringen, bekommt aber auch nur heraus, dass Theo noch immer operiert wird. An den Warteraum grenzt ein Schwesternzimmer. Durch eine Glasscheibe können Ute und ihre Schwägerin das Personal beobachten, aber nichts hören. Ute versucht, aus deren Mimik zu deuten, wie es um Theo steht, ob die Operation beendet ist oder ob Komplikationen eingetreten sind. Schauen sie bestürzt, lachen sie? Ein hoffnungsloses Unterfangen, aus diesem Pantomimespiel Fakten abzulesen …

Der Wartebereich leert sich, schließlich sitzen dort nur noch die zwei Frauen, starr vor Sorge. Längst haben sie kein Zeit- oder Hungergefühl mehr, es gibt nichts mehr zu sagen, alles in ihnen lechzt nach einer Diagnose. Es ist Mitternacht, als sie endlich aufgerufen werden.

Ute Mechanisch gehe ich hinter dem Arzt her in sein Besprechungszimmer. Ich habe jetzt so lange darauf gewartet, eine Erklärung zu bekommen, eigentlich müsste mein Verstand jetzt glasklar sein. Hellwach und aufnahmefähig, doch ich verstehe nicht viel von dem, was er sagt. Begriffe dringen an mein Ohr – Liquor, Drainage, Ventrikelsystem –, das sind Worthülsen für mich, deren Bedeutung ich nicht ermessen kann: massive Blutung im Zentralgehirn, schwierige Stelle, eine Entlastung wurde gelegt. Was hat das alles mit Theo zu tun? Ich spüre die Hand meiner Schwägerin auf meiner Schulter. Sie hat Fachwissen und kann die Tragweite der Diagnose sofort ermessen. „Du musst jetzt tapfer sein!“, flüstert sie mir zu. Das klingt wie in einem kitschigen Sonntagsabendfilm, was soll dieses Pathos? Was bedeutet das alles hier? Der Arzt spricht es schließlich aus: Es geht um Leben und Tod.

Medizinisch ausgedrückt ist Folgendes passiert: Im Krankenhaus Höxter zieht man zunächst bei einer Rückenmarkpunktion blutigen Liquor. Das ist diagnostische Standardbehandlung, um die Art der Erkrankung festzustellen. Über Infusionen wird sein Kreislauf stabil gehalten. In Göttingen wird Theo sofort intubiert, also ein Schlauch in seine Luftröhre geführt, um ihn zu beatmen. Das Computertomogramm ergibt, dass das Ventrikelsystem, also die Hohlräume im Gehirn, fast vollständig mit Blut gefüllt sind. Damit der Kopf unter dem Druck der Flüssigkeitsmenge nicht platzt, bohren die Ärzte ein Loch in Theos Schädel und legen eine Drainage. Eine Quelle für die Blutung wird nicht gefunden. Die Drainage wird nach ein paar Tagen gezogen; die Stelle sieht man noch heute auf Theos Kopf.

Dann darf Ute endlich zu Theo. Stunden, nachdem sie ihn den Ärzten anvertrauen musste. Ihr Inneres ist aufgewühlt, der Kopf vom langen Warten leer und gleichzeitig voll mit Fragen – im Kontrast dazu steht die sterile Atmosphäre der Intensiv-Wachstation: geordnet, funktional, antiseptisch.

Ute Zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich eine Schleuse: Desinfektion, Mundschutz, Kittel, Plastiküberzüge für die Schuhe. Es verwirrt mich, dass hier jeder weiß, welcher Handgriff als nächster kommt. Meine Knie sind so weich, dass sie jeden Moment einknicken müssen. Dann stehe ich an Theos Bett. Und ich erkenne ihn nicht wieder. Meinen Theo. Er liegt nackt im Bett, füllt die Länge bis zum letzten Zentimeter aus. Ein Laken liegt über Rumpf und Beinen. Auf dem Brustkorb kleben Elektroden. Sein Kopf ist geschoren, ein Verband um die Stirn gebunden. Zwischen den Verbandschichten führt ein Schlauch heraus, angefüllt mir rötlichem Sekret. Ein Schlauch in Theos Kopf! Wie brutal! Ich sehe einen schwarzen Ballon, der sich im Takt aufbläht und wieder mit einem Zischen zusammenfällt. Das Beatmungsgerät. Das Geräusch gibt den Takt vor in dieser sterilen Stille. Hin und wieder piept ein Apparat, das Personal murmelt im Hintergrund. Vertraut sind mir auf den ersten Blick nur Theos Hände. Seine Haut ist glatt und wirkt wie frisch gewaschen. Er scheint tief zu schlafen. Sieht so friedlich aus.

Die Nacht ist fortgeschritten, als Ute und ihre Schwägerin die Klinik verlassen. Eigentlich möchte Ute bei Theo bleiben. Langsam verstehen, was passiert ist, und dabei seine vertrauten Hände betrachten und streicheln. Wenigstens etwas, das an das Davor erinnert, an den Menschen Theo, nicht den medizinischen Fall. Die vertrauten Hände, die ihr das Gefühl geben, Theo habe sie nicht verlassen. Stattdessen erfasst sie die nüchterne Wahrheit in dem Moment, als sie aus dem Krankenhaus Richtung Parkplatz gehen.

Ute Das hier kann alles nichts mit mir zu tun haben. Mein angespannter, eiskalter Körper bäumt sich auf und ich schreie in die Nacht: „Nein! Nein! Nein!“

Auf meiner Schulter spüre ich die Hände meiner Schwägerin, mit leichtem Druck signalisiert sie mir, still zu sein. Mein Schrei erstickt wieder, jetzt weine ich nur noch. Die Welt um mich herum verschwimmt hinter meinen Tränen. Aber in mir schreit es weiter, schmerzt in mich hinein: „Das kannst du nicht machen, Jesus! Das geht jetzt nicht! Du kannst uns Theo jetzt doch nicht einfach nehmen! Nein! Bitte tu das nicht! Bitte lass ihn wieder gesund werden.“

Den ganzen Tag hat Ute trotz der riesigen Anspannung geduldig gewartet, hat sich auf harte Stühle setzen und vertrösten lassen, damit die Mediziner ihre Arbeit machen und sich auf Theo konzentrieren können. Jetzt aber begehrt sie auf, jetzt bricht es aus ihr hinaus. Ute ist ein einziges lautes Nein. Mit ganzer Kraft stemmt sich Ute gegen die Diagnose und gegen ihr Schicksal! Und doch passiert in diesem Moment etwas zutiefst Unglaubliches. Verstörend einerseits, für Außenstehende kaum nachzuvollziehen, und doch das Fundament für die nächsten 25 Jahre und für Utes unerschütterliches Beharren auf Theos Heilung. Sie spürt tatsächlich eine tröstende Kraft, so unmöglich das in diesem Moment sein mag. Ute versteht ja selbst nicht, was da gerade mit ihr passiert.

Ute

Tiefe Verzweiflung und tiefe Ruhe liegen oft beieinander. Nicht nur bei gläubigen Christen. Vielleicht ist es ein menschlicher Überlebensreflex: Wenn man sich so sehr gegen etwas stemmt, dass man daran verzweifelt, setzt irgendwann der Impuls ein zu sagen: Was kann mir denn schon passieren? Ich kann es ja doch jetzt nicht ändern. Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Es ist der Moment, in dem ein Mensch sein Schicksal annimmt, sich seiner Lebensaufgabe stellt. Ute fühlt diese Ruhe ganz klar. Als stehe sie im Auge eines Hurrikans. Um sie herum tobt es, aber innen gibt es den windstillen Punkt.

Dieses Erlebnis ist eine Momentaufnahme. In dieser Intensität ist das Gefühl nur für einen Hauch spürbar und doch klar und zutiefst versöhnlich. Ute fühlt sich gespalten: „Das bin ich nicht. Ich will ihn doch zurück. Ich will, dass alles wieder so ist, wie es war.“ Und doch bleibt ein Teil von ihr ruhig, gelöst und frei. Tags drauf, nach einer kurzen Nacht, steht sie wieder an Theos Bett, erneut beherrscht von Sorgen und Zweifeln.

Ute Immer wieder pumpt sich der schwarze Ball auf und fällt in sich zusammen. Gleichmäßig, ohne Schwäche, mechanisch auf und ab. Eine Maschine hält Theos Körper am Leben. Ich fühle mich leblos, innerlich erstarrt. Zögernd tasten meine Blicke über seinen Körper, ängstlich vor dem, was sie vielleicht entdecken. Den Schlauch, der aus seinem Kopf ragt, kann ich einfach nicht ansehen. Ich bin ausgefüllt von Schmerz. Ich nehme Theos Hand, sie ist eiskalt. Ich erschrecke, warum ist er so kalt? Ist er tot? Da kommt eine Schwester, kontrolliert die Apparaturen und spricht ihn an, als wäre es das Normalste von der Welt mit Koma-Patienten zu sprechen. Das beruhigt mich, dann falle ich wenigstens nicht als Verrückte auf, wenn ich es auch tue: „Hallo Theo, ich bin jetzt da …“, beginne ich zögerlich. Ich wünsche mir, dass er mich hört, erzähle einfach weiter, was mir einfällt, von Sara, dass sie bei Oma und Opa ist und ihn vermisst. Dann erstickt meine Stimme in Tränen. Es tut so weh, dass er nicht antworten kann, dass er vielleicht nie wieder antworten wird.

Am dritten Tag habe ich ein Gespräch mit einem behandelnden Arzt. Unser Pastor begleitet mich heute, er ist jung, ebenfalls verheiratet und hat eine Tochter. Er hat uns vor drei Jahren getraut und ist inzwischen ein Freund geworden. Der Arzt wiederholt noch einmal viele Dinge, die mir schon gesagt wurden. Eine Aussage allerdings ist neu: „Nur einer von 10 000 überlebt überhaupt eine derart massive Gehirnblutung.“ Sofort ist mir klar, was das heißen soll: Machen Sie sich keine Hoffnung. Als wir aus dem Raum gehen, schaue ich meinen Pastor an und höre mich sagen: „Und Theo ist der Eine.“