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Über dieses Buch:

Drei junge Frauen wollen ihre düstere Vergangenheit hinter sich lassen und einen Neubeginn in Cornwall wagen: Kirsty, Avril und Bernadette teilen sich im Personaltrakt des Hotels Burleston ein Zimmer. In der Bibliothek fällt Kirsty ein verstaubtes, aber faszinierendes Buch in die Hände. Die Freundinnen haben eine verwegene Idee: Sie werden diesen alten Roman unter ihrem Namen neu veröffentlichen und als Bestsellerautorinnen reich und berühmt werden. Zunächst scheint ihr Plan äußerst erfolgreich zu sein – doch dann scheint das Buch einen gefährlichen Einfluss auf sie auszuüben, dem sich keine der Frauen entziehen kann …

»Gillian White lenkt die Handlung intelligent und hat ihre gruseligen Zutaten bestens im Griff.« Independent on Sunday

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Romane »Das Ginsterhaus«, »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Das Familiengrab«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge« und »Der Nachmieter«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe 1999 Gillian White

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Veil of Darkness« bei Bantam Press, a division of Transworld Publishers, London.

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2001 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Helen Hotson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-95824-796-3

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Gillian White

Das Hotel bei den Klippen

Roman

Aus dem Englischen von Isabella Bruckmaier

dotbooks.

Meinen Agenten, Brie Ann und Jonathan, in Freundschaft.

Kapitel 1

»Jesus«, klagte der Mann, der auf sein Leben zurückblickte. »Warum suchte ich immer dann vergebens nach deinen Fußspuren neben mir, wenn es mir schlecht ging? Warum ließest du mich im Stich, wenn ich dich am nötigsten brauchte?«

Und Jesus antwortete ihm so gelassen, als ob er seit Jahren auf diese Frage gewartet hätte. »Mein Sohn, wenn es dir schlecht ging, gab es deshalb nur eine Spur im Sand, weil ich dich auf meinen Schultern trug.«

Kirsty wirft einen wütenden Blick auf diese frommen Zeilen über dem Kaminsims. Sie hingen an diesem Ehrenplatz im Wohnzimmer, seit ihre Schwiegermutter den Spruch bei einem schrecklichen Weihnachtsfest feierlich dort angebracht hatte. Ein Riss lief quer durch den Rahmen, der den Spruch einfasste. Notdürftig hatte sie den Riss mit einem Klebstreifen geflickt. Ihr Haus, ihr ganzes Leben schienen voller Risse und schwarzer Löcher zu sein. Zehn kurze Minuten hat sie, um dem Haus zu entkommen, in dem sie acht Ehejahre ertragen hatte. Als wäre sie krank und ans Bett gefesselt gewesen. Abgeschottet hinter einer dunklen Glasscheibe.

Sie denkt an ihre Kinder – es gab keine Alternative, als sich vorübergehend von ihnen zu trennen, aber mit sechs und sieben waren sie einfach zu klein, um das zu begreifen. Kirsty hatte sich nicht getraut, sie in ihre Pläne einzuweihen, aus Angst, sie könnten alles verraten. Es war keine Zeit gewesen, ihnen zu erklären, dass sie wiederkommen und sie holen würde, sobald alles geregelt war. Erst heute Morgen, nachdem er in die Arbeit gegangen war, hatte Kirsty sie aufgeweckt und angezogen und ihnen behutsam mitgeteilt, dass sie heute nicht in die Schule müssten. Dass stattdessen Tante Tessa sie mit ihrem Auto abholen würde und sie zu Maddy brächte.

Die Kinder hätten bei ihr bleiben können, wenn sie ins Frauenhaus gegangen wäre, aber das hatte sie nicht gewollt.

Die größte Angst hatte sie vor dem Frühstück an diesem Morgen gehabt. Sie hatte befürchtet, der Stress könnte zu viel für sie werden, sie könnte anfangen zu weinen oder durch einen Blick sein Misstrauen erregen, aber merkwürdigerweise war sie so ruhig gewesen wie selten. Ihre Nervosität wirkte wie ein Betäubungsmittel, das ihr bei der schwierigen Aufgabe half, ihn ohne das Geknurre und Gefluche aus dem Haus zu bekommen, das normalerweise zu seinem morgendlichen Ritual gehörte. Wie sehr träumte sie davon, irgendwann einmal von Vogelgezwitscher geweckt zu werden und nicht mehr zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang von seinem schnaufenden Körper auf ihr.

Er hatte sie zum Abschied geküsst, nicht gemerkt, wie sie zusammengezuckt war und war zur Arbeit gefahren, so wie immer.

Er besteht darauf, dass seine Socken gebügelt und zusammengelegt werden. Ein halber Teelöffel Senf auf jeder Schinkenscheibe. Exakt ein halber Teelöffel.

Kirsty wirft einen hastigen Blick auf die Uhr an der Wand – Marks & Spencer, sie hatte sie selbst gekauft. Als sie jung verheiratet waren, hatte sie sie für geschmackvoll gehalten. Wie lächerlich, dass sie sich wegen so einer Banalität Gedanken gemacht hatte. Sie stopft ihre Sachen in seine Adidas-Sporttasche: ihren Kulturbeutel, ihre Unterwäsche, Schuhe und die einzigen zwei Taschenbücher, die er nicht zerrissen hatte. Ihre Bücher, ihre geliebten Bücher. Sie hatten Kirsty am Leben erhalten und davor bewahrt, verrückt zu werden. Das hatte er gespürt, und die rebellische Kraft, die von ihnen ausging. Und weil er Rivalen in ihnen sah, veranlassten diese Bücher Trevor zu seinen heftigsten Wutausbrüchen. Nach ihren Kindern waren es ihre Bücher, die Kirsty erfinderisch und mutig werden ließen. Lesen machte sie glücklich, also versteckte sie ihre Bücher überall im Haus und riskierte dabei jedes Mal Prügel, jedes Mal, wenn er das Haus durchwühlte und dabei eines fand. Manchmal ließ er sie dann, als Strafe, auf den Knien laut aus einem der Bücher vorlesen, machte sich lustig über die Dialoge oder versetzte ihr einen Hieb mit der Faust, dass sie durch das Zimmer flog. Ihre übrigen Sachen sind in dem Koffer, den sie gekauft hatten, als sie alle nach Weston fuhren. Sie fröstelt bei dem Gedanken an diesen Urlaub. Ihren einzigen Urlaub. Am Schluss war sie alleine mit den Kindern nach Hause gefahren. Ohne Fahrkarten, der Schaffner im Zug war großzügig gewesen.

Nein, das Frühstück heute war keineswegs der gefährlichste Moment in ihrem Leben gewesen. Vor sechs Monaten, als sie zaghaft anfing, diese tödliche Lähmung aus Angst abzuschütteln, war ihr Leben in Gefahr gewesen. Damals hatte sie zum ersten Mal begriffen, mit wem sie da verheiratet war, dank der Hilfe der Samariter und später mit der Hilfe des Zentrums, das diese ihr empfohlen hatten. Anfangs war sie zu eingeschüchtert gewesen, um von dem Telefonhäuschen in der Massey Street aus anzurufen. Aus Angst, er könnte irgendwo in der Nähe auf der Lauer liegen, es wissen, so wie er es immer wusste, wenn sie gegen eine seiner Regeln verstieß, sich nicht loyal oder in seinen Augen schlampig verhielt.

Zu Kirstys Erleichterung bestanden die Samariter nicht darauf, dass sie ihre Identität preisgab. Aber vielleicht, so schlugen sie vor, sollte sie trotzdem irgendeinen Namen nennen, damit sie entspannter miteinander sprechen konnten, sie und die Fremde mit der warmherzigen Stimme. Zitternd nannte sie den Namen »Valerie«, weil sie glaubte, ihr Leben wäre ganz anders verlaufen, hätte man ihr den Namen Valerie gegeben. Valerie schien ihr ein so starker Name zu sein, nicht der Name eines Menschen, den man nach Lust und Laune ebenso gut Miststück, Schlampe, Nutte nennen konnte oder eines Menschen, der nach einer Mutter genannt worden war, die bei seiner Geburt gestorben war.

Mami. Mutti. Mama. Als Kind hatte sie sich alle Versionen laut aufgesagt, weil sie wissen wollte, wie sie sich anhörten.

An dem Tag, als sie die Samariter anrief, war sie zu spät zur Arbeit gekommen, und er hatte später wissen wollen, warum man ihr 2 Pfund 45 von ihrem Lohn abgezogen hatte. Ohne rot zu werden, behauptete sie, sie hätte den Bus versäumt. Ohne die Hoffnung zu haben, jede Woche mit dieser Ausrede durchzukommen.

Mit einer beinahe schon krankhaften Gier hatte sie angefangen, in ihrer Mittagspause zu telefonieren. Zu Beginn hatte sie kaum ein Wort herausgebracht, doch nach kurzer Zeit sprudelte der angestaute Hass, den er ihr hineingeprügelt hatte, nur so aus ihr heraus.

Die Mädchen neckten sie und dichteten ihr einen Lover an. Nannten ihn ihren Reservebetthasen. Und wenn sie das Geld in den Schlitz warf, sangen sie: »Häschen hüpf!«

Sie hatte Panik davor, dass Trev herausfinden könnte, was los war, oder sie durchschauen, mit seinem Röntgenblick ihre Gedanken lesen könnte. Ihr das Gehirn ausleeren und es durchwühlen, so wie er es manchmal mit dem Abfalleimer machte und den Müll über den ganzen Küchenboden verstreute. Doch sogar damals, als sie langsam dabei war, sich zu erholen, verspürte sie noch immer dieses perverse Verlangen des Opfers, vor seinem Peiniger auf die Knie zu fallen und ihm alles zu gestehen, um Gnade zu flehen, ihm einen Stock in die Hand zu geben, damit er sie schlagen und so ihre Schuldgefühle lindern konnte.

Das Telefon zu Hause konnte sie nicht benutzen, da die Anrufe inzwischen einzeln in der Abrechnung aufgeführt wurden. Er ging sie pedantisch durch und machte ihr wegen jeder unbekannten Nummer eine Szene, sogar wenn er selbst telefoniert hatte.

So blieb ihr nichts anderes übrig, als mit der Lüge zu leben. Das fiel ihr am schwersten. Nur in ihren Büchern fand sie Trost.

Sie wusste nicht mehr, warum sie ihn geliebt hatte.

Jahrelang hatte sie gehofft, er würde sich ändern.

Er liest den Sportteil in der Sun. Er macht das Rätsel in People. Wenn im Fernsehen die Lottogewinner gezeigt werden, spuckt er auf den Teppich.

Kirsty steht in der offenen Haustür, eine zierliche Gestalt in Jeans und dunkelblauem Parka, in der Hand die Schlüssel, um etwas aus ihrem Leben auszusperren. Das Haus liegt so ruhig da. Beinahe friedlich. Nichts, das auf Angst oder Schrecken hindeutet, alles ist sauber und ordentlich, wenn nicht immer wieder Erinnerungen aufblitzen und sie quälen würden. Nummer 24 Barkers Terrace sieht immer leer aus, wenn sie alles aufgehoben und weggeräumt hat, ganz nach seinem Geschmack, ein Haus so leer und deprimierend, dass sich bestimmt niemand darin wohl fühlen kann. Wie schön müsste ein Zuhause sein, in dem ein liebevoller Partner auf einen wartet. Ein unaufgeräumtes Haus, in dem es nach selbst gebackenem Kuchen duftet, überall Blumentöpfe stehen, Stöße von Büchern und Kinderbilder an den Wänden. Aber die Möbel in Kirstys Haus schimmern trübselig vor sich hin, und ein Bedürfnis überkommt sie, etwas Ekelhaftes auf dem Teppich zurückzulassen, ein gebrauchtes Tampon oder einen Haufen Kot – niemand in ihren Büchern würde so etwas Entsetzliches tun. Als einen Minimalisten würden ihren Mann diese Künstlertypen bezeichnen, denen Sterilität und Kälte gefällt. Eine makellos aufgeräumte Küche – nicht einmal ein Geschirrhandtuch auf dem Abtropfständer ist erlaubt. Kein Nippes auf den Regalbrettern. Kein Kissen auf dem Sofa. Kein Sofatisch. Keine Bilder, nur ein gerahmter Spiegel über dem Kamin und der Bibelspruch seiner Mutter. Aber Trevs Besessenheit entspringt einer Paranoia, hat man Kirsty gesagt, und allmählich beginnt sie, das zu begreifen.

Niemand schien besonders überrascht oder schockiert von ihrer Geschichte zu sein. Die passierten einfach zu oft. »Er ist geisteskrank«, erklärten sie ihr. »Er braucht Hilfe.« Und: »Sie müssen stark sein und tapfer.«

Sobald sie durch diese Tür gegangen ist, muss sie hier nie wieder putzen. Nie wieder mit ihren Kindern flüstern oder sie verstecken, wenn sie sieht, wie sich der Türknauf langsam dreht. Nie wieder so tun, als schliefe sie. Nie wieder nachts wach im Bett liegen und darauf warten, dass es wieder losgeht. Nie wieder stundenlang ein Abendessen vorbereiten, in der Angst, es könnte an der Küchenwand landen.

Auf Fotos lächelt er immer.

Er mag es, wenn sie seine Füße mit ihren Haaren streichelt, es langsam zwischen seinen Zehen durchzieht. Wenn sie glaubt, er schläft, wacht er auf. Er hat sie hereingelegt, hat nur so getan…

Plötzlich sieht sie wieder die verwirrten Gesichter ihrer Kinder vor sich: Jake hatte sich so trotzig beim Abschied verhalten, so abweisend; Gemma hatte laut geschluchzt und es dennoch vermieden, sich an sie zu klammern oder sie zum Bleiben zu bewegen. Wie kleine Erwachsene hatten sie gewirkt, ernst, mager und nervös. Kirsty läuft mit dem Koffer in der Hand durch den Garten und kämpft mit jedem Schritt gegen die Angst. Als sie sich ein letztes Mal umblickt, stellt sie sich vor, dass ihre Blicke sich träfen und sie mit erhobenem Haupt seinem feindseligen Blick standhielte. Wie so oft regnet es.

Und wenn Trev früher heimkommt?

Wenn der Chef ihn früher nach Hause gehen lässt?

Falls er sie jetzt erwischt…?

Ihr Leben folgt einem festen Schema: Jeder Fehltritt zieht eine Strafe nach sich. Bei der Vorstellung, dass er nach Hause kommt und niemand da ist, zuckt sie innerlich zusammen. Wie ungehorsam! Wie konnte sie es wagen, sich derart hinterlistig zu verhalten! Sie sieht seinen dümmlichen Gesichtsausdruck vor sich, wenn er merkt, dass sie weg ist. Wie er breitbeinig vor der Treppe steht, die Hände in die Hüften gestemmt, in den oberen Stock ruft und nichts als Schweigen erntet.

Er hat die Angewohnheit, so lange an den Fingern zu ziehen, bis es knackt. Er isst gern rohe Würstchen direkt aus dem Kühlschrank und saugt sie aus der Haut heraus. Es überrascht sie immer wieder, dass ihn das noch nicht umgebracht hat.

Sie kann ihn hören, wie er wutentbrannt faucht: »Wo warst du die ganze Zeit?«

Sein höhnisches Lachen schmerzt in ihren Ohren. Sie sieht seine kleinen, vor Zorn sprühenden Augen.

Dann haut er mit der Faust auf den Tisch.

»Scheiße noch mal, du Miststück.« Während sein Zorn in Brutalität umschlägt und sie – den Kindern zuliebe – die ganze Zeit die Kartoffeln zerdrückt, als wäre alles in bester Ordnung, sich fragt, ob sie noch genug Zeit hat, die beiden nach oben zu bringen, bevor es losgeht.

Wären die Kinder nicht gewesen, hätte sie sich wohl mit der Zeit an die Angst gewöhnt und den Schmerz nicht mehr gespürt.

Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, er würde sterben oder sie hätte den Mut, ihn umzubringen. Immer wieder sagte sie sich, dass er seinem Tod jeden Tag näher kam, und das tröstete sie ein wenig.

Sterben sollte er oder im Lotto gewinnen, beides war ihr recht. Aber sie glaubte nicht daran, dass seine Zahlen je gezogen würden, denn ihr war dieser seltsame Blick der Lottogewinner aufgefallen: Sie sahen immer aus, als wären sie mit einem Geheimnis zur Welt gekommen. Ganz im Gegensatz zu Trev. Hätte er den Haupttreffer im Lotto gelandet, hätte er sie sofort verlassen, da war sie sich sicher. Er hätte ein Leben auf der Überholspur geführt und sich mit Autos, Frauen oder Alkohol umgebracht.

Er mag keine Chips, aber dafür geröstete Schweineschwarte. Wahrscheinlich kann Kirsty schon deshalb den Geruch von Schweinefleisch nicht ausstehen und muss bei Schweinen immer sofort an deren Todesangst im Schlachthof denken.

Es schüttet wie aus Kübeln, als Kirsty in den zweiten Bus zur Lime Street Station steigt. Dort muss sie eine Stunde auf den Zug nach Cornwall warten. Und vielleicht bestellt sie sich, während sie wartet, eine Tasse Kaffee, gibt ohne schlechtes Gewissen Geld aus, etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hat, und kauft sich eine Zeitung oder sogar eine paar neu erschienene Bücher für die Reise. Vom Zentrum bekam sie Startgeld; sie will es so bald wie möglich zurückzahlen. Sie braucht nun nicht mehr für jeden ausgegebenen Pfennig Rechenschaft abzulegen oder um Geld zu betteln, wenn sie Kleidung für die Kinder kaufen will. Einmal brachte sie den falschen Senf nach Hause, den er ihr sofort ins Gesicht schüttete, mitten in die Augen. Sie darf nicht daran denken, dass er hinter ihr her ist, sich heimlich von hinten an sie heranschleicht und ihr seine Hand plötzlich auf die Schulter legt. Ihre Augen tränen, so angestrengt starrt sie hinaus in die Abenddämmerung, sucht ihn in der Menschenmenge, hofft, der Bus möge schneller fahren, der Verkehr nachlassen und ihr Kopf aufhören zu dröhnen.

Trevor wird sich nicht mit der Niederlage abfinden. Mit Sicherheit heckt er schon jetzt einen Plan aus, bastelt an einer Geschichte von einer durchgeknallten Frau, die eine Gefahr für sich und die Kinder darstellt, einer Geschichte, die man ihm ohne weiteres glauben wird. »Du bist hysterisch!«, hatte er oft behauptet. »Bei dir ist ja ’ne Schraube locker.« Wenigstens sind die Kinder in Sicherheit, und wenn alles klappt, sind sie bald wieder mit ihr zusammen.

Wie oft hatte sie sich die verrücktesten Fluchtpläne ausgedacht, aber intuitiv hatte sie sie nie ausgeführt. Wenn sie wegging, musste sie alles richtig machen, musste alles sorgfältig geplant sein, sonst würde er sie finden.

Daher hatte sie die Idee mit Cornwall. Das Zentrum half ihr dabei, einen Job zu finden. Sie schlich sich immer hin, wenn die Kinder in der Schule waren. Bei der Arbeit log sie, sagte, sie müsse zum Zahnarzt. Mrs. Graham, ihre Vorgesetzte, wollte ihr schon den Lohn kürzen, denn zum Zahnarzt brauche sie nicht während der Arbeitszeit gehen. Aber die Kolleginnen in der Nahrungsmittelabteilung unterstützten sie, und sie erklärte Mrs. Graham, es sei eine Wurzelbehandlung und hierfür seien mehrere Behandlungstermine nötig. Das Burleston Hotel, ein im viktorianischen Stil erbautes Haus, das in einer eigenen Bucht lag und einem gewissen Colonel Vincent Parker gehörte, bot Jobs für den Sommer an und ein kleines Cottage für den nächsten Winter. Die Vorstellungsgespräche fanden im Adelphi Hotel statt. Kirsty hätte niemals gedacht, dass man sie nehmen würde, doch genau das war der Fall. Kerry vom Zentrum tat alles, um die Hoteldirektion zu überreden, Kirsty das Cottage sofort zu überlassen, ohne Einzelheiten über ihre persönlichen Umstände preiszugeben. Doch angeblich sei es vermietet und erst im Winter wieder frei. Das Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen. Auch wenn sie momentan ganz unten war, die Vorstellung, in einem Heim leben zu müssen, fand Kirsty unerträglich.

Er dreht sich seine Zigaretten selbst. Seine Daumen und Zeigefinger sind immer gelb. Den Tabak bewahrt er in einer echten alten Bisto-Büchse auf, die er für wertvoll hält.

Papiertaschentücher benutzt er nicht. Trevor will seine weißen Taschentücher gebügelt. Er besteht darauf, dass sie sie auf der Herdplatte genauso auskocht, wie seine Mutter das macht.

Wenn er telefonieren möchte, muss sie für ihn wählen. Beim Frühstücksei muss der Kopf mit einem Messer so abgeschlagen werden, dass die Schale nicht in Stücke bricht.

Die Kinder sind inzwischen bei Madeleine Kelly untergebracht, einer Freundin und Sympathisantin des Frauenzentrums, die manchmal einspringt, wenn Frauen kurzfristig in Schwierigkeiten stecken. Das Beste an Maddy ist, dass keine direkte Spur zu ihr führt: Sie ist nämlich kein Opfer eines brutalen Ehemannes, sondern eine finanziell unabhängige Frau mittleren Alters, die in einem Cottage in Caldy lebt, auf der anderen, der vornehmen Seite des Flusses. Kirsty hatte sie nur einmal im Zentrum getroffen, und das eine Mal hatte genügt, um Vertrauen zu ihr zu fassen. Hätte sie nur eine Mutter wie Maddy gehabt, eine warmherzige Frau wie aus einem Märchen. Ihr Lachen war wohltuend und einnehmend, und ihr ganzes Leben lang kümmerte sie sich um Kinder in Notsituationen. Kirsty ist es mehr als recht, wenn Jake und Gemma bis Ende September bei ihr blieben, und von Geld wollte Maddy nichts wissen. Sie werden den Sommer über die Schule nicht besuchen, aber Maddy wird sie selbst unterrichten und ihnen jede Menge Zuneigung schenken. Kirsty solle sich keine Sorgen machen, meinte Maddy. Sie sei nur einen Telefonanruf entfernt, und sie werde mindestens zweimal die Woche schreiben und sie beim kleinsten Problem sofort informieren. Trevor wird also keine Schwierigkeiten machen können. Er wird Maddy bestimmt nicht finden. Kirsty war den Tränen nahe, als sie mit Maddy über die lange Zeit sprach, die die Kinder von ihr getrennt leben sollten.

»Vier Monate können Kindern vorkommen wie eine Ewigkeit, weiß Gott«, meinte Maddy. »Aber nicht in meinem Haus«, fügte sie lächelnd hinzu. »Nicht mit meinen alten Hunden. Nicht mit meinen Enten und Hühnern. Ich weiß, dir steht eine harte Zeit bevor, aber was du tust, ist richtig. Diese vier Monate bei mir werden für die Kinder wie Ferien sein. Und die verdienen sie doch, nach allem, was sie durchgemacht haben?«

Und Kirsty, die bis dahin nicht gewusst hatte, dass es Menschen wie Maddy auf dieser Welt gab, umarmte Maddy fest.

Er trägt das Kreuz um den Hals, das er zu seiner ersten heiligen Kommunion geschenkt bekam. Manchmal bekommt er von der Silberkette einen Ausschlag. Wenn Kirsty das Kreuz versehentlich berührt, bekommt sie eine Gänsehaut.

Kirsty hatte Triumphgefühle erwartet und nicht diese merkwürdige Leere. Erschrocken drückt sie das Gesicht gegen die Fensterscheibe, als sie plötzlich glaubt, ihn draußen gesehen zu haben. Nein, nein, das kann er nicht gewesen sein. Inzwischen ist er zu Hause im Trockenen, ruft seine Mutter an und erkundigt sich, ob seine Frau bei ihr ist. Warum sollte sie seine Mutter besuchen? Ganz am Anfang tat sie das, hoffte dort auf Verständnis. Schließlich hatte Edna acht Kinder großgezogen, sie sollte einem Ratschläge geben können. Wusste sie, dass ihr Sohn ein Tier war? War das angeboren? Kirsty hätte Edna gern ein paar Fragen über ihre eigene Ehe gestellt. Sie hatte sich nicht getraut. Mit einem gebrochenen Arm, einem Buggy und einem fieberkranken Kind, hatte sie sich zu Edna gequält. Geglaubt, Hilfe von einer Frau zu erhalten, an deren Wand der gestickte Bibelspruch hing: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.« Edna saß neben ihrem kleinen Kohleofen, in einem Haus, das nach Sonntag und Rosenkohl roch, hob den Kopf und erklärte mit geschlossenen Augen: »Nichts ist Gott wohlgefälliger als tapfer ertragenes Leid.« Dann rief sie den Notarzt an. Bei dem darauf folgenden Weihnachtsfest schenkte sie Kirsty den Spruch mit der Versicherung, Gott trage sie.

Kirsty wollte nicht, dass der Doktor misstrauisch wurde. Natürlich stellte er Fragen, so oft, wie sie im Krankenhaus war – sie sei eben ungeschickt, ein richtiger Tollpatsch, scherzte sie. Sie hatte Angst, Sozialarbeiter könnten in ihrem Leben herumschnüffeln und ihr am Ende die Kinder wegnehmen. Schließlich hatte sie als Mutter versagt, denn sie ließ zu, dass ihr Mann sie misshandelte, und Jake und Gemma spürten die Gewalt, aßen, tranken und schliefen die Gewalt, auch wenn Trev die beiden nie anrührte – noch nicht –, obwohl er damit drohte, es zu tun. An den Wochenenden hielt sie sie so lange wie möglich vom Haus fern – im Park oder am Fluss. An den Wochentagen brachte sie die Kinder früh ins Bett.

Außer Trevs Mutter fiel ihr niemand ein, der ihr hätte helfen können. Als Kirsty sich zum ersten Mal nach einer Tasse Tee und ein paar tröstenden Worten sehnte, war sie entsetzt. Wie hatte es nur so weit kommen können, wie hatte sie sich so vom Rest der Welt isolieren können? Seit ihrer Heirat und der Geburt der Kinder hatte sie kaum Zeit gehabt, ihre Freundschaften zu pflegen, und die wenigen Freunde, die übrig geblieben waren, lehnte Trev ab. Auf eine erschreckende Weise ließ sich dieses Sich-ihm-Unterwerfen sogar rechtfertigen: Schließlich liebte er sie. Er hatte nie vor, sie zu verletzen, ihr Unrecht zu tun, sagte, er hasse seinen Jähzorn. Langsam aber sicher wurde die Weihnachtskartenliste immer kürzer, bis schließlich niemand mehr übrig war, bis auf Trevs weit verstreut lebende Verwandte. Kirsty hat kaum Angehörige – nur einen Bruder in Australien, und der hatte seit Jahren nicht geschrieben, nicht seit er geheiratet hatte. Sie kennt Ralphs Adresse nicht einmal mehr. Ihr Vater hatte sie beide aufgezogen, er starb ein Jahr nach ihrer Heirat. Ihre Kolleginnen im Geschäft haben ihre eigenen Probleme, Kirsty hat nie etwas mit ihnen unternommen. Dazu nahm Trev sie viel zu sehr in Beschlag, außerdem schämte sie sich, weil er so eifersüchtig und misstrauisch war. Als ihr bewusst wurde, dass sie all ihre Freunde verloren hatte, fühlte sich Kirsty plötzlich schrecklich einsam und fragte sich, wann sie das letzte Mal richtig ausgelassen gelacht hatte.

»Mit dir macht nichts richtig Spaß«, warf Trev ihr vor, »wehleidige Schlampe. Immer dieses Gejammer.«

»Lach doch«, rief er dann, »lach um Himmels willen. Hör mit dem blöden Geseier auf.«

Kirsty sitzt in der Bahnhofshalle, nippt an ihrem zu heißen Kaffee und lauscht angestrengt auf die Durchsagen. Immer wieder betrachtet sie die Fahrkarte in ihrer Hand und streichelt sie liebevoll.

Kapitel 2

Mit klopfendem Herzen erreicht Kirsty ihren reservierten Platz, lässt sich hineinfallen und schließt die Augen. Ängstlich versteckt sie ihr Gesicht hinter einem Buch. Was wäre, wenn Trev doch wütend den Bahnsteig auf- und abrennt, durch die Fenster in die Abteile stiert und sie entdeckt? Ihr gegenüber sitzen zwei pickelige junge Männer und neben ihr ein schwarzhaariges Mädchen mit ungekämmten Haaren. Als der Zug aus dem Bahnhof rollt, späht Kirsty vorsichtig hinter ihrem Buch hervor.

Der Bahnsteig gleitet an ihr vorbei, ohne dass irgendwo ein zorniger Trevor zu sehen ist, und sie seufzt so laut, dass sie befürchtet, jeder im Zug, sogar das unförmige Mädchen auf der anderen Seite des Ganges, habe es gehört. Kirsty wirft ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Das Mädchen macht ein unglückliches Gesicht. Kirsty bemerkt drei angetrunkene Matrosen, die es umzingelt haben und hat Mitleid mit ihm. Das Kostüm der jungen Frau sitzt so eng wie eine Zwangsjacke. Später erzählte Avril ihr, dass ihre Mutter es ausgesucht hatte, und Kirsty war überhaupt nicht überrascht.

»Glaub mir«, hatte Avrils Mutter außerdem gesagt. »Ich hab dir gesagt, dass du den Job bekommst, und du hast ihn bekommen. Schnell und exakt, so arbeitest du, vergiss das nicht.«

Der Haarschnitt, der Avril »geschäftsmäßig« wirken lassen sollte, war ein Kurzhaarschnitt, der ihr breites Gesicht noch stärker betonte. »Schon merkwürdig«, berichtete Avril Kirsty irgendwann, »wie das Wort ›geschäftsmäßig‹ einem auf den Magen schlagen kann. Das Wort ist typisch für meine Mutter. Sie mag Wörter wie Vagina, Serviette, Prostata, Automobil, Menstruation und Sperma.«

Auf dem Heft, das aus der Tasche des Mädchens herauslugte, stand »Wirtschaftslehre«. »Mir stellen sich jedes Mal die Haare auf, wenn man mich nach meinem Hauptfach fragt«, vertraute Avril ihr an, als sie Kirsty näher kannte. »Wirtschaftslehre, nicht Psychologie oder Kommunikationsstudien; so was kam nicht in Frage, für mich waren das Sterne am Nachthimmel, unerreichbar und weit draußen, funkelnd.«

Für einen kurzen Moment beneidete Kirsty sie, beneidete sie um ihre Mutter und die Aura der Sicherheit, die sie umgab.

»Sogar die Studenten bei uns sahen langweilig aus, verglichen mit denen in den anderen Fächern, Kunsterziehung, Design, Theaterwissenschaften, Musik, Sprachen, Naturwissenschaften oder Ingenieurwissenschaften«, seufzte Avril. »Aber natürlich hatte Mutter Recht, wie immer. Hätte ich so was Interessantes studiert, wäre ich sofort aufgefallen, so fett wie ich war. Am schlimmsten war es, wenn Daddy mich seine kleine Schönheit nannte.« Kirsty fand auch, dass Avril eigentlich recht hübsch war – trotz ihres Körperumfangs. Sie hat ein nettes Gesicht, makellose Haut und große fröhliche Augen. Und wenn sie einen guten Friseur gehabt hätte und sie ihre Haare etwas länger hätte tragen dürfen, wäre aus ihr vielleicht ein ansehnliches junges Mädchen geworden. »Ich meine, als ich hörte, dass die Theaterwissenschaftsstudenten sich ganz am Anfang des Semesters im Schneidersitz im Kreis hinsetzen und sich laut vorstellen mussten, habe ich mir beinahe vor Angst in die Hose gemacht.«

Während die Wirtschaftsstudenten einen Aktenordner bekamen und einen Computer zu zweit und ordentlich auf Stühlen sitzen mussten.

Aber noch kennt Kirsty Avril nicht.

»Hausmütterchen«, passt ihrer Meinung nach am besten auf das Mädchen gegenüber. Und sie liegt richtig damit, Avril liebt ihr Zuhause: ihr gemütliches Schlafzimmer im Dachgeschoss, die geliebte alte Küche, in der seit ihrer Kindheit nichts erneuert wurde, den gekachelten beigen Kamin mit dem Messingschmuck. »I remember, I remember« von Thomas Hood war in der Schule ihr Lieblingsgedicht. Damit gewann sie einen Vorlesewettbewerb. Kirsty wurde neidisch, als Avril von ihrem Familienleben erzählte: Dass sie Trivial Pursuit spielten, am Freitagabend chinesisch essen gingen oder sonntags die Oma besuchten.

Verstohlen beobachtet Kirsty das dicke Mädchen und vermutet, dass es noch keinen Freund hatte.

»Ja, ich fing schon an zu glauben, dass es nie einen Mann geben würde, der mir Blumen schenkt, mich küsst oder mich ausziehen möchte. Ich war davon überzeugt, dass mich nie einer heiraten würde. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, lesbisch zu werden, weil ich mir das einfacher vorstellte.« Sie beschrieb ihre unscheinbaren Kommilitoninnen der Wirtschaftswissenschaft, die schwarze Strumpfhosen, Faltenröcke und Anoraks trugen. »Und ich habe jedes Buch über Nonnen im Kloster verschlungen, das ich finden konnte. Wie herrlich muss es hinter diesen Mauern sein!« Wahrscheinlich könnte sie Gott auf dieselbe intensive Weise aus der Ferne verehren wie einen Jungen in der vierten Klasse. Vielleicht wirkte sie in dem schwarzen Gewand schlanker. Sie hatte sich ausgemalt, sich auf einen kalten Schieferboden niederzuwerfen und einem schwarz gewandeten Inquisitor ihre Sünden zu gestehen. Nur war sie in diesen unanständigen Träumen nackt und hinterher »nahm sie« jeder, während sie rücklings auf dem Altar lag.

Avril nimmt ihren ganzen Mut zusammen und blickt sich um. Es mussten doch noch andere »Mädchen« wie sie im Zug sein, hatte Mutter gemeint, die unterwegs waren ins Burleston Hotel, um mit der neuen Saison anzufangen. Ganz besonders begrüßte ihre Mutter die Tatsache, dass Avril »im Haus« wohnte. Eine ausgezeichnete Möglichkeit, »sich an die Unabhängigkeit zu gewöhnen«, und ihre Mutter hatte die Zusage der Wirtschafterin, dass sie ein Auge auf ihre kleine Avril haben würde. Beim Einstellungsgespräch war Avril überrascht gewesen von der Bandbreite der freien Jobs. Es gab offene Stellen für Zimmermädchen, Kellnerinnen, Portiers und Büroangestellte wie sie, ein Kindermädchen wurde gesucht, zwei Bademeister, Köche, Tellerwäscher und Reinigungspersonal. Warum suchten sie in Liverpool? War es nicht praktischer, Leute aus der Gegend um das Hotel anzustellen?

»Wahrscheinlich ist die Gegend nur schwach besiedelt«, hielt ihre Mutter dagegen. »In der Gegend sagen sich Füchse und Hasen Gute Nacht; und die Leute in Cornwall sind bekannt für ihre Faulheit. Dort geht alles etwas langsamer.

. Das ist eine ganz andere Welt.«

Aber das Burleston war das ganze Jahr über geöffnet. Warum behielten sie das Personal nicht einfach?

Sie hatte sich bei dem Einstellungsgespräch danach erkundigt – natürlich nicht mit diesen Worten. Ihre Mutter hatte das Gespräch mit ihr geprobt. »Besteht eine Möglichkeit auf eine Ganzjahresstelle, wenn Sie mit meiner Arbeit zufrieden sind?«

Die Antwort der Personalagenturangestellten mit den künstlichen drei Zentimeter langen Fingernägeln weckte Avrils Erwartungen: »Heutzutage, fürchte ich, Miss Stott, gibt es nicht allzu viele Menschen, die bereit sind, sich länger als eine Saison von der Welt zurückzuziehen.« Die Blondine schenkte Avril ein schmallippiges Lächeln und klopfte mit einem knallroten Fingernagel auf den Ordner vor ihr. »Ich muss noch einmal betonen, Miss Stott, dass das Burleston eine besondere, ausgewählte Klientel hat. Leute, die die Ruhe suchen und keinen Rummel wollen. Daher bietet Colonel Parker seinen Gästen kein glamouröses Nachtleben, besondere Festivitäten oder Ausflüge. Er ist auch nicht erpicht auf junge oder unverheiratete Gäste oder Gruppen, die nur aus Männern oder Frauen bestehen. Das Hotel lebt von den Familien, jungen Familien im Sommer und älteren Herrschaften im Winter, verstehen Sie. Viele kommen in das Burleston, um den exklusiven Neunlochgolfplatz zu benutzen, und manchmal werden kleine Wettbewerbe veranstaltet, glaube ich, wenn die Gäste das wünschen.«

Nun wusste sie es. Es war dort einfach zu langweilig. Die intensiven Nachforschungen ihrer Mutter hatten sich gelohnt.

Immerhin kann sich Avril nicht ausgeschlossen fühlen, wenn man ohnehin nirgends eingeladen werden kann. Das nächste Dorf ist drei Meilen entfernt. Das nächste Pub acht Meilen. Und es gibt keine Busverbindung.

Was Avril wohl für Kollegen haben wird? Werden es die vier da drüben auf der anderen Seite des Gangs sein? Wer außer ihr würde schon freiwillig vier lange Sommermonate auf jeden sozialen und sexuellen Kontakt verzichten? Studenten? Avrils Augen schweifen über den Gang. Die kleine Gruppe spricht nicht miteinander, aber warum starrt die Frau sie so an? Avril fängt Kirstys Blick auf und sieht zu Boden.

Ihre Mutter hatte sich immer gewünscht, dass Avril eines Tages von Liverpool weggehen solle. Ihrer Tochter sollte gelingen, was sie in so vielen Büchern gelesen hatte und was ihr Mann nicht geschafft hatte: Seit dreiundzwanzig Jahren arbeitete er bei Burt and Sturgess, dem Herrenausstatter in der City, und hatte es zu nichts gebracht in dieser Stadt. Ihr ganzes Leben träumte Avrils Mutter von der »anderen Seite des Mersey«, von Wirral, dem exklusiven Mekka auf der anderen Seite des Flusses. Und wenn ihr Sohn Graham den Verstand gehabt hätte, das zu machen, was sie ihm geraten hatte – einen Schulabschluss und eine ordentliche Ausbildung –, wäre er bestimmt nicht in die falschen Kreise und mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Sein Name darf bei Avril zu Hause nicht mehr erwähnt werden.

Draußen fliegen nun nur noch Wiesen und Hecken und Wälder vorbei. Avril glaubt, das Meer schon riechen zu können.

»Komm schon, Sexbombe, hab dich nicht so.« Der Kerl hält ihr mit einem Rülpser die Dose vor die Nase.

Avril wird knallrot. »Ich trinke keinen Alkohol.«

»Ha. Habt ihr das gehört? ›Ich trinke keinen Alkohol!‹« Er äfft ihren weinerlichen Ton nach und sieht seine Freunde triumphierend an. Ihr seht doch, scheint sein Blick zu sagen, geht ganz einfach. Ein Kinderspiel. Mit der amüsieren wir uns jetzt ein bisschen.

Gerne würde Avril ihnen erklären, dass sie so nicht behandelt werden möchte. Aber das schafft sie nicht. Also lächelte Avril verkrampft, versucht, die Männer für sich einzunehmen. Diese Masche hat ihr manchmal geholfen, wenn sie in der Schule schikaniert wurde.

Sein Knie drückt an ihr Knie, an ihr nacktes Knie. Weil der Rock so kurz ist. Ihre großen Brüste zeichnen sich in dem engen braunen Body ab, den sie gegen den Rat ihrer Mutter angezogen hat. Wenn sie nur in ihre Kostümjacke schlüpfen könnte.

»Was hast’n für’n Problem, Schätzchen?« Er strahlt sie an.

Mit eingefrorenem Lächeln entgegnet sie: »Entschuldigung, aber mir war nicht klar, dass ich ein Problem habe.«

Der Matrose tut überrascht. »Was is’n los? Warum trinkst du nicht mit uns? Bist dir wohl zu gut, he?« Dabei stößt er seinen breit grinsenden Freund mit dem Ellbogen an.

Der Matrose am Fensterplatz neben Avril, der bisher noch kein Wort gesagt hatte, legt nun einen Arm um ihre Kopfstütze. Er berührt sie zwar nicht, aber beinahe. Aus dem Augenwinkel kann sie die Schweißperlen auf seiner Stirn sehen, an seiner Oberlippe klebt noch getrockneter Bierschaum. Alles in ihr drängt sie dazu, aufzustehen und zu gehen, wenn nötig, den Rest der Fahrt im Gang zu stehen, als das hier länger zu ertragen. Aber wie soll Avril das anstellen, ohne den Zorn der Matrosen auf sich zu ziehen? Ist sie nicht selbst schuld, weil sie sich so aufgetakelt hat? Sie hat sich im Waschraum geschminkt, kurz nachdem der Zug den Bahnhof verlassen und sie ihrer Mutter zum Abschied gewinkt hatte. Nur ein bisschen. Ein natürlich wirkendes Beige als Make-up, etwas Rouge und einen dazu passenden rosa Lippenstift. Sie war sich sicher, es nicht übertrieben zu haben. Lieber Gott, fleht sie innerlich, lass sie bitte damit aufhören. Bitte, bitte mach, dass sie mich in Ruhe lassen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals.

»Ich sag dir was«, grunzt der Anführer und beugt sich über den Tisch zu ihr. Sein Blick ist weder feindselig noch bösartig, aber seine Augen kommen ihr so nahe, dass ihr sein Bieratem entgegenschlägt. »Ich sag dir was, Mädel, warum lernen wir zwei uns nicht ein bisschen kennen, solange wir hier feststecken wie zwei genervte Fürze…«, und sie spürt, wie er sein Bein zwischen ihre Beine drückt.

»Gut, hm?«

Avril fühlt sich wie ein Tier in einer Falle.

Und plötzlich, völlig unerwartet, ruft eine Frauenstimme:

»Warum verzieht ihr euch nicht einfach, ihr Arschlöcher!« Verblüfft blicken Avril und Kirsty auf, als das dunkelhaarige Mädchen am Fenster ihre Sachen in eine Tasche mit einem Burleston-Aufkleber packt, über Kirstys Beine und den halben Tisch klettert und sich, die Hände in die Hüften gestützt, angriffslustig im Gang aufbaut.

Grinsend rappelt sich der Matrose aus seinem Sitz am Gang hoch, aber bevor er steht, versetzt ihm die Frau einen kräftigen Stoß vor die Brust, und er fällt nach Luft schnappend in den Gang.

»Komm schon. Kleine«, wendet sich die Frau an Avril, »hol deine Sachen und komm mit. Ich habe sowieso Bock auf eine Zigarette.«

»Aber m… meine Koffer…«, stottert Avril, während sie sich an ihrem Rock ziehend aus dem Sitz kämpft.

»Scheiß auf deine Koffer, denen passiert schon nichts.«

Kapitel 3

Weder Avril Stott noch Bernadette Kavanagh bemerken die unscheinbare Frau, die ihnen auf ihrem Weg durch den Zug folgt.

Kirsty ist es am liebsten, wenn niemand Notiz von ihr nimmt. Sie liebt es, heimlich andere Menschen zu beobachten. Nachdem sie in einem Notsitz gegenüber den anderen in dem säuerlich riechenden Raucherabteil Platz genommen hat, mustert sie die Schwarzhaarige neugierig.

»Ich heiße Avril.«

»Ich bin Bernadette.«

Avrils Blick fällt auf Bernadettes Aufkleber. »Du fährst ins Burleston, genau wie ich.«

Avril starrt Bernadette hingerissen an.

Die vertieft sich sofort in den Test in ihrem Hochglanzmagazin und tut so, als würde sie Avrils Blicke nicht bemerken. Während sie abwechselnd an ihrem Stift knabbert und an ihrer Zigarette zieht, fragt sie Avril: »Was würden Sie tun, wenn Sie den Freund Ihrer besten Freundin dabei ertappten, wie er mit einer anderen herummacht? (a) Es ihr sagen; (b) ein ernstes Wort mit ihm reden; (c) der anderen Tussi mit Ihrer Handtasche eins überziehen; oder (d) sich insgeheim darüber freuen und nichts unternehmen.«

»Ich würde es ihr natürlich erzählen«, antwortet Avril, ohne nachzudenken.

»Das würde ihr wohl kaum gefallen.« Bernadettes grüne Katzenaugen verengen sich zu schmalen Schlitzen, um der dünnen Rauchfahne zu folgen, bevor sie sich wieder auf ihr Heft konzentriert.

»Ist das dein erster Job in einem Hotel?«, fragt Avril.

»Ja«, antwortet Bernadette einsilbig. »Hab noch nie von dem Ding gehört. Dachte, es sei ein Ausweg, um nicht vollkommen durchzudrehen.«

»Für mich ist es auch das erste Mal.« Aus Avrils Mund hört sich das an, als spräche sie von Sex.

»Irgendwie muss ich ja Geld verdienen«, fügt Bernadette gleichmütig hinzu.

In Plymouth sehen sie die drei Matrosen, wie sie grölend den Bahnsteig entlangtorkeln. Avril seufzt erleichtert.

»Sie haben mich gewarnt, dass ich als Junkie enden würde, wenn ich es nicht bald schaffe, aus diesem Tief heraus und von Merseyside wegzukommen. Und das alles wegen Dominic Coates«, beginnt Bernadette zu erzählen.

Avril erfährt, dass Dominic Coates reiche Eltern hatte.

Bernadette Kavanagh dagegen stammte aus ärmlichen Verhältnissen, war die Tochter eines irischen Hilfsarbeiters.

Es gefiel ihr, mit ihm und seiner Clique gesehen zu werden. Und wie sie es erst genießen würde, so richtig groß herauszukommen, einen multinationalen Konzern zu leiten, in New York zu leben und ihnen allen zu beweisen, was in ihr steckte. Sie würde den arroganten Gesichtsausdruck von Dominics Vater so lange üben, bis er ein natürlicher Teil ihrer Mimik würde. Bernadette träumt davon, in einem Porsche Cabrio vorzufahren. Ein Geschäft nach dem anderen wird sie sich unter den Nagel reißen, ohne dass die Eltern merken, wer dahinter steckt.

»Hältst du mich für verrückt?«, fragt Bernadette Avril.

»Nein, natürlich nicht.« Avril lächelt freundlich, obwohl sie sich nicht sicher ist, ob sie versteht, was Bernadette denkt.

Die kleine Reisegesellschaft für das Burleston versammelt sich am Bahnhofsausgang, insgesamt sind es acht Personen. Nervös lächeln sie einander zu. Avril zwängt sich neben Bernadette in den Minibus.

Höflich fragt sie Kirsty nach ihrem Namen und erkennt in ihr die Frau wieder, die sie im Zug so anstarrte. Fast kommt es Avril vor, als teilten sie ein Geheimnis, weil sie dasselbe Ziel haben.

Bernadette schweigt und versucht dadurch, den Redestrom ihrer Nachbarin zum Versiegen zu bringen.

Sie ist froh über ihren Job als Barkeeper. Das Letzte, wonach ihr der Sinn gestanden hätte, wäre gewesen, hinter reichen Leuten hinterherräumen zu müssen, besonders nach allem, was sie durchgemacht hatte. Sie kann sich gut vorstellen, wie Dominics Familie sich in Hotels hinten und vorne bedienen lässt und wie herablassend sie die Angestellten behandelt.

Der Bus schlängelt sich auf immer schmaleren Straßen, und Kirsty fühlt Übelkeit aufsteigen. Die Landschaft liegt im Dunkeln – es ist kurz vor Mitternacht.

Kirsty fragt sich, wie die anderen sie wohl sehen. Im Rückspiegel betrachtet sie ihr spitzes Gesicht und ihre schmalen Schultern. Was ist bloß aus mir geworden?, denkt sie.

Bernadette hängt erschöpft ihren Gedanken nach. Sie wünscht sich ein Bett, in dem sie Dominic und die kurze Zeit mit ihm wieder herbeiträumen kann – träumen, genießen, trauern und weinen und sich selbst so zärtlich berühren, wie er es tat.

Wie schrecklich war es, als ihr das erste Mal klar wurde, dass er frei hatte und sie nicht besuchte.

Und dann das entsetzliche Gerücht, er sei in aller Öffentlichkeit mit einer anderen zusammen gesehen worden.

Die unerträgliche Erkenntnis, dass er zu der anderen dasselbe sagte wie zu ihr, mit ihr dieselben Dinge tat und über dasselbe lachte wie mit ihr.

Aber er liebte mich. Er liebte mich!

Sie hatte den Schmerz nur deshalb aushalten können, weil er zu groß war, um ihn begreifen zu können. Diese Zeilen aus »Der Treuebruch« konnte sie auswendig:

Frieden weilt am Fuß der Berge

Schützen wird das Dunkel mich und bergen

Tränen löschen den Treuebruch

Die Lippen, die so trügerisch küssten

Sollten nur noch einmal küssen –

Den Tod

Außer sich vor Verzweiflung hatte sie sogar an Selbstmord gedacht. Sich umzubringen schien das Natürlichste auf der Welt zu sein, und die Vorstellung daran erfüllte sie mit tiefem Frieden. Das schreckliche Gefühl der Zerrissenheit würde endlich aufhören. Ihr Vorhaben brächte auch Dominic sicherlich wieder zurück, auch wenn schon der Versuch, seinem Leben ein Ende zu bereiten, als Todsünde galt.

Wo sind wir hier gelandet?

Das scheinen sich alle zu fragen, die aus dem Minibus herausklettern.

Die Luft ist schwer vom harzigen Geruch der Nadelbäume nach dem Regen. Ein paar verstreute Sträucher und dunkelbraune Blumenbeete sind schemenhaft auszumachen. Eine gewaltige graue Mauerwand türmt sich vor ihnen: Das Burleston Hotel. Sie folgen dem betagten Busfahrer, einer Mitleid erregenden Gestalt, dessen Kordhose von oben bis unten mit Flecken übersät ist und laufen durch einen dunklen Gang in eine düstere Halle. Der Raum erinnert an ein verstaubtes Schulzimmer voller alter Möbel, Eine Tischtennisplatte ist mit Brötchen, kaltem Braten und Käse gedeckt.

»Hoffentlich bleiben wir zusammen«, wendet sich Avril an Bernadette. »Ich meine, wenn wir uns die Zimmer teilen müssen.«

»Was? Die Zimmer teilen?«, ruft Bernadette mit aufgerissenen Augen. »Ich habe ein eigenes Zimmer, seit wir aus dem Cottage in unserem irischen Dorf ausgezogen sind, wo wir zu dritt in einem Bett schlafen mussten. Als wir nach Liverpool kamen, gab es nur noch Frances und mich, also hatte jede ihr eigenes Zimmer.«

Bernadette erinnert sich daran, wie sich ihre Affäre allmählich veränderte. Es hatte an dem Wochenende angefangen, als Dominics Eltern zu Besuch von Surrey heraufkamen und im Grosvenor in Chester blieben. »Du musst sie unbedingt kennen lernen«, meinte er. Damals trug sie den Ring noch nicht, obwohl sie schon inoffiziell verlobt waren. Dominic wollte seinen Vater um einen Vorschuss aus seinem Trust bitten, damit er ihr etwas Ordentliches kaufen könne. Ehrlich gesagt hätte sie einer dieser Modeschmuckringe genauso glücklich gemacht, aber sie wusste ja, wie sehr Dominic billige Massenware verabscheute.

Schüchtern betrat sie das Hotel, in dem es nach Parfüm und Zigarren roch. Der Sherry, den sie als Aperitif nahm, entspannte sie ein wenig. »Sei einfach du selbst«, hatte Dominic ihr geraten, als sei es das Leichteste der Welt, mit seinen Eltern warm zu werden. An Dominics Vater, der geschäftlich mit Pappkartons zu tun hatte, bemerkte sie als Erstes den hart geschnittenen Mund. Dominics Mutter sah aus wie eine in die Jahre gekommene Barbiepuppe, wie die Frau eines amerikanischen Präsidenten, verbittert und mit einer schrillen Stimme. Während des Essens waren die Eltern charmant und liebenswürdig, und Bernadette war davon überzeugt, einen guten Eindruck hinterlassen zu haben. Ihre Nervosität schwand mit jedem Glas. Und auf Mr. Coates’ freundliche Fragen hin erzählte sie ihnen bald lustige Geschichten. Sie merkte überhaupt nicht, dass sie sie ins Kreuzverhör genommen hatten und dass Dominic sie schweigend anstarrte. Erst am Morgen danach begann sie allmählich zu begreifen, dass Dominics Eltern sie für irischen Abschaum hielten, der nur auf einen sozialen Aufstieg aus war.

»Das Letzte, was Mami am Bahnhof zu mir sagte, war: ›Iss. Ein zweites Mal vergibt dir Gott nicht, denn er ist ein harter und strenger Richter‹.« Ihre Mutter sah stark gealtert und mitgenommen aus, und Bernadette wusste, dass das ihre Schuld war. »Ich lebe in Schande«, hatte ihr ihre Mutter vorwurfsvoll vorgehalten. »Wegen dir.«

Man hatte Bernadette also gefunden. Schließlich hatte sie ihren »Abschiedsbrief« gut sichtbar auf den Küchentisch gelegt. Sie hatte nur »Vergebt mir« geschrieben; zu mehr war sie nicht mehr in der Lage gewesen.

Das Nächste, woran sie sich erinnern kann, ist, dass sie, noch immer halb weggetreten, mechanisch das Gemurmel des Priesters an ihrem Krankenbett beantwortete. Das helle Licht brannte in ihren Augen, die Tabletten hatte sie bei Kerzenlicht geschluckt, eine ganze Packung der Antidepressiva aus dem Nachttischschrank ihrer Mutter. Ihr Vater nuschelte: »Na, du sitzt ja ganz schön in der Tinte.«

»Bin ich in der Hölle, Vater?«, rief sie heiser.

Er blickte sich in der weiß getünchten Krankenabteilung um. »Gott sei Dank, mein Kind, hier ist nur der Vorhof, groß genug, um das Steuer noch einmal herumzureißen.« Und er schob ihr eine Packung Marlboro 100 zu.

Es folgte ein nicht enden wollender Winter, in dem Dominic sich nicht bei ihr meldete, obwohl er mit Sicherheit wusste, wo sie war und wie schlecht es ihr ging.

Bernadettes Freundin, Maggie, hatte die Anzeige für den Job im Burleston gesehen, sich die Formulare schicken lassen und Bernadette zum Vorstellungsgespräch begleitet.

Und hier war sie nun also…

»Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.«

»Das ist Mrs. Danvers«, kichert Avril und stößt Bernadette in die Rippen.

»Wer in Gottes Namen ist Mrs. Danvers?«

»Rebecca! Du kennst doch bestimmt Rebecca? Den Roman?«