J. J. Voskuil
Das Büro 1
Direktor Beerta
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse
Das Büro enthält einige sprachliche Besonderheiten, die vielleicht einer kurzen Erläuterung bedürfen.
So wurden die niederländischen Dialektpassagen im Roman wie z.B. in den Besuchen bei den Bauern in Drente einem etwas aufgehübschten plattdeutschen Dialekt aus dem Nordwesten Deutschlands, dem Oldenburger Münsterland, nachgebildet und phonetisch angepasst. Dieses »Südoldenburger Platt« ist dem von Voskuil verwendeten Dialekt sehr ähnlich. Eine große Hilfe bei der Übertragung war das Wörterbuch Ollenborger Münsterland. Use Wörbauk (Cloppenburg 2009).
Lokale sprachliche Färbungen, etwa das Amsterdamer Platt, wurden meist in Soziolekten wiedergegeben (Wortverkürzungen, Umgangssprache, Straßenjargon, etc.). Heißt es jedoch im Roman etwa: »sagte er mit einem starken friesischen Akzent«, handelt es sich um eine wortgetreue Übersetzung dessen, was im Original steht, und ist keine zusammenfassende Beschreibung des Übersetzers.
Die Verkehrssprache unter den europäischen Volkskundlern war in der Periode, die Das Büro beschreibt, Deutsch. Im Original sind deshalb etliche Dialogpassagen des Romans – Kongresse, Besuchsreisen nach Deutschland oder Besucher aus Deutschland – auf Deutsch geschrieben. Solche Passagen wurden im Prinzip in der ursprünglichen Form beibehalten, mit dem Effekt, dass sich die nichtdeutschen Protagonisten des Romans bei solchen Gelegenheiten durch kleine sprachliche Unebenheiten zu erkennen geben, da Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.
Bis in die Sechzigerjahre hinein war es in den Niederlanden üblich, dass Kinder ihre Eltern siezten. So siezt auch Nicolien ihre Mutter und ihren Schwiegervater. Dass Maarten seine Schwiegermutter siezt, seinen Vater hingegen duzt, liegt daran, dass er aus einem sozialdemokratischen Milieu stammte, in dem man diese förmliche Anredeform zwischen Eltern und Kinder bereits früher aufgegeben hatte.
Auch das flämische Niederländisch der Büro-Kollegen aus Antwerpen hält eine Besonderheit bereit, der in der Übersetzung Rechnung getragen wurde. Im Flämischen gibt es eine dritte Form zwischen »Du« und »Sie«, die es weder im Niederländischen noch im Deutschen gibt, in den Niederlanden jedoch als ein wenig steif gilt. Diese Form, das »Gij«, wurde daher in der Übersetzung konsequent zum »Sie«.
Neben dem Büro war eine schmale Gasse, nicht viel mehr als ein Spalt zwischen den Häusern, der an einer hohen Mauer endete. Es lagen dort alte Kisten und Kartons, Unrat, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte und zwischen dem manchmal Ratten herumliefen. Ungefähr in der Mitte der Gasse gab es eine Doppeltür, die über einen Abstellraum zum Flur des Büros führte. In diesem Raum konnte das Personal die Fahrräder abstellen. Die Tür wurde jeden Abend von de Bruin verriegelt und morgens wieder aufgeschlossen. Sobald Maarten sie entdeckt hatte, betrat er durch sie das Gebäude, um nicht klingeln zu müssen. Meist begann das Glockenspiel am Zuiderturm zu spielen, wenn er sich dem Büro näherte, und etwa jedes dritte Mal gelang es ihm, genau in diesem Augenblick die Gasse zu betreten und Schlag neun seinen Stuhl unter den Schreibtisch zu ziehen. Der Raum von Fräulein Haan, den er durchqueren musste, um sein eigenes Zimmer zu erreichen, war dann noch leer. Beerta war gewöhnlich schon da oder kam direkt nach ihm herein.
Am Tag nach Neujahr war Beerta der Erste. Als Maarten durch die Tür des Abstellraums den Flur betrat, sah er dessen Mantel und Baskenmütze an der Garderobe hängen, am ersten Haken, wo sie immer hingen. Der Haken wurde von niemandem sonst benutzt, auch nicht, wenn Beerta einmal ein paar Tage nicht da war. Er zögerte, fasste dann aber doch den Entschluss, dem er den ganzen Weg zum Büro mit Schrecken entgegengesehen hatte, und ging den langen Flur zurück zur Eingangstür. De Bruin war in seinem Verschlag dabei, Kaffee zu machen.
»De Bruin«, sagte er. »Ein frohes neues Jahr!« Er betrat den Verschlag und streckte seine Hand aus.
»Ja, ebenfalls«, sagte de Bruin. Sie gaben sich die Hand. »Und dass du mal ein großer Junge wirst.« Er lachte albern.
»Habt ihr noch was gemacht?«, fragte Maarten aus Höflichkeit.
»Karten gespielt und Schnaps getrunken«, sagte de Bruin. »Ist auch nicht mehr das, was es früher mal war. Und ihr?«
»Wir haben mit meiner Schwiegermutter Mensch ärgere dich nicht gespielt.«
»Geht auch. Wenn man sich nur nicht ärgert.« Er lachte über seinen Witz.
»Ich habe mich zu Tode geärgert, denn ich habe verloren.« Er war einen Schritt zurückgewichen und stand bereits wieder auf der Türschwelle.
»Und das kannste nicht gut haben.«
»Nein«, sagte Maarten lachend.
Noch mit dem Lachen im Gesicht ging er den Flur wieder zurück und bog um die Ecke, als sich in ihm alles zusammenzog. Auf dem Weg zu seinem Zimmer merkte er, dass er durch dieses kleine Drecksgespräch bereits gespannt war wie eine Feder. Ich bin ungeeignet für diese Art Traditionen, dachte er zum soundsovielten Mal. Sobald er das Zimmer betrat, schob Beerta seinen Stuhl nach hinten und stand auf. »Tag, Herr Beerta«, sagte er wie gewöhnlich.
Beerta kam ihm mit ernstem Gesicht entgegen. »Ich wünsche dir und deiner Frau zunächst einmal ein glückliches neues Jahr«, er gab Maarten die Hand, »und dann gratuliere ich dir auch noch zu deiner Ernennung zum wissenschaftlichen Beamten.« Er sah ihn feierlich an.
»Ihnen auch«, sagte Maarten verwirrt.
»Hast du angenehme Tage gehabt?«
»Wir haben meine Schwiegermutter zu Besuch.« Ihm fiel zu spät ein, dass er auch auf die Beförderung hätte reagieren müssen.
»Dieses Vergnügen ist mir unbekannt«, sagte Beerta ironisch. »Ich beneide dich.« Er wandte sich ab, wollte sich wieder hinsetzen, doch in dem Moment klopfte es bescheiden an der Tür, und sofort darauf trat van Ieperen ein, noch ohne seinen weißen Kittel.
»Herr Beerta«, sagte er, während er mit ausgestreckter Hand auf Beerta zuging. »Meinen Herzlichen!« Er kicherte nervös.
»Vielen Dank, Herr van Ieperen«, antwortete Beerta beherrscht. »Ich wünsche Ihnen dasselbe.«
»Und dir natürlich auch«, sagte van Ieperen, wobei er Maarten die Hand gab. Vor Nervosität ging er kurz in die Knie und war auch schon wieder zur Tür hinaus, als diese sofort darauf erneut aufging. Wiegel. »Herr Beerta«, sagte er vergnügt, während er mit ausgestreckter Hand zwischen Maarten und dem Tisch auf ihn zuging. »Darf ich Ihnen nach guter alter Sitte ein aufrichtig glückliches neues Jahr wünschen?«
»Das dürfen Sie«, sagte Beerta gnädig. »Ich wünsche Ihnen dasselbe.«
Sie gaben sich die Hand.
»Und dir natürlich auch«, sagte Wiegel zu Maarten.
Maarten nickte.
»Und ich hoffe, dass wir beide in diesem Jahr das Vergnügen haben werden, Ihre Bibliografie im Druck erscheinen zu sehen«, sagte Beerta, der noch nicht zu Ende gesprochen hatte.
»Gelegentlich erinnern Sie mich an das Märchen vom Männchen Piggelmee«, sagte Wiegel schmunzelnd, schon wieder auf dem Weg zur Tür.
»Der hatte drei Wünsche frei«, antwortete Beerta. »Mir genügt einer.«
»Ihre Bescheidenheit wird Sie vor seinem Los bewahren«, prophezeite Wiegel mit der Hand am Türgriff.
»Ich danke Ihnen«, sagte Beerta trocken. Er hob seine Schreibmaschine vom Tisch, während Wiegel die Tür hinter sich schloss, und stellte sie auf seinen Schreibtisch. »Diese Neujahrsgratuliererei ist eine richtige Plage. Ich bin froh, wenn ich das wieder hinter mir habe.« Er begann zu tippen. Gleich darauf wurde er von Meierink unterbrochen. »Tag, meine Herren!«
Er trat auf Beerta zu, der sich wieder vom Schreibtisch erhob. »Ich wünsche Ihnen ein glückliches neues Jahr, Herr Beerta«, sagte er schleppend.
»Vielen Dank, Herr Meierink«, antwortete Beerta und gab ihm die Hand. »Ich wünsche Ihnen dasselbe und hoffe, dass Sie dieses Jahr nun endlich Ihr Lehrerexamen schaffen.«
Meierink lachte dümmlich. »Das hoffe ich auch.«
»Sie müssen sich nur immer sagen: Ausdauer und Geduld gewinnen des Glückes Huld.«
»Ja, das denke ich auch manchmal«, gestand Meierink. »Wir werden jedenfalls das Beste hoffen.« Er wandte sich Maarten zu. »Und Ihnen ebenfalls ein glückliches neues Jahr.« Er gab ihm die Hand.
»Ich danke Ihnen«, sagte Maarten. Er wollte noch »gleichfalls« sagen, doch er konnte es nicht über die Lippen bringen.
Noch bevor Meierink zur Tür hinaus war, saß Beerta bereits wieder vor seiner Schreibmaschine und tippte. Fünf Minuten später hörte er auf, zog seine Uhr aus der Brusttasche und schaute darauf. »Es sieht so aus, als ob Nijhuis diesmal nicht kommt.« Er stand auf und verließ den Raum. Maarten hörte, wie er Fräulein Haan ein glückliches neues Jahr wünschte und anschließend die Tür zum ersten Raum öffnete. Es dauerte geraume Zeit, bis er zurückkam. »Hast du dich schon mal mit dem Neuen unterhalten?«, fragte er.
»Nein«, sagte Maarten.
»Ich habe den Eindruck, dass er nicht glücklich ist.« Er nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. »Er hat Probleme.«
»Die hat jeder ab und zu«, wehrte Maarten ab. »So ein reines Vergnügen ist das Leben nun auch wieder nicht.«
»Nein, er hat Probleme«, beharrte Beerta. »Ich glaube, ich werde ihn mal zu mir nach Hause einladen.«
*
»Das scheint mir eine nette Aufgabe für dich«, sagte Beerta.
Es war der Brief einer Sozialarbeiterin an einem Altenheim in Assen. Sie habe von einer betagten Bewohnerin den Fragebogen des Büros bekommen und frage sich nun, ob es nicht eine gute Idee sei, wenn jemand vom Büro die Fragen erläutern und über früher erzählen könne, weil es dafür sicherlich Interesse gebe. Sie wolle dann ihrerseits dafür sorgen, dass eine Reihe von Fragebogen von den Senioren, die aus unterschiedlichen Dörfern stammten, ausgefüllt würden, als nützlicher Zeitvertreib, aber auch im Interesse ihrer schönen Arbeit.
»Was soll ich damit?«, fragte Maarten, nachdem er den Brief zweimal gelesen hatte.
»Du sollst ihr schreiben, dass du ihre Einladung zu schätzen weißt und sie in den nächsten Tagen anrufen wirst, um einen Termin zu vereinbaren. Drente ist immer eine schwierige Provinz gewesen. Und Altenheimbewohner eignen sich hervorragend dafür, weil sie normalerweise aus einfachen Verhältnissen stammen.« Er blickte kurz nach hinten, um zu sehen, wie Maarten reagierte, doch der blieb stumm. Er saß dort mit dem Brief in der Hand, unglücklich.
»Es scheint fast so, als ob du davor zurückschreckst«, frotzelte Beerta. »Ich wäre sicher für so eine kleine Spazierfahrt zu haben. Herrlich. Vielleicht bekommst du sogar ein Stück Kuchen, denn in so einem Haus hat doch ständig jemand Geburtstag. Wenn ich nicht so viel zu tun hätte, würde ich es dir sofort abnehmen.«
»Das weiß ich. Ich würde es Ihnen auch gönnen.«
Er schrieb einen Brief, dass er die Einladung gern annehme, und rief sie ein paar Tage darauf wegen eines Termins an. Eine Woche später fuhr er nach Assen, mit einem Packen Blankofragebogen und den Aufzeichnungen, die er auf dem letzten Korrespondententreffen auch schon benutzt hatte. In einem Café auf dem Markt aß er einen Strammen Max. Er saß am Fenster und sah nach draußen. Es war grau und windig, ein paar Grad über Null, der verlassene Marktplatz machte einen trostlosen Eindruck.
Der Name des Heims lautete Abendsonne. Es war ein neues Gebäude aus gelbem Stein, mit viel Glas und einer Drehtür, die in eine Halle mit Pflanzenkübeln und einem großen Aquarium führte. Dort saßen ein paar Senioren in ihren Sesseln und sahen vor sich hin, manche hatten einen Stock. Es gab einen Kiosk mit Erfrischungen und Blumen sowie einen Tresen, hinter dem ein junges Mädchen saß und häkelte. Sie legte ihre Arbeit weg, als er sich vorstellte.
»Ich möchte gern zu Frau de Jong«, sagte er.
»Welche Frau de Jong?«, fragte sie freundlich, mit einem deutlichen Drenter Akzent. »Wir haben hier zwei.«
Er musste auf dem Durchschlag seines Briefes nachsehen. »Frau G. A. de Jong«, sagte er, als er es endlich gefunden hatte.
»Frau Geeske de Jong«, sagte das Mädchen in ein Mikrofon, und Maarten hörte ihre Stimme aus der Tiefe des Raums hallend auf sich zukommen. »Bitte zum Empfang!«
Als ob sie darauf gewartet hätte, betrat eine junge Frau in einem grauen Kostüm durch eine Schwingtür die Halle. »Geeske de Jong«, sagte sie spontan und streckte ihre Hand aus. Sie war ungefähr in seinem Alter.
Maarten zögerte. »Koning«, denn er fand es nach kurzer Überlegung doch etwas komisch, »Maarten Koning« zu sagen.
»Sollen wir erst eben zu mir gehen?«, schlug sie vor.
Er folgte ihr durch die Schwingtür, in dem Gefühl, dass er dies schon einmal erlebt hätte, doch er konnte sich nicht erinnern, wo es gewesen war. Ein alter Mann, der mit weit offenem Hosenstall an der Wand lehnte, wollte sie ansprechen. »Nein, Gijs, gleich«, sagte sie abweisend, »erst dieser Mijnheer«, woraufhin der Angesprochene ein paar unartikulierte Laute ausstieß.
»Solche Bewohner werden gleich auch dabei sein«, sagte sie, während sie die Tür hinter ihm schloss. »Setzen Sie sich. Und deshalb wollte ich Sie vorher lieber warnen, denn es gibt auch Gute unter ihnen. Wir wollen nur keinen Unterschied machen. Rauchen Sie?« Sie selbst hatte sich hinter einen kleinen Schreibtisch gesetzt, schob ihm ein Päckchen Zigaretten zu und schlug die Beine übereinander.
»Nur Pfeife.« Ihn machte die Situation plötzlich verlegen, vielleicht, weil sie gleichaltrig waren. Es erstaunte ihn, dass die Frau ihm gegenüber so sachlich blieb.
Sie selbst steckte sich eine Zigarette an, eine lange Filterzigarette, und mit einer lässigen Handbewegung machte sie die Flamme aus. »Sie werden wohl damit rechnen müssen, dass das Niveau hier nicht besonders hoch ist, sodass Sie es am besten so einfach wie möglich halten. Sie müssen sich nur denken: Es ist für diese Menschen eine Ablenkung. Es holt sie für einen Moment aus dem Alltagstrott. Darum sind wir froh über jeden Besucher. Haben Sie vielleicht eine besondere Verbindung zu Drente?« Sie inhalierte tief und blies den Rauch langsam wieder aus.
»Im Krieg habe ich ein paar Monate bei einem Bauern in Grollo gewohnt.« Die Tragweite der Frage entging ihm.
»Schade, denn die Leute hier wollen immer gern wissen, wo jemand herkommt. Das bricht das Eis. Wie möchten Sie, dass ich Sie vorstelle?«
»Als Mitarbeiter des Büros.«
»Doktor, Doctorandus?«
»Nein, einfach Herr Koning.« Er lächelte.
Es schien, als ob sie das verwirrte. Sie wurde rot. »Sie haben doch studiert?«
»Das hat nichts zu bedeuten.« Ihm drängte sich das Gefühl auf, in einem Theaterstück gelandet zu sein. Das amüsierte ihn, und er merkte, dass es sie verunsicherte.
»Haben Sie vielleicht noch einen besonderen Wunsch?«, fragte sie, plötzlich verlegen.
»Nein, ich werde dann schon sehen.«
»Ich habe ein paar unserer besten Bewohner gebeten, sich nach Ihrem Vortrag im Erker einzufinden, um die Fragebogen auszufüllen.«
Sie sah ihn an, unsicher, wie er es aufnehmen würde.
Er begriff, was von ihm verlangt wurde. »Dem schließe ich mich natürlich gerne an.«
Der Saal war voll, als sie hinter einer Frau eintraten, die in einem Bett lag, das von zwei Pflegerinnen durch den Flur vor ihnen hergerollt wurde. Es roch bereits stickig. In der vordersten Reihe standen ein paar Rollstühle. Zwischen den alten Leuten in geblümten Kleidern und grauen Anzügen mit grauen oder kahlen Köpfen saßen hier und da Pflegerinnen in weißen Kitteln. Er blickte in den Saal, seine Tasche in der Hand, während Frau de Jong zum Rednerpult ging, und hatte das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Sie kündigte ihn als Herrn Koning an, der den weiten Weg aus Amsterdam hierhergekommen sei, um etwas über früher zu erzählen, der hier aber auch nicht ganz fremd sei, da er im Krieg ein paar Monate bei einem Bauern in Grollo gewohnt habe. Er schmunzelte, als sie das sagte, und sah über die Köpfe hinweg zur Wand, an der eine Eisenplastik angebracht war. Im Saal verursachte die Mitteilung einige Aufregung, doch als er seinerseits zum Rednerpult ging, wurde es bedrohlich still. Er holte die Mappe mit Aufzeichnungen aus seiner Tasche und blickte ins Publikum. »Meine Damen und Herren.« Er sah auf all die fremden alten Menschen und fühlte sich überflüssig. »Ich komme zwar aus Amsterdam, aber meine Eltern kommen aus Zwolle, und das ist schon ein Stück näher, nahe genug, um mich hier zu Hause zu fühlen.« Er hörte seine Stimme und fühlte sich wie ein Hanswurst. »Mein Großvater war dort Bäcker«, fuhr er fort in dem Versuch, nicht nur räumlich, sondern auch sozial näher an sein Publikum heranzurücken, ein einfacher Junge aus einfachen Verhältnissen, »und sein Großvater hat noch als kleiner Junge gegen Ende der französischen Besatzung die Kosaken durch den Sassenpoort reiten sehen. So nahe ist die Vergangenheit.« Weil ihn die heraufbeschworene Erinnerung an seinen Urgroßvater und vor allem den Sassenpoort aufwühlte, hatten die letzten Worte mehr Kraft, doch es war nicht zu merken, dass sie Eindruck machten – im Saal blieb es totenstill. »Für diese Vergangenheit interessiert sich unser Büro«, fuhr er fort, beflügelt von seiner eigenen Rhetorik, »nicht die Vergangenheit, die in den Geschichtsbüchern steht, die Vergangenheit von Fürsten, Edelleuten und hohen Magistratsdienern, sondern uns interessiert das, was einfache Leute sahen, taten, dachten und glaubten. Und weil diese Vergangenheit nie aufgeschrieben worden ist, ist der einzige Ort, an dem sie noch fortlebt, Ihre Erinnerung. Es sind die Geschichten, die Sie von Ihrem Vater und Ihrer Mutter gehört haben und die diese wiederum von ihren Vätern und Müttern gehört haben, so wie in meiner Familie die Kosaken bis auf den heutigen Tag durch den Sassenpoort reiten.«
Er machte eine kurze Pause. Er spürte keinen Kontakt zum Saal, und ihm wurde klar, dass er über ihre Köpfe hinwegredete. »Und das sind nur die Kosaken«, sagte er, in einem Versuch, sich wieder von dieser allzu persönlichen Vergangenheit zu befreien, auf der Suche nach einer anderen Tonhöhe. »Es gibt Beispiele dafür, dass die Erinnerung der Leute viele Hunderte von Jahre zurückreicht, so wie im Brabanter Peel, wo sich die Menschen von einer Generation zur nächsten erzählten, dass dort ein Mann mit einem Goldhelm begraben läge, bis vor einiger Zeit am angegebenen Ort das Grab eines römischen Zenturios entdeckt wurde, in voller Kriegsausrüstung und mit einem Kupferhelm.« Der Saal reagierte nicht auf diese phantastische Geschichte. Sie ließen seine Worte gelassen über sich ergehen, während er mühsam weiterlavierte. Dass er an ihr Wissen appellierte, das die Generationen ihrer Vorfahren in ihnen angehäuft hatten und das mit ihrem Tod verloren zu gehen drohte, schien sie nicht im mindesten anzusprechen. Jedenfalls gab niemand ein Lebenszeichen von sich, während er ein Beispiel nach dem anderen anführte. Sie reagierten nicht einmal, als er auf dem Gebiet der Volksheilkunde gelandet war, auf dem doch das Wissen Dutzender Generationen von Großmüttern und Heilern in Hülle und Fülle vorhanden sein musste. Mit dem Gefühl, einen Sack Mehl mit sich zu schleppen, dachte er schließlich nur noch an den Schlussstrich, und er hatte den Eindruck, dass der Applaus, mit dem seine Schlussworte empfangen wurden, vor allem Erleichterung ausdrückte. Was Geeske de Jong anschließend sagte, um ihm zu danken, entging ihm. Er hörte nur, dass sie fragte, ob es noch Fragen gäbe oder vielleicht sogar jemand selbst etwas erzählen könne. Für einen Moment sah es so aus, als ob dies nicht der Fall wäre, doch gerade, als er hoffnungsvoll zur Seite sah, in Erwartung des Zeichens für den Abmarsch, hob ein Mann die Hand.
»Ja, Herr Zwiers?«, fragte Frau de Jong.
»Was bedeutet eigentlich der Name Rolde?«, fragte der Mann.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Maarten, in dem Gefühl, durchgefallen zu sein.
»Denn ich habe wohl mal gehört, dass der sehr alt ist.«
»Das ist er doch sicher auch, nicht wahr, Herr Koning?«, sagte sie.
»Ja, das ist er sicher«, sagte Maarten.
»Sollte es nicht etwas mit den Hünengräbern zu tun haben?«, schlug der Mann vor, »von rollen, so wie ›Ballo‹ von ›Ball spielen‹?«
Maarten zögerte. »Das scheint mir nicht wahrscheinlich.«
»Denn die Steine mussten gerollt werden«, brachte der Mann vor, »die kann man nicht heben.«
Maarten dachte daran, dass man dann damit auch nicht Ball spielen könnte, doch die Bemerkung behielt er für sich. »Ich werde es mal für Sie nachschauen«, versprach er.
Weitere Fragen gab es nicht.
Herr Zwiers gehörte offenbar zu den zehn Besten des Heims, denn eine Viertelstunde später traf er ihn zusammen mit noch einem Mann sowie acht Frauen im Erker. Maarten teilte die Fragebogen aus, und Frau de Jong gab jedem einen Bleistift.
»Vielleicht können sie die Fragen zuerst kurz durchlesen, bevor wir darüber reden«, schlug Maarten vor.
»Wenn Sie sich den Fragebogen nun erst einmal durchlesen«, sagte Frau de Jong zu den Bewohnern, »anschließend sagt Herr Koning Ihnen dann, was Sie tun sollen.«
»Ich kann meine Brille nicht finden«, sagte eine kleine Frau, während sie nervös in ihrer Tasche wühlte.
»Die haben Sie ja auf«, sagte Frau de Jong lachend.
Die Frau wurde rot. »Ach ja, wie kann ich bloß so dumm sein.«
In der Gewissheit, dass dies alles vollkommen sinnlos war, und nur mit dem Bedürfnis, weit weg zu sein, blickte Maarten an ihnen vorbei nach draußen. Der Erker bot Ausblick auf einen kahlen Streifen Erde, der von einer niedrigen Hecke abgeschlossen wurde. Dahinter lag eine Verkehrsstraße. Es regnete. Der Regen fiel vor den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos schräg nach unten. Zwiers saß neben ihm. Er hielt den Fragebogen, den Maarten ihm gegeben hatte, weit von sich entfernt und las angespannt. Seine Hände zitterten ein wenig, große, rote Bauernhände mit breiten, flachen Daumennägeln. Die Frau neben ihm bewegte die Lippen, wobei sie mit den Fingern den Worten folgte. An der anderen Seite des Tisches hatten zwei Frauen den Fragebogen zur Seite geschoben und ihre Stricksachen hervorgeholt. Er schämte sich für seine Anwesenheit und empfand sich als Parasit, der sein Geld mit klugen Sprüchen verdiente, die keinen von ihnen interessierten, die ihnen aber als etwas ganz Besonderes aufgetischt wurden.
»Sollen wir dann mal anfangen?«, fragte Frau de Jong.
Während er erklärte, worum es ging – dass sie alle nur aufschreiben sollten, was sie gehört, nicht aber, was sie gelesen hätten, und sie dabei nicht ausführlich genug sein könnten –, kamen zwei Frauen miteinander ins Gespräch. Sie schwiegen kurz, als Frau de Jong leise zischte, doch nicht lange, und er fand eigentlich, dass sie recht hatten, auch wenn es störte. »Vielleicht können wir am besten mal ein Beispiel nehmen«, sagte er. »So wird dort etwa gefragt, was mit der Nachgeburt des Pferdes passierte. Hat einer von Ihnen schon mal gesehen, dass man die in einen Baum hängte?«
»Ja, ich«, sagte eine der Frauen zu seiner Überraschung. Es war die kleine Frau mit der Brille. Sie hatte ein Gesicht voller Runzeln, wie ein schrumpliger Apfel.
»Ach, red doch keinen Unsinn«, sagte die Frau neben ihr.
»Doch, natürlich, bei Jan Naarding.«
»Ach, was redest du da«, sagte die andere kratzbürstig. »So zurückgeblieben sind wir nicht.«
»Wo war das denn?«, fragte Maarten interessiert. »Ich meine, in welchem Dorf?«
»In Zuidvelde«, antwortete die erste schüchtern, »bei Norg.«
»Und Sie?«, fragte Maarten die andere. »Wo kommen Sie her?«
»Auch aus Zuidvelde«, antwortete die Frau widerstrebend. »Wir sind ja Schwestern.« Sie war fast einen Kopf größer und hatte im Gegensatz zu ihrer Schwester ein launisches, beleidigtes Gesicht.
»Bei uns hieß das nicht ›Nachgeburt‹, sondern ›Haom‹«, sagte der zweite Mann unerwartet. Es war ein kleiner Mann mit einer Mütze und einem krummen Rücken. Er hatte einen Zigarrenstummel zwischen den Lippen.
»Haom?«, wiederholte Maarten.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Haom!«
»Wie schreibt sich das denn?«
»Das kann man nicht schreiben. Das ist Drenter Dialekt.«
Er verstand das Problem. »Und was hat man bei Ihnen damit gemacht?«
»Das haben sie in den Baum gehängt.« Als ob sich das von selbst verstünde.
»Warum haben sie das gemacht?«
»Damit das Fohlen später den Kopf hochhielt.«
»Und Sie haben das auch gemacht?«
»Alle haben das gemacht.«
»Nein, bei uns hat man das nicht gemacht«, fuhr die zweite Frau erneut streitsüchtig dazwischen. »So rückständig waren wir ja nicht.«
Sogar die strickenden Frauen folgten nun dem Gespräch. Je mehr Leute sich daran beteiligten, umso wirrer und unwirklicher wurde es, sodass er dem Himmel dankte, als um fünf die Essensglocke geläutet wurde. Die freundliche Einladung, doch einen Happen mitzuessen, schlug er aus. Im Übrigen konnte er vor lauter Kopfschmerzen nicht mehr aus den Augen schauen und hätte es nicht sehr viel länger ausgehalten.
*
Sobald Maarten das Zimmer betrat, rückte Beerta seinen Stuhl eine Vierteldrehung herum und sah ihn an. »Ich höre.«
»Was wollen Sie hören?«, fragte Maarten widerstrebend. Er legte sein Brot in die oberste Schublade seines Schreibtisches und setzte sich.
»Wie war es?«
»Es war unanständig.«
»Unanständig?«
»Gut, dann eben pervers.«
»Pervers?«
»Ich habe mich wie ein Leichenfledderer gefühlt. All die Leute, die in ihren Betten und Rollstühlen in einem Saal zusammengetrieben werden, während sie doch wohl Besseres zu tun haben, nur weil wir lieber auf einem Stuhl sitzen als eine Schippe in die Hand zu nehmen, wie sie es ihr Leben lang getan haben. Und das muss dann auch noch als etwas Außergewöhnliches verkauft werden, obwohl es das in Wirklichkeit nicht ist.«
Beerta lauschte schmunzelnd. »Was bist du doch für ein eigenartiger Bursche. Ich mag das.«
»Ja, natürlich.« Er lachte, obwohl er es nicht wollte.
»Und wie viele Fragebogen hast du wieder mitgebracht?«
»Nicht einen einzigen.«
»Nicht einen einzigen?«
»Nein. Und darum ging es auch nicht. Das Einzige, worum es dieser Frau de Jong ging, war, dass ich da eine Kabarettvorstellung auf gehobenem Niveau gegeben habe. Aber es war doch wohl nicht das, was sie erwartet hatte.«
»Du bist da also ganz umsonst hingefahren?«
»Völlig umsonst! Vielleicht kriege ich noch einen Fragebogen nachgeschickt, aber sogar das bezweifle ich.«
»Na ja, wenigstens hast du dich gut amüsiert«, sagte Beerta und schob seinen Stuhl wieder zurück.
*
»Setzen Sie sich«, sagte Beerta gemessen.
Veerman zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und stellte ihn direkt vor Beerta, sodass sie fast Knie an Knie saßen.
»Ich habe Sie ein paar Mal vergeblich gesucht.«
»Ich war nicht da.«
»Das habe ich gemerkt. Aber Sie hätten da sein müssen.«
Veerman reagierte nicht. Als Maarten sich umblickte, sah er, dass er seinen Kopf etwas nach vorne geschoben hatte und rot geworden war.
»Sie wissen, dass wir eine Dreiviertelstunde Mittagspause haben und nicht anderthalb, wie Sie das gelegentlich machen.«
Veerman war nun puterrot. Es war beängstigend zu sehen, wie die Wut sich in seinem Kopf aufstaute. »Und wer sagt das?«, brach es aus ihm hervor.
»Ich sage das«, sagte Beerta ungerührt.
»Und was gibt Ihnen das Recht dazu?«
»Das ist meine Pflicht.«
»Das ist Ihre Pflicht!«, wiederholte Veerman wütend. »Wissen Sie eigentlich, wer hier vor Ihnen sitzt?« Er schob seinen Kopf noch weiter nach vorn, sodass seine Nase fast die von Beerta berührte, der jedoch nicht zurückwich. »Vor Ihnen sitzt ein Genie, Herr Beerta! Und Genies tadelt man nicht, wenn sie zu spät kommen.«
»Da bin ich anderer Meinung, Herr Veerman. Auch Genies müssen pünktlich sein.«
»Genies haben ihre eigene Zeit!«, rief Veerman wütend.
Maarten hatte aufgehört zu arbeiten. Er beobachtete die Szene, bereit, zu Hilfe zu eilen, wenn es nötig sein sollte, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte.
»Denken Sie nur an Kant«, sagte Beerta, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Kant war ein Genie, aber auch ein Mann, der die Pünktlichkeit liebte, wie Ihnen zweifellos bekannt sein dürfte.«
Beertas Ruhe brachte Veerman fast zur Explosion. Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben und stand nach vorne gebeugt vor Beerta. »Ich habe mit Ihrem Kant nichts zu schaffen!«, schrie er, mit geballten Fäusten. »Ich gehorche meinen eigenen Gesetzen!«
»Aber hier gelten die Gesetze des Büros«, beharrte Beerta. Er war mit diesem Kopf so dicht vor sich in seiner Haltung erstarrt, und Maarten gewann den Eindruck, dass es nicht gut ausgehen könnte.
»Wissen Sie, was Sie sind?«, schnauzte Veerman Beerta an. »Sie sind, Sie sind …« Er suchte nach dem passenden Wort, wich aber etwas zurück, als Beerta sich langsam erhob.
»Und jetzt gehen Sie besser wieder an die Arbeit«, sagte Beerta ruhig, »bevor Sie beleidigend werden, denn das werden Sie später nur bereuen.«
»Ein popliger kleiner Bürokrat«, brach es aus Veerman hervor. »Das sind Sie, Herr Beerta! Ein engstirniger Bürohengst!«
Beerta stand aufrecht da und sah ihn regungslos an, ohne zu reagieren.
»Und das werde ich nicht bereuen!« Er wandte sich ab und verließ den Raum.
Beerta blieb noch einen Moment stehen. Dann drehte er sich um und nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. »Da hätte nicht mehr viel gefehlt«, sagte er trocken. »Ich habe wirklich einen Moment geglaubt, dass mein letztes Stündchen geschlagen hat.«
»Dafür haben Sie sich aber gut gehalten«, fand Maarten.
»Das hat nichts zu sagen«, entgegnete Beerta. »Das ist Angst. In Wirklichkeit habe ich mich zu Tode geängstigt. Ich war froh, dass du hier im Raum warst.«
*
Als Maarten auf dem Weg zu seinem Zimmer den Raum von Fräulein Haan durchquerte, kam de Bruin dort gerade heraus. »Hast du schon von Veerman gehört?«, fragte er.
»Was ist mit Veerman?«, fragte Maarten.
»Tot!«
»Tot?«, sagte Maarten überrascht.
»Schlaganfall! Auf dem Klo!«
»Hier bei uns?« Er blickte unwillkürlich in Richtung der Toiletten.
»Zu Hause! Seine Zimmerwirtin hat gerade angerufen.« Er ging weiter.
Beerta saß hinter seinem Schreibtisch und schrieb.
»Veerman ist tot?«, fragte Maarten.
Beerta drehte sich um und sah ihn an. »Ja, Veerman ist tot«, sagte er feierlich.
Maarten öffnete nachdenklich die Schublade seines Schreibtisches und legte sein Brot hinein. Danach setzte er sich langsam.
Beerta hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. »Gleich kommt seine Zimmerwirtin zu Besuch.«
Maarten reagierte nicht darauf. Mechanisch zog er den Karton mit Fragebogen zu sich heran, legte einen Stapel mit dem Kopf nach unten neben den Karton, mit der Pappe, die sie von den übrigen trennte, obenauf, und schlug den nächsten Fragebogen auf. »Das kam unerwartet.«
»Ja, das kam unerwartet«, pflichtete Beerta ihm bei. Er wandte sich ab und machte sich wieder an die Arbeit.
In Gedanken sah Maarten Veerman mit seinem roten Gesicht, dem nach hinten an den Kopf geklatschten, dünnen Haar und seinem gestopften Pullunder über dem roten Hemd gebückt vor den Regalen des Ausschnittarchivs sitzen. Obwohl er ihn nie besonders sympathisch gefunden hatte, spürte er jetzt einen unbestimmten Verlust. Die Tür wurde geöffnet. »Was höre ich? Veerman ist tot?« – die schrille Stimme Fräulein Haans.
Beerta legte seinen Stift wieder hin und sah sich um. »Ja, Dé, Veerman ist tot.«
»Wie kam das denn so plötzlich?« Die linke Seite ihres Gesichts zuckte nervös, als Maarten sie ansah. Sie war an der Tür stehen geblieben.
»Solche Dinge geschehen immer plötzlich.«
»Hatte es vielleicht etwas damit zu tun, dass du dich gestern mit ihm gestritten hast?«
»Das ist möglich«, sagte Beerta zurückhaltend.
»Ich habe dir oft genug gesagt, dass du den Mann schonen musst! Wo er immer so schrecklich aussah!«
»Ja, Dé.«
»Warum hörst du dann nicht auf mich?«, fragte sie böse. »Jetzt hast du die Scherereien.«
Beerta gab darauf keine Antwort. Sie drehte sich um und verließ den Raum wieder.
»Frau Haan geht die Sache nahe«, stellte Beerta fest, während er sich wieder an die Arbeit machte. »Sie hat sehr an Veerman gehangen.« Es lag eine bösartige Ironie in seiner Stimme.
Einige Minuten später kam Wiegel herein. Als er sah, dass Beerta arbeitete, ging er weiter bis zu dessen Schreibtisch. »Ich höre, dass Veerman tot ist?« Seine Stimme klang beunruhigt, und seine Haltung wirkte feierlich, als er die Fingerspitzen einer Hand auf den Rand des Schreibtisches stützte, als wolle er auf diese Weise seine Betroffenheit zum Ausdruck bringen.
»Ja, Veerman ist tot«, bestätigte Beerta und sah auf.
Wiegel schwieg einen Moment. »Das tut mir sehr leid.«
»Mir auch.«
»Er war ein besonderer Mensch.«
Beerta nickte.
»Sehr belesen. Ein Mann mit außergewöhnlichen Gaben.«
Beerta spitzte die Lippen, ohne zu antworten. Er blinzelte nervös mit dem linken Auge.
»Ich werde ihn vermissen.«
»Wir werden ihn alle vermissen«, meinte Beerta.
»Sollen wir noch etwas tun?«
»Wir werden Blumen schicken, und ich habe vor, zur Beerdigung zu gehen.«
»Das ist doch das Mindeste.«
»Kümmern Sie sich dann um die Blumen?«, fragte Beerta.
Veermans Zimmerwirtin kam bereits um halb zehn. Sie war eine einfach gekleidete Frau, mit einer schwarzen Handtasche und einem Hut mit aufgesetztem Schleier.
»Darf ich Ihnen zunächst einmal mein Mitgefühl bekunden?«, sagte Beerta, nachdem sie sich vorgestellt hatten.
»Na, zum Glück waren wir weder verwandt noch verschwägert«, sagte die Frau. Man hörte, dass sie sich Mühe gab, vornehm zu reden.
»Das verstehe ich, aber Sie haben dennoch ein paar schwere Stunden hinter sich.«
»Das kann man wohl sagen! Es war schrecklich! Darf ich?« Sie setzte sich, nahm ihre Handtasche zuerst auf den Schoß, stellte sie dann aber doch neben sich auf den Boden.
»Wie ist das eigentlich genau passiert?«, fragte Beerta mit einer Stimme voller Anteilnahme.
»Das kann ich Ihnen erzählen. Ich war zufällig wach, denn ich schlafe schlecht, und dann nehme ich auch schon mal eine Tablette, aber die helfen oft nicht, und dann werde ich doch wieder wach, und da hörte ich Veerman zur Toilette gehen, das machte er nachts öfter, denn er hatte einen schlechten Stuhlgang, wie es aussieht, und da hörte ich plötzlich einen Schrei, schrecklich, und dann rief Fräulein Versteegen, die wohnt auch bei mir zur Miete, die rief: ›Oh, Fräulein Hofman, kommen Sie schnell und schauen Sie, ich glaube, Herrn Veerman ist schlecht geworden.‹ Na, und dann habe ich meinen Morgenmantel angezogen, und da saß er, aber da war er schon tot.«
Beerta nickte. »Das muss ja furchtbar gewesen sein.« Die Anteilnahme in seiner Stimme hatte etwas Scheinheiliges.
»Es war entsetzlich, denn so mitten in der Nacht, um drei Uhr morgens, bekommt man nicht so schnell Hilfe, denn ich habe auch kein Telefon, sodass er, als sie endlich kamen, schon so steif war, dass sie ihn nicht mal in sein Zimmer kriegen konnten, denn er ist ein großer, stämmiger Mann, und da haben sie ihn in den Flur gelegt, und da hat er bis acht Uhr gelegen.«
»Ganz fürchterlich.«
»Ich werde nie wieder an einen Mann vermieten.«
»Das verstehe ich.«
»Aber weshalb ich eigentlich gekommen bin: Veerman hatte noch Mietschulden bei mir, und ich habe ihm auch was geliehen, das ich nie zurückgekriegt habe, und ich habe mich gefragt, ob hier vielleicht noch etwas Geld für mich liegt, und er muss auch sein Gehalt noch kriegen, hat er gesagt.«
»Unser Gehalt bekommen wir immer am Monatsende.«
»Das kann ich also nicht mitnehmen?«
»Das wird ein Notar regeln müssen.«
»Und werde ich dann benachrichtigt?«
»Darüber werden Sie benachrichtigt.«
»Was denkt sich so eine Frau bloß«, sagte Beerta, nachdem er sie hinausbegleitet hatte. »Man muss dem Himmel danken, dass man keine Zimmerwirtin hat.«
»Es gibt auch nette.«
»Wenn sie nett sind, dann deshalb, weil sie mit einem ins Bett wollen«, sagte Beerta zynisch.
Van Ieperen hielt Maarten an, als der kurz danach vorbeikam. Fräulein Haan saß nicht an ihrem Schreibtisch, ihre Lampe war jedoch an. »Sie haben gestern Streit gehabt, nicht wahr?«, fragte er verschwörerisch.
»Wer?«, fragte Maarten widerstrebend.
Van Ieperen machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Beerta und Veerman, darüber, dass er in der Mittagspause immer so lange wegbleibt.« Er sprach gedämpft, aus Angst, man könnte ihn hören.
Maarten schüttelte den Kopf. »Streit ist zu viel gesagt.«
»Ja, ich weiß es natürlich auch nicht«, sagte van Ieperen rasch. Er machte eine Kopfbewegung zum Schreibtisch von Fräulein Haan. »Aber das sagt Dé. Sie sagt, dass er davon wohl den Schlaganfall bekommen hätte.«
»Woher will sie das denn wissen?«, sagte Maarten irritiert. »So etwas lässt sich doch niemals genau feststellen?«
»Natürlich nicht«, sagte van Ieperen sofort. Er gab Maarten einen Stoß mit dem Ellbogen. »Das weiß doch niemand. Und das muss gerade sie sagen! Wo sie sich doch ständig bei Beerta über ihn beschwert hat. Sie und Meierink. Sie ist sogar einmal bei van der Haar gewesen, um sich zu beschweren.«
»Ja? Warum?«
»Keine Ahnung. Weil er sich nie an seine Zeiten hielt und so, und weil er ja bloß vom Sozialamt geschickt worden war.« Er hielt plötzlich inne. »Aber das hast du nicht von mir gehört!«
Maarten schüttelte den Kopf.
Van Ieperen lachte mit einem nervösen Schulterzucken und wurde dann erneut vertraulich. »Und diese Frau? Was wollte diese Frau bei Beerta?«
»Das war seine Zimmerwirtin. Die hat ihn gefunden.«
»In seinem Bett.«
»Nein, auf dem Klo.«
»Auf dem Klo? Dé sagte, dass er im Schlaf gestorben sei.«
»Nein, auf dem Klo.«
Van Ieperen hatte nicht mehr die Zeit, darauf zu reagieren, denn die Tür am Ende des Zimmers öffnete sich. Er richtete sich auf, tauchte die Feder in die Tinte und schob die Reißschiene hoch, während seine Augen die Punkte suchten, die er miteinander verbinden musste.
Ziemlich verstimmt ging Maarten weiter zum ersten Raum. Balk und Frans Veen saßen auf ihren Plätzen. Meierink, Wiegel und Nijhuis standen in der hinteren Ecke und unterhielten sich, Wiegel mit der Hand auf Veermans Schreibtisch gestützt. Maarten gesellte sich zu ihnen. »Und was niemand weiß«, sagte Wiegel ernst und wandte sich Maarten zu, »ist, dass er sich 1936 geweigert hat, bei den Olympischen Spielen in Berlin anzutreten, einer von ganz wenigen! Obwohl er doch sicher eine Bronzemedaille geholt hätte.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Maarten.
»Das wusste ich auch nicht«, sagte Meierink träge.
Nijhuis lehnte sich an das Regal, mit dem Kopf nach hinten gegen den Pfosten, und sah wortlos zu.
»Das weiß keiner«, wiederholte Wiegel. »Denn wenn es einen bescheidenen Menschen gegeben hat, war er es. Daran können wir uns alle ein Beispiel nehmen.« Er blickte Maarten starr an, als ob er ihn damit im Besonderen meinte.
*
Veerman wurde auf dem Ostfriedhof beerdigt. Außer de Bruin, van Ieperen und Fräulein Haan fuhren sie alle mit der Straßenbahn dorthin, Beerta in einem dunklen Mantel und einem schwarzen Filzhut, die anderen in ihrer Alltagskleidung. Nicht weit vom Eingang entfernt fuhr Fräulein Haan mit ihrem kleinen Auto hupend an ihnen vorbei.
»Deetje hat sich einen Renault gekauft«, stellte Nijhuis fest.
»Und sie hat ihn ›Bär‹ genannt«, sagte Wiegel, verstohlen lächelnd.
»Nach mir also«, bemerkte Beerta schmunzelnd.
Die so besiegelte Vertraulichkeit von Männern unter sich, gemeinsam auf einer wichtigen Mission, steigerte sich noch, als sie Fräulein Haan am Eingang des Friedhofs mit einem Polizisten bei ihrem Auto antrafen, auf einem Platz, wo sie nicht hätte parken dürfen. Mit einiger Schadenfreude warteten sie in gebührendem Abstand auf sie, bis sie sich ihnen anschloss. Unmittelbar darauf fuhren der Leichenwagen und ein einziges Begleitfahrzeug langsam auf den Friedhof. Aus dem Begleitfahrzeug stiegen drei Frauen. Zwei von ihnen waren verschleiert, in der dritten erkannte Maarten die Zimmerwirtin. Sonst war niemand da. Langsam gingen sie hinter der Bahre mit den drei Frauen durch die stillen Alleen zum äußersten Ende des Friedhofs, wo ein Grab ausgehoben worden war. Es war einer der ersten Frühlingstage, fast windstill und mit einem fahlen Sonnenlicht. Die Bäume waren noch kahl, doch über den Sträuchern lag ein zarter Hauch von Grün, und von überall her zwitscherten und trällerten Vögel. Dazwischen war das Geräusch ihrer Schritte zu hören. Während sie sich in einem Kreis rund um das Grab aufstellten, traten die beiden verschleierten Frauen vor und begannen, laut zu wehklagen, wobei sie sich auf die Brust schlugen. Maarten beobachtete es, ohne es zu verstehen, und sah auf den Sarg mit Veerman, auf dem ein Strauß Blumen lag. Als die Frauen zurücktraten, drängte plötzlich Veen nach vorne und legte hastig noch eine weiße Tulpe zu dem Strauß. Seine Umhängetasche trug er in der anderen Hand. In der Stille, die darauf folgte, war aus der Ferne das Rauschen des Verkehrs auf dem Middenweg zu hören. Maarten schaute auf den Sarg. Er sah Veerman vor sich, wie er sich auf dem Dam von ihm abgewandt hatte, und das Gefühl drang zu ihm durch, dass er sehr einsam gewesen sein musste. Der Bestattungsunternehmer trat vor und fragte, ob noch jemand das Wort ergreifen wolle. »Ja«, sagte jemand, in dem Maarten im nächsten Augenblick die Zimmerwirtin erkannte. »Wo sind meine Blumen? Ich habe Blumen zur Leichenhalle schicken lassen, und die sind nicht da!«
»Herrlich!«, flüsterte Balk, der neben Maarten stand. »Wie in einer Schmierenkomödie.«
Der Bestattungsunternehmer schien einen Augenblick lang nicht ganz Herr der Situation. Er wandte sich einem der Träger zu, es wurde geflüstert. Dann kehrte er an seinen Platz zurück. »Wir werden der Sache nachgehen, meine Dame«, sagte er.
»Davon hab’ ich nichts!«
»Es tut uns leid. Da muss etwas schiefgegangen sein.«
Sie ließ es empört dabei bewenden.
Es wurde keine Trauerrede gehalten. Zwei Träger ließen den Sarg in die Grube hinab. Während die kleine Gruppe sich auf den Rückweg machte, trat Frans Veen an den Rand des Grabes und machte eine verlegene Handbewegung, wie zum Gruß.
Am Ausgang stieg Beerta zu Fräulein Haan ins Auto, wobei er mit seinem Hut gegen das Dach stieß. Sie blieben stehen und schauten zu. Beerta rückte den Hut wieder gerade, Fräulein Haan startete den Motor. Als sie wegfuhren, hob Beerta lächelnd die Hand. Die Stille des Vormittags und der frühe Lenz erinnerten Maarten an die Zeit, als er noch nicht im Büro gewesen war. »Sollen wir zu Fuß gehen?«, schlug er vor.
Balk übernahm mit kurzen, energischen Schritten die Führung, Meierink gesellte sich zu ihm.
»Was waren das für Frauen?«, fragte Maarten. Er ging mit Hein de Boer, Wiegel und Nijhuis ein paar Schritte hinter Balk und Meierink her. Dahinter folgte Frans Veen, seine Tasche über der Schulter.
»Eine der beiden muss Frau Veerman gewesen sein«, antwortete Wiegel.
»War er verheiratet?«, fragte Maarten erstaunt.
»Veerman hat eine Türkin geheiratet, als er wieder mal in Geldnot war«, sagte Wiegel spöttisch. »Darin war er findig. Aber er hat sie nur einmal gesehen, die Ehe wurde nie vollzogen.«
Maarten verstand nicht, warum die Türkin Veerman dann hatte heiraten wollen, fragte aber nicht weiter.
»Am schönsten finde ich noch immer die Geschichte«, sagte Wiegel vergnügt, »wie er jedes Jahr den Marathon gewinnen musste, weil er den Wanderpokal zum Pfandleiher gebracht hatte«, er lachte, »und er gewann tatsächlich! Er war ein besonderer Mensch. Schade, dass er tot ist.«
Maarten zügelte seine Schritte, bis er neben Veen lief. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, den Middenweg entlang. Balk und Meierink hatten inzwischen einen ordentlichen Vorsprung. Es war zu sehen, dass Meierink Mühe hatte, das Tempo zu halten. Balk redete.
»Hast du schon mal jemanden beerdigt?«, fragte Maarten.
Veen erschrak. »Nur meine Großeltern«, sagte er scheu. »Und du?« Das Du klang zögernd.
»Meine Mutter. Und einen Lehrer von meiner Schule. An seinem Grab sang der Schulchor ›O Herr, der du die Himmelszelte webst.‹ Das fand ich wunderschön.«
»Ja«, sagte Veen vage.
Sie schwiegen.
»Wie fandest du Veerman?«, fragte Maarten.
Veen sah rasch zur Seite. »Ich fand ihn nett, glaube ich. Wieso?« In seiner Stimme lag Argwohn.
»Ich habe eigentlich nie Kontakt zu ihm gehabt.«
»Nein, vielleicht nicht.«
»Weil du eine Tulpe für ihn mitgebracht hattest.«
Veen wurde rot. »War das komisch?«
»Ich fand es sehr nett.«
»Das war, weil ich dachte«, er suchte nach Worten, »ich denke, dass er einsam war. Glaubst du nicht?«
»Ja, das glaube ich auch.« Ihm wurde klar, dass Veen sich mit Veerman identifizierte, und sah ihn wieder am Grab stehen und grüßen. Der eine Einsame grüßt den anderen. Dennoch ähnelten sie sich nicht.
Sie gingen am Zoologischen Garten vorbei. In dem kleinen Teich zwischen den grünen Sträuchern standen rosafarbene Flamingos. Es roch nach Frühling.
»Wir haben wirklich scharfes Wetter«, sagte Maarten.
»Ja«, sagte Veen. Er sah zur Seite. »Um beerdigt zu werden, meinst du.« Er lächelte.
Die Antwort überraschte Maarten und weckte sein Interesse. Er sah zur Seite.
Veen war rot geworden. »Tut mir leid«, sagte er erschrocken. »Das darf ich natürlich nicht sagen.« Er hatte eine etwas feuchte Aussprache.
Maarten lachte. »Du darfst alles sagen«, sagte er.
*
»Ha«, sagte er überrascht. Henriette saß im Zimmer.
Sie bewegte ihren Kopf nach hinten. »Ha.«
Er setzte sich in den Sessel neben dem Fenster. »Ist Henriette schon lange da?«, fragte er, Nicolien zugewandt.
»Eine Stunde.« Sie sah zu Henriette. »Eine Stunde, oder?«
Henriette nickte.
»Kommst du aus Italien?«, fragte sie.
»Luxemburg.«
»Kohle und Stahl.«
Sie nickte.
»Und Stefano?«
Sie wiegte den Kopf hin und her. »Der ist in Mailand.« Sie schwieg einen Moment. »Ich fahre Montag wieder zurück.« Offenbar wollte sie vermeiden, dass er einen falschen Schluss zog.
Er nickte und sah nachdenklich vor sich hin. »Ich arbeite«, sagte er dann.
»Wie ist das?«
Er lachte. »Idiotisch.« Er dachte an den Streit mit Nicolien nach seiner Gehaltserhöhung. »Nicolien findet, dass ich zu viel verdiene.«
»So habe ich das nicht gesagt«, protestierte Nicolien.
»Es läuft darauf hinaus.« Er sah zu Henriette. »Ich hätte natürlich Bauer werden können, aber wenn es erst einmal so weit ist, merkt man, dass es ein Hirngespinst ist. Für mich jedenfalls.« Er hatte unwillkürlich eine Verteidigungshaltung eingenommen und fühlte sich wie ein Scharlatan.
Henriette reagierte nicht.
»Ich arbeite also. Ich mache es so gut wie möglich. Aber ich glaube nicht daran, und es befriedigt mich nicht«, fasste er seine Situation zusammen. »Das einzig Gute, das sich über die Arbeit sagen lässt, ist, dass niemand sie ernst nimmt. Es ist der größte Unsinn, den man sich denken kann. Die Herkunft der Wichtelmännchen und so.« Er lachte.
»Wie viel braucht ihr?«, fragte sie.
Er verstand nicht, was sie meinte.
»Vielleicht kann ich für Übersetzungsarbeiten sorgen.«
Er blickte zu Nicolien. »Vierhundert Gulden?«
»Vierhundert Gulden sind wahrscheinlich genug«, sagte Nicolien.
»Vierhundert Gulden sind genug«, sagte er zu Henriette. »Aber die Zeit ist vorbei, dass ich jeden Moment eine neue Stelle finden könnte. Eines schönen Tages heißt es: Der Mann taugt nichts.« Er erzählte die Geschichte von der Bewerbung Frans Veens.
Sie musste darüber lachen. »Das scheint mir endlich mal ein netter Bursche zu sein. Und dieser Nijhuis ist natürlich ein großes Arschloch.«
»Das Verrückte ist, dass ich Nijhuis nicht wirklich für ein Arschloch halte. Wahrscheinlich ist er ein Arschloch, aber wenn man ihm so nahe ist, kriegt so jemand fast menschliche Züge. Vielleicht ist das der Vorteil einer solchen Stelle. Zumindest, wenn man das Vorteil nennen will.« Er sah zu Nicolien. »Wollen wir einen Schnaps trinken?« Er stand auf und holte den Genever aus der Küche, während Nicolien die Gläser auf den Tisch stellte. »Du auch einen Genever?«, fragte er Henriette.
Sie nickte.