Cover

Über dieses Buch:

Mit ihrem Freund Carlos schwebt Mimi auf Wolke Sieben, und jetzt kommt sie endlich ihrem Traum, Reisejournalistin zu werden, einen Schritt näher: Sie darf als freie Mitarbeiterin einen Zeitungsartikel über ihren nächsten Trip schreiben. Eine Expedition mit Carlos durch Marokko ist da genau das richtige. Mimi könnte nicht glücklicher sein – wäre da nicht dieses hinterhältige Biest Wanda, die ständig mit Carlos flirtet. Und dem scheint das auch noch zu gefallen! Doch dann gibt es ja auch noch Mädchenschwarm Wolfi, der Mimi nur zu gerne trösten würde …

Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

Die bei dotbooks erschienenen Mädchenbücher von Sissi Flegel findet ihr am Ende dieses Buches.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe 2003 Thienemann Verlag

(Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung einer Fotografie von Lena-Marie Starčevič und Mia Schütz, sowie shutterstock/Nalaleana (Hintergrund)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-737-6

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Sissi Flegel

Liebe, Sand & Seidenschleier

Roman

dotbooks.

Ein ganz neuer Anfang

»Das muss gefeiert werden!«, rief ich und tanzte mit meiner Tante Anne um den Küchentisch. »Drei gute Nachrichten in einer einzigen Stunde!«

Tante Lise stellte Teewasser auf. »In einem Monat ist sie wieder da!«

Sie – das war meine Schwester Nicki. Sie hat nach dem Abitur als Au-pair-Mädchen in Hongkong gejobbt, dann trampte und reiste sie ein Vierteljahr mit ihrem Freund Nick durch China. Gerade hatten wir ihre Nachricht erhalten, dass sie – endlich! – zurückkommen würde. »Es wurde aber auch Zeit«, meinte Tante Lise und goss das Wasser in die angewärmte Kanne.

»Nicki kommt! Und du hast einen Preis für deine Reportage bekommen!«

»Ja, und du die Aussicht auf einen Job!« Meine Tante wirbelte mich links und rechts herum, bis wir außer Puste waren. Ich plumpste auf den nächstbesten Stuhl und griff nach dem Brief: »Liebe Mimi! Ihr Bericht über die Atacama-Wüste im Norden Chiles ist bei unseren Lesern sehr gut angekommen. Da wir jetzt eine regelmäßige »Seite für junge Lesen in unserer Tagespost planen, würden wir Sie gerne als ständige freie Mitarbeiterin gewinnen. Gewiss werden Sie das Reisen so schnell nicht aufgeben, daher hoffen wir auf weitere spannende Schilderungen …«

»Natürlich werde ich das Reisen nicht aufgeben, schließlich werde ich die berühmteste Reisejournalistin aller Zeiten werden! Puh! Der Tee ist noch heiß!« Ich pustete. »Nur schade, dass wir gerade keine in Planung haben. Aber vielleicht hat Nicki 'ne Idee.«

»Nicki? Die wird vorerst genug vom Zigeunern haben«, meinte Tante Anne. »Wenn ich lange unterwegs war, will ich nur noch zu Hause sein.«

»Ja du! Aber wir sind jung, dynamisch, voller Tatendrang und Abenteuerlust! So schnell bekommen wir nicht genug – hat es geklingelt?«

»Ich geh schon«, sagte Tante Anne. »O Carlos, wie schön, dass du uns besuchst! Komm rein, du kannst mitfeiern!«

Ich fiel Carlos um den Hals und berichtete ihm sofort vom Angebot einer »ständigen freien Mitarbeit«.

»Ja super! Da komme ich ja gerade richtig. Ich will dich zu einer Reise einladen!«

»Nein! Wohin soll's denn gehen? Und wann? Mit dir?« Ich hatte Carlos auf der Chile-Reise kennen gelernt, die mir die Tanten als Heilmittel gegen meinen Liebeskummer verordnet hatten. An Ostern wollte ich nämlich meine große Liebe in Paris treffen, Rory, in den ich mich in Hongkong unsterblich verliebt hatte. Kurz vor unserem Treffen schickte er mir eine Mail: »Liebe Mimi, es ist alles aus. Wir sehen uns nie wieder.«

Damals habe ich mir geschworen mich nie wieder zu verlieben. Nie wieder! Aber Carlos war stärker als mein Schwur. Er studiert Geologie mit Schwerpunkt Erdbebenkunde, wohnt ganz in unserer Nähe, daher sehen wir uns mehrmals in der Woche, und sogar meine Tanten, bei denen Nicki und ich wohnen, seitdem unsere Eltern bei einem Unfall in der Türkei ums Leben gekommen waren, lieben ihn. Anders als ich natürlich, aber trotzdem! Er gehört fast zur Familie und hat ein Exklusivrecht auf unser Gästezimmer.

»Mimi, ich gehe auf eine Exkursion nach Marokko. Du weißt vielleicht, dass dort vor mehr als fünfzig Jahren ein schweres Erdbeben passierte, in Agadir war das. Dort wird unsere Gruppe wohnen und Untersuchungen durchführen. Nun dachte ich, du könntest nach der Exkursion, sie dauert vierzehn Tage und endet eine Woche vor Pfingsten, nach Agadir fliegen. Wir könnten ein, zwei Tage durchs Land fahren und noch einige Zeit in Marrakesch verbringen. Was hältst du davon? Würd doch perfekt in deine Pfingstferien passen, oder?«

»Na klar!«, rief ich begeistert. »Damit hätte ich auch gleich genügend Stoff für meine ersten Tagespost-Artikel!«

»Moment mal.« Tante Anne runzelte die Stirn. »Ihr wisst, dass wir größtes Verständnis fürs Reisen haben. Aber das scheint mir doch etwas anderes zu sein. Carlos, du bist zwei Wochen mit Studenten unterwegs; sollte Mimi nachreisen, wird sie als Jüngste und obendrein als Schülerin zu euch stoßen. Dann seid ihr als Gruppe schon längst zusammengewachsen. Das würde bestimmt nicht leicht für sie sein.«

»Na und? Mir macht das nichts aus, Tante Anne!«, versicherte ich eifrig. »Stell dir doch nur vor: Marokko! Marrakesch! Tausendundeine Nacht!«

»Ich habe dir Mimi schon einmal anvertraut«, fuhr Tante Anne fort. »Aber in Chile war das ein Notplan. Du hast uns nicht enttäuscht, Carlos. Doch jetzt – ganz konkret, Carlos: Wie und wo werdet ihr die Nächte verbringen? Mimi ist erst siebzehn!«

Carlos schaute verlegen zu Boden. »So genau habe ich mir das alles noch gar nicht überlegt. Ich weiß, dass wir in Agadir einen Studenten treffen, Bahrim heißt er. Dieser Bahrim wird alles, was Fahrten und Unterkunft betrifft, für unsere Gruppe organisieren. Wie viele von uns am Ende noch nach Marrakesch wollen, weiß ich aber auch nicht. Aber ich verspreche euch hoch und heilig, dass ich mich um Mimi kümmern werde. Ihr wird nichts passieren!«

»Das ist nicht das Problem, Carlos«, meinte Tante Lise. »Wir wissen, dass ihr euch sehr gern habt. Jetzt. Aber in Marokko wirst du auch mit Studentinnen zusammen sein –«

»Das bin ich täglich«, unterbrach Carlos sie.

»Ja schon. Aber nicht so hautnah wie auf einer zweiwöchigen Exkursion. Versteh uns richtig: Wir wollen nicht, dass Mimi enttäuscht wird. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Carlos nickte. »Ich werde Mimi nicht enttäuschen.«

»Das weiß ich doch, Carlos. Du und ich! Wir lieben uns. Wer sollte sich zwischen uns drängen? Das Mädchen möchte ich mal kennen lernen«, sagte ich. »Ich würde sie in der Luft zerreißen, ehrlich!«

Wir lachten.

Das Ende vom Lied war, dass meine Tanten nach langem Hin und Her einwilligten.

Sitzen gelassen!

FREITAGABEND

Jetzt weiß ich, was ein Alptraum ist!

Ich sank auf meinen Rucksack. Heul bloß nicht, Mimi, es könnte noch schlimmer kommen! Nee, dachte ich verzweifelt, das kann es nicht! Schließlich ist es schlimm genug: Hier sitze ich im fremden Land, in Marokko, in der Flughafenhalle von Agadir, ich spreche die Sprache nicht, ich weiß nicht, wo ich übernachten werde, ich habe nicht besonders viel Geld, ich kenne niemand, an den ich mich wenden kann … die Botschaft? Jetzt kurz vor zweiundzwanzig Uhr Ortszeit? Verd…! Zum x-ten Mal schaute ich auf meine Armbanduhr. Seit über zwei Stunden wartete ich auf Carlos. Abholen wollte er mich, pünktlich sein wollte er – sitzen gelassen hat mich der Schurke, der Bandit, der unzuverlässige Kerl! Ausgerechnet mir musste das passieren!

Fassungslos schüttelte ich den Kopf und stand auf. Die Halle war leer. Leer bis auf die zwei, drei Männer, die die Pässe der ankommenden Fluggäste überprüft hatten. Jetzt hatten sie nichts mehr zu tun. Alle Fluggäste waren längst abgefertigt worden, hatten ihr Gepäck vom Band genommen, waren von liebevollen Freunden umarmt, von lachenden Familienmitgliedern geküsst und abgeholt worden.

Nur ich nicht! Ich stand noch immer hier und wartete. Ich hatte Durst. Und Hunger. Und müde war ich. Und aufgeregt. Ich tat mir Leid.

Ich wischte meine Handflächen an den Jeans ab – und plötzlich erinnerte ich mich an meine Kanada-Tour. Damals, in der Bärenwildnis, hatte ich etwas für mich fundamental Wichtiges erkannt, nämlich: Mut ist weitgehend eine Sache des Trainings.

O. k., dachte ich weiter, trainiere ich eben wieder mal meinen Mut. Was kannst du tun, Mimi? Dir ein Hotel suchen? Ja. Aber sollte Carlos einen Unfall gehabt haben oder sonst wie aufgehalten worden sein, woher sollte er dann wissen, wo er mich morgen finden kann? Also doch die Nacht auf dem Rucksack verbringen?

Ausgeschlossen, niemand würde mir hier erlauben als Mädchen mutterseelenallein zu nächtigen.

Also was dann? Wieder wischte ich meine Hände trocken, dann zog ich mein Handy aus der Tasche, tippte auf die Wahlwiederholung und hörte zum tausendsten Mal, dass Carlos im Augenblick nicht zu sprechen war. Fast hätte ich das Ding quer durch den Raum gepfeffert. Im letzten Moment bremste ich mich, denn ich hatte einen Geistesblitz: Falls Carlos wirklich etwas zugestoßen sein sollte, würde er mir jetzt nicht helfen können. Aber später, sobald es ihm möglich wäre, würde er mich anrufen. Dann könnte ich ihm sagen, wo ich zu finden wäre. Ich musste also nur darauf achten, dass das Handy aufgeladen war.

So weit, so gut. Und jetzt? Ich beschloss, noch zehn Minuten zu warten. Dann würde ich ein Taxi rufen und mich zu einem Hotel fahren lassen. Morgen war morgen. Dann würde ich weiterplanen.

Ich gähnte und schüttelte meine Wasserflasche. Leer. Wie die Halle. Zwei Meter von mir entfernt war ein Abfalleimer. Ich zielte und warf – daneben. Mist. Nicht mal das Zielen klappte. Von der Reise ganz zu schweigen. Dabei war bisher alles so gut gelaufen, wir wollten uns heute in Agadir treffen, dann mit vier weiteren Exkursionsteilnehmern durchs Land reisen und den Rest der Woche in Marrakesch verbringen.

Ich stand auf und schleuderte die leere Wasserflasche in den Mülleimer. »Mich einfach hier sitzen zu lassen. So war das nicht ausgemacht!«

Ich schaute wieder auf die Uhr und stellte fest, dass die zehn Minuten vorbei waren. Also warf ich den Rucksack über die Schulter, packte meine alte, reisetaugliche Handtasche und stiefelte los. Richtung Ausgang, Richtung Taxi. Ich grinste. In jedem Krimi würde jetzt der Held angerast kommen, die Heldin in seine starken Arme reißen und etwas von »unglückseliger Verspätung« in ihr Haar murmeln. Und sofort wäre alles gut.

Ich sah mich um. Kein Held, kein Carlos kam angerast. Also schluckte ich tapfer, dann stand ich vor dem Taxi, dem ersten in der Reihe. Der Fahrer schlief. Ich klopfte an die Scheibe, öffnete die Tür und sagte auf Englisch: »Bitte fahren Sie mich zu einem einfachen Hotel in der Stadt.«

»Hotel?«, wiederholte der Mann schlaftrunken. »Name?«

»Keine Ahnung. Ich brauche …« Eine Fahrradklingel schrillte. Ein Idiot gondelte ohne Licht an seinem Rad direkt auf das Taxi zu. Dass es ein Oldtimer, ein wirklich antikes Stück war, sah man auf den ersten Blick und sogar in der Dunkelheit.

Mit einem Mal war der Taxifahrer hellwach, drückte entsetzt auf die Hupe, ließ den Daumen drauf, aber auch der Radfahrer klingelte pausenlos und fuhr noch immer knallhart aufs Taxi zu. Im letzten Augenblick sprang er vom Rad, ließ es achtlos zu Boden scheppern, er selbst machte einen tollkühnen Satz und riss mich in seine Arme. Ich schnappte vor Schreck nach Luft, der Fahrer brüllte – und dann kapierte ich. »Mensch, Carlos!«

Wir standen in einem Ring von Taxifahrern. Einer packte Carlos wütend am Kragen, zwei andere gingen mit erhobenen Fäusten auf ihn los, jemand schob sich beschützend vor mich. Bis wir das ganze Wirrwarr gelöst und auf Französisch und Englisch die Sachlage geklärt hatten, verging einige Zeit.

Atemlos und schweißgebadet grinsten wir uns schließlich an. Der Taxifahrer reichte uns die Hand zur Versöhnung, lud den Oldtimer in seinen Kofferraum – dass er meilenweit herausragte, störte ihn nicht die Bohne – wir ließen uns auf den Rücksitz fallen, Carlos sagte: »Hotel Safir, bitte«, dann küssten wir uns. Der Kuss dauerte fast so lange wie die Fahrt.

Wir luden mein Gepäck und das Rad aus, bezahlten und dann standen wir auf der Treppe, die zum Hoteleingang führte. Ich setzte mich auf die oberste Stufe und zog Carlos zu mir herunter. »Was war denn los? Warum warst du nicht rechtzeitig am Flughafen? Ich bin fast gestorben vor Angst!«

»Das habe ich mir gedacht. Deshalb habe ich ja das Rad geliehen! Also, es war so: Wir fünf – du wirst alle noch früh genug kennen lernen, fuhren heute Morgen mit unserem gemieteten Kleinbus in der Nähe von Tafraoute los. Tafraoute liegt im Anti-Atlas. So, wie wir alles geplant hatten, wären wir am Nachmittag im ›Safir‹ angekommen und ich wäre wieder losgefahren, um dich am Flughafen abzuholen. Alles lief wie geplant, aber dann –«

»Dann hattet ihr einen Unfall oder das Benzin war alle!«, sagte ich.

»Nein, so schlimm war es gar nicht. Wir hatten nur einen Platten. Hinten links. Das war etwa zwanzig, dreißig Kilometer vor Agadir.«

»Na und? Du hättest dich nur an die Straße stellen und den Daumen in die Luft halten müssen. Oder werden Anhalter hier nicht mitgenommen?«

»Langsam. Warte. Wir waren ja so zeitig dran, dass niemand auf den Gedanken kam. War ja auch nicht nötig. Wir wollten den Reifen wechseln und weiterfahren. Eine Sache von zehn Minuten oder so, dachten wir«, erklärte Carlos und fuhr fort: »Wir stiegen aus, holten den Wagenheber und den Schraubenschlüssel aus dem Kofferraum. Der Wagenheber war in Ordnung, der Schraubenschlüssel nicht. Mann, das war ein Ding! Schon bei der ersten Schraube verbog er sich so, dass er total unbrauchbar war. Also machten wir genau das, was du sagtest: Wir stellten uns an den Straßenrand und hoben den Daumen. Zuerst fanden wir das noch spaßig, aber weil wir uns auf einer winzigen Nebenstraße, einer Sandpiste, befanden, kam zuerst mal überhaupt kein Fahrzeug. Schließlich kamen zwei Autos. Die fuhren einfach weiter. Also stellten wir uns beim dritten mitten auf die Straße. Der Fahrer dachte wohl, das sei ein Überfall, gab Gas und kurvte um uns herum.

Plötzlich stand wie vom Himmel gefallen ein Mann neben uns. Bahrim, er ist Student wie wir und jobbt nebenbei als Fahrer, erklärte ihm die Sachlage.

Beim nächsten Auto stellte sich der Mann an die Straße. Das hielt, aber der Fahrer hatte keinen Schraubenschlüssel. Und so ging's weiter. Schließlich ging der Mann zurück in sein Haus. Das lag völlig einsam mitten im Nirgendwo und war von der Straße aus nicht zu sehen. Nach einiger Zeit kam er mit heißem Pfefferminztee und Fladenbrot zurück.

Da dämmerte es bereits. Ich konnte dich nicht anrufen, weil du da noch im Flugzeug gesessen hast. Schließlich kam mir die Idee, den Mann durch Bahrim fragen zu lassen, ob er nicht ein Fahrrad besäße. Er hätte ein Fahrrad, er würde es mir auch leihen, aber nur, wenn ich mein gesamtes Gepäck als Pfand zurücklassen würde, sagte der Mann.«

»Himmel!«, rief ich. »Das hast du getan?«

»Klar. Es war die einzige Möglichkeit, heute noch zum Flughafen zu kommen. Ich überließ ihm also das Gepäck, dachte in der Eile und Aufregung nicht ans Handy und bekam das Rad. Junge, das ist vielleicht verkehrstüchtig! Kein Licht, keine funktionierenden Bremsen, kaum Luft in den Reifen, von einer Pumpe ganz zu schweigen. Nur die Klingel funktioniert einwandfrei.

Ich fuhr los, aber weil es inzwischen dunkel war und es keine Wegweiser gibt, habe ich mich zweimal gründlich verfahren. Na ja, aber ich bin ja gerade noch rechtzeitig angekommen!«, schloss Carlos seinen Bericht und stand auf.

Ich zog ihn wieder zurück. »Und … wie sind die anderen? Ich meine, ihr seid seit zwei Wochen zusammen, ich komme neu dazu … und jünger als die anderen bin ich auch.« Ich schluckte. »Ich bin nicht plötzlich schüchtern geworden, Carlos. Aber ich muss wissen, was mich erwartet. Und vergiss nicht, ich bin noch Schülerin.«

»Du bist meine Freundin und das tollste Mädchen auf der Welt«, sagte Carlos und zog mich an sich.

»Aber die anderen …«

»Du wirst sie mögen. Bahrim und Klaus sind die besten Freunde, die man sich denken kann, immer gut drauf, hilfsbereit und einfach gute Kumpel. Wolfi …« Carlos zögerte. »Wolfi erwartet, dass jedes Mädchen ganz automatisch auf ihn fliegt, sobald er irgendwo aufkreuzt.«

»So?« Ich zog die Nase kraus. »Wird er das auch von mir erwarten?«

»Das will ich nicht hoffen!«, rief Carlos ehrlich entsetzt. »Er weiß, dass du meine Freundin bist!«

»Gut. Und wen gibt es sonst noch?«

»Wanda. Mit Wanda gibt es keine Schwierigkeiten. Ich bin gut mit ihr ausgekommen. Eigentlich, das fällt mir jetzt erst auf, waren wir beide die meiste Zeit zusammen«, sagte Carlos. »Sie ist total nett. Sie wird dir gefallen.«

»Hoffentlich.« Ich beschloss die Sache langsam angehen zu lassen und die Leute erst mal gründlich unter die Lupe zu nehmen.

»Aber nun komm endlich!« Carlos sprang auf.

Wir gingen zur Rezeption und bekamen unseren Zimmerschlüssel. Dann hörten wir, wie ein Auto mit Karacho auf den Parkplatz fuhr, hielt, Türen knallten und ein paar braun gebrannte Leute stürmten schreiend und lachend in die Halle stürmten.

»Mensch, der rasende Radler ist schon hier! Ist das die Kleine, die ihm nachgereist ist?«

Schnupperstunde

Carlos grinste breit. »Der Große ist Wolfi, der kleinere Blonde ist Klaus, neben ihm steht Wanda, der da ist Bahrim. Und das«, Carlos legte den Arm um mich, »das ist meine Mimi.«

»Hallo!« Bahrim war so klein wie ich. Er war drahtig, hatte kurze dunkle Locken und ein fröhliches Lachen. Ich mochte ihn sofort. Bei Wolfi war ich mir da nicht so sicher. Wolfi war der typische Anmacher; er musterte mich gründlich, nahm mich in die Arme, tatschte mich kurz und geübt ab und nickte anerkennend. »Klasse Mädchen, du gefällst mir!«

Das hatte ich gern. Ich machte mich los und begrüßte zuerst Klaus, dann Wanda. Mir stockte der Atem. Wanda hatte ihre dunklen Haare mit den karottenroten Strähnchen mitsamt einigen farbigen Bändchen zu einem dicken Zopf geflochten. Ihre schwarzen Augen betonte sie mit einem tieflila Lidschatten und am Kinn leuchtete eine ebenso tieflilafarbene Perle. Allerdings waren ihre Jeans und ihr Hemd völlig verdreckt und verstaubt ihre Hände schwarz, und übers ganze Gesicht zog sich ein Schmutzstreifen. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Kleiner Sturz in den Straßengraben«, antwortete sie fröhlich. »Ach Carlos, gut, dass du wieder bei

uns bist, ich habe dich echt vermisst. Niemand hat mir geholfen, als ich –«

»Ich sterbe vor Hunger«, unterbrach sie Bahrim. »Wie wär's, wenn wir uns in zehn Minuten im Restaurant treffen würden?«

Damit waren alle einverstanden. Wir gingen nach oben, Carlos schloss die Tür auf, starrte schweigend aufs Bett, dann stellte er sich ans Fenster und betrachtete die Nacht.

»Ist was?«, fragte ich verwundert.

»Ja«, sagte er leise. »Es ist Wolfi. Er –«

»Ich weiß. Er macht sich an jedes Mädchen ran, egal ob es einen Freund hat oder nicht. Stimmt's?«

Carlos nickte.

»Das ist lästig.« Ich ließ mich aufs Bett fallen. »Stört es dich?«

»Was soll die Frage?«, fauchte Carlos.

Ich lachte. »Gut das zu wissen. Vergiss den Blödmann, Carlos. Mit dem werde ich fertig.«

»Hoffentlich.«

»Keine Sorge. Hast du eigentlich eine Zahnbürste?«

»Ich habe nichts. Keinen Rasierapparat, keine Zahnbürste.«

»Ich habe immer eine Reservebürste dabei«, sagte ich stolz. »Die kannst du gerne haben.«

»Sonst nichts?«

»Willst du noch mehr? Einen Rasierapparat habe ich leider nicht.«

»Den kann ich mir von Klaus leihen, aber –«

Er legte sich neben mich. Das Ende vom Lied war, dass wir ziemlich spät ins Restaurant runtergingen.

»Es gibt nur noch Sandwiches«, rief uns Klaus entgegen. »Wir haben für euch mitbestellt!«

Wanda hatte sich gewaschen, umgezogen und frisch geschminkt. Sie zeigte auf den Stuhl an ihrer Seite. »Für dich, Carlos!«

Wolfi rückte dicht an mich ran. »Ach Mimi, du hast was versäumt!«, rief er theatralisch. »Niemand, wirklich niemand konnte uns helfen. Entweder fuhren die Autos vorbei oder die Leute hatten keinen Schraubenschlüssel. Endlich erinnerte sich der gute Alte – weißt du, er hatte nur zwei schwarze Zahnstummel im Mund und roch grässlich nach Knoblauch – daran, dass der nächste Ort gar nicht so weit entfernt war und sogar eine Autowerkstatt hatte. Eine Stunde nachdem Carlos losgefahren war, fiel ihm das ein!«

Wolfi ließ mich nicht aus den Augen. Immer wieder legte er seine Hand auf meinen Arm. »Tja, Bahrim kroch schließlich auf den Felgen in den Ort, wir trabten nebenher, um das Auto nicht schwerer zu belasten, dabei stolperte Wanda und lag plötzlich dekorativ im Straßengraben. Ich habe sie sofort gerettet.«

Wanda lachte spöttisch. »Du hast mir nicht mal die Hand gereicht, du Lügner!«

»Die hast du in der Dunkelheit völlig übersehen«, entgegnete Wolfi. Ich lachte. Der Kerl war wirklich schlagfertig!

»Der Ort«, fuhr Wolfi fort, »bestand aus wenigen, sehr wenigen Lehmhäusern, die Männer saßen alle im einzigen Café und amüsierten sich wahnsinnig, indem sie sich anschwiegen und mit Pfefferminztee betranken.

Aber wir haben ihren Abend gerettet, wir brachten eine kräftige Brise der großen weiten Welt, von Aufregung und Abenteuer ins Dorf. Plötzlich waren alle auf den Beinen, sie umringten das Auto, und bevor wir auch nur einen Pieps hätten sagen können, stand neben Bahrim ein Bulle von einem Mann und schwang einen kolossalen Schraubenschlüssel über seinem Haupt.«

Eigentlich wollte ich nicht schon wieder lachen, aber diese Szene war zu komisch.

»Lach nicht, Mimi, das war erst der Anfang. Der Kerl setzt den Schraubenzieher an – aber nichts tut sich. Nichts. Bei keiner Schraube. Die Dinger hatten sich festgefressen. Der Kerl knurrt, setzt den Schraubenschlüssel aufs Neue an – und springt drauf. Ein Ruck, ein grässliches Knirschen und die Schraube ist los. Bravo!, rufen alle und klatschen Beifall. Der Mann wiederholt das Ganze. Die Schrauben sind los, er wechselt gleich das Rad aus, wo er schon mal bei der Arbeit ist, aber wenn du denkst, danach hätten wir losfahren können, täuschst du dich. Nichts da. Wir mussten jede Menge Tee trinken, drei Tassen pro Nase. Und weißt du was, Mimi?« Wolfi beugte sich vertraulich vor und flüsterte: »Seitdem ist mir schlecht. Das Kraut ist mir nicht bekommen.«

»Du Armer!«

Das hätte ich nicht sagen sollen. Carlos murmelte etwas Unfreundliches, aber Klaus meinte gelassen: »Wolfi, das reicht. Jetzt hast du deine Show abgezogen. Wir sind auch noch da. Also, Leute, wann fahren wir morgen früh los?«

»Wir sollten zeitig aufbrechen«, gab Bahrim zu bedenken. »Wir müssen einen neuen Reservereifen besorgen, das Rad zurückbringen und Carlos' Gepäck einladen. Bis wir dann in Imouzzer ankommen, wird es dunkel sein. Aber wartet mal!« Er winkte dem Kellner. »Wann gibt es Frühstück?«

»Ab acht Uhr.«

»Na, dann wird's halb neun werden.«

Wanda gähnte und legte ihren Kopf an Carlos' Schulter. »Mein Gott, bin ich müde!« Sie hauchte Carlos einen Kuss auf die Wange.

Was, um alles in der Welt, ist bloß mit dieser Wanda los?, fragte ich mich und stand auf. »Ich bin auch ziemlich müde.«

»Kleine, ich bringe dich hoch«, erbot sich Wolfi sofort, aber Carlos hatte schon den Arm um mich gelegt. »Komm, Mimi.«

In unserm Zimmer funkelten wir uns wütend an. »Was denkst du dir eigentlich –«, fauchte Carlos.

»Hast du was mit Wanda gehabt?«, zischte ich.

»Ich? Nein, überhaupt nicht«, erwiderte er heftig. »Wir verstehen uns gut, wir sind Freunde –«

»Ach nee! Nur Freunde? Warum legt sie dann ihren Kopf an deine Schulter und küsst dich, während ich neben dir sitze? Kannst du mir das sagen?«

»Warum soll sie's nicht tun? Was ist schon dabei?«

Mir blieb die Spucke weg. »Findest du das nicht ziemlich vertraulich?«

»Nein. Finde ich nicht. Aber wie konntest du über jeden blöden Witz von Wolfi lachen? Der muss ja auf falsche Gedanken kommen!«

»So? Muss er das? Von mir aus kann er denken, was er will. Mich kümmert's nicht. Wenigstens ist er nicht an mir festgeklebt!«

Ich war so wütend und enttäuscht, dass ich heulend aufs Bett fiel. »In Deutschland haben wir uns nie gestritten!«, schluchzte ich. »Aber jetzt, wo wir uns nach vierzehn Tagen zum ersten Mal wieder sehen, ausgerechnet da müssen wir streiten! Ich fliege morgen sofort nach Hause! Amüsier du dich mit Wanda und lass mich in Frieden!«

»Wegen Wanda willst du nach Hause fliegen? Wegen Wanda? Mimi, das ist kein Thema!«

»Ist es doch!«

»Bestimmt nicht! Aber dieser Wolfi macht mich wahnsinnig!«

»Blödmann! Was soll Wolfi schon anrichten? Nichts! Versteh mich doch, Carlos, ich wollte am ersten Abend nicht gleich einen Streit mit ihm anfangen!«

»Mit mir schon, was?«

»Ich wollte mich nicht mit dir streiten!«, verteidigte ich mich. »Aber meinst du, es gefällt mir, wie Wanda sich verhält? Keine Gelegenheit lässt sie aus, um allen zu zeigen, wie vertraut ihr miteinander seid. Sie tut ja, als wäre ich nicht da!«

»Na und? Lass sie doch. Du bist da, nur das ist wichtig für mich«, sagte Carlos leise.

Na ja, wir versöhnten uns.

Jede Menge Störfaktoren

SAMSTAG

Am nächsten Morgen hatte Wanda ihren großen Auftritt. Sie trug die kürzesten Shorts, die ich je gesehen habe, ein pinkfarbenes Bustier samt passender Bluse, an der sie einen einzigen Knopf zugemacht hatte. Immerhin! In ihrem Zopf glänzten Bändchen in Pink, Neongrün und Quietschgelb. Sie stellte sich am Buffet dicht neben Carlos und flüsterte so, dass ich es hören musste: »Na, hattest du 'ne geile Nacht?«