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Maren C. Jones

Wenn der Traumprinz zweimal klingelt!

Humorvoller Liebesroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

Es gab nichts Schlimmeres, als dreißig zu werden.

Zumindest war Lory felsenfest davon überzeugt.

Sie stand im Badezimmer und blickte in den Spiegel. Erschöpft sah sie aus. Auf ihrer Nase hatte sich ein Pickel gebildet, den sie nur mit viel Mühe überschminkte. Seufzend verteilte sie das Make-up in ihrem Gesicht, da hörte sie ein Klopfen.

War etwa ihre Mutter vor der Tür, um sie aufzufordern, sich zu beeilen? Schließlich kam sie noch zu spät zu ihrer Geburtstagsparty, die in der Küche ihrer Eltern stattfand. Die Zahl der geladenen Gäste konnte sie an einer Hand abzählen.

Eigentlich hatte sie nur Ben eingeladen, ihren Freund. Sie kannte ihn seit Kindertagen und genauso lange klebten sie auch schon aneinander. Ihre Eltern liebten Ben. Gemocht hatten sie ihn schon immer, aber seit Lory und er mehr als nur Freunde waren, liebten sie ihn. Vor allem aber waren sie überglücklich, da ihre Tochter endlich einen Mann gefunden hatte. Lory lag schon immer viel daran, andere glücklich zu machen! Genau deswegen hatte sie ihren Eltern das Märchen von der neuen Beziehung aufgetischt. Denn Ben hatte keinerlei sexuelles Interesse an Frauen. Da war Lory natürlich auch keine Ausnahme, selbst wenn sie ab und an Männerklamotten trug – Boxershorts waren richtig bequem! – und gerne breitbeinig saß, während sie Bier trinkend über das Leben sinnierte.

Sie sinnierte oft. In letzter Zeit immer öfter. Denn heute wurde sie dreißig. Das bedeutete zweifellos, sie hatte die besten Jahre schon hinter sich und die schlimmsten noch vor sich.

Gleich musste sie einer obligatorischen Geburtstagsparty beiwohnen, die ihr wieder mal aufzeigen würde, dass sie eine absolute Versagerin war. Eigentlich hatte sie in diesen dreißig Jahren rein gar nichts erreicht. Jedenfalls nichts, worauf sie stolz sein konnte.

Sie hörte erneut ein Klopfen und nun ertönte eine ihr vertraute Stimme:

»Lory, mach endlich auf!« Es war Ben. Sie stürmte hin und öffnete ihm erleichtert.

»Deine Mutter steckt schon die Kerzen auf den Kuchen«, sagte er. Sein Haar war blau gefärbt.

»Steht dir!«, kommentierte Lory anerkennend. Gestern war es noch platinblond gewesen.

»Du meinst die Haare?«, fragte er ganz unschuldig und wischte mit seinen dünnen Fingern die Fransen aus der Stirn.

»Natürlich«, brummte sie. Ben war groß und dürr. Lory hatte immer das Gefühl, man hätte ihn zusammenfalten und problemlos in einen mittelgroßen Koffer stopfen können. Zudem hatte er eine Tätowierung am Hals und eine auf dem Penis – das behauptete er zumindest. Gezeigt hatte er ihr sein bestes Stück glücklicherweise noch nie! An seinem Hals prangte jedenfalls eine fünfzackige Krone. Sie stand für Loyalität und Würde. Loyal war Ben durchaus, aber würdevoll? Er ließ sich auf ihr Bett fallen – es war ein Wasserbett - und ihr entging nicht, dass er sich ungeniert im Schritt kratzte. Auf seinem T-Shirt war ein großer gelber Smiley abgebildet. Wollte er sich über sie lustig machen? Er wusste doch, dass ihr heute gar nicht zum Lachen zumute war!

Lory zog sich das Shirt über den Kopf und stand nun im BH vor Ben, was ihr herzlich egal war. Denn Ben nahm sie nicht als Mann wahr, er war ihr Freund. Sie tratschten oft stundenlang miteinander, trösteten sich gegenseitig, wenn sie Liebeskummer hatten – was bei ihm ständig vorkam und bei ihr … nie.

Seufzend öffnete sie den Kleiderschrank und suchte nach etwas Passendem für den heutigen Anlass. Sie entschied sich für ein Top in Butterblumenfarbe und einen knielangen lila Cheerleader-Rock mit grünen Faltenböden, den sie selbst geschneidert hatte.

Ihre Eltern sagten immer, sie sähe lächerlich aus. Ihre ausgeflippten Klamotten wären auch einer der vielen Gründe – es gab noch weitere -, warum sie keinen Mann bekam.

Fertig angezogen stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete sich kritisch.

»Für wen machst du dich eigentlich so hübsch?«, wollte Ben plötzlich wissen.

»Für mich, natürlich«, erwiderte Lory selbstbewusst. Ben stand ruckartig vom Bett auf ging auf sie zu. Lory drehte sich instinktiv zu ihm um. Als sie sich ganz nah waren, griff er plötzlich nach einer ihrer Haarsträhnen und wickelte sie sich um den Finger.

Sie schob seine Hand entschieden beiseite und sagte: »Lass das!«

»Warum denn?« Er grinste breit. So zu tun, als wären sie ein Paar, schien ihm weit mehr Spaß zu machen als ihr. »Wenn du dich so zickig verhältst, dann mache ich Schluss mit dir«, witzelte er gut gelaunt. Lory verdrehte die Augen, sagte aber nichts.

»Du siehst wirklich nett aus«, meinte Ben nun ernst.

»Nett?«, hakte sie nach.

»Du siehst eben aus wie du«, erklärte er grinsend und umschiffte somit gekonnt ein Kompliment – oder eine Beleidigung. Sie liebte nun mal farbenfrohe Kleider! Die Welt war ohnehin grau genug.

Ein letztes Mal blickte sie in den Ganzkörperspiegel an der Schranktür.

Heute wurde sie dreißig. Drei-ßig! Sie konnte es noch immer nicht fassen! Sah sie wie dreißig aus? Die Oberschenkel waren schon lange nicht mehr ganz so straff. Auf ihrer Stirn hatten sich zwei Falten gebildet, die nicht mehr weggehen wollten, weil sie viel zu oft skeptisch guckte. Sie wog fünf Kilogramm mehr als noch vor zehn Jahren, trotzdem war sie nicht dick. Einzig die schulterlangen ockerbraunen Haare sahen so aus wie immer. Glatt und dünn.

»Können wir jetzt endlich gehen, Prinzessin?«, fragte Ben gelangweilt.

»Natürlich, mein Prinz«, erwiderte sie süffisant und hakte sich sofort bei ihm ein, als er ihr den Arm hinhielt. Adelig war nur Ben, denn er hatte eine Krone. Auch wenn er sie am Hals trug und nicht auf dem Kopf.

»Soll ich heute hier übernachten?«, fragte er salopp.

»Wäre keine schlechte Idee.« Um die vorgetäuschte Beziehung möglichst echt aussehen zu lassen, war es nötig, dass Ben ab und an in ihrem Zimmer nächtigte. Dabei sorgte sie immer dafür, dass ihre Eltern es auch mitkriegten, was nicht schwierig war, schließlich wohnten sie alle im selben Haus. Nach dem Studium war Lory mangels besserer Alternativen – und weil’s bequemer war – wieder bei ihren Eltern eingezogen. Sie wohnte in einem Zimmer über der Garage, welches früher als Abstellraum genutzt wurde und worin es neben einem Bett, einem Schreibtisch, einer Dusche und einer Toilette nicht viel zu bestaunen gab.

Arm in Arm schlenderte sie mit Ben die Treppe hinunter, bis sie einen schmalen Gang erreichten, der die Garage mit dem Wohnhaus verband. Sie marschierten feierlich voran und Lory fühlte sich wie eine Braut, die zum Traualtar geführt wurde. Eine Braut zu sein, hatte sie sich immer gewünscht. Im weißen Kleid wunderhübsch auszusehen, den zukünftigen Ehemann im Blick zu haben, während sie sich Schritt für Schritt auf ihn zubewegte … Sie blieb abrupt stehen.

»Was ist?«, fragte Ben besorgt.

»Wann graben wir eigentlich die Kiste aus?«, wollte sie wissen.

»Welche Kiste?«, meinte er beiläufig. Sie knuffte ihm daraufhin in die Seite.

»Na, die Kiste, die wir im Garten vergraben haben!«, meinte sie streng. Es handelte sich dabei um eine Zeitkapsel.

»Ach … die Kiste?«, erwiderte er grinsend.

»In die Kiste haben wir unsere Träume gepackt …« Es war eine alte Blechkiste gewesen, in der ihr Vater ursprünglich Schraubenschlüssel aufbewahrt hatte. In der Schule hatten sie darüber nachdenken müssen, was sie mal tun und sein wollten, wenn sie erwachsen waren. Wie alt waren sie damals gewesen? Zehn oder elf? Lory war die Idee gekommen, die Gedanken niederzuschreiben, sie irgendwo zu vergraben und Jahre später nachzusehen, ob all die Wünsche in Erfüllung gegangen waren.

An ihrem dreißigsten Geburtstag hatten sie die Zeitkapsel öffnen wollen. Und das war heute …

»Du hast wirklich nicht mehr daran gedacht?«, fragte sie verwundert. Ben hatte doch ein Gedächtnis wie ein Elefant!

»Doch, doch ...«, brummelte er.

»Ich will die Kiste heute noch ausgraben«, sagte sie entschieden. Ben war schon vor einigen Monaten dreißig geworden. Er hatte den vergrabenen Schatz bislang aber nie erwähnt.

»Das machen wir nach der Party, okay?«, entgegnete er. Sie nickte rasch und endlich erreichten sie die Küche. Auf dem Tisch stand die Torte, wie erwartet. Und ihre Eltern standen daneben, mit jeweils einem breiten Grinsen im Gesicht. Die Bluse ihrer Mutter war wie immer perfekt gebügelt, genauso wie das Hemd ihres Vaters, dessen Kragen unter dem Pulli mit V-Ausschnitt und Karomuster hervorragte. Im Vergleich zu Lory trug ihre Mutter immer schlichte Röcke, in grau oder braun, manchmal war sie mutig und entschied sich für graubraun.

Lory lief es kalt den Rücken runter. Ben mit seinen blauen Haaren, dem T-Shirt mit dem Smiley, und Lory mit ihrem bunten Outfit passten so gar nicht in die überaus saubere und moderne, beinahe steril wirkende Küche. Ihre Eltern hingegen schienen wie Einrichtungsgegenstände, so perfekt harmonierten sie mit dem Mobiliar. Sie waren das genaue Gengenteil von ausgeflippt. Sollten sie je in Erfahrung bringen, dass Ben lieber am anderen Ufer fischte, würden sie ihn sicher nicht mehr lieben. Dann würden sie ihn nicht mal mehr mögen …

»Alles Gute, Lory!«, rief ihre Mutter und schlang die Arme um sie. Lory kriegte nur schwer Luft. Aber ihre Mutter war schon immer recht energisch und auch etwas grob gewesen.

»Alles Gute, meine Kleine«, sagte nun ihr Vater. Er war der Nächste, der sie in den Arm nahm.

Diese »Party« verdiente es nicht, als solche bezeichnet zu werden. Ihre Eltern hatten zwar ein paar Girlanden aufgehängt – war Lory nicht schon zu alt dafür? – und sie trugen sogar ein albernes Partyhütchen, aber dennoch war das hier nichts anderes als eine Feier im allerkleinsten Kreis. Leider gab es niemanden sonst, der mit ihr feiern wollte. Alle Menschen, die sie liebte, hatten sich im Moment um die lecker aussehende Schokoladentorte versammelt. Daneben lagen die Geschenke.

Ben schmatzte ihr plötzlich einen Kuss auf die Schläfe und ihr entging nicht, wie die Augen ihrer Mutter daraufhin strahlten! Ihren zukünftigen Schwiegersohn hatte sie sich wahrlich anders vorgestellt - ohne Tattoos und gefärbte Haare -, aber nach all den Jahren hatte sie ihre Erwartungen heruntergeschraubt. Hauptsache, Lory endete nicht als alte Jungfer!

»Setzt euch hin!« Die Kuchenteller und Kaffeetassen standen bereits auf dem Tisch. Lory setzte sich brav und machte sich daran, die Geschenke auszupacken. Von ihrer Mutter bekam sie einen selbstgestrickten Schal – der Winter stand vor der Tür -, von ihrem Vater neue Schonbezüge für die Autositze – er war schon immer pragmatisch gewesen -, und von Ben sehr schick aussehende Betttücher, die sie dazu verwenden konnte, Maxiröcke zu schneidern.

»Danke, Liebling«, sagte sie und küsste ihn auf den Mund, eigentlich auf den Mundwinkel. Sie drehten sich beide gleichzeitig schnell weg, sodass sich ihre Münder kaum berührten. Sie liebte Ben, aber küssen wollte sie ihn wirklich nicht.

Die Torte schmeckte richtig lecker. Lorys miese Laune verflog. Und dann erinnerte sie sich wieder an die Zeitkapsel …

Sie boxte Ben in die Seite und flüsterte ihm zu:

»Hilfst du mir, die Kiste auszugraben?«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.«

Mit einem Vorwand schlichen sie sich nach dem zweiten Stück Kuchen und der dritten Tasse Kaffee aus der Küche. Ihre Eltern stellten keine Fragen. Seit Lory endlich einen Mann gefunden hatte, sagten sie ohnehin nicht mehr viel.

»Ich brauche eine Schaufel«, meinte Lory, während sie zur Garage lief, wo neben zwei Autos auch ein Motorrad stand. Ihr Vater hatte es sich vor einigen Jahren zugelegt. Wegen der Midlifecrisis, hatte ihre Mutter gemeint.

Ben folgte ihr auf Schritt und Tritt, und Lory griff rasch nach dem Spaten. Wie zwei Räuber schlichen sie sich mit gekrümmten Rücken zu dem Apfelbaum, den ihr Vater gepflanzt hatte, als sie in dieses Haus eingezogen waren. Im selben Jahr war auch Lory zur Welt gekommen. Der Baum war so alt wie sie.

Ihre Eltern drücken sich sicher am Küchenfenster die Nase platt, weil sie wissen wollten, was ihre Tochter vorhatte. Sie beobachteten sie ohnehin ständig.

Energisch rammte Lory nun den Spaten in die Erde.

»Weißt du noch, wo genau die Kiste vergraben ist?«, fragte Ben.

»Nein, aber ich denke, … hier irgendwo …« Sie hatte bereits ein kleines Loch ausgehoben. »Willst du mir nicht helfen?«, meinte sie mürrisch. »Das ist Männerarbeit.«

»Soll ich dann meinen Freund fragen, ob er herkommt?«, entgegnete Ben schelmisch. Sein Freund war ein Riese.

»Wie lange seid ihr jetzt zusammen?«, fragte Lory beiläufig.

»Bald ein Jahr. Toll, nicht?« Ben grinste breit. Seine Beziehungen nahm er nie ernst, zumindest tat er so, als würde er sie nie ernst nehmen. Er war noch immer auf der Suche nach dem Richtigen, sagte er ständig. Aber wenn dann einer der Falschen mit ihm Schluss machte, stand er heulend vor Lorys Tür. Keine seiner Beziehungen hatte bislang ein Jahr überdauert.

»Und was ist mit dir?«, meinte er nun. »Willst du noch jungfräulich sterben?«

Sie spürte augenblicklich, wie ihre Wangen heiß wurden.

»Ich bin keine Jungfrau«, grummelte sie.

»Ach nein?«, meinte er frech. »Du hattest erst einmal Sex, warst dabei betrunken und kannst dich nicht mehr daran erinnern.« Sie bereute es im Moment sehr, Ben in der Vergangenheit jedes noch so unwichtige Detail ihres unerfreulichen Lebens anvertraut zu haben. Dass sie nur einmal Sex gehabt hatte und dabei betrunken gewesen war, stimmte. Aber dass sie sich nicht erinnern konnte – da hatte sie gelogen. Die Wahrheit über ihr erstes Mal hatte sie nicht mal Ben verraten!

»Trotzdem bin ich keine Jungfrau mehr«, beharrte sie. Mit dreißig noch nie Sex gehabt zu haben, war oberpeinlich. Mit dreißig erst einmal Sex gehabt zu haben, war nur peinlich. »Es gibt Schlimmeres«, fügte sie noch seufzend hinzu. Ihre Oma hatte immer gesagt, das Wichtigste im Leben sei die Gesundheit. Und Lory war gesund.

Ben hatte die Hände mittlerweile in den Taschen seiner Jeans vergraben, die ihm viel zu weit war. Es sah nicht so aus, als wollte er ihr doch noch helfen.

»Es gibt Schlimmeres? Wie eine Kiste mit Zukunftsplänen auszugraben, nur um zu sehen, dass sich keiner von ihnen erfüllt hat?«, meinte er plötzlich spöttisch.

Sofort hielt sie inne. Das Loch, welches sie ausgehoben hatte, war mittlerweile recht groß und auch ziemlich tief. Es war wohl doch die falsche Stelle!

»Woher willst du wissen, dass keiner in Erfüllung gegangen ist?«, fragte sie überrascht.

Ben starrte ihr tief in die Augen, sagte aber nichts.

»Du weißt nach all den Jahren noch, was du geschrieben hast?«, sagte sie erstaunt. Er zuckte nur mit den Schultern, was in Bens Fall ein klares Ja bedeutete. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Loch in der Erde zu und grub weiter.

Die Schaufel stieß endlich auf etwas Hartes. Lory hockte sich hin und schob die Erde mit ihren Händen beiseite. Schmutz setzte sich unter ihren Fingernägeln fest.

Und dann war die Kiste freigebuddelt. Ihr Herz schlug schneller. Würde sich zumindest ein einziger ihrer Träume erfüllt haben? Nur einer? Oder würde Ben am Ende recht behalten?

2

Mike machte sich, wie jeden Montag, auf den Weg zum Flohmarkt, um die eine oder andere Kostbarkeit zu ergattern. Er liebte es, alte und unnütze Dinge derart zu verändern, dass sie erneut verwendet werden konnten. All diese Kostbarkeiten verkaufte er dann in einem kleinen Internetshop, welchen er vor Jahren eingerichtet hatte. Kunstvoll und praktisch, das war sein Slogan.

Das Handy klingelte, als er sich eine alte Nachttischlampe besah. Er griff in die Tasche seiner Jacke und guckte aufs Display. Linda, seine Freundin, hatte ihm eine Nachricht geschrieben. In letzter Zeit stritten sie sich häufig, das hieß, Linda stritt. Mike stand nur daneben und … hörte zu. Bis sie fertig war. Manchmal dauerte es länger, manchmal ging ihr schon nach wenigen Sekunden die Luft aus! Die Tatsache, dass er kaum etwas sagte und ihre Schimpftiraden stumm über sich ergehen ließ, war einer der vielen Gründe, warum sie so böse auf ihn war.

Er öffnete die Nachricht und da stand:

Ich mache Schluss mit dir.

Das war alles.

Autsch.

Er starrte eine lange Weile auf das Display und sein Gehirn verarbeitete jeden Buchstaben – in Zeitlupe. I-c-h-m-a-c-h-e-S-c-h-l-u-s s-m i t-d i r.

Und jetzt? Noch nie hatte eine Frau mit ihm Schluss gemacht. Linda war seine allererste Freundin! Sie war es gewesen …

Er schrieb zurück: Okay.

Dann steckte er das Handy wieder in die Jackentasche und feilschte mit dem Händler, der für die Nachttischlampe ganze dreißig Euro verlangte.

Das Telefon klingelte erneut, als er die Brieftasche zückte und einen Zwanziger daraus hervorholte. Mehr wollte er nicht bezahlen. Im Verhandeln war er eiskalt. Anscheinend nicht nur im Verhandeln, sonst würde seine Freundin nicht mit ihm Schluss machen … Er sei so langweilig, hatte sie immer gesagt. Beinahe roboterhaft … Er würde seine Gefühle nicht zeigen! Vielleicht hatte er ja gar keine!

Seufzend holte er das Handy wieder hervor. Vermutlich war es Linda, die ihn beschimpften wollte. Seine Reaktion auf ihre Nachricht hatte ihr sicher nicht gefallen. Beinahe wünschte er sich, sie wäre wirklich dran. Er wollte ihre Stimme hören … Aber solche Dinge hatte er nie zu ihr gesagt. Er hatte auch nicht gesagt Ich liebe dich. Auch wenn er das tat, er liebte sie. Er war eben nicht gut in so was!

Aber nicht Linda rief ihn an, sondern sein kindsköpfiger jüngerer Bruder Louis.

»Was ist los?«, fragte Mike sofort, als er abhob. Wenn Louis ihn anrief, war immer was los. Sein jüngerer Bruder hatte keinen Job, dafür aber eine Menge Geschäftsideen. Immer wieder fiel er auf die Nase. Aber er rappelte sich auch immer wieder hoch.

»Ich muss dich um was bitten, Mike.« Louis klang aufgeregt. Er und sein Bruder hatten nichts gemeinsam. Mike war nämlich ständig ruhig. Ein Asteroid von der Größe Australiens könnte auf die Erde herniederrasen – Mike würde deswegen seinen Tagesablauf keinesfalls ändern. Linda hatte ihm vorgeworfen, er sei nicht spontan.

»Worum geht’s?«, fragte Mike beiläufig. Der Händler holte gerade eine Schachtel für die Lampe. Der Schirm war aus Plastik und eingerissen. Aber den konnte man ersetzen.

»Ich habe eine neue Geschäftsidee!«, rief sein Bruder aufgeregt ins Telefon.

»Was du nicht sagst …«, entgegnete Mike tonlos. Die Leuchte war nun eingepackt und er marschierte damit stolz zum Auto.

»Kannst du nicht auf deiner Internetseite für mich Werbung machen?«, bat ihn sein kleiner Bruder. Ursprünglich hatte er in seinem Shop nur alte, aber aufgehübschte Möbel verkaufen wollen. Ein neuer Anstrich konnte oft Wunder wirken. Er handelte nicht mit kostspieligen Antiquitäten, sondern nur mit wertlosen Stücken, die er häufig künstlerisch aufbereitete und zweckentfremdete. Da kam es schon mal vor, dass er einen alten Koffer in einen Spiegelschrank verwandelte oder eine Tür in einen Küchentisch. Er war ein Meister im Upcycling. Bei ihm konnte jeder kaufen und auch verkaufen. Die Ware musste aber einzigartig sein. Er verkaufte nur Einzelstücke, selbst hergestellt.

»Wofür soll ich Werbung machen?«, fragte Mike neugierig.

»Das kann ich dir nicht am Telefon erzählen!«, meinte Louis.

»Dann komm doch heute Abend vorbei«, schlug Mike seufzend vor, als er sein Auto erreichte. Es war ein Gebrauchtwagen, den er billig ergattert hatte. Ein smaragdgrüner Kadett - er liebte dieses Auto. Linda hatte es gehasst. Weil’s so schmutzig war und so alt. Die Fensterscheiben musste sie runterkurbeln und auf der Sonnenblende war kein Make-up-Spiegel angebracht.

»Heute Abend? Ich will nicht stören … Hat Linda nicht Geburtstag? Ihr habt doch sicher was vor!«, sagte Louis. Jetzt blieb Mike abrupt stehen. Welcher Tag war heute? Ach, der fünfte September, Lindas Geburtstag … Das erklärte so einiges …!

»Sie hat mit mir Schluss gemacht«, erzählte er sachlich und stieg ins Auto. Am anderen Ende der Leitung war es still.

»Du warst mit ihr doch fünf Jahre zusammen!«, meinte Louis fassungslos. »Was in aller Welt ist denn passiert?«

Was passiert war?

»Die Dinge nehmen eben ihren Lauf«, entgegnete Mike nüchtern. Die Sonne ging auf und unter, so war das eben.

»Soll ich ein paar Biere mitbringen und wir reden darüber?«, fragte Louis. Reden wollte Mike wahrlich nicht. Das war auch eines dieser Dinge, die Linda an ihm nicht leiden konnte. Er war nicht besonders kommunikativ, hatte sie ihm vorgeworfen. Er sagte nie, was ihm so auf dem Herzen lag. Aber da gab’s halt nicht viel …

»Ein Bier klingt gut. Ich hör mir dann deine neue Geschäftsidee an«, schlug er vor. Noch jede von Louis‘ Ideen war haarsträubend gewesen.

»Ich kann auch gleich vorbeikommen«, meinte sein Bruder.

»Von mir aus …«, entgegnete Mike.

»Danke! Bis bald!«, flötete Louis gut gelaunt ins Telefon. Dann legte er auf und Mike stopfte das Handy wieder zurück in seine Jackentasche. Er musste sich beeilen, denn vermutlich würde Louis in wenigen Minuten vor seinem Haus stehen.

Und genau so war’s dann auch.

Natürlich trug sein kleiner Bruder Designerklamotten. Ihm war nichts zu teuer. Da er noch bei ihren Eltern wohnte, konnte er es sich leisten. Die Haare waren frisch gefärbt - Mike entdeckte blonde Strähnchen. Leider hatte Louis zu viel Haargel verwendet. Aber gut sah er trotzdem aus.

Sein Bruder hatte schon zig Jobs gehabt. Eine Zeit lang arbeitete er erfolgreich als Vertreter von hydraulischem Material, aber das hatte er irgendwann zu langweilig gefunden.

»Louis …«, sagte Mike tonlos.

Sein jüngerer Bruder hob die Hand zum Gruß und Mike öffnete die Eingangstür. Sein Heim war klein und wenig organisiert. Aber er war zufrieden. Er hatte dieses alte verlassene Häuschen auf den ersten Blick liebgewonnen und sofort gekauft. Das war jetzt schon einige Jahre her. Mittlerweile hatte er sich hier gut eingerichtet und eine kleine Werkstatt angebaut, wo er aus alten Gegenständen neue Raritäten fertigte. Nichts in seinem Haus war gewöhnlich. Die Jacke hing er an einem Löffel auf, den er an der Wand angebracht hatte. Er verwendete Besteck als Haken. Statt einem Sofa stand in seinem Wohnzimmer eine antike freistehende Badewanne, die er mit Polstern ausgelegt hatte.

»Von welcher Geschäftsidee wolltest du mir erzählen?«, fragte Mike. Louis hatte ein Sixpack mitgebracht.

»Das ist genial. Einfacher kann man sein Geld nicht verdienen«, erzählte sein Bruder strahlend.

»Ich höre …« Mike holte die Lampe aus dem Karton heraus und trug sie in die Werkstatt. Danach ging er in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Louis war ihm gefolgt.

»Hier!« Nun reichte er ihm eine Visitenkarte. Die Biere stellte er auf dem Boden ab. Eins davon öffnete er an der Tischkante.

»Was ist das?«, fragte Mike und besah sich das Kärtchen. Mann für heiße Stunden, stand darauf. »Was in aller Welt ist das?«, wiederholte Mike nachdrücklich. Er hatte ein ungutes Gefühl.

»Ich sagte doch, einfacher kann man sein Geld nicht verdienen, als mit … Sex. S-e-x.« Mike zog die Stirn in Falten.

»Du willst dich prostituieren?« Warum war er nicht überrascht? Sein Bruder schreckte vor nichts zurück. »Ist das überhaupt legal?«

»Ich muss nur ein Kassenbuch führen«, meinte Louis schulterzuckend.

»Und ich soll dafür Werbung machen?«, fragte Mike unnötigerweise. Louis nickte und hatte dabei ein – wie er vermutlich hoffte – überzeugendes Grinsen im Gesicht.

»Ich denke nicht, dass diejenigen, die auf meine Seite zugreifen, Interesse an deinen Dienstleistungen haben. Da gibt’s doch sicher andere Foren dafür.«

»Natürlich gibt’s die. Aber bei dir tummeln sich doch die seriösen Leute, die auch gerne viel bezahlen.«

»Was meinst du denn damit?«

»Deine Sachen sind doch so teuer! Die Kommode letztens hast du um tausend Euro verkauft. So wertvoll sah die nicht aus …«

»Meine Kunden wünschen gute Qualität und wissen ein einzigartiges Produkt zu schätzen«, meinte Mike nüchtern.

»Darf ich das auf meine Visitenkarte schreiben? Der Satz ist echt gut …!« Louis holte einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke und notierte sich Mikes Worte in klitzekleinen Buchstaben auf dem recht stylisch aussehenden Stück Papier.

Mike verkaufte keinen Schrott. Und in all seine Sachen packte er viel Liebe rein. Linda hatte gemeint, er wäre lieber auf dem Flohmarkt oder in der Werkstatt als bei ihr. Er war nun mal gerne von alten Dingen umgeben. Sie erzählten nämlich eine Geschichte. Selbst eine alte Türklinke hatte viel erlebt: Sie war millionenfach berührt worden.

»Tu mir den Gefallen!«, bat Louis. Mike überlegte. Er überlegte lange. Aber seinem Bruder hatte er noch nie etwas abschlagen können. Leider.

»Okay«, sagte er nüchtern. Er gab sich geschlagen.

Louis warf daraufhin seine Arme um ihn und packte etwas zu fest zu.

»Schon gut, schon gut!«, sagte Mike rasch, »aber weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt?«

Nun griff auch er nach einem Bier und öffnete es, genau wie sein Bruder, an der Tischkante. Nur leider gelang es ihm nicht beim ersten, sondern erst beim zweiten Versuch. Er trank so gut wie nie ... Und cool war er auch nicht.

»Ob ich weiß, worauf ich mich da einlasse? Was soll schon passieren?«

»Ich dachte eigentlich, du hast eine Freundin?«, fragte Mike neugierig. Louis wechselte die Frauen so häufig wie die Zahnbürsten. Alle drei Monate besorgte er sich eine neue.

»Du meinst Sarah? Ihretwegen hatte ich überhaupt erst die Idee!« Er schwenkte das Bier in der Luft hin und her. »Sarah hat eine Freundin, Anabel. Sie ist schüchtern und ganz deprimiert, weil kein Mann sie anfassen will. Zumindest keiner, der ihr auch gefällt. Die Damen haben Ansprüche, sag ich dir! Aber ich sehe doch gut aus, oder nicht?«

Mike zog die Stirn in Falten. Die Visitenkarte hielt er immer noch in der Hand.

»Wie lange hast du vor, einsame Frauen zu trösten, die keine anderen Möglichkeiten haben?« Louis verlor doch schnell das Interesse an jeder neuen Idee.

»Ein paar Monate? Mal schauen, wie das Geschäft so läuft!«, sagte er. Mike nahm einen kräftigen Schluck und tippte schließlich die Adresse seiner Internetseite in den Browser.

Louis guckte ihm über die Schulter und sagte: »Ich habe dir die Werbegrafik bereits per Mail geschickt.« Also kontrollierte Mike jetzt seine Mails. Minuten später hatte er die Grafik auf seiner Homepage eingefügt. In der Seitenleiste verlinkte er zu anderen Shops, die gute Produkte anboten. Dass er für erotische Dienste warb, würde den einen oder anderen sicher irritieren!

»Meine Kunden werden sich wundern«, sagte er matt.

»Du hast doch dreitausend Zugriffe täglich, oder?«, fragte Louis. Mike nickte stumm. Sein Bier hatte er zur Hälfte ausgetrunken und sein Kopf schwirrte etwas.

»Du kriegst was von meinem Gewinn, wenn das Geschäft floriert«, meinte Louis begeistert.

»Nein, danke«, entgegnete Mike rasch. »Weißt du überhaupt, wie man so was macht?«

»Du meinst, mit Frauen schlafen?« Louis grinste frech.

»Nun ja, gewisse Dienstleistungen wirst du wohl anbieten müssen.«

»Hey, ich bin ein wahrer Sexexperte«, prahlte sein kleiner Bruder stolz. Mike rutschte ein ungläubiges Lachen über die Lippen, er sagte aber nichts.

»Das mit dir und Linda ist wirklich vorbei?«, fragte er.

»Sie hat mir eine SMS geschrieben. Darin stand: Ich will Schluss machen.«

»Das heißt, du hast noch nicht mit ihr gesprochen?«

»Nein. Was gibt’s da auch zu sagen? Ich weiß schon lange, dass sie nicht glücklich mit mir ist.«

»Das war’s? Du willst kampflos aufgeben?«

Mike starrte auf den Bildschirm. Er lud seine Seite neu, weil er darauf wartete, dass die Userin mit dem Nicknamen ColoredWorld ein Kleidungsstück zum Verkauf anbot. Meist lud sie am Montagvormittag das neue Angebot hoch. Er hatte mit ihr ab und an ein paar Mails ausgetauscht, nur über Berufliches hatten sie gesprochen. Aber er mochte ihre Sachen. Die Kleider waren interessant und … bunt.

Er erinnerte sich plötzlich an Linda und wie er sie zum allerersten Mal getroffen hatte. Sie hatte Kunstgeschichte studiert und er Architektur. Bei einer literarischen Veranstaltung waren sie sich begegnet. Sie war eine talentierte Rednerin. Ihre Wortgewandtheit hatte ihn fasziniert, wo er doch selber mit Worten immer so sparsam umging. Sie hatte damals ein buntes Kleid getragen ...

Plötzlich fühlte Mike sich richtig elend. Linda hatte mit ihm Schluss gemacht. Das konnte doch nicht wahr sein!

Seine Augen tränten und er hielt sie mit Gewalt offen – vor seinem Bruder wollte er keinesfalls heulen.

»Vielleicht sollte ich mit Linda noch mal reden …«, sage er leise. Louis klopfte ihm auf die Schulter.

»Das solltest du tun«, riet er ihm. »Ich muss wieder los«, sagte er daraufhin knapp.

Er ging so schnell, wie er gekommen war. Die restlichen Biere ließ er hier und Mike gönnte sich ein weiteres. Und noch eins.

Dabei schlug er für gewöhnlich doch nie über die Stränge!

Müde ging er hoch in den ersten Stock und ließ sich auf das Netz fallen, welches er zwischen zwei Balken gespannt hatte. Sein Hängemattenbett war eines seiner Lieblingsideen.

Es war noch nicht einmal Mittag, aber er fühlte sich plötzlich so schläfrig …

Und dann war er auch schon eingenickt.