Copyright der eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

 

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Covergestaltung: Y-U-K-I-K-O

Autorenfoto: © Edward Beierle

ISBN: 978-3-95607-011-2

 

 

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Katja Huber über »Acht Erwachungen«:

 

Es war irgendwann um die Jahrtausendwende, ein paar Jahre vorher oder nachher, von heute aus betrachtet völlig unwichtig. Die Leute liefen auf jeden Fall noch nicht ausnahmslos mit flachen Rechtecken vorm Kopf durch die Gegend, um sich ein Bild zu machen, und es existierten noch Augenblicke und Orte, in und an denen wir uns nicht per Knopfdruck ins Gedächtnis einer beliebigen Person rufen, in deren Gefühlsleben einmischen, deren Alltag unterbrechen konnten.

Ich war besessen von den Gedichten und Geschichten von Richard Brautigan, von den Kürzestgeschichten und »Fällen« von Daniil Charms, von Nabokovs Schmetterlingen und allen anderen Dingen mit Flügeln und einem Herzen.

Ich war noch niemals in New York gewesen, malte mir aber täglich aus, wie es wäre, an einem unspektakulären Sommernachmittag in Manhattan Woody Allen über den Weg zu laufen, ihn mit nur einem genialen Satz oder besser noch mit einer einzigen Geste in einen Dialog zu verwickeln, einen intellektuellen natürlich, der, in Form von Gesprächen, Telefonaten und schreibmaschinen-getippten Briefen über Jahre andauern würde und erst mit dem Tod - rational betrachtet: mit seinem, weniger rational betrachtet: mit meinem, romantisch betrachtet: mit unser beider, enden würde.

Ich malte mir sehr sehr viel aus, ein paar Dinge aber waren klar:

Daniil Charms und Richard Brautigan waren tot. Vladimir Nabokov auch.

Woody Allen war in meinem Leben omnipräsent, ich in seinem nichtexistent.

All das würde sich niemals ändern.

Nicht nur im tiefsten Inneren spürte ich, dass das völlig ok war.

Alles, was, und alle die uns beschäftigen sind eh da, passieren, finden statt.

Momentan würden sich vermutlich weder David Bowie noch bisexuelle Rabbiner in eine meiner Geschichten verirren, ohne eine Großmutter komme ich bis heute schwer aus.

Schwer innern

 

Es war ein Tag in einem Monat. Ich wollte meine Freundin im Gefängnis besuchen.

Bereits auf der Fahrt begannen die Schwierigkeiten: Ich dachte an einen flügellahmen Storch, der einst in unserer Duschkabine überwintert hatte. Sein Geruch – eine Mischung aus heißem Steppengras, Klugheit und Trockenmücken – breitete sich im Bus aus.

Mir fiel ein: WEN eigentlich besuche ich? Ihr Name war mir storchgedenkend entfallen. Der Geruch zog durch das leicht gekippte Dachfenster Richtung Himmel, und aus allen anderen Richtungen flogen schwarz glänzende, aufdringlich flatternde Fragezeichen in den Bus.

Die uralte Großmutter neben mir häkelte an etwas. Sie wiegte ihren Oberkörper vorwärts, rückwärts, seitwärts, ich überlegte gerade, ob es nicht eher ein Kreisen als ein Wiegen war, da blinzelte sie mir verschwörerisch zu. Ich war irritiert. Mir fiel gar kein Name mehr ein. Nicht einmal Bernhard oder Andrea, Paul.

Auf dem Boden des Busses lag ein kleines Mädchen. Seine mürrische Mutter hatte sich auf dem schlafenden Kontrolleur niedergelassen und starrte beleidigt aus dem Fenster. Das Mädchen strampelte hektisch mit den Füßen und summte Greensleeves. Es war höchstens vier, benahm sich aber wie 42. Strebermädchen!

»Entschuldigen Sie«, wandte ich mich an den Busfahrer, der aber sagte »Nein«.

»Dann Sie«, sagte ich zur Häkelgroßmutter. Die rollte mit ihren großen Augen und holte aus der letzten Ecke ihrer dritten Zähne ein klebriges Pfefferminzbonbon, das sie dem immer noch schlafenden Kontrolleur kichernd an den Kopf warf. Ich zog ein Buch mit den beliebtesten 2582 Mädchennamen Deutschlands aus meiner Tasche – mich musste bereits am Morgen eine Ahnung beschlichen haben - und begann zu lesen.

Dort stand »Edeltraud« und »Erika«, »Renate«, »Elizabeth«, »Sven« (aus letzterem schloss ich, dass der Autor des Buches sich bei seinen Recherchen nicht sonderlich bemüht haben konnte).

 

Den fehlenden Namen las ich nicht. Anscheinend fehlte er nicht nur mir. Er fehlte allgemein.

Als ich am Gefängnistor stand, beschrieb ich meine Freundin so gut ich konnte. Mir fiel »groß« und »kriminell« ein. Wie sie sonst war, fiel mir nicht ein. Ich hatte sie bereits drei Tage nicht gesehen. »Ihr Name stand nicht in diesem Buch« war auch kein Anhaltspunkt für den Gefängniswärter, der sich wirklich keine Mühe gab.

Ich fuhr wieder nach Hause – diesmal mit einem Herrenrad, das mir ein kleiner Junge vor der Garage seines Elternhauses verkaufte.

Ich setzte mich im Dunkeln auf einen Sessel. Ich wartete bis es hell wurde. Ich trank zuerst Tee, dann Kaffee, später kalte Milch. Ich gab mir wirklich Mühe. Es half alles nichts.