Der gelbe Traum

von Daniel Schenkel

Des Königs Werk

Der Türsteher warf mir nur einen müden Blick zu und ließ mich ohne Schwierigkeiten eintreten. Drinnen erwartete mich gedämpftes orangenes und rotes Licht. Es war warm und roch nach süßlichem Parfüm. Die Topfpflanzen schienen künstlich zu sein, Fahrstuhlpop plätscherte vor sich hin. Die Bilder an den Wänden sollten wohl erotisch wirken. So weit das Klischee.

Ich ging zur Bar. Die Frau hinter dem Tresen schenkte mir ein Lächeln, das falsch oder auch echt sein konnte, letztlich spielte das keine Rolle.

„Hallo, schön dass du da bist“, sagte sie. „Ich bin Camilla.“

Ich nannte meinen Namen und ließ mich auf dem Barhocker nieder.

„Willst du was trinken?“, fragte sie.

Ich bestellte ein Bier. Die Frauen im Raum, die sich nicht mit Männern unterhielten, musterten mich, versuchten vermutlich, meine Vorlieben einzuschätzen. Sie wussten nicht, was ich gelesen hatte, bevor ich hergekommen war. Was man mich gelehrt hatte und was ich zu tun hatte. Warum mein Unterhemd mir am Körper klebte und der Schmerz bei jeder Bewegung pulsierte. Aber ich ignorierte die Pein, zeigte sie nicht. Auch das hatte man mich gelehrt.

Des Königs Werk würde ich tun. Würde es hier tun und das schon sehr bald.

„Hast du bei einem unserer Mädchen reserviert?“, fragte Camilla.

Ich schüttelte den Kopf. Spürte jetzt, wie fest ich das Bierglas umfasste. Wenn ich noch stärker zudrückte, würde es in meiner Hand zerspringen. Ich war nervös, mein Herz pochte. Aber ich konnte nicht zurück, nicht mehr. Mein Weg war vorgezeichnet. Ich wollte das alles nicht, aber ich musste gehorchen. Der Wille des Königs hatte mich überwältigt, mich ganz und gar unterworfen, mich zu seinem Untertan gemacht.

„War noch nie in so einem, äh, Laden“, brachte ich heraus.

Camilla zeigte mir erneut ihr Lächeln. „Kein Problem. Wenn du willst, werden sich unsere Mädchen bei dir vorstellen. Dann kannst du in Ruhe entscheiden.“

„Gute Idee.“ Ich versuchte, so normal wie möglich zu klingen.

Auf keinen Fall durfte ich Verdacht erregen, nicht bevor ich dem Willen meines Herren genügt hatte. Trotz aller Pein, trotz dem Wissen, das meinen Geist wie Säure aufzulösen drohte.

Der maskierte Monarch in seiner zerschlissenen Robe hatte in mein Inneres geschaut. Hatte mich die Bedeutung des Buches gelehrt; mir gezeigt, wo die Schwarzen Sterne über dem See Hali standen, wo die beiden Sonnen versanken und wo sich die Wolkenwellen brachen. Aber die Aufgabe war schwer und ich würde große Opfer erbringen müssen.

Camilla gab den beschäftigungslosen Mädchen im Raum ein Zeichen. Sie verließen ihre Plätze und kamen zu mir herüber. Manche waren jung, andere schon älter, die älteren Frauen versuchten, ihre verlebten Gesichter mit Schminke aufzuwerten, was ihnen nicht besonders gut gelang. Alle lächelten, alle sagten Worte zu mir, die mich animieren sollten.

Meine Bürde lastete mit jedem Augenblick schwerer auf mir, schien mich niederzudrücken.

Warum verlangte der König all das von mir? Wieso hatte er ausgerechnet mich auserwählt, sein Werk zu tun?

Ein weiteres Mädchen trat vor und nahm meine Hand.

„Hallo, ich bin Tessie“, sagte sie.

Ich nickte. Die Wahl war getroffen. Tränen liefen über meine Wangen, ich konnte es nicht verhindern.

Tessie sah mich irritiert an.

„Was hast du denn?“, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.

„Bin nur nervös“, murmelte ich. „Ich hab’ das noch nie gemacht.“

Sie lachte und legte mir die Hand auf die Schulter. „Entspann’ dich, ist doch alles kein Problem. Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben oder so, was du willst, ist doch völlig normal.“

Ich unterdrückte ein Auflachen. Das arme Mädchen wusste nichts, kannte meine Aufgabe nicht, noch nicht.

„Und, hast du dich entschieden?“, fragte Camilla kurze Zeit später.

Ich nickte.

„Tessie“, sagte ich nur.

Meine Kehle war trotz des Biers so ausgedörrt, dass ich kaum sprechen konnte.

„Das wäre dann der übliche Preis“, sagte Camilla.

Ich legte die Scheine auf den Tresen, meine Hände zitterten. Camilla zählte das Geld und runzelte die Stirn.

„Hast du dich vertan?“, fragte sie. „Ich frage nur, weil wir fair zu unseren Kunden sind und sie nicht ausnutzen wollen.“

Ich hatte ungefähr die doppelte Summe hingelegt, als verlangt war, aber das interessierte mich nicht. Geld spielte keine Rolle mehr für mich.

„Ist gut so“, sagte ich.

Camilla lächelte noch breiter. „Noch besser. Dann hoffe ich, dass du Spaß hast.“

Tessie trat an meine Seite und nahm erneut meine Hand. „Komm mit, mein Süßer.“

Sie führte mich aus dem Raum in einen schummrigen Gang mit mehreren nummerierten Türen. Um ihren Hals hing ein kleiner, goldener Schlüssel, mit dem sie eine der Türen aufsperrte.

Dahinter erwartete mich ein breites Doppelbett mit roten Bezügen. Neben dem Bett stand ein Beistelltisch mit einer Schachtel Kleenex darauf. An der Decke hing ein Spiegel. Das einzige sonstige Möbel war ein grauer Klappstuhl.

Der Anblick war noch trostloser als die Bar und ich fragte mich, wie hier überhaupt jemand jemals so etwas wie Erregung verspüren könnte. Andererseits war das jetzt auch nicht mehr wichtig.

Tessie streckte sich auf dem Bett aus, nahm eine Pose ein, die wohl aufreizend wirken sollte, aber in mir war nur Kälte. Kälte und die Worte des Königs, seine Lehre von den Schwarzen Sternen und den Verheißungen des Gelben Zeichens.

„Zieh dich doch erst mal aus“, gurrte Tessie. „Wenn du magst, können wir gemeinsam duschen.“

Ich legte mein Jackett ab und hängte es über den Stuhl. Ich durfte nicht zögern. Mein König verlangte, was ich im Begriff stand zu tun und ich konnte mich nicht verweigern.

Tessie riss die Augen auf, als sie die rostroten Flecken sah, die mein weißes Hemd verunstalteten.

Sie schnappte nach Luft. „Mein Gott, was ist denn das?“

Ich knöpfte das Hemd auf, tat es methodisch und ruhig. Immer noch gelang es mir, den Schmerz zu ignorieren, er schien nicht Teil meines Selbst zu sein, gehörte zu einer rein mechanisch agierenden Puppe. Ich warf das Hemd neben den Stuhl. Das Unterhemd war vollkommen durchweicht und ich wunderte mich für einen Moment, dass ich so viel Blut hatte verlieren können, ohne ohnmächtig zu werden. Sicher hielt mich nur noch der Wille des Königs aufrecht.

Tessie rutschte auf der Matratze von mir weg. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht totenbleich, ihr Mund geöffnet, als ob sie etwas sagen oder im nächsten Moment schreien wollte.

Ich streifte auch das Unterhemd ab, warf es fort. Gab den Blick auf das Zeichen frei, das meine Brust zierte, das Zeichen des Königs. Er hatte mir befohlen, es in mein Fleisch zu schneiden und ich hatte mich nicht widersetzen können, denn dies war der Wille des Lebenden Gottes. Als sein Auserwählter hatte ich sein Mal zu tragen, so wollte es das Gesetz.

Ich ging auf Tessie zu. Sie riss die Arme hoch, stieß einen unartikulierten Schrei aus.

Ich sprach die Worte, die er mich gelehrt hatte: „An diesem Strand die Wolkenwellen brechen …“

Tessie sprang vom Bett, wollte sich an mir vorbeidrücken, zur Tür laufen.

Ich packte sie am Arm und versetze ihr eine Ohrfeige, die sie zum Bett zurücktaumeln ließ.

„… zwei Sonnen in dem See versinken …“

Sie schrie erneut. Mein Schlag hatte ihre Unterlippe aufplatzen lassen und hellrotes Blut verschmierte ihr Kinn.

„Die Schatten drohen, in Carcosa.“

Dann war ich über ihr, auf ihr.

Tat des Königs Werk.

Tat es mit Hingabe.

Tat es mit Eifer.

Tat es, bis Tessie, ich und die Matratze rostrot gefärbt waren.

Bis die Tür aufgestoßen wurde und Hände mich packten, mich von Tessie herunterzogen und zu Boden rangen. Man fesselte mich, viele Stimmen schrien durcheinander, aber all das kümmerte mich nicht, denn ich hatte das Werk des Königs getan.

Zwei Sonnen

Dirk liegt in einer Hängematte im Garten. Er sieht in den wolkenlosen Himmel, von dem zwei blasse Sonnen herabscheinen. Er streckt die Hand aus, um nach dem gefüllten Weinglas auf dem Tisch neben sich zu greifen, da fällt ein Schatten auf ihn. Zwei Männer in dunklen Anzügen sind im Garten aufgetaucht, er hat sie nicht kommen sehen. Beide haben spiegelnde Glatzen und ihnen fehlen die Augenbrauen wie auch jeder Bartansatz. Sie gleichen sich so sehr, dass sie Zwillinge sein könnten.

Ein Mann bewegt die Lippen, aber Dirk kann die Worte nicht verstehen. Sie sind eigentümlich verzerrt, als kämen sie aus einem defekten Lautsprecher. Dirk antwortet und stellt fest, dass auch seine Worte entstellt sind. Er will den beiden sagen, dass er sie nicht verstehen und auch nicht antworten kann, versucht mit aller Kraft, Gewalt über seine eigene Sprache zu bekommen, aber es will ihm nicht gelingen. Die beiden Männer scheinen Dirks Schwierigkeiten nicht zu bemerken. Sie reden weiter in verzerrter Nichtsprache auf ihn ein und er antwortet auf dieselbe Weise.

Irgendwann ist die ergebnislose Konversation beendet. Die beiden Männer drehen sich um und gehen über den Rasen davon. Sie machen sich nicht die Mühe, die Gartentür zu öffnen, sondern steigen mit einer Behändigkeit über den Zaun, die Dirk ihnen in diesen Anzügen nicht zugetraut hätte. Er lässt sich in seine Hängematte zurücksinken und sieht wieder in den blauen Himmel mit den zwei blassen Sonnen.

Das ist das Haus

Constanze saß am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Ich gab mir Mühe, auf die Umgebung zu achten, aber diese verlor sich rasch in einer Aneinanderreihung von Schemen und Lichtern.

Wir schienen uns aus der Stadt herauszubewegen, erst in die Vorortbezirke mit ihren eingeschossigen Reihenhäusern und dann noch weiter in ländliches Gebiet. Gebäude und Straßenbeleuchtung wurden immer spärlicher, auch kamen uns weniger Autos entgegen, bis wir einsam über eine unbeleuchtete Straße fuhren. Gelegentlich fiel das Licht unserer Autoscheinwerfer auf die in der Nacht tiefschwarzen Umrisse kahler Bäume. Der Weg krümmte sich häufig, als ob wir einer Serpentinenstraße nach oben folgten. Bald fiel unser Scheinwerferlicht auf ein Haus an der Spitze des Hügels, eine Villa mit zahlreichen Erkern und Türmchen, die aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen schien.

Constanze stoppte den Wagen.

„Wir sind da“, sagte sie. „Das ist das Haus.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wer wohnt dort?“, fragte ich. „Was ist das hier?“

Constanze lachte auf.

„Das ist das Haus“, wiederholte sie. „Du weißt es wirklich nicht, oder?“Ich spürte mein Herz wild schlagen, eine plötzliche Aufwallung von Furcht.

Hatte Constanze mich in eine Falle gelockt? Warum vertraute ich ihr überhaupt?

Sie stieg aus dem Wagen.

„Komm schon“, sagte sie. „Du willst doch nicht die ganze Nacht hier draußen herumsitzen?“

Mit diesen Worten ging sie auf die Villa zu, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich zögerte. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Constanze hatte recht: Ich wollte nicht die ganze Nacht im Wagen sitzen. Der Autoschlüssel steckte nicht mehr, sie trug ihn bei sich, sodass mir nichts anderes blieb, als zu Fuß in die Stadt zurückzulaufen.

Also stieg ich ebenfalls aus, um Constanze zu folgen. Ich sah sie durch eine schmale Pforte neben der Treppe zum Haupteingang verschwinden. Obwohl ich mich beeilte, war ich zu langsam. Die Tür schlug zu, bevor ich sie erreichte.

Ich klopfte, rief Constanzes Namen, aber alles blieb still und dunkel. Entweder konnte sie mich nicht hören oder sie ignorierte mich.

Unschlüssig stand ich eine Zeit lang in der kalten Nachtluft. Wohin sollte ich mich wenden? Schließlich stieg ich die Treppe zum Haupteingang hinauf, um dort mein Glück zu versuchen. Tatsächlich fand ich einen Türflügel nur angelehnt. Ich überlegte nicht lange und trat ein, wenigstens war ich drinnen vor dem schneidenden Wind geschützt. Mich erwartete eine dämmrige Eingangshalle, nur sporadisch von einigen schwachen, in die Wand eingelassenen Lampen erhellt. Was die Bilder an den Wänden zeigten, konnte ich in dem schlechten Licht nicht ausmachen, aber ich bekam vage den Eindruck von Stadtlandschaften aus dunklen, turmhohen Gebäuden und Naturbildern, die zwei Sonnen oder drei Monde zeigten.

Ich wollte nach Constanze rufen, entschied mich jedoch im nächsten Moment anders. Woher sollte ich wissen, wer sich sonst noch in diesem Haus aufhielt? War ich hier überhaupt willkommen?

Willkürlich schlug ich eine Richtung ein, folgte einem engen Korridor, in dem die Beleuchtung so spärlich war, dass ich Boden, Wände und Decke nur als Umrisse wahrnahm. Der abgestandene Geruch der Villa stieg mir in die Nase, vermittelte den Eindruck eines lange Zeit leerstehenden Gebäudes.

Warum hatte Constanze uns hierher gebracht? Wen hoffte sie hier zu treffen?

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich während unserer nächtlichen Fahrt keine entsprechende Frage gestellt hatte. Die Erschöpfung hatte mich wirr und nachlässig gemacht, mit dem Ergebnis, dass ich in der Dunkelheit eines unbekannten Hauses mitten im Nirgendwo stand.

„Gar schrecklich ist es, in die Hände des Lebenden Gottes zu fallen.“

Die Stimme hallte durch den Korridor.

Ich fuhr zusammen, sah mich in alle Richtungen um, entdeckte aber niemanden.

„Wer ist da?“, rief ich und hätte mir im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.

Spätestens jetzt wusste wohl jeder im Haus, dass ich hier war. Mit Schweiß auf der Stirn hastete ich weiter. Bloß nicht stehenbleiben. Die Furcht entdeckt zu werden, trieb mich vorwärts.

Ich kam zu einer Tür, riss sie auf, schlüpfte hindurch und schloss sie hinter mir. Dabei achtete ich darauf, sie nicht zu hastig zu schließen, um nicht noch mehr verräterische Geräusche zu verursachen.

Ich stand in völliger Dunkelheit, tastete umher, fand einen Schalter, den ich drückte. An der Decke glomm eine nackte Glühbirne auf. Ich fluchte. Anscheinend war ich in eine Abstellkammer geraten: Ein schmaler Raum mit nur einer Tür, ohne Fenster. In einem Eck standen mehrere Eimer, Schrubber und Besen, daneben ein zweitüriger Metallschrank.

In meiner Ratlosigkeit öffnete ich den Schrank. Darin stand ein Spaten. Ich nahm den Spaten, wog ihn in beiden Händen. Wenn schon sonst nichts, dann war er vielleicht eine brauchbare Waffe.

Doch da war noch etwas anderes. Die Berührung des Holzgriffes rief etwas in mir wach. Wann hatte ich ein solches Werkzeug das letzte Mal in der Hand gehalten?

Kopfschmerzen wummernd und unerträglich überkamen mich. Bilder fluteten mit solcher Heftigkeit durch meinen Verstand, dass ich aufstöhnte.

Die Welle aus Eindrücken schien mich fortzuspülen. Ich lehnte mich an die Wand hinter mir, sank dort langsam in mich zusammen. Etwas verbarg sich in meinem Verstand und würde jeden Moment gewaltsam hervorbrechen. Ein Wald, Dunkelheit, die Rufe von Nachttieren. Eine schattenhafte Gestalt im Mondlicht …

Wolkenwellen

Der Club schloss gegen fünf Uhr. Thomas’ und meine Aufgabe war es, die letzten Gäste hinauszugeleiten, bevor die Bedienungen abräumten und der Putztrupp anrückte.

„Lass den Kopf nicht hängen“, sagte Thomas zum Abschied und klopfte mir auf die Schulter.

„Werd’ ich schon nicht“, gab ich zurück.

Um nach Hause zu kommen, nahm ich die U-Bahn. Zu dieser Zeit bevölkerten die traurigen Reste des Nachtlebens das Abteil: Frauen und Männer, denen man Müdigkeit und Alkohol überdeutlich ansah. Außerdem gab es noch ein paar gedeckter gekleidete Leute, die nicht ganz so erschöpft wirkten und die vermutlich zu ihrer Frühschicht fuhren oder, wie ich, gerade von der Nachtschicht kamen. Viele starrten auf ihre Telefone, nur wenige unterhielten sich, manche hockten zusammengesunken auf ihrer Bank und dösten vor sich hin.

Ich lehnte meinen Kopf gegen das Plexiglas der Fensterscheibe. Erschöpfung schloss mir bald die Augen.

Am Knarren des Sitzpolsters hörte ich, dass in meiner unmittelbaren Nähe jemand Platz nahm. Mäßig interessiert hob ich den Kopf.

Ich sah in Tessies Gesicht.

Sie saß mir gegenüber, als wäre sie aus meiner vagen Erinnerung gefallen. Meine Frau sah mich unverwandt an, blinzelte nicht.

„An diesem Strand die Wolkenwellen brechen“, sagte sie.

Ich fuhr zusammen, als hätte ich einen Stromschlag erhalten, wollte schreien, aber aus meiner Kehle kam nur heiseres Krächzen.

Tessie verschwand. An ihrer Stelle saß jetzt eine junge Frau mit verschmiertem Make-up und zerzaustem, halblangem Haar. Sie sah mich verblüfft an.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie.

Mein Entsetzen stand mir wohl allzu deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Schon gut.“ Ich schüttelte den Kopf, spürte kalten Schweiß auf meiner Brust und meinem Rücken.

Sie zeigte mir ein schiefes Grinsen. „Harte Nacht gehabt, was?“

„Kann man so sagen.“ Ich atmete tief durch, um mein rasendes Herz zu beruhigen.

„Du hast mich wohl mit jemandem verwechselt“, sagte die Frau. „Ich bin Camilla.“

Ich nannte meinen Namen.

„Freut mich, Dirk.“ Sie lächelte mich an.

Ich fand, dass sie ein sehr schönes Lächeln hatte, es drängte die Panik und Desorientierung zurück, die mich noch vor Augenblicken in ihren Klauen gehalten hatten.

Die Blechstimme der automatisierten Durchsage verkündete meine Haltestelle. Ich stand auf und verabschiedete mich von Camilla.

Sie lächelte noch einmal. „Dann mach’ es gut. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder.“

Ich wusste nicht warum, aber aus einem Impuls heraus, reichte ich ihr zum Abschied die Hand. Die Wärme ihrer Handfläche gefiel mir, aber dann stoppte der Waggon, die Türen öffneten sich zischend. Noch ein kurzes Abschiedswort und schon stand ich auf dem in graues Licht getauchten Bahnsteig.

Lagebesprechung

Die beiden Männer sitzen sich gegenüber. Ein blanker Holztisch steht zwischen ihnen, vor dem einzigen Fenster im Raum ist nur Schwärze zu sehen. Das Licht stammt von einer kahlen, von der Decke hängenden Glühbirne.

Die Köpfe der beiden Männer sind vollständig haarlos. Nicht nur das Haupthaar fehlt, sie besitzen auch weder Bartansatz noch Augenbrauen. Beide scheinen etwa gleich alt zu sein und ihre konturlosen Gesichter ähneln sich so sehr, dass sie Zwillinge sein könnten.

„Was denken Sie, wird er unternehmen, Krüger“, fragt der erste Mann.

„Das kommt darauf an, wieweit er sich seiner Handlungen bewusst ist, Müller“, antwortet Krüger.

„Wir können es also nicht voraussehen?“

„Nur bedingt.“

„Was folgern wir daraus?“

„Dass wir den Dingen ihren Lauf lassen, bis wir wieder in Erscheinung treten müssen.“

„Gibt es Hoffnung?“

Krüger schweigt eine Weile, bis er langsam den Kopf schüttelt.

„Die gab es nie“, antwortet er schließlich.

Die Tür des Raumes öffnet sich. Eine Gestalt tritt ein. Die beiden Männer drehen die Köpfe in Richtung des Neuankömmlings. Das Licht der Glühbirne fällt auf eine bleiche Maske. Eine zerschlissene, gelbe Robe flattert in einem Wind, den die beiden Männer nicht spüren.

„Das ändert die Sachlage natürlich“, sagt Müller.

„Wir müssen mit etwas anderem beginnen“, sagt Krüger.

„Also ein kompletter Neuanfang?“

„Nicht ganz, die Neuausrichtung wird noch Teile des Alten beinhalten.“

Die beiden Männer verstummen. Die in die zerschlissene Robe gekleidete Gestalt legt die Hände auf die Tischplatte, als wolle sie sich darauf abstützen.

Müller schnippt mit dem Finger. Die Glühbirne verlischt.

Spiegel

Verworrene Bilder, Erinnerungen an Tessie, zogen durch meinen Verstand, während ich mich von einer Seite des Bettes auf die andere wälzte. Weitere, noch ungreifbarere Phantasmagorien folgten: Zwei kahlköpfige Männer sprachen mit mir. Ich verstand ihre Worte nicht, aber die beiden schienen Vorwürfe gegen mich zu erheben, auf die ich nichts zu erwidern wusste.

Schließlich öffnete ich die Augen und starrte zur Decke. Irgendwann stand ich auf, ging ins Bad und ließ mir am Waschbecken kaltes Wasser über das Gesicht laufen.

„Weißt du noch?“, fragte eine Frauenstimme.

Ich sah auf. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickte mir ein blasses Gesicht entgegen, das nicht mir, sondern einer Frau gehörte. Einer Frau, die ich einmal gekannt hatte.

„Tessie“, stieß ich hervor.

„Erinnerst du dich etwa nicht mehr?“, fragte sie. „Weißt du nicht mehr, was damals in der Villa passiert ist?“

Ich schüttelte den Kopf. Der Boden unter mir schien zu schwanken und ich musste mich mit beiden Händen am Waschbecken festhalten.