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Titel der englischen Originalausgabe: The Love Keys
Titel der aktuellen englischen Ausgabe: The Heart of Tantric Sex

Ebook-Ausgabe 2016
Umschlaggestaltung: Silke Bunda Watermeier www.watermeier.net
Übersetzung: Pavitra Wolf
Lektorat: Ela Buchwald
Illustrationen© Diana Richardson
Copyright© Diana Richardson
Copyright© der Übersetzung, Innenwelt Verlag GmbH
Copyright© der Osho Zitate, Osho International Foundation, Schweiz
Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur
mit Genehmigung der Innenwelt Verlag GmbH, Köln

www.innenwelt-verlag.de

ISBN 978-3-942502-80-1

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INHALT

Einleitung

Teil I Die Wurzeln

Sex in einem neuen Zusammenhang sehen

Sexuelle Konditionierung

Polarität und die positiven Pole der Liebe

Bewusstsein von Körper und Geist

Zurück zur Unschuld Die - Liebesschlüssel

Teil II Die Liebesschlüssel

Die Augen

Der Atem

Kommunikation

Genitales Bewusstsein

Berührung

Entspannung

Weiche Penetration - Die weiche Verbindung

Tiefe Penetration - Die tiefe Verbindung

Rotierende Stellungen

Teil III Die Reise

Trefft eine Verabredung zum Liebemachen

Ein frischer Blick auf das Vorspiel

Gefallen wollen und Leistung bringen

Orgasmus und Ejakulation

Nichtejakulieren

Vorzeitige Ejakulation

Erektion und Impotenz

Gefühle und Emotionen

Frauen, Emotionen und das Herz

Lebenszyklen und Safer Sex

Ohne Partner

Ein Raum für die Liebe

Lichtkreis Atmung - Meditation auf Licht

Nachwort

EINLEITUNG

Als ich zum ersten Mal Sex hatte, war ich furchtbar enttäuscht. Ich erinnere mich noch genau daran, denn ich hatte Liebe erwartet, und dass es etwas ganz Besonderes sein würde. Nun fragte ich mich: „Und das soll alles gewesen sein? Da muss doch noch mehr dran sein.“

Obwohl ich später das entwickelte, was andere wahrscheinlich ein gesundes Sexualleben nennen würden, ließ mich seit dieser ersten Erfahrung das Gefühl nicht los, dass am Sex eigentlich mehr dran sein müsste. Auch weil Sex mit riesigen Tabus belegt war, weil es so viele Regeln und Vorschriften gab, wie man sich in Sachen Sex zu verhalten hatte. Mir hatte Sex immer Spaß gemacht, aber er hatte mich nie wirklich in der Tiefe berührt. Ich ging weder so darin auf, noch war ich so involviert, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Als mir klar wurde, dass ich schon oft Sex gehabt hatte, aber immer noch nicht wirklich verstand, wie die sexuelle Energie funktionierte, beschloss ich, die geheimnisumwölkte Materie Sex genauer unter die Lupe zu nehmen. Was mich ermutigte und nicht aufgeben ließ, waren diese versprengten Augenblicke in denen Liebe gegenwärtig war und die sich vom Rest meines Lebens ganz stark abhoben. In diesen Momenten schien die Zeit stillzustehen und elastisch zu werden. Die Luft und der Raum um mich herum dehnten sich aus und eine neue Dimension sinnlicher Wahrnehmung offenbarte sich. Es war, als wäre ich plötzlich richtig lebendig und eine innere Energie würde die Führung übernehmen. Ich hatte keine Ahnung, wie und warum das so war, aber es machte mir Hoffnung, dass am Sex mehr dran war und es für mich noch etwas zu entdecken gab.

Inzwischen weiß ich, dass es nicht nur mir so geht. In meiner umfangreichen Arbeit mit Paaren habe ich im Laufe der Jahre viele Menschen getroffen, die ebenso enttäuscht gewesen waren wie ich und die sich die gleichen Fragen gestellt hatten. Genau wie ich damals, fühlten sie sich in einem Kreislauf gefangen, der sich jedes Mal, wenn sie Liebe machten, wiederholte und der selten etwas Neues oder Kreatives mit sich brachte. Schließlich schlichen sich Desinteresse und Langeweile ein. Manche versuchten es mit aufreizender Kleidung und Sexfilmen, andere wechselten häufig den Partner, um dafür zu sorgen, dass Sex interessant und aufregend bleibt. Doch auf Dauer ist das alles nicht wirklich befriedigend. Auch wenn ein Paar sich weiterhin liebt, geht die gegenseitige Anziehung oft verloren, und die Partner leben ihre Liebe nicht mehr auf der körperlicher Ebene. Früher oder später trennen sie sich vielleicht. Nichtsdesotrotz sind wir alle auf der Suche nach einem Weg, wie wir unsere Liebe leben können. Denn danach sehnen wir uns zutiefst, und das hört niemals auf.

Nachdem ich viele Jahre intensiv auf diesem Gebiet geforscht hatte, fand ich heraus, dass die Erfahrung von Tantra – mich in die sexuelle Energie hineinzuentspannen statt Druck aufzubauen – mir das gab, wonach ich mich mein ganzes Leben instinktiv gesehnt hatte. Es war, als hätte ich die Schlüssel gefunden, die eine Tür nach der anderen öffneten. Es war ein Prozess, in dem sich mir uralte Geheimnisse sexueller Energie offenbarten, die meine Seele berührten und mir ungeahnten inneren Frieden schenkten. Es galt, eine völlig neue Sprache zu erlernen, die nach und nach zur Grundvoraussetzung dafür werden sollte, dass Sex und Liebe zu einer erhebenden Erfahrung wurden.

Diese Sprache hat mir eine ganz neue und andere Welt eröffnet, in der die sexuelle Gier verschwand und stattdessen Kreativität aufblühte. Ich stellte fest, dass mich viele meiner Ideen über Sex behinderten und dass ich, um die neue Sprache zu erlernen, die alte erst einmal verlernen musste. Ich brauchte einige Monate, um die ganzen Missverständnisse hinter mir zu lassen, die die Gesellschaft mir beigebracht hatte. Schließlich fand ich eine neue Herangehensweise, ohne den Zwang, einen Orgasmus haben zu müssen. Dabei hatte ich immer gedacht, dass der Orgasmus beim Sex das Wichtigste war.

Wie man die Liebe frisch und jung erhält, ist heute eine echte Herausforderung für Paare. Ja, wie können wir die Liebe stärken und wachsen lassen? Tantra ist ein einzigartiger und intelligenter Ansatz, der uns Antworten auf diese Fragen gibt, wie wir unsere Intimität stärken und die Liebe vertiefen können. Tantra lädt uns ein, uns zu entspannen, alle Spannungen hinter uns zu lassen. Und erstaunlicherweise bringt der tantrische Weg auch mehr Freude und Erfüllung in unser gesamtes Leben. Genau danach sehnen sich viele zutiefst, wissen aber nicht, wie sie es realisieren können.

Ein Freund von mir hatte ein Problem. Er war in zwei Frauen gleichzeitig verliebt und darüber sehr verwirrt. Er litt darunter, dass er sich nicht entscheiden konnte, und ging zu einer Therapeutin, die ihn fragte: „Mit welcher der beiden Frauen macht dir der Sex mehr Spaß?“

„Mit Katja“, sagte er.

„Dann bleib bei Katja“, lautete der Rat der Therapeutin.

Als mir mein Freund diese Geschichte erzählte, befand ich mich in meiner langjährigen Beziehung gerade in einer Phase der Stagnation. Der Sex hatte seinen Reiz verloren. Damals verstand ich die Antwort der Therapeutin nicht, aber heute verstehe ich, was sie gemeint hat. Ich habe verstanden, dass eine Beziehung sehr viel bessere Chancen hat, wenn der Sex erfüllend ist. Sexuelle Übereinstimmung ist die Grundlage für Intimität und Ehrlichkeit und für liebevolle Zweisamkeit. Wenn der Sex hingegen eine Quelle der Unzufriedenheit ist, kann das ein Nährboden für Unmut, Frustration und Ängste sein, und nach und nach können die Liebe und die Übereinstimmung zwischen zwei Menschen verloren gehen, was letztendlich zur Trennung führen kann.

Wir wissen in unserer Gesellschaft so erschreckend wenig über die sexuelle Energie, dass es normal zu sein scheint, dass junge Menschen in ihrer Unwissenheit mühevoll im Dunkeln tappen, wenn sie dabei sind, diese natürliche Lebenskraft zu entdecken. Wir zahlen einen hohen Preis für unsere ersten glücklosen sexuellen Erfahrungen und unwissenden Versuche, denn wir bewahren sie in uns als trübe, unverarbeitete Erinnerungen und sie begleiten uns später Tag für Tag. Sex, Liebe und Nähe können zu einem Alptraum werden, der sich aus dieser Unsicherheit und unserem Mangel an Vertrauen speist.

Tantra ist eine uralte Kunst und ein Gegenmittel dafür; eine Umerziehung in Sachen Sex, und eine Unterweisung, die unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern versagt geblieben ist. Mit der Zeit hat mir das Experimentieren mit Tantra gezeigt, wie man auf eine neue Art Liebe machen kann, die nicht nur mein Sexleben erfüllter gemacht hat. Auch meine Erfahrungen mit Liebe und mein Leben insgesamt sind erfüllter geworden. Vorher hatte ich das Gefühl, in seichtem Gewässer zu schwimmen, ich war mir nicht sicher, was meine Aufgabe war und welche Rolle ich in diesem Leben zu spielen hatte.

Als ich zusammen mit meinem Partner begann, die tantrischen Lehren anzuwenden, und wir in tiefere sexuelle Gewässer vorstießen und sich dadurch unsere Liebe vertiefte, schlug mein Leben eine neue Richtung ein, und ich fühlte, dass ich nach Hause gekommen war. Heute kann ich sehen, dass die Wurzeln wahrer Zufriedenheit nicht außerhalb von mir liegen, sondern in mir. Und Sex ist zu einem Instrument für mich geworden, mit dem ich Kontakt mit meinem innersten Kern, meiner inneren Welt der Stille in mir aufnehme. Das hat mir viel mehr Tiefe und Substanz gegeben, als mein Ehrgeiz und meine Erfolge es je tun konnten.

Tantra erinnert uns daran, dass wahre Entspannung beim Sex anfängt. Leider haben wir in unserer heutigen Gesellschaft die Kunst der Entspannung weitgehend verlernt. Und gerade Sex ist für viele von uns zu einer Quelle von Angst und Stress geworden. Unsere Konditionierung bringt zahllose Ängste und sehr viel Stress rund um den Sex mit sich, aber wenn wir erst einmal beginnen, uns während des Sexaktes zu entspannen, werden wir feststellen, dass viele der Ängste und Stressfaktoren ganz natürlich von uns abfallen. Wenn wir uns in die Sexenergie hineinentspannen, wird das innerliche Wohlbefinden, das dadurch entsteht, sich auf unser Leben insgesamt auswirken und auch in anderen Bereichen eine entspannte Qualität und eine liebevolle Leichtigkeit bewirken. Wenn wir den Sex erforschen, macht uns das mit unserem eigenen Körper und unserer Sexualität vertrauter, und mit dem Körper und der Sexualität unseres Partners. Damit einher geht die simple Wahrheit: Nacktheit ist etwas Heiliges. Und daraus erwächst ein Selbstvertrauen, das auf Selbsterkenntnis beruht. Durch die Erfahrung von Tantra stellen wir fest, dass wahr ist, was wir immer gehofft haben: Liebe und Freude sind für jeden von uns eine erfahrbare Realität und nicht nur ein unerfüllbarer Traum.

Zwei Hauptquellen haben diesen Traum für mich Wirklichkeit werden lassen. Ausgangspunkt meiner jahrelangen Experimente und meine Inspiration waren zwei Audiokassetten mit dem Titel „Making Love“ (Liebe machen) von Barry Long. In diesen Vorträgen stellt Barry Long seine revolutionären Einsichten über Mann und Frau vor und bietet eine vollkommen andere Sichtweise von Liebe und Liebemachen an. Zunächst war ich in meiner Unwissenheit zu stolz, um zuzugeben, dass ich in Wahrheit nicht wusste, wie man Liebe macht.

Etwa fünf Jahre später kam ich auf Barry Longs Lehren zurück, denn in dieser Zeit hatte sich der routinemäßige Sex für mich erschöpft. Nun hatte sich meine Haltung verändert und ich hörte die Vorträge voller Dankbarkeit. Mir wurde klar, dass es mit Sicherheit etwas gab, das ich über Liebe und Sex noch nicht wusste. Die Tiefe und Detailliertheit der Informationen haben meinen Lebensweg verändert. Dadurch, dass ich die ganze Zeit mit den gegebenen Richtlinien experimentierte, konnte ich mir meine sexuelle Konditionierung ansehen und darüber hinausgehen. Diese Vorarbeiten führten dazu, dass ich eine neue „genitale Verbindung“ entdeckte.

Darüber hinaus haben sie mir ermöglicht, meine zweite Quelle, die Worte meines spirituellen Meisters Osho, auf körperlicher Ebene zu verstehen und aufzunehmen. Oshos Vision schließt Spiritualität durch Sex ein, und er verbindet dies mit der Interpretation antiker tantrischer Schriften, die vor Tausenden von Jahren in Indien entstanden sind. Diese Worte sind ein wahrer Schatz für die heutige Menschheit. Beide Quellen repräsentieren die tantrische Lehre in ihrer höchsten Form.

Mit diesem Buch möchte ich die praktischen Informationen über Sex weitergeben, die in meinem Leben eine subtile und einschneidende Revolution ausgelöst haben. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, eine umfassende Darstellung der Entstehung oder der komplizierten esoterischen Aspekte von Tantra zu sein. Es ist ein persönlicher Erfahrungsbericht.

Das Material ist in drei Abschnitte gegliedert: „Die Wurzeln“ beschreibt das göttliche Potenzial von Sex und Liebe. „Die Liebesschlüssel“ beinhalten praktische körperorientierte Vorschläge. „Die Reise“ beschäftigt sich mit wesentlichen Aspekten von Sex und Sexualität.

Sex ist ein umfassendes Thema, und auch, wenn man versucht, die Information übersichtlich darzustellen, greifen die verschiedenen Themen natürlicherweise doch ineinander und überschneiden sich. Dieses Buch immer wieder zu lesen, während du parallel dazu deine eigenen Erfahrungen sammelst, wird deine Einsichten zum Thema Sex vertiefen, dein Erforschen unterstützen und deine Wahrnehmung schärfen.

TEIL I

DIE WURZELN

 

Inspiration

Der männliche und der weibliche Körper sind sich vom Aufbau her ähnlich, unterscheiden sich aber in vielerlei Hinsicht und ergänzen sich jeweils. Was im männlichen Körper positiv ist, ist negativ im weiblichen; und was im weiblichen Körper positiv ist, das ist negativ im männlichen Körper.

Das ist der Grund, warum beide Körper zu einem Organismus werden, wenn sie sich in einem tiefen Orgasmus vereinen. Was positiv ist, trifft auf das Negative, das Negative trifft auf das Positive, sie verbinden sich und werden zu einem elektromagnetischen Strom.

Daher übt Sex eine so ungeheure Anziehungskraft aus, und ist so ungemein attraktiv. Diese Anziehungskraft besteht nicht, weil der Mensch ein Sünder oder unmoralisch wäre, auch nicht, weil die moderne Welt zu zügellos geworden wäre oder weil es obszöne Filme und Literatur gibt – es ist tief verwurzelt, es ist etwas Existenzielles.

Diese Anziehungskraft besteht deshalb, weil sowohl der Mann als auch die Frau für sich allein nur die Hälfte eines Kreises darstellen. Das Universum ist aber immer bestrebt, Unvollständiges wieder vollständig und ganz werden zu lassen. Dies ist eines der ewig gültigen Gesetze – die Bewegung hin zur Vervollkommnung. Die Natur mag keine Unvollkommenheit – welcher Art sie auch sein mag. Der Mann ist halb, die Frau ist halb, und sie können nur in diesem einen Moment ganz werden – wenn ihr elektromagnetischer Strom sich verbindet und sich ihre Trennung auflöst.

Darum sind die beiden wichtigsten Wörter in allen Sprachen „Liebe“ und „Gebet“. In der Liebe wird man eins mit dem anderen. Im Gebet vereint man sich mit dem ganzen Universum. Und so stimmen Liebe und Gebet in ihrem Innersten überein.

Osho, Das Buch der Geheimnisse, Bd. 2, Kap. 27

 

SEX IN EINEM NEUEN ZUSAMMENHANG SEHEN

Jeder Mensch interessiert sich für Sex. Sex ist das einzige Thema, das über die Jahrtausende bis hin zum heutigen Tag fasziniert, wenn er nicht sogar zur Obsession wird. Man kann sofort spüren, wenn es in einem Gespräch um Sex geht: Die Köpfe werden zusammengesteckt, und es wird mit Nachdruck geflüstert, und die Atmosphäre verdichtet sich sofort. Wenn Leute Angst haben über Sex zu sprechen oder sich für die „tierische Natur“ der Sexualität schämen, kann etwas Trennendes spürbar werden, eine Mauer der Spannung und Isolation umgibt sie.

Ob über Sex geredet wird, ob man ihn ignoriert, unterdrückt oder auslebt, ihn genießt oder durchsteht, er ist einer der wichtigsten Aspekte unseres Lebens.

Sex geht uns nie aus dem Sinn. Er ist ein zentrales Thema unserer Gedanken und Träume. Er ist Teil unserer Körperchemie, denn jedes sterbliche Wesen auf diesem Planeten ist aus dem Sexakt entstanden, durch die Vereinigung männlicher und weiblicher Zellen. Wir erkennen das bereits in unserer frühen Kindheit, wenn wir ganz natürlich und mit unschuldiger Freude unsere Genitalien berühren.

Sexualität begleitet durch unser ganzes Leben hindurch und drückt sich in den jeweiligen Phasen der Entwicklung entsprechend unterschiedlich aus. Sex ist die Quelle von ziemlich viel Schmerz und ebenso viel Vergnügen, von Angenehmem und Unangenehmem. Er bestimmt oft, ob wir glücklich oder unglücklich sind, ob wir beseelt sind oder uns quälen.

Schon allein sich die Fußnägel zu lackieren oder Lippenstift aufzulegen und Parfum oder Aftershave zu verwenden – all das sind Handlungen, um Sex anzuziehen. Heute in höchstem Maße sichtbar, werden wir ständig mit sexuell gefärbten Bildern, Worten und Filmen überflutet. Die Medien benutzen Sex, um zu werben, jemanden in Verruf zu bringen, Skandale zu provozieren. Und Menschen benutzen Sex, um Kontrolle auszuüben, anzulocken, zu missbrauchen oder den anderen zu verlassen. Unsere Fixierung auf Mode und Aussehen hat eine Menge mit Sex zu tun.

Wenn uns jemand attraktiv findet, verleiht uns das Vitalität und Selbstvertrauen, selbst wenn wir diese Person nicht sonderlich toll finden. Wird die Anziehung erwidert, sehen wir die Möglichkeit, dass daraus Liebe entstehen könnte, und das erfüllt uns mit Freude. Denn das ist es, wonach wir uns alle eigentlich sehnen: zu lieben und geliebt zu werden. Nichts ist wichtiger als das. Und wenn wir jemanden lieben, wird Sex zum gängigen Mittel der Kommunikation.

Sex kann aber auch der Grund für Kommunikationsprobleme, Streit, Gewalt, Verwirrung, Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit sein. Ich habe gehört, dass Männer alle drei Minuten und Frauen alle sechs bis sieben Minuten an Sex denken. Wie auch immer diese Statistik aussehen mag, Tatsache ist, dass wir Menschen in einer fortwährenden Beziehung mit der Sexualität stehen, ob uns das nun gefällt oder nicht.

Sexuelle Energie und Lebensenergie

Es gibt einfach keinen Weg, sexuelle Energie zu unterdrücken. Sie ist unsere reine Lebenskraft. Auch wenn wir in unseren Gedanken häufig die sexuelle von „anderer“ Energie zu trennen versuchen: In Wahrheit handelt es sich um ein und dieselbe Energie. Energie ist schlicht und einfach Energie, mit der natürlichen Fähigkeit, sich zu bewegen. Und die Lebenskraft bewegt sich, ob durch Sex oder Überlebenswillen, durch Kunst, Sport oder Musik. Selbst wenn wir es versuchten, könnten wir diese Energie nicht unterdrücken oder ignorieren. Wir können nur lernen, sie auf intelligente und unbefangene Weise fließen zu lassen. Und obwohl Sex ein so weit verbreitetes Thema ist, gibt es Wenige, die einen Weg gefunden haben, eine erfüllende Sexualität zu leben oder Sex mit ihrem Herzen zu verbinden.

Untersuchungsergebnisse moderner Forschung haben gezeigt, dass eine „durchschnittlich“ sexuell aktive Person, wöchentlich zwanzig Sekunden orgasmische Ekstase erlebt, das sind neunzig Sekunden im Monat, und somit achtzehn Minuten im Jahr. Diese Berechnung basiert auf einem Orgasmus, der zehn Sekunden andauert. Und diese zehn Sekunden können für uns ja schon eine ziemliche weltbewegende Errungenschaft sein! Dann haben wir also in fünfzig Jahren sexueller Aktivität das Privileg, insgesamt ungefähr fünfzehn Stunden lang Ekstase zu erleben. Das ist erstaunlich – und erschreckend –, wenn man bedenkt, wie oft wir Liebe machen, und wie viel Zeit wir darüber hinaus damit verbringen, davon zu träumen und/oder uns den Kopf darüber zu zerbrechen!

Ganz offensichtlich sind Liebe und Sex für die meisten von uns keine wirklich erfüllende Angelegenheit. Sex ist nicht die beseelende, unschuldige, spirituelle Kraft, die er sein sollte und die uns in eine Welt voller Liebe und wahrer Leidenschaft bewegt. Er erfüllt uns weder auf einer tiefen Ebene, was uns die Kraft verleihen würde, unseren Alltag mit Enthusiasmus zu begegnen, noch hat er die Kraft, uns über den Druck und die Beschränkungen unseres Alltagslebens hinauszutragen.

Sexuelle Probleme zwischen Mann und Frau sind weit verbreitet, es gibt sexuellen Missbrauch, Frigidität, vorzeitige Ejakulation, Impotenz und sexuelles Desinteresse.

Sex und Intelligenz

Um dem entgegenzuwirken und die tiefe sexuelle Befriedigung zu erfahren, die wir eigentlich suchen, müssen wir einen intelligenteren Blick auf unsere Sexualität werfen. Wir sollten anfangen den Sex in einem neuen Zusammenhang zu sehen, aus einer anderen Perspektive.

Es ist gut, hinter die Ebene der Fortpflanzung zu blicken und aus dem Belohnungssystem von sofortiger körperlicher Lust auszusteigen. Dieser neue Blick wird uns frische Einsichten über die sexuelle Energie bringen – auf was sie am besten anspricht und wie wir Sex nutzen können, um die Liebe zwischen Mann und Frau stets neu zu gestalten. Die gute Nachricht dabei ist, dass Sex eine ungemein gesunde und stärkende Kraft ist, die wir genießen und zu unserem großen Vorteil nutzen können.

Sex in seiner höchsten Form trägt etwas Göttliches in sich. Er bringt uns dazu, wirklich „hier“ zu sein und die Unmittelbarkeit dieses Augenblicks zu spüren, in dem wir uns glücklich und wunderbar leicht fühlen. Es ist eine orgiastische biologische Ekstase, die aus dem dynamischen Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte entsteht und die unsere Seele nährt. Leider vertreten viele Religionen die Ansicht, Sex würde uns auf dem Weg zu Gott ablenken. „Ignoriere Sex um jeden Preis“, haben einige von uns gelernt – auch wenn wir in den Nächten feuchte Träume haben und tagsüber wie besessen vom Sex sind.

Das ist ein großes Missverständnis und ein großer Verlust für uns als menschliches Wesen. Wenn Sex auf Fortpflanzung und sofortige Belohnung reduziert wird und man seine Feinheit und spirituelle Bedeutung ignoriert, wird unsere Lebensenergie vergeudet, und das beeinträchtigt uns auf geistiger, körperlicher und seelischer Ebene.

Durch Tantra, der kosmischen Balance zwischen männlicher und weiblicher Energie, von positiv und negativ, dynamisch und empfänglich, können wir die Liebe in unser Leben einladen und es beseelen – innerlich wie äußerlich. Wir können lernen, über die Begrenzungen reiner Biologie hinauszuwachsen. Wir bekommen die Chance, zu unserer wahren Natur als Mann und Frau zurückzufinden, und die innere, spirituelle Sprache der Liebe zu entdecken: durch den körperlichen Akt des Liebemachens selbst.

Das ist ein anderes Bild von Sex als das, was uns vererbt wurde. Tantra gibt uns dieses neue Verständnis und eine völlig andere Vision vom Sex und dessen Funktion.

Die Phasen sexueller Energie

Die sexuelle Energie bewegt sich kreisförmig im menschlichen Körper, entlang innerer Kanäle, und man unterscheidet dabei zwei Phasen.

Die erste Phase und die Initialzündung sexueller Energie beginnt im Gehirn, bevor sie sich kreisförmig nach unten zu den Genitalien bewegt (siehe Abb. 1). Genauer gesagt, sondert die Hirnanhangsdrüse (Hypothalamus und Hypophyse) und die Zirbeldrüse (Epiphyse) Hormone ab, die das endokrine System im Körper kontrollieren, zu dem auch die Geschlechtsdrüsen zählen. Diese Hormone sorgen für sexuelles Wohlbefinden und dafür, dass wir bereit sind für den Geschlechtsverkehr. Dies ist die erste und absteigende Hälfte des Kreises – vom Gehirn zu den Genitalien. Sie ist als biologische oder reproduktive Phase der sexuellen Energie bekannt. Hier wird die sexuelle Energie, die wir durch Sex aufgebaut haben, durch den Orgasmus oder die Ejakulation ständig entladen.

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Abb. 1 Biologische oder reproduktive Phase sexueller Energie

Das Geheimnis und Hauptinteresse von Tantra besteht darin, die sexuelle Energie im Körper zu belassen. Die sexuelle Energie wird nicht gewohnheitsmäßig im Orgasmus oder durch Ejakulation entladen, sondern bleibt im Körper und geht zurück in den inneren Kreislauf. Dadurch erhöhen wir unser orgasmisches Potenzial. In dieser zweiten und aufsteigenden Phase erhält die sexuelle Energie die Gelegenheit, wieder zurück zu ihrem Ursprung im Gehirn zu fließen, und so die „Meister“-Drüsen des Körpers, Epiphyse (Zirbeldrüse) und Hypophyse (Hirnanhangdrüse), zu revitalisieren und zu nähren. Diese Drüsen haben tiefen Einfluss auf unsere Gesundheit.

Es ist bekannt, dass sexuelle Aktivität zur Ausschüttung vieler Hormone und hormonähnlicher Substanzen führt, die den Körper positiv beeinflussen. Bereits in der Antike wurde Sex mit einer langen Lebensdauer und spiritueller Erleuchtung in Verbindung gebracht.

Wird die sexuelle Energie re-absorbiert und so zurück in den Körper geführt, wirkt Sex als eine revitalisierende, energetisierende Kraft. Dies nennt man die spirituelle oder schöpferische Phase des Sex (siehe Abb. 2); hier werden die Genitalien also als schöpferische Organe gesehen. Tantra ermöglicht es, den Zugang zu dieser zweiten Phase unserer kreativen sexuellen Energie zu bekommen, indem wir der Energie erlauben, sich nach innen und aufwärts zu bewegen. Wir erkennen, dass Sex dazu genutzt werden kann, lebendiger zu werden, nicht nur, um neues Leben zu erschaffen.

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Abb. 2 Spirituelle oder kreative Phase schöpferischer Energie

Diese spirituelle Phase sexueller Energie entsteht, wenn Mann und Frau lernen, sich im Sex miteinander zu entspannen. Das ist das Gegenteil unserer bisherigen Erfahrung, dass Sex eine anstrengende, spannungsgeladene und unter Druck ausgeübte Aktivität ist. Wir glauben, je mehr wir beim Sex tun, umso mehr wird passieren und umso größer wird unsere „Belohnung“ sein. Wir denken kaum jemals daran, es uns leicht zu machen!

Was wir nicht begreifen ist, dass wahre sexuelle Ekstase Hand in Hand geht mit körperlicher Entspannung. Je mehr wir uns entspannen, desto mehr fühlen wir. Tatsächlich sind Ekstase und Anspannung diametrale Gegensätze; Anspannung erzeugt Hitze und Ruhelosigkeit, während Ekstase aus einer kühlen Haltung und aus einem inneren Einklang heraus entsteht. Anspannung engt ein und zieht zusammen, während Entspannung öffnet und ausdehnt. Anspannung erzeugt einen Höhepunkt, während Entspannung ein Tal erzeugt. Anspannung braucht Entladung, während Entspannung ermöglicht, etwas aufzunehmen.

Die Atmosphäre von Tantra ist Entspannung. Wenn wir uns also in unsere sexuelle Energie hineinentspannen, statt sie auf einen Höhepunkt zusteuern zu lassen, um sie dann zu entladen, entsteht daraus mehr Lebensenergie und mehr Liebe. Indem wir die sexuelle Energie durch Entspannung umlenken, können wir sie nach innen und nach oben leiten, wo sie automatisch vom Körper wieder aufgenommen und in den Kreislauf zurückgeführt wird (siehe Abb. 3).

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Abb. 3 Vollständiger sexueller Energiekreis, mit zurückgeleiteter sexueller Energie, die sich spiralförmig durch die Energiezentren bewegt

Tantra nennt diesen Schritt „Den Fuß auf die erste Sprosse der inneren Wachstumsleiter setzen.“ So öffnet sich eine vernachlässigte Energiebahn und verschafft sich mit der Zeit einen Weg in das Zentrum unseres Körpers. Das können wir als ein fließendes Strömen von den Genitalien aufwärts erleben, als eine Art wunderbar goldenes Strahlen. Wenn wir die spirituelle Phase des Sex stärken, statt sie zu behindern, wie wir es in unserer Unwissenheit tun, wird das Liebemachen zu einer heiligen Erfahrung – voller Wunder.

SCHLÜSSEL

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Sexuelle Energie ist Lebensenergie, die in jedem von uns fließt.

Indem wir unsere männlichen und weiblichen Energien in Balance bringen, können wir eine gesunde, stärkende sexuelle Beziehung genießen.

Wir können unsere sexuelle Energie in der herkömmlichen Weise in Richtung Orgasmus steuern oder wir können sie zurückführen, damit sie uns mehr Energie und mehr Liebe schenken kann.

Sex wird auf kreative Art und Weise in eine wirklich erhabene Erfahrung verwandelt.

 

SEXUELLE KONDITIONIERUNG

Wenn Sex eine natürliche und so wesentliche Kraft ist, wie konnten wir dann den Kontakt zu diesem tieferen orgasmischen Potenzial verlieren? Wieso haben wir das Wissen um die Kunst, Liebe zu erschaffen und lebendig zu halten, verloren? Warum sind wir so auf den Orgasmus fixiert?

Die Antwort lautet: Je zivilisierter wir wurden, desto unbewusster sind wir geworden. Über die Jahrtausende sind Männer und Frauen enorm aus der Balance geraten. Wir sind immer zeit- und zielorientierter, und unter diesen Bedingungen verkümmert dann wirkliche Liebe und erfüllender Sex.

Mit der fortschreitenden technischen Entwicklung sind wir süchtig danach geworden unsere Ziele zu erreichen. Wie auch immer sie aussehen mögen; wir stehen unter Zeitdruck, Leistungsdruck, Zukunftsdruck. Je höher entwickelt ein Land, desto wichtiger ist der Zeitfaktor. Die Menschen leben mit vollgepackten Terminkalendern, in denen eine Verpflichtung die nächste jagt. Das erzeugt so viel Druck, dass wir nicht nur unsere Liebesfähigkeit verlieren, sondern in der Tat krank werden. Stress ist zu einem extrem hohen Prozentsatz für Krankheiten in unserer modernen Welt verantwortlich. Entspannung und innere Gelassenheit sind etwas so Unbekanntes geworden, dass wir unruhig werden und uns gelangweilt fühlen, wenn wir einmal nichts „tun“. Wir suchen Action, Erregung, Spannung. Es hat den Anschein, als hätten wir die Regeln der Natur auf den Kopf gestellt. Mit der Uhr zu leben und im Wettstreit mit ihr scheint unserem Leben Bedeutung zu verleihen, während das „Sein“, Stille und Ruhe Angst bei uns auslösen.

Warum sind wir beim Sex so zielgerichtet?

Wie oft hast du zu deinem Partner oder dir selbst gesagt: „Ich würde gern Liebe machen. Ich habe aber einfach keine Zeit.“ In einer Hinsicht stimmt das, denn erfüllender Sex braucht Zeit. Machen wir schließlich doch Liebe, haben wir es aber eilig, wollen zum Ende kommen, zum Orgasmus. So sind wir uns selbst immer voraus, sind nicht wirklich „hier“. Wir sind auch nicht wirklich zusammen mit dem oder der anderen, sondern benutzen uns eher gegenseitig. Jede Bewegung oder Berührung ist auf das Erreichen unseres Ziels ausgerichtet. Der Orgasmus ist zum einzigen Mittel der Befriedigung geworden, und wir denken, dass Sex nicht wirklich Sex ist, wenn wir nicht „kommen“ und es keinen Höhepunkt gibt, in dem sich die Energie entlädt.

Wenn das allein unser Erleben ist, dann machen sich Millionen von Frauen Sorgen und haben seelischen Stress, wenn sie den ohnehin meist schwer zu erreichenden Orgasmus nicht bekommen. Und viele Männer beunruhigt es, dass sie viel früher ejakulieren, als sie möchten, bzw. so früh, dass sie ihre Partnerin nicht „befriedigen“ können. Und wenn wir nicht „zusammen kommen“, dann empfinden und fühlen wir uns so, als ob wir etwas verpasst oder versagt hätten oder dass sexuell etwas mit uns nicht stimmt.

Der Drang nach dem Orgasmus arbeitet unbewusst in uns, fast wie ein automatischer Reflex, und lässt uns nicht wirklich den Spielraum, ihn einmal nicht direkt anzusteuern. Der Wunsch danach ist so stark und scheint völlig instinktiv zu sein. Das macht es noch schwerer, uns vorzustellen, dass es auch andere Formen von Sexualität geben könnte! Wir wiederholen unser Verhalten beim Sex, und suchen dabei nach einer Erfüllung, die wir nie erreichen.

Die Tendenz dieser Zielstrebigkeit und die daraus resultierende Eile beim Sex hat es seit Jahrtausenden gegeben. Sie unterdrückt, gepaart mit religiösen Dogmen, unsere sexuelle Energie effektiv und nachhaltig. Wir tragen eine Menge von Ängsten und Spannungen in uns und leben unter hohem Druck, was den Orgasmus und Sex angeht. Unser Genuss bleibt dadurch – uns selbst nicht bewusst – innerhalb fest definierter Grenzen. Wir haben unser Wissen um Alternativen in der Sexualität verloren, und unser sexueller Ausdruck verläuft in festen Bahnen, die uns automatisch auf einer Route halten: So fangen wir an und so hören wir auf. Es ist praktisch Routine.

Ohne dass wir es überhaupt bemerken, sind diese festgelegten Grenzen die reinen Selbstläufer: Unsere Mütter, Großmütter und Urgroßmütter haben ja auch schon so Liebe gemacht, und wenn es für sie gut genug war, warum dann nicht auch für uns? So habe ich gedacht, bis ich begann, Liebe in einem anderen Rahmen zu erforschen, aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Vom Tun zum Sein

Was ist letztendlich dabei herausgekommen, dass wir die sexuelle Energie zwingen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Wir haben die Fähigkeit verloren zu entdecken, wie unsere Genitalien ganz von selbst „Liebe machen“ wollen und was sie „tun möchten“. Wir haben eine feste Vorstellung davon, was wir wollen, und dadurch haben wir nichtsahnend unsere „genitale Intelligenz“ verloren.

Sex ist heute eine Funktion des Verstandes, statt wirklich körperlich zu sein. Diese sexuelle Konditionierung hat zu einem eher extravertierten und biologischen Zugang zum Sex geführt. Unsere sexuelle Energie ist in sich gefangen und unsere Körper sind übermäßig angespannt. Unsere lebenslange Angewohnheit, die sexuelle Energie zu komprimieren und absichtlich – wenn auch unbewusst – in zielgerichtete Bahnen zu lenken, hat diese Energie chronisch verzerrt.

Die körperlichen und emotionalen Spannungen unserer vergangenen Erfahrungen sitzen in den Genitalien und lassen sie viel weniger empfindsam sein, als sie sein könnten. Sex ist heute mehr ein mechanisches „Tun“ und hat natürlich auch die Funktion, für Nachkommen zu sorgen.

Aber wir haben keinen Zugang mehr zu den göttlichen „Seinsaspekten“ der sexuellen Vereinigung. Wir wissen nur, was wir „tun“ müssen beim Liebemachen, aber nicht, wie wir dabei „sein“ können. Stell dir eine Blüte vor, die in einer Knospe verschlossen bleibt und nie die Gelegenheit bekommt, sich zu öffnen und zu blühen. Genauso ergeht es uns. Wir stehen unter chronischer Anspannung und unser sexuelles Zentrum ist so verdreht und verzerrt, dass die Energie, die sich natürlicherweise ausbreiten will, daran gehindert wird, sich über den ganzen Körper hin auszudehnen. Sex wird auf den Bereich der Genitalien beschränkt, und wir sind nicht in der Lage, höhere ekstatische Erfahrungen zu machen.

Das Umlenken der Sexenergie nach innen und nach oben, das für Tantra erforderlich ist, geschieht, wenn sich Körper und Genitalien entspannen, weil sie nicht länger zum Orgasmus gezwungen werden. Dann kann sich diese Energie ausbreiten und wohlig über den Körper ausdehnen.

Nur wenige von uns haben diese Erfahrung gemacht, denn wir sind viel zu angespannt, weil wir versuchen, die sexuelle Energie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wenn dieselbe Energie sich aber frei und eigenständig bewegen kann, wird Sex zu einer herrlichen Mischung aus unbändiger Leidenschaft und berührender Stille.

Kollektive und individuelle Spannungen

Das sexuelle Zentrum ist der Sitz unserer individuellen Psychologie und unserer Persönlichkeit. Hier nimmt unsere Programmierung ihren Lauf. Unsere frühesten unbewussten Eindrücke, die den Sex und das Leben an sich betreffen, werden hier geformt. Sie beeinflussen uns für den Rest unseres Lebens, lange bevor wir sexuell aktiv werden. Die negativen Prägungen, die Jahrhunderte sexueller Missverständnisse, die Kommentare, die Blicke, all das wird in unserem Körper gespeichert, während wir noch jung sind. So erben wir unsere sexuelle Konditionierung, die in Form von körperlichen Spannungen, die uns ruhelos und reizbar machen, in unserem Körper sitzt. Die Spannungen unserer kollektiven Vergangenheit kommen zu den Spannungen unserer individuellen Vergangenheit hinzu; beide können sowohl bewusst als auch unbewusst sein.

Erregung und sexuelle Anspannung

Sobald unsere sexuelle Erregung ein bestimmtes Maß erreicht, lösen die unbewussten Spannungen in uns ein drängendes körperliches Bedürfnis, ein starkes Verlangen nach einem Orgasmus aus. Wenn diese Spannungen ganz vehement in uns einschießen, bewegen wir uns automatisch weg vom Hier und Jetzt und arbeiten mit allen Mitteln auf einen künstlichen Höhepunkt zu, da unser Fokus in der Zukunft liegt. Tatsächlich sind wir beim Sex nicht wirklich präsent, weil wir bereits nach einem bestimmten Ergebnis schielen. So kann die sexuelle Energie keine ermächtigende und bewegende Kraft sein, sondern ist einfach ein Aufladen und ein daraufhin entsprechendes Entladen der Spannung.

Diese sexuelle Spannung bewegt sich selten durch den Körper hindurch oder verlässt ihn jemals ganz. Stattdessen bleibt sie uns als unbefriedigtes Verlangen erhalten, nimmt mit der Zeit zu und sucht ständig nach einer neuen Möglichkeit, sich zu entladen. Das macht unsere Genitalien hart und unempfindlich, und lässt uns selbst emotional, ruhelos, lüstern oder wütend zurück. Wird diese angestaute Energie ausgelöst oder durch sexuelle Stimulation angefeuert, kommt sie zu der bereits angespannten Energie in unserem Sexzentrum hinzu.

Es ist wie beim Fundament eines Hauses: Ist der Grundstock schwach, fehlt es allen Strukturen, die darüberliegen, an Stabilität und Unterstützung von der Basis. Genauso fehlt es den höheren Energiezentren im Körper an Vitalität, Nahrung und Integrität. Wenn die Spannungen, die uns zum Orgasmus drängen also die Basis unseres Liebemachens sind, wird ein eh von Grund auf geschwächtes System einbrechen. Dieser Einbruch, der auf unser empfindsames Sexzentrum einwirkt, reißt automatisch das ganze unbewusste, kollektive, sexuelle Erbe mit sich. Wenn sich der Strom psychologischer Krankheiten und Perversionen aus Tausenden von Jahren heute durch unseren Körper bewegt, geht die eigentliche Unschuld und die Spiritualität des Sexaktes verloren. Dabei handelt es sich im Grunde um eine psychologische Krankheit, die, auch wenn sie sich über den Körper ausdrückt, durch eine Haltung des Verstandes hervorgerufen wird.

Zeit zum Entspannen

Tantra arbeitet direkt mit dem Verstand und der Ruhelosigkeit der Psyche, indem es uns wieder mit unserer eigentlichen sexuellen Natur verbindet. Sex ist ein Aspekt der Seele. Da Herz und Seele heutzutage mit Sex an sich wenig zu tun haben, handelt es sich bei dem wieder neu aufgeflammten Interesse für altes Wissen über Sexualität um einen wirklichen Versuch, der wachsenden Unwissenheit über Sex zu begegnen. Wenn wir Sex intelligent angehen, wenn wir sexuelle Energie auf unschuldige, spielerische, fast kindliche Weise erfahren, ohne von vornherein ein Ziel im Auge zu haben, fangen wir an, unser Gefangensein in persönlicher und kollektiver Vergangenheit zu lösen und uns für eine Welt neuer Erfahrungen zu öffnen.

Zunächst brauchen wir zum Thema Zeit eine andere Haltung, denn Zeit ist das, was wir daraus machen: Ist Zeit Geld, dann übt Zeit Druck aus, mehr Dinge darin unterzubringen und mehr aus ihr zu machen. Wenn Zeit wie in der Natur zyklisch ist, dann entsteht eine Geduld, die den Druck herausnimmt und durch Gelassenheit ersetzt.

Du hast dich bestimmt schon einmal gefragt, wie du z. B. vor einem Flug alles geregelt kriegen sollst. Und dann sitzt du im Flugzeug, alles ist geschafft und du fliegst über den Wolken. Wenn Zeit das ist, was wir daraus machen, dann muss sie flexibel gehalten werden, sodass sie sogar stillstehen kann. Und das geschieht, wenn wir in den gegenwärtigen Augenblick kommen. Deswegen braucht man beim Tantra für das Liebemachen einen Stil, bei der man sich Zeit lässt. Wir haben es nicht eilig, und wir machen uns wegen der Zeit keine Sorgen; so werden wir uns des Augenblicks, der sich in voller Vielfalt zeigt, bewusst.

Als ich in Indien lebte, habe ich erlebt, dass Zeit dort fast unwichtig ist; tatsächlich schert sich niemand wirklich darum. Gestern, heute, morgen – das macht keinen großen Unterschied. Interessanterweise benutzt man auf Hindi für „gestern“ und „morgen“ dasselbe Wort: „kal“! Diese Grundhaltung der Zeit gegenüber verleiht dem gesamten Land eine unheimlich entspannende Qualität, in der Sein wichtiger ist als Tun. Jederzeit kann zum Beispiel ein überfüllter Zug anhalten und fünf Stunden stillstehen, nur zwanzig Minuten vom Zielbahnhof entfernt, kurz vor Ende der Reise. Das habe ich selbst erlebt, und es gab keine Erklärung für diese riesige Verspätung. Alle Passagiere akzeptierten es voller Gelassenheit. Erwachsene entspannten und unterhielten sich und die Kinder bewegten sich im überfüllten Abteil, als wären sie zu Hause, Leckerbissen wurden herumgereicht, und schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Keine Panik oder Aufregung, denn niemand musste sein Ziel zu einer bestimmten Zeit erreichen.

Nachdem ich ein paar Jahre in Indien gelebt hatte und nach Europa zurückgekehrt war, saß ich in einem deutschen Flugzeug von Frankfurt nach Berlin. Der junge Geschäftsmann neben mir sah dauernd auf seine Uhr und war gestresst, weil sich der Abflug um eine Minute verspätet hatte! Als wir fünfzehn Minuten später starteten, war er total wütend, dass die Verspätung seinem Termin in die Quere gekommen war und er ein paar Minuten zu spät zu einer alles entscheidenden Besprechung kommen würde. Den Rest der Reise war er so unruhig, dass er nicht fähig war auch nur einen Moment ruhig oder entspannt zu sein. In den westlichen Ländern bestimmen Ziele, Pläne und die Zeit unser Leben. Es ist heute „cool“ beschäftigt zu sein, und wir halten uns oft beschäftigt, um Unsicherheiten oder Ängste zu vermeiden, die wir vieleicht in Bezug auf Liebe und Intimität haben mögen.

Wie oft bist du zu beschäftigt gewesen, um Liebe zu machen? Und wenn du dann Zeit gefunden hast, war es abends das Letzte, schnell noch fünfzehn oder zwanzig Minuten vor dem Einschlafen. Oder morgens schnell einen Quickie vor der Arbeit. Bei dieser Art Sex ist es die Zeit, die uns diktiert, und sie fordert, dass etwas passieren muss, und zwar schnell! Dieser Anspruch nach schnellem Lustgewinn lässt uns sofort in Richtung Orgasmus steuern, weil es sich so gut anfühlt.

Im Gegensatz dazu sagt Tantra, dass Liebemachen einfach Zeit braucht, viel Zeit, und gar keine Eile. Sexuelle Energie braucht Stunden, um zu entspannen, anzuwachsen und aufzublühen und uns das tiefe Glück eines erfüllenden Liebesaktes zu schenken. Wenn wir diese Gelegenheit wahrnehmen, machen wir wunderbar frische und unerwartete Erfahrungen, bei denen die Energie jedes Mal unterschiedlich schwingt. Das kann uns unmöglich langweilen. Dadurch, dass wir uns in die Unmittelbarkeit des Augenblicks hineinentspannen, bestimmen wir die Dimensionen in Wirklichkeit nämlich selbst – wir machen den Unterscheid.

Eine heilende Kraft

Diese tantrische Dimension öffnet sich uns ganz natürlich und zufällig, wenn wir als Liebespaar entspannt, offen und füreinander da sind, oder frisch verliebt oder vielleicht umgeben vom prächtigen Grün der Natur. Viele von uns haben diese magische Erfahrung gemacht, wenn ein Augenblick sich wie der Himmel anfühlt. Ich erinnere mich, dass es mir spontan in Indien so ging, während eines intensiven Monsunregens am Abend. Das Donnern und die Sturzbäche gaben mir das Gefühl, in einen Wirbelwind von Intensität eingebettet zu sein. Ich lag mit meinem langjährigen Partner zusammen in einem großen Bambusbett, als die Zeit plötzlich stillstand und wir uns wie ein Körper bewegten, leidenschaftlich und ziellos, bewusst im sich entfaltenden Augenblick versunken. Ich war wie golden und fließend, stundenlang ekstatisch erfüllt von Liebe und hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen war. Durch Tantra habe ich jetzt bewusst einen Zugang zu dieser geheimnisvollen Dimension des Augenblicks, nicht mehr nur aus Versehen oder durch Zufall.

Ein Großteil unserer Probleme, Ängste, unseres Unglücks, sogar unserer Krankheiten beruhen auf sexuellen Themen. Wenn wir Sexualität wertschätzen lernen, indem wir unser Bewusstsein miteinbeziehen, so wie es von Natur aus gewollt ist, entdecken wir, dass Sex eine heilende, spirituelle Kraft ist. Und überraschenderweise lässt das sexuelle Interesse mit der Zeit nicht nach, wie es sonst bei Paaren üblich ist. Ganz im Gegenteil, die Anziehung nimmt zu.

Die sexuelle Erfahrung wird mit der Zeit feiner und subtiler, die Genitalien lernen, aufeinander mit einer neuen, sich ausdehnenden „Intelligenz“ zu reagieren. Tantra verbannt die Dunkelheit und bringt Licht ins Leben – und das ist unser Geburtsrecht.

SCHLÜSSEL

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Unsere verspannte sexuelle Konditionierung blockiert unser wahres orgasmisches Potenzial.

Entdecke beim Sex die Reise an sich und denk nicht an ein Ziel.

Entschleunigung beim Sex schafft eine zeitlose Qualität, hilft präsent zu sein.

So entdecken die Genitalien ihre ekstatische Intelligenz wieder.

 

POLARITÄT UND DIE POSITIVEN POLE DER LIEBE

Die größte Einsicht von Tantra, der Grundstein des Tantra sozusagen, sagt, dass männliche und weibliche Energie gleiche aber gegensätzliche Kräfte sind. Sie ziehen sich gegenseitig an und ergänzen einander, so wie Yin und Yang, dynamisch und empfänglich, positiv und negativ. (siehe Abb. 4). Daher kommt es – durch das Zusammenspiel gegensätzlicher Polaritäten, wenn

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Abb. 4 Yin und Yang enthalten jeweils ihre gegensätzliche Polarität im Kern

Mann und Frau sexuell verbunden sind – in der Bioenergie der beiden Körper zu einer ekstatischen sexuellen Erfahrung. Und das geschieht, ohne dass wir etwas tun.

Die tantrische Reise beginnt, wenn wir mit den in uns angelegten männlichen und weiblichen Polaritäten Kontakt aufnehmen und mit ihnen in Verbindung treten. Dass Mann und Frau gegensätzliche Polaritäten oder Kräfte in sich haben, ist dabei wesentlich, denn es führt uns zu einer völlig neuen Sichtweise von Sexualität.

Männliche und weibliche Polarität

Unsere sexuelle Konditionierung hat leider unsere natürliche Polarität verschleiert, und Männer und Frauen haben dadurch im Verhältnis zueinander ihre Balance verloren. Wir können uns die Körper als zwei Magneten vorstellen, die die Fähigkeit haben, in Gegenwart des anderen ein anziehendes magnetisches Feld zu bilden. Statt dass die Pole glänzen und strahlen, um lebendig aufeinander zu reagieren, sind unsere Pole verrostet und verstaubt. Das stört das magnetische Feld und den Energiefluss zwischen ihnen. Dadurch, dass unsere Konditionierung uns in Richtung Orgasmus antreibt, ist es beinahe so, als hätten wir die ursprüngliche Polarität oder Ladung in unserem Körper durcheinandergebracht. Diese Störung wirkt nun wie ein Schleier und verdeckt die männlichen und weiblichen Polaritäten.

Mit anderen Worten: Die ganze Mühe und das Tun, das wir üblicherweise in unser Liebemachen investieren, bewirken so etwas wie Hitze durch Reibung – eine Überladung. Man könnte das mit einer statischen Ladung vergleichen, die die Genitalien stört, sodass die sexuelle Energie nicht durch die Polarität antworten kann. Wenn wir beim Liebemachen gegen die in den Genitalien angelegte Polarität agieren, arbeiten wir ungewollt gegen unser eigenes ekstatisches sexuelles Potenzial an.