Anselm Grün, Michael Grün



Zwei Seiten einer Medaille



Gott und die Quantenphysik








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Vier-Türme-Verlag

VORWORT

M I C H A E L   G R Ü N 


Physik und Religion

M I C H A E L   G R Ü N 

Die Entwicklung der klassischen Physik

Die Physik ist als Lehre von der Natur die Kerndisziplin der gesamten Naturwissenschaften. Ihr Ziel ist, die Natur zu verstehen, indem man die der Natur zugrundeliegenden Prinzipien ergründet und nach Möglichkeit in mathematische Gleichungen bringt. Aus diesen kann dann die zukünftige Entwicklung von Vorgängen ermittelt werden, die mit unseren Sinnesorganen oder Messgeräten wahrgenommen werden.

Einen ganz anderen Zweck verfolgen die Religionen. Religion zu definieren ist nicht so leicht, wenn man alle traditionellen Religionen erfassen will. Der Kirchenlehrer Laktanz deutet Religion sehr allgemein als die Beziehung des Menschen zum Transzendenten, also zu dem, was jenseits des mit den Sinnesorganen Wahrgenommenen ist.

Nach Friedrich Schleiermacher ist Religion das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen von Gott. Damit fühlt sich zwar der Buddhismus nicht vertreten, ich möchte trotzdem Laktanz’ und Schleiermachers Definitionen zusammennehmen, sodass ich Religion als Abhängigkeit des Menschen von Gott und seine Beziehung zum Transzendenten sehe.

Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter waren Physik und Religion nicht zu trennen. Im Dialog »Timaios« schildert Platon, wie der göttliche Demiurg – der göttliche Handwerker – die Welt nach den Vorstellungen und Ideen der Gottheit erbaut. Diese Vorstellung war weit verbreitet und daher war es in der Antike und im Mittelalter selbstverständlich, dass die Erforschung der Natur – also die Physik – auch ein Forschen nach den Ideen und dem Wesen Gottes war.

So sagt etwa der englische Gelehrte Adelard von Bath, der vor allem durch die Übersetzungen arabischer Schriften ins Lateinische berühmt wurde, dass Gott nicht allein durch die Bibel, sondern auch durch die Erforschung der Natur erkannt werde. Ähnlich drücken es Nikolaus von Kues oder Johannes Kepler aus. Sie gehen davon aus, dass man durch Wissenschaft – und damit war die Physik gemeint – zu religiösen Einsichten komme.

Das Verhältnis von Physik und Religion änderte sich dramatisch durch die sogenannte »Klassische Physik«. Galileo Galilei hatte das Experiment als Mittel zur Erkenntnis eingeführt und die Mathematisierung der Natur begründet. Vorher war man der Ansicht, die unvollkommene Natur sei durch die vollkommene Mathematik nicht zu beschreiben.

René Descartes spaltete die Welt in zwei voneinander unabhängige Bereiche auf: in die »res extensa« und die »res cogitans«, in Materie und Geist. Er »entseelte« damit die Materie. Zudem lehrte er die Methode, ein Gesamtproblem in kleine Teilprobleme zu zerlegen. Die Summe der Lösungen der Teilprobleme ergibt dann die Lösung des Gesamtproblems.

Isaac Newton stellte mit seinen Bewegungsgleichungen einen Zusammenhang zwischen der Bewegung von Körpern und wirksamen Kräften dar – egal ob die Körper Billardkugeln, Staubteilchen oder Himmelskörper sind.

Immanuel Kant, der sich selbst als Naturwissenschaftler und nicht als Philosoph verstand, vertiefte die Aufspaltung der Welt in eine objektive und eine subjektive Sphäre. Er zertrümmerte die Metaphysik und leugnete alles Transzendente – nicht jedoch Gott, den er als Postulat der praktischen Vernunft forderte.

Das Gedankengebäude, das vor allem auf den Methoden und Erkenntnissen von Galilei, Descartes, Newton und Kant beruht, nennt man die klassische Physik. Die klassische Physik entwickelte sich ab etwa 1600 zu einer über Jahrhunderte hindurch außerordentlich erfolgreichen Disziplin, die Grundlage der Aufklärung und der industriellen Revolution wurde. Sie war so erfolgreich, dass ihre Methoden und Denkweisen noch heute vor allem in der westlichen Welt vielfach als die einzig gültigen angesehen werden.

Nach dieser klassischen Physik funktionieren das Weltall und alles in ihm wie eine Maschine, wie ein Uhrwerk, das – einmal aufgezogen – von selbst nach den Gesetzen der Physik abläuft. In dieser klassischen Physik gilt ein strenges Kausalitätsprinzip, das heißt jede Wirkung hat eine eindeutige Ursache, also einen Grund, warum sie auftritt.

Nach dieser klassischen Physik kann man, wenn man nur genügend genau die Anfangsbedingungen kennt, eindeutig berechnen, wie es weitergeht. Die Welt ist demnach determiniert und durch den momentanen Zustand festgelegt.

In der klassischen Physik und dem mit ihr verbundenen Denken ist kein Platz mehr für Religion, für Transzendenz, für einen freien Willen, für moralische Begriffe, für Gewissen, für Gefühle wie Sehnsucht, Liebe, Trauer. Gott kann höchstens noch Platz eingeräumt werden als dem Schöpfer und Erbauer der Maschine, keinesfalls aber als jemandem, der noch immer ins Leben und in die Welt eingreift. Gott ist demnach sowohl den physikalischen Gesetzen als auch der Zeit unterworfen, also nicht allmächtig. Und da er nicht mehr ins Geschehen eingreifen konnte, wurde er entbehrlich. Man vergaß ihn oder tat ihn spöttisch ab als eine Umschreibung für das wissenschaftlich noch nicht Gewusste. Selbst als Schöpfer wurde er schließlich nicht mehr von allen akzeptiert, da man teilweise das Weltall als schon immer existent annahm.

Die klassische Physik war so erfolgreich darin, durch Erfindungen dem Menschen das Leben zu erleichtern, Vorgänge zu erklären und die Zukunft von Vorgängen zu berechnen, dass man Ende des 19. Jahrhunderts glaubte, dem Menschen sei in der Beherrschung der Natur und der Erkenntnis der Wahrheit keine Grenze gesetzt. Und man war felsenfest davon überzeugt, dass die klassische Physik die richtige Beschreibung der Welt sei. Man fühlte sich schon nahe an der vollständigen Kenntnis und Beherrschung der Natur, man fühlte sich schon fast »göttlich«.

Diese Hybris möchte ich Ihnen an zwei Beispielen aufzeigen: Als 1874 der hochbegabte 16-jährige Max Planck in München Abitur ablegte, war er sich noch nicht sicher, ob er Altphilologie, Musik oder Physik studieren solle. Deswegen fragte er den Physikprofessor Philipp von Jolly. Der meinte, Physik zu studieren lohne sich nicht mehr, da schon fast alles gefunden worden sei und das wenige noch nicht Bekannte bald gefunden sein werde.

1896 meinte Albert Michelson, der erste amerikanische Physiknobelpreisträger, die zukünftigen Entdeckungen müsste man in der »6. Dezimalen« suchen. Das bedeutet, man wisse in der Physik schon alles, man wisse es aber teilweise nur auf ein Millionstel genau und es bleibe nur noch die Aufgabe übrig, diese Genauigkeit zu verbessern.

Es zeigte sich aber: Der Erfolg einer Theorie ist kein Garant für ihren Wahrheitsgehalt.

Vor allem drei wichtige Teilbereiche der Physik haben im 20. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Physik und Religion herbeigeführt, wenngleich dieser Paradigmenwechsel insbesondere in der westlichen Welt noch längst nicht von allen wahrgenommen wird: Dies sind die Quantenphysik, die spezielle Relativitätstheorie zusammen mit der allgemeinen Relativitätstheorie und viele seit etwa 1925 gemachte Entdeckungen in der Kosmologie.

Ich möchte – sehr unvollständig und teilweise vereinfachend – aus diesen drei Bereichen einige Erkenntnisse schildern, die für die momentane Stellung der Physik zur Religion relevant sind.