2Auch wenn »globale Menschenrechte« mittlerweile zum Standardrepertoire des politischen Diskurses gehören, ist ihre philosophische Rechtfertigung nach wie vor umstrittenes Gebiet. Für manche sind Menschenrechte das Trojanische Pferd, mit dem der Westen seinen neoliberalen way of life in alle Welt zu exportieren trachtet, andere wiederum verbinden mit der Idee einer Weltbürgerschaft mit verbrieften Rechten einen unzulässigen Eingriff in die Souveränität demokratischer Staaten. Seyla Benhabib entwickelt in ihrem Buch ein diskursethisches Instrumentarium, um solche falschen Gegensätze zu überwinden. Anhand zahlreicher Beispiele – Kopftuchstreit, Flüchtlingspolitik, humanitäre Interventionen – zeigt sie Wege zu einem engagierten, kontextsensitiven demokratischen Kosmopolitismus jenseits von Interventionismus und Indifferenz.

Seyla Benhabib ist Eugene Meyer Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Yale University. Zuletzt erschienen Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger (2008) und Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne (stw 1797).

3Seyla Benhabib

Kosmopolitismus ohne Illusionen

Menschenrechte in unruhigen Zeiten

Suhrkamp

4Kapitel 2 wurde von Andreas Fliedner übersetzt, Kapitel 6 von Jeanette Ehrmann und Kapitel 9 von Stefan Eich.

Alle übrigen Texte und Kapitel hat Karin Wördemann ins Deutsche übertragen.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2165.

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Seyla Benhabib

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eISBN 978-3-518-74182-5

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Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort zur englischen Ausgabe

1 Einleitung: Kosmopolitismus ohne Illusionen

2 Ein anderer Universalismus
Einheit und Vielfalt der Menschenrechte

3 Gründe nennen und Rechte beanspruchen:
Die Konstruktion des Rechtssubjekts

4 Gibt es ein Menschenrecht auf Demokratie?
Jenseits von Interventionismus und Indifferenz

5 Menschenrechte jenseits nationaler Grenzen?
Eine Annäherung an den globalen Konstitutionalismus

6 Dämmerung der Souveränität oder das Aufstreben kosmopolitischer Normen?
Eine Neubewertung von Staatsbürgerschaft in Zeiten des Umbruchs

7 Demokratische Iterationen und demokratische Exklusionen
Eine Debatte um die gerechten Grenzen des demokratischen Demos

8 Die Wiederkehr der politischen Theologie
Die Kopftuchaffäre im Spiegel des vergleichenden Konstitutionalismus

9 Menschenrechte und die »Kritik der humanitären Vernunft«

Nachweise

7Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Sprache der Menschenrechte ist zur Lingua franca, wenn nicht gar zur Realität globaler Politik geworden. Doch der Siegeszug dieses Vokabulars hat auch Dilemmata und Paradoxien in der Theorie und Praxis der Menschenrechte mit sich gebracht. Theoretisch haben sich, seit die Menschenrechte politisch zu hohem Ansehen gelangt sind, die Meinungsverschiedenheiten mit Blick auf ihre philosophische Rechtfertigung verstärkt: Sie reichen von minimalistischen Versionen der Menschenrechte als Elementen einer dünnen universalistischen Moral, von der es heißt, sie sei allen Kulturen gemein, bis hin zu der Behauptung, dass die Menschenrechte notwendige Mindestbedingungen artikulieren, die rechtmäßige Staaten erfüllen müssen, um als Mitglieder der politischen Weltgemeinschaft anerkannt zu sein.

Diese theoretischen Dilemmata werden von Paradoxien in der Praxis begleitet. In den letzten Jahrzehnten berief man sich auf die Menschenrechte, um »humanitäre Interventionen« im Irak sowie in Afghanistan und Libyen zu rechtfertigen, während der Menschenrechtsschutz weder im Fall des Völkermords in Ruanda in den 1990er Jahren zu ähnlichen Unternehmungen geführt hat noch dazu, der Ausbreitung des Islamischen Staats Einhalt zu gebieten, oder dazu, den seit 2014 in Scharen vor dem Bürgerkrieg in Syrien fliehenden Menschen zu helfen. Die Berufung auf die Menschenrechte, um eine beliebige Intervention zu rechtfertigen, eine andere aber nicht, hat zu dem verständlichen Vorwurf geführt, dass die Supermächte ihre Heuchelei maskieren und ihre illegitimen internationalen Militärvorhaben bemänteln, indem sie die Sprache der Menschenrechte verwenden.[1] Doch selbst ohne Krieg und Intervention sind die Menschenrechte das Trojanische Pferd der weltweiten Verbreitung des globalen Kapitalismus, der alle Lebensformen und Gemeinschaften auf seinem Weg pulverisiert, heißt es.

Ungeachtet dieser berechtigten Bedenken ist eine andere Per8spektive möglich und plausibel: Die Weltgesellschaft der Staaten hat sich seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und der anschließenden Entstehung eines zugegebenermaßen fragilen globalen Menschenrechtsregimes unwiderruflich gewandelt (siehe Kapitel 3 und 5). Die Menschenrechte sind nicht einfach normative und philosophische Grundsätze zum Schutz der menschlichen Würde, Vernunft oder Handlungsfähigkeit. Sie haben durch die vielen transnationalen Menschenrechtskonventionen, die von der überwältigenden Mehrheit der Staaten auf der Welt unterzeichnet wurden, die Form positiver, justiziabler Rechte angenommen. Die Positivierung der Menschenrechte in Form von transnationalen Menschenrechtsgesetzen ist ein Novum in der Weltpolitik, das die Bedeutung der staatlichen Souveränität verändert. Es wäre ein Fehler, die emanzipatorischen Potentiale zu ignorieren, die von diesen Veränderungen ermöglicht werden.

Anna Grear hat in ihrem Beitrag zum Cambridge Companion to Human Rights Law sehr treffend die zweifache Geste zusammengefasst, mit der wir das Versprechen und zugleich das Scheitern von Menschenrechten und von Menschenrechtsgesetzen anerkennen sollten. »Die Menschenrechte brechen wohl ihr Versprechen, wenn es ihnen nicht gelingt, die Träger von Empörung und Mitleid zu sein. Es ist wohl genau der Augenblick erlebter ›Nacktheit‹ angesichts der ›Leere‹ selbst, in der ›gefühlten‹ Lücke zwischen dem ›Jetzt‹ und dem ›noch nicht‹, in dem rohen Widerspruch zwischen dem menschenrechtlichen Versprechen und dem menschenrechtlichen Verrat, [in dem] die grenzenlose Energie und Paradoxie der Menschenrechte wiederkehrt. Denn gerade in der Erfahrungswirklichkeit des Verrats am Versprechen des Universellen, […] branden die menschlichen Energien zurück in den Raum des menschenrechtlichen Scheiterns, finden neue Worte, atmen (buchstäblich) einen Schmerz, der die Menschenrechte als einen unaufhörlichen Kampf um die Konstituierung der Menschenfamilie wiedererweckt. Hoffnung liegt vielleicht in der Idee, dass sich die kritische Energie der Menschenrechte mit der internationalen Verankerung des Menschenrechts noch nicht erschöpft hat […].«[2]

9Der Schmerz, der angesichts »des Verrats am Versprechen des Universellen« und angesichts des »Kampfs um die Konstituierung der Menschenfamilie« wiedererwacht, ist nirgendwo akuter zu spüren als dort, wo wir mit dem Los des Flüchtlings und Asylsuchenden konfrontiert sind. Im Sommer 2015 lenkte der Tod eines kleinen Flüchtlingsjungen namens Aylan Kurdi im Ägäischen Meer die Aufmerksamkeit der Welt wieder einmal auf das Versagen der internationalen Gemeinschaft, die Menschenrechte der Verwundbarsten zu schützen. Mit den denkwürdigen Worten von Hannah Arendt wäre zu sagen, »daß das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müßte. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht.«[3] Als Arendt dies 1951 niederschrieb, waren die Institutionen des gesetzlich geregelten Menschenrechtsschutzes noch sehr neu und fragil. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords waren beide im Jahr 1948 verabschiedet worden, und die Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge wurde gerade erst formuliert. Es gab keine internationalen Übereinkommen hinsichtlich der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Rechte. Erstaunlich ist daher nicht Arendts politische Hellsichtigkeit, sondern dass wir mehr als ein halbes Jahrhundert später beim Umgang mit den Bedingungen für Flüchtlinge und Asylsuchende so wenig Fortschritte gemacht haben.

Das ist deshalb so, weil die Menschenrechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden die grundlegende Spannung zwischen Menschenrechten und den Rechten von Staatsbürgern offenbaren. Menschenrechte sind immer auch die Rechte derer, die irgendeiner menschlichen Gemeinschaft angehören, und in einem staatszentrierten System ist der Staat das am stärksten definierende und umfassendste Organ der Zugehörigkeit (siehe dazu die Kapitel 6 und 8). Sobald es entweder durch Bürgerkrieg, politische oder religiöse Kriege, durch Naturkatastrophen oder ökologische Verheerungen zu einem Verlust dieser Zugehörigkeit kommt, wird jemand zu einem Menschen mit Sonderstellung. Man wird zu einer IDP (im In10land Vertriebenen), gehört zu einer PRS (zu Menschen, in einer andauernden Flüchtlingssituation) oder wird zu einem Staatenlosen (siehe dazu Kapitel 9). Dies sind neue Kategorien für Menschen, deren Zugehörigkeit zur Menschenfamilie prekär geworden ist.

Während dieser prekäre Status für viele ein Zeichen der falschen Versprechen der Menschenrechte ist, mit denen Menschen offenbar zu bloßen Objekten des Mitleids und des Mitgefühls gemacht werden, sehe ich ihn nicht nur als ein Zeichen des Scheiterns, sondern auch des Aktivismus und des politischen Engagements. Im Sommer 2015 rebellierten nicht nur Aktivisten der Zivilgesellschaft in ganz Europa gelegentlich gegen ihre Regierungen, indem sie den Flüchtlingen halfen und sich den Behörden auf verschiedene Weise widersetzten,[4] sondern auch die Flüchtlinge selbst beriefen sich oft auf ihr Menschenrecht auf Asyl, wehrten sich gegen den Rassismus der slowakischen und ungarischen Polizeikräfte, drängten sie zurück und rissen Zäune nieder. Die Menschenrechte erzeugen also eine Sprache der normativen Anspruchshaltung, welche die bestehende Institutionalisierung des gesetzlichen Menschenrechtsschutzes transzendiert und damit den Menschen ohne Mitspracherecht eine Stimme leiht. Der politische Aktivismus der »Pass- und Ausweislosen« überall auf der Welt, wie zum Beispiel der »Träumer« in den USA – junge Menschen, die mit ihren Familien als Kinder in die Vereinigten Staaten kamen, dort aufwuchsen und Schulen oder Universitäten besuchten, ohne ihren Status zu kennen – und der »sans papiers« in Frankreich, zeugt von dieser Macht einer Sprache der Rechte.

Die dialektische Spannung zwischen den universellen Menschenrechten, wie sie in vielen internationalen Pakten formuliert sind, und den Staatsbürgerrechten wird allerdings nicht nur an den Grenzen des demos sichtbar. Auch für die Bürger liberaler Demokratien kann diese Spannung eine Ursache für Kämpfe und Auseinandersetzungen sein. Denn wie hängen internationale Menschenrechte und verfassungsmäßige Rechte zusammen? Worin unterscheiden sie sich? Über welche Bandbreite hinweg kann die Formulierung bestimmter Rechte, wie der Meinungsfreiheit 11und der Religionsfreiheit, bei verschiedenen liberalen Demokratien variieren? Welche Formulierungen erachten wir für legitimer als andere? Die grundsätzliche wechselseitige Abhängigkeit zwischen demokratisch ausgeübter Souveränität des Volkes und den Menschen- und Bürgerrechten legt die Frage nahe: Handelt es sich bei diesen Rechten um das, was der Wille des demos dahingehend beansprucht, oder sind gewisse Beschränkungen in das eingebaut, was als Form der akzeptablen Willensäußerung des demos gelten darf, um auf diese Weise eine illiberale Mehrheitsherrschaft zu verhindern (siehe dazu Kapitel 5 und 7)? Indem ich das »Recht, Rechte zu haben«, durch eine diskurstheoretische Rechtfertigungsstrategie weiterführe und als den Schutz der kommunikativen Handlungsfähigkeit von Personen konkretisiere (Kapitel 2 und 3), argumentiere ich, dass Menschenrechte eine »kontexttranszendierende« Funktion haben. Sie erschaffen dadurch Horizonte »jurisgenerativer Politik«, selbst wenn demokratische Mehrheiten beschließen werden, »die Rechte der anderen« zu begrenzen. Dieses theoretische Argument bildet das Herzstück dieses Buchs; und es unterscheidet meine theoretische Position sowohl von der »minimalistischen« als auch von der »funktionalistischen« Rechtfertigung der Menschenrechte.[5]

Die in diesem Band versammelten Aufsätze wurden über einen Zeitraum von fast zehn Jahren, zwischen 2006 und 2014, verfasst. Viele wurden zunächst in einer englischen Ausgabe unter dem Titel Dignity in Adversity. Human Rights in Troubled Times (Polity Press 2011) veröffentlicht. Diese deutsche Ausgabe verzichtet zwar auf die Kapitel 2, 3 und 10 der englischen Ausgabe, schließt allerdings zwei neue Kapitel (Kapitel 3 und 9) ein. Zum Zweck der Veröffentlichung wurden alle Aufsätze in diesem Band teilweise neu geschrieben und die Anmerkungen vielfach gekürzt und gestrafft.

Ich möchte Karin Wördemann für ihre Sorgfalt und Geduld während der Arbeit an dieser Neuausgabe danken; meinem Assistenten Stefan Eich, der Kapitel 9 übersetzte, das ursprünglich meine im Mai 2014 gehaltene Dankesrede anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises war, gebührt ein besonderer Dank für 12seine Bemühungen. Clara Picker half in einem fortgeschrittenen Stadium, die Kapitel 2 und 6 aus ihrer gedruckten Version zu konvertieren, und hat diese Arbeit wie von Zauberhand erledigt.

Schließlich danke ich Eva Gilmer für ihre Ermutigung zu dieser Übersetzung und für ihr aufmerksames Lektorat.

Die deutsche Fassung dieses Buches widme ich meiner kosmopolitischen Freundin Anna-Jutta Pietsch (1937-2015), die mir während meiner ersten Jahre in Deutschland Hospitalität geboten hat.

Seyla Benhabib

New York, im April 2016

13Vorwort zur englischen Ausgabe

Es muss der 18. September 2001 gewesen sein, als ich mit meiner 14jährigen Tochter die Whitney Avenue in New Haven, Connecticut, überquerte, unterwegs zu einer Niederlassung des Roten Kreuzes, um für die Opfer des Anschlags auf die knapp 150 Kilometer entfernten Twin Towers und die dort im Einsatz befindlichen Rettungskräfte Blut zu spenden. Als ich der diensthabenden Krankenschwester meinen Namen nannte, erstarrte sie für einen Augenblick: »Ben-Habib« – war das nicht ein arabischer Name? »Wer ist diese Frau mit ausländischem Akzent, die hierherkommt, um Blut zu spenden«, schien sie sich zu fragen.

Meine Tochter, die das Zögern der Krankenschwestern bemerkte, verstand sofort, dass ich für eine Araberin oder Muslimin gehalten wurde, und drückte mitfühlend meine Hand. An diesem frühen Abend in Connecticut konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass meine Geste der Solidarität mit den Opfern vom 11. September und den Feuerwehrleuten und Polizisten von New York City nicht erwünscht war und, wie sich dann herausstellte, tatsächlich auch nicht gebraucht wurde: Studenten der Yale University und anderer Hochschulen waren bereits zu den Rote-Kreuz-Stellen geeilt, und die Blutbanken waren gut gefüllt.

Trotzdem schmerzte mich etwas. Bei der Moral dieser Geschichte geht es nicht um eine Diskriminierung von Menschen aus dem Nahen Osten, Muslimen oder arabischen Amerikanerinnen, auch wenn diese real ist. Sie handelt vielmehr von der Komplexität und Multiplizität von Identitäten, die mein Name bezeugt, die aber die bürokratische Verwaltung in einer zunehmend sicherheitsorientierten weltpolitischen Umgebung in einer Kurzschrift registriert, die während des sogenannten »Kriegs gegen den Terror« auf unmissverständliche Signale der Gefahr verkürzt ist. Die Krankenschwester vom Roten Kreuz konnte nicht wissen, dass ich eine in Istanbul geborene sephardische Jüdin bin, deren frühester bekannter Vorfahre »Jacob Ibn-Habib« hieß, aus Zamora in Spanien stammte und dessen Nachkommen Rabbiner und bekannte Mitglieder einer jüdischen Gemeinde in Spanien und später in Thessaloniki und Gallipoli waren. Nach manchen historischen Aufzeichnungen 14versuchten meine Vorfahren zwar, die christlichen Obrigkeiten davon zu überzeugen, den Juden den Verbleib in Spanien zu gestatten, hatten aber keinen Erfolg damit und verließen das Land wie Tausende in dieser Zeit, um im Osmanischen Reich Zuflucht zu suchen.[1]

Der Islam war für sie keine Religion von Krieg und Dschihad, sondern nur eine Religion der Toleranz, die Juden respektierte und ihnen das »Gastrecht« in Kants Sinne gewährte, und das nicht nur, weil sie das »Volk des Buches« waren, der Torah, die der Islam neben dem Neuen Testament als heilig anerkannte. Gewiss, die Geschichte der Juden des Osmanischen Reichs ist nicht frei von Erfahrungen der Diskriminierung, Vorurteile, Unterdrückung und Ausschließung. Doch wenn ich dann von der l’affaire du foulard – der »Kopftuchaffäre« – lese, die Frankreich in Atem hielt, nachdem französische Behörden muslimische Mädchen der Schule verwiesen, die mit bedecktem Kopf zum Unterricht erschienen waren, und an den »türban or başörtü meselesi« in der Türkei denke, erinnere ich mich an meine eigenen Großmütter und Tanten. Sie handhabten Bedeckung und Offenheit ihres Haars sehr ähnlich wie ihre muslimischen Nachbarn. Ich denke auch an orthodoxe jüdische Frauen, die an öffentlichen Orten in Brooklyn, Queens und Jerusalem ebenso wie in Paris und London Perücke tragen. Und ich frage mich, bin ich eine türkische Jüdin? – Eine jüdische Türkin? – Eine sephardische Jüdin, die in einem Land mit muslimischer Mehrheit aufgewachsen ist? Ein Kind von Atatürks Republik? – Was bedeutet das alles?

Die Art und Weise, wie der politische Islam nach dem 11. September 2001 die Bühne der Weltpolitik erobert hat, zwang diese Aspekte meiner Biographie, denen ich bislang nur private Bedeutung beigemessen hatte, in theoretische und politische Debatten der Gegenwart hinein, welche die »Dialektik der Aufklärung« und die jüdische Erfahrung, das internationale Recht und den Holocaust, den Islam im heutigen Europa und die Bedeutung des zeitgenössischen Kosmopolitismus thematisieren.

Die folgenden Kapitel diskutieren die Philosophie und Politik der Menschenrechte, indem sie eine systematische Darstellung ihres Platzes innerhalb des Projekts der Diskursethik und der kom15munikativen Rationalität vorlegen. Sie untersuchen diese Rechte auch vor dem Hintergrund sich wandelnder Konzeptionen von Staatsbürgerschaft in Europa, die insbesondere durch die muslimische Migration und den neuen Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern herausgefordert sind. Heute sind die Spannungen zwischen dem Statuswandel des internationalen Rechts und dem normativen Ideal eines demokratisch selbstregierten Volkes die Quelle erbitterter Streitigkeiten. Für manche ist das internationale Recht etwas, was die demokratische Souveränität untergräbt; für andere – und dazu zähle ich mich – verstärkt es die demokratische Souveränität. Mein Ziel in diesem Buch ist es, diese vielschichtige Landschaft zu erkunden und den Menschenrechtsdiskurs in eine Vision von demokratisch iterativer Politik einzuordnen.

Danksagungen

Ein Sabbatjahr der Universität Yale in der Zeit vom Januar bis Juli 2009, das zudem vom Wissenschaftskolleg zu Berlin großzügig ergänzt wurde, hat mir ermöglicht, diese Aufsatzsammlung zu konzeptualisieren. Ein späterer Aufenthalt am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg v. d. H. von Mitte Juni bis Mitte Juli 2010 erlaubte mir, dieses Projekt weiterzuverfolgen. Mein Dank gilt Dieter Grimm, Andrea Büchler und Dipesh Chakrabarty, die die Zeit am Wissenschaftskolleg mit mir teilten, sowie Rainer Forst und Stefan Gosepath, die mir mit Mitteln des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« den Aufenthalt in Bad Homburg ermöglichten. Ich danke auch Peter Niesen und David Owen für ihre scharfsinnigen Kommentare zu meinem Projekt in der Bad Homburger Arbeitsphase.

Gespräche mit Benjamin Barber, Ken Baynes, Richard Bernstein, Hauke Brunkhorst, Maeve Cooke, Nancy Fraser, Alessandro Ferrara, Jürgen Habermas, Regina Kreide, Thomas McCarthy, David Rasmussen, Bill Scheuermann und Christian Volk haben mein Leben und mein Denken bereichert. Unter meinen Kollegen an der Yale University bin ich Bruce Ackerman, Alex Stone Sweet, Anthony Kronman, Karuna Mantena und Andrew March für ihre Kritik und Feststellungen dankbar. David Garcia Alvarez, ein spanischer Fulbright-Stipendiat in Yale, war in den letzten Jahren ein äußerst 16anregender Gesprächspartner in Fragen des Kosmopolitismus und hat mich großzügig mit zahlreichen Literaturhinweisen versorgt, die ich sonst vielleicht übersehen hätte.

Meine Zusammenarbeit mit Reset – Dialogue of Civilizations und die Seminare, die wir seit 2007 in Istanbul durchgeführt haben, gaben mir die Gelegenheit, regelmäßig in die Türkei zurückzukehren und die Bedeutung der Menschenrechte in diesen turbulenten Zeiten immer wieder zu erleben und zu überdenken. Ich danke Giancarlo Bosetti und Nina von Fürstenberg für die Ermöglichung der Istanbuler Seminare.[2]

Ein besonderes Wort des Dankes gebührt Judith Resnik, meiner unermüdlichen Freundin und Kollegin an der Yale Law School, deren Interesse an Gender, Föderalismus, Migration und Menschenrechten mein Denken im letzten Jahrzehnt inspiriert hat. Robert Post, dem derzeitigen Dekan der Yale Law School, danke ich für einen gemeinsam durchgeführten Kurs über »Menschenrechte und Souveränität«, in dessen Verlauf viele der hier diskutierten Themen erst schärfer in den Blickpunkt rückten. Im Sommer 2010 unterrichteten Leora Bilsky von der Tel-Aviv Law School und ich zusammen eine Mini-Version des Seminars über Menschenrechte und Souveränität am Zvi Meitar Center for Advanced Legal Studies, wo wir diese Themen in den Zusammenhang des Holocaust und der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert stellten. Die Interaktion zwischen normativer Theorie und juristischem Denken, die diese drei Wissenschaftler in ihrer Arbeit verkörpern, hat viele Aufsätze inspiriert, die hier versammelt sind.

Meine Studenten Anna Jurkevics, Peter Verovsek und Axel Wodrich waren mir bibliographisch und mit ihren Kommentierungen eine große Hilfe. Besonders Anna Jurkevics hat bei den verschiedenen Fassungen der vorliegenden Aufsätze unermüdlich und sorgfältig Hilfe geleistet.

Turkuler Isiksel, die im Herbst 2010 ihre ausgezeichnete Dissertation Europe’s Functional Constitution: A Theory of Constitutionalism Beyond the State[3] abschloss, hat mich viele Jahre lang mit ihren Überlegungen und Texten zur Europäischen Union inspiriert.

17Meinem Mann, Jim Sleeper, schulde ich nicht nur Vorschläge für den Titel dieses Buchs, sondern auch Dank für editorische und logistische Assistenz über Kontinente hinweg. Dass meine Tochter Laura Schaefer das Eintreten für die Menschenrechte zu ihrem Lebensziel gemacht hat, ist für mich ebensosehr Ermutigung wie ein Grund, stolz zu sein.

Die englische Fassung dieses Buchs ist der Erinnerung an zwei Lehrer gewidmet, die ich in den Jahren 2009 und 2010 verloren habe. John E. Smith, Clarke Professor of Moral Philosophy an der Universität Yale, war mein Doktorvater und nach 1972 eine moralische Instanz für mich. Von ihm lernte ich das Gespräch zwischen der deutschen Philosophie und dem amerikanischen Pragmatismus aufzunehmen und auszubauen.

David E. Apter, Heinz Professor of Political Science and Sociology an der Universität Yale, war mein kosmopolitischer Mentor, dessen Verpflichtung auf sozialen Wandel und anspruchsvolle Theorie in den Sozialwissenschaften mir in all den Jahren ein leuchtendes Beispiel setzte. Beim Schreiben dieser Sätze ist mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich John und David vermisse.

Seyla Benhabib

Alford, Massachusetts, und New York City
im Dezember 2010

191
Einleitung: Kosmopolitismus ohne Illusionen

1. Kosmopoliten und tote Seelen

Im Frühjahr 2004 veröffentlichte der weitblickende, wenn auch oft Irritationen auslösende Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington den Text »Dead Souls. The Denationalization of the American Elite«.[1] Huntington, der erst ein Jahrzehnt zuvor die berühmte Wendung vom »Kampf der Kulturen« geprägt hatte, gelang es auch in diesem neuen Text von 2004, seiner Argumentation ein unvergessliches Bild anzuheften. Er zitiert aus Walter Scotts Das Lied des letzten Minstrels: »Lebt wohl ein Mensch, so todt an Geist, / Der voll Entzücken niemals preist, / Daß ihn gebar sein Vaterland! / Deß Herz nie heftig in ihm brannte, / Wenn er die Schritte heimwärts wandte / Vom Wandern an dem fernen Strand!«[2]

Huntington konstatiert, dass die Zahl der »toten Seelen«, solcher, die »tot an Geist« sind, »unter Amerikas geschäftlichen, fachlich qualifizierten, intellektuellen und akademischen Eliten« zunimmt. Einige von diesen Eliten sind Universalisten, die den amerikanischen Nationalismus und Exzeptionalismus ins Extrem treiben und die Demokratie auf der ganzen Welt verbreiten wollen, weil Amerika die »universelle Nation« sei.[3] Andere sind ökonomische Eliten, die in der Globalisierung eine transzendierende Kraft sehen, welche nationale Grenzen niederreißt und eine neue civitas maxima in Gestalt des globalen Marktes erstehen lässt. Eine dritte Gruppe toter Seelen sind aus Huntingtons Sicht die Moralisten, die den Patriotismus und Nationalismus lächerlich machen und argumentieren, dass »internationales Recht, internationale Institutionen, Regierungsformen und Normen denen einzelner Nationen moralisch überlegen sind«.[4] Im Gegensatz dazu sei der Nationalis20mus für die Mehrheit der gewöhnlichen Bürger der meisten Staaten eine starke Kraft, behauptet er, die noch immer ein Feuer in ihren Herzen entzündet und sie freudig heimkehren lässt »vom Wandern an dem fernen Strand«.

Sind Kosmopoliten also tote Seelen? Ist der Kosmopolitismus die bevorzugte Einstellung der Eliten, die als Weltenbummler und Weltverliebte den Sorgen gewöhnlicher Bürger enthoben sind? Ich behaupte, dass der »Kosmopolitismus« keine solche privilegierte Einstellung bezeichnet, sondern vielmehr ein Feld unaufgelöster Gegensätze: zwischen partikularistischen Bindungen und universalistischen Bestrebungen, zwischen der Vielfalt menschlicher Gesetze und dem Ideal einer rationalen Ordnung, die allen Städten der Menschen gemeinsam ist, und zwischen dem Glauben an die Einheit der Menschheit und den gesunden Agonismen und Antagonismen, die aus der menschlichen Verschiedenheit herrühren. Kosmopoliten werden nur dann zu toten Seelen, wenn sie diese Spannungen und Gegensätze vergessen und sich stattdessen zu übertriebenem Optimismus und unaufhörlicher Beteuerung der globalen Einheit und Einigkeit hinreißen lassen. David J. Depew trifft den Nagel auf den Kopf: Der »Kosmopolitismus, als ein positives Ideal gedacht, sei dieses nun formal oder materiell, erzeugt Antinomien, die seine innere Kohärenz untergraben […] Wird er jedoch als ein kritisches Ideal gedacht, verschwinden diese Schwierigkeiten weitgehend. Die daraus hervorgehende Konzeption von Kosmopolitismus [ist] ein negatives Ideal, das auf die Blockierung einer falschen Totalisierung abzielt.«[5]

Ich folge in den hier versammelten Texten dieser Konzeption des Kosmopolitismus als einem kritischen und in manchen Hinsichten »negativen Ideal, das auf die Blockierung einer falschen Totalisierung abzielt«, und untersuche die Spannungen im Inneren des Projekts. Dabei konzentriere ich mich auf die Einheit und Vielfalt der Menschenrechte, auf die Konflikte zwischen Demokratie und Kosmopolitismus, auf die Vision einer Welt mit durchlässigen Grenzen und auf die Geschlossenheit, die für demokratische Souveränität erforderlich ist. Dass ich für die Durchführung eines solchen Projekts den Begriff »Kosmopolitismus« wähle, mag manchen überraschen, denn bis vor kurzem spielte er eigentlich nur in der 21ideengeschichtlichen Erforschung des 18. Jahrhunderts eine Rolle. Spätestens im 19. Jahrhundert rangen die Historiker bereits mit dem Erstarken des Nationalismus. Der Kosmopolitismus schien lange ein verstaubtes Konzept aus der Zeit einer mittlerweile unglaubwürdig gewordenen europäischen und nordamerikanischen Aufklärung zu sein.[6]

In den letzten zwei Jahrzehnten hat es jedoch ein bemerkenswertes Wiederaufleben des Interesses am Kosmopolitismus gegeben, und zwar über eine große Vielfalt an Disziplinen, vom Recht bis zu den Kulturwissenschaften, von der Philosophie bis zur internationalen Politik und sogar in der Stadtplanung und der Urbanisierungsforschung.[7] Der wichtigste Grund für diesen Ein22stellungswechsel ist zweifellos das Zusammentreffen epochemachender Transformationen, die von vielen als »Globalisierung« und als Ende des »westfälisch-keynesianisch-fordistischen« Paradigmas bezeichnet werden,[8] von einigen auch als Ausbreitung des neoliberalen Kapitalismus und von noch anderen als Aufstieg des Multikulturalismus und das Ende der Vormachtstellung des »Westens« aufgefasst werden. Der Kosmopolitismus wurde zum Platzhalter für ein Denken, das sich über die verwirrende Gegenwart hinaus auf eine mögliche und machbare Zukunft richtet. Pheng Cheah charakterisiert diese Gegenwart mit den folgenden Worten:

Was an dem Wiederaufleben des Kosmopolitismus, der in den 1990er Jahren einsetzte, eindeutig neu ist, ist der Versuch, die normative Kritik am Nationalismus auf Analysen der zeitgenössischen Globalisierung und deren Folgen zu stützen. Studien zu unterschiedlichen globalen Phänomenen, etwa zu transkulturellen Begegnungen, Massenmigration und Bevölkerungstransfers zwischen Ost und West, Erster und Dritter Welt, Norden und Süden, zur Entstehung globaler Netzwerke für Handel und Finanzen, der Bildung transnationaler Unterstützer-Netzwerke, der Vervielfachung transnationaler Menschenrechtsinstrumente, wurden daher genutzt, um das allgemeine Argument zu erhärten, dass sowohl vergangene als auch gegenwärtige Globalisierungsprozesse objektiv verschiedene Formen des normativen, nichtethnozentrischen Kosmopolitismus verkörpern, weil sie die Grenzen eines regionalen und nationalen Bewusstseins und lokaler ethnischer Identitäten neu bestimmen, radikal verändern und sogar sprengen.[9]

In Anbetracht der genannte Entwicklungen wird der Begriff »Kosmopolitismus« dann, wenn er eine positive Normativität andeutet, verführerisch und zutiefst problematisch zugleich.[10] Es mag den Anschein haben, als reiche allein schon das Beschwören von Kräften aus, welche »die Grenzen des regionalen und nationalen Bewusstseins und lokaler ethnischer Identitäten sprengen« (Cheah), 23um diese auf ein kosmopolitisches Ideal hin zu transzendieren, dessen eigener Gehalt unbestimmt ist. Das ist zweifellos nicht so.

Dennoch möchte ich argumentieren, dass das Projekt des Kosmopolitismus, so irreführend es in manchen seiner Formulierungen auch sein mag, vor seinen nationalistisch-kommunitaristischen Kritikern auf der Rechten und seinen zynischen Verächtern auf der Linken[11] nicht minder gerettet werden muss als vor seinen postmodernen und dekonstruktivistischen Skeptikern. Hin- und hergerissen zwischen der Nostalgie für Gemeinschaften, die nicht durch Verschiedenheit zersplittert sind, und dem Zynismus, der den Kosmopolitismus auf den Griff nach der imperialen Herrschaft reduziert, entgeht dem heutigen Denken in weiten Teilen, was an der Entwicklung eines kosmopolitischen Menschenrechtsdiskurses neu ist.[12]

Um die Tiefe und Hartnäckigkeit dieser kontrastierenden Haltungen abschätzen zu können, wird es wichtig sein, einige Themen, die geschichtlich mit dem Kosmopolitismus in Verbindung standen, kurz zu untersuchen.

2. Eine kurze Geschichte

Der Begriff »Kosmopolit« setzt sich aus kosmos (Welt) und polites (der zur Stadt Gehörende) zusammen. Und die Spannung zwischen diesen Perspektiven ist bedeutsam.[13] Montaigne erinnert daran, dass Sokrates gefragt wurde,

24was seine Heimat sei. Er antwortete nicht: »Athen«, sondern: »Die Welt«. Er, dessen Geist reicher und ausgreifender war als der aller andern, umfing das Universum wie seine Vaterstadt, und seine Erkenntnisse, sein Wohlwollen und sein Gemeinsinn galten dem ganzen Menschengeschlecht – im Unterschied zu uns, die wir nur auf unsre Füße blicken.[14]

Ob Sokrates so etwas gesagt hat oder nicht, ist strittig, aber die Geschichte wird von Cicero in Tusculum Disputationes, von Epiktet in seinen Diatriben und von Plutarch in De Exilio wiederholt, wo er lobend sagt, »und noch besser hat es Sokrates ausgedrückt mit den Worten, er sei weder Athener noch Hellene, sondern ein Weltbürger«.[15]

Was bedeutet es, ein kosmopolites oder Weltbürger zu sein? Um außerhalb der Stadtmauer zu leben, heißt es bei Aristoteles, müsse man entweder ein wildes Tier oder ein Gott sein, da aber Menschen keines von beidem seien und da der kosmos nicht die polis sei, sei der kosmopolites überhaupt kein richtiger Bürger, sondern irgendein anderes Wesen.

Diese Schlussfolgerung war nicht sonderlich beunruhigend für Kyniker wie Diogenes Laertius, denn er behauptete, dass dem Kosmopoliten, anstatt in der Stadt beheimatet zu sein, alle Städte gleichgültig sind. Der kosmopolites sei ein Nomade ohne Zuhause, im Einklang mit der Natur und dem Universum, aber nicht mit der Stadt der Menschen, von deren Verrücktheiten er sich distanziere. Einige negative Konnotationen des Begriffs, mit denen wir in der modernen Geschichte vertraut sind, wie etwa der »heimatlose Kosmopolitismus«, auf den auch Huntington anspielt, haben ihre Wurzel in dieser frühen Phase der Geschichte des Kosmopolitismus, in der die Ablehnung und Verachtung der antiken Kyniker für die von Stadt zu Stadt verschiedenen Praktiken der Menschen ihren Ursprung hat.

Die negative Sicht des Kosmopolitismus als eine Form von Nomadentum ohne Bindungen an eine bestimmte Stadt, wie sie durch die Kyniker vertreten wird, wandelte sich bei den Stoikern. Die Stoiker lenkten die Aufmerksamkeit auf die absurde und unzuvereinbarende Pluralität der menschlichen nomoi – der Geset25ze ihrer einzelnen Städte – und argumentierten, dass das, was die Menschen miteinander gemein haben, nicht in erster Linie ihre nomoi sind, sondern der logos, kraft dessen sie vernunftfähig sind. Mark Aurel schreibt in seinen Meditationen:

Wenn uns das Denkvermögen gemeinsam ist, dann ist uns auch die Vernunft, durch die wir vernünftig sind, gemeinsam. Wenn dies zutrifft, dann ist auch die Vernunft, die bestimmt, was zu tun ist oder nicht, uns allen gemeinsam. Trifft dies zu, so ist auch das Gesetz uns allen gemeinsam. Wenn dies richtig ist, dann sind wir alle Bürger. In diesem Falle haben wir teil an einer Art von Staatswesen. Wenn dies zutrifft, dann ist der Kosmos gewissermaßen ein Staat.[16]

In den Jahrhunderten danach vermengte sich die Idee einer Ordnung, die über Unterschiede zwischen den Gesetzen verschiedener Städte hinausgeht und stattdessen in der rational verstehbaren Struktur der Natur wurzelt, mit der christlichen Lehre universeller Gleichheit.[17] Die stoische Lehre vom Naturrecht inspirierte das christliche Ideal des Gottesstaates im Gegensatz zur Stadt der Menschen und fand schließlich ihren Weg in die modernen Naturrechtstheorien von Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant.

Die negativen und positiven Seiten des kosmopolites, denen wir zuerst im Denken der griechischen und römischen Antike begegnen, begleiten den Begriff durch die Jahrhunderte: Ein kosmopolites ist einer, der sich entweder in Gedanken oder in der Praxis von den Bräuchen und Gesetzen seiner Stadt distanziert und sie vom Standpunkt einer höheren Ordnung aus beurteilt, von der man oft meint, sie sei mit der Vernunft, mit der Natur oder irgendeiner anderen transzendenten Quelle der Geltung identisch. Und weil der Kosmopolit eine Perspektive einnimmt, welche die Stadt und die üblichen menschlichen Bindungen an sie transzendiert, war er oder sie denen, die ihre Städte lieben, verdächtig oder ein Ärgernis.

Das änderte sich, als Kant am Ende des 18. Jahrhunderts die stoische Bedeutung des Kosmopolitismus wiederbelebte, indem er 26dem Begriff eine neue Wendung gab, der ihn ins Zentrum des Aufklärungsprojekts stellte. Zudem wandelte sich der Ausdruck »Kosmopolit« mit Kant von einer Ablehnung der Staatsbürgerschaft zu dem Begriff einer »Weltstaatsbürgerschaft« und wurde mit einer neuen Konzeption der Menschenrechte als kosmopolitischen Rechten verknüpft. Um zu verstehen, warum sich der Kosmopolitismus sogar unter den derzeitigen Weltverhältnissen als eine positive, aber potentiell falsche Normativität anbietet – oder in meiner bevorzugten Terminologie »als ein negatives Ideal, das auf die Blockierung einer falschen Totalisierung abzielt« –, müssen wir also kurz auf Kant eingehen, aber auch über Kant hinausgehen. Lassen Sie mich diese doppelte Bewegung, zurück zu Kant, aber auch wieder weg von ihm, erklären.

Kants Vision von Kosmopolitismus ist trotz ihrer zweideutigen Verbindungen mit der imperialistischen Expansion des Westens wertvoll wegen des von ihr geschaffenen Raums, in dem internationales Recht jenseits des Staates als eine juristische Ordnung konzeptualisierbar wird, die nichtstaatliche Akteure ebenso umfassen kann wie Individuen. Kants begriffliche Initiative gipfelte später in den internationalen Menschenrechtsgesetzen, wie sie insbesondere nach 1948 entwickelt wurden. Diese Neuerungen bewirken zwar keine Lösung oder Auflösung der normativen Zweideutigkeiten des Kosmopolitismus, ermöglichen aber die Entstehung eines Raums der »Jurisgenerativität«, in dem die Einheit und Vielfalt der Menschenrechte über Grenzen hinweg durchdacht werden kann.

3. Kants Neubestimmung des Kosmopolitismus

In seinem berühmten Aufsatz »Zum ewigen Frieden« aus dem Jahr 1795 formulierte Kant drei »Definitivartikel«. Sie lauten: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.« – »Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.« – »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.«[18] Kant selbst bezeichnet 27also den dritten Artikel des ewigen Friedens mit dem Ausdruck »Weltbürgerrecht«. Wie ich an anderer Stelle bereits dargelegt habe, ist er sich zudem über die Kuriosität des Ausdrucks »Hospitalität« im Klaren; deshalb fügt er an, es sei dabei »nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede.«[19]