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Merle Kröger

 

Cut!

 

Kriminalroman

 

CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de

Impressum
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014
www.culturbooks.de
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten.
Printausgabe: © Argument Verlag 2003
Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
Erscheinungsdatum: 7.1.2013
ISBN 978-3-944818-29-0

Für Buz und Inne

Personenregister

  • Madita Junghans: muss das Kino aufgeben und verliert sich in familiären Zeitschleifen.
  • Nikolaus Ostrowski: treibt sich gern in anderer Leute Leben herum und drängt seiner Freundin Madita eine Wette auf.
  • »Cal« Amit Mukherjee: war mal ein musikalisches Wunderkind und sieht sich ständig mit dem kolonialen Erbe konfrontiert.
  • Hinnarck Junghans: ist kein Mann der großen Worte und hätte seine Tochter Madita lieber in der Nähe.
  • Emma Junghans: gibt sich die Schuld an allem, sitzt am Küchenfenster und raucht.
  • Mehmet Khan: recherchiert für ein antifaschistisches Magazin und stellt die richtigen Fragen.
  • Charlotte Weidenkamp: trifft ihre Patentochter Madita und macht sich Sorgen um den geliebten alten Vogelfreund.
  • Ludwig Hauser: wohnt bei seiner Lebensgefährtin Charlotte und möchte endlich wieder schlafen.
  • Anand Kumar: hat Madita ein paar chemische Verbindungen und einen Haufen Fragen vererbt.
  • Nellie Somers: arbeitet als Sprechstundenhilfe bei Anand Kumar und wäre gern mal bei einer indischen Hochzeit dabei.
  • Die Songs: entscheiden über das Schicksal eines Bollywood-Films und geben Einblick in die Gefühlswelt der Protagonisten.

1 Kino

Der Mann liegt regungslos in der Badewanne. In der Hand hält er ein kleines silbernes Diktiergerät, das sein eigenes Laufgeräusch aufzeichnet. Ein kaum hörbares rhythmisches Schaben, wenn das Band über den Tonkopf läuft.

Cut. Die Kameraperspektive erfasst jetzt das gesamte Badezimmer im Weitwinkel. Der weiß gekachelte Raum, keine persönlichen Dinge, nur zwei kleine bedruckte Fläschchen für Shampoo und Duschgel und ein unbenutztes Zahnputzglas. Ein weißer Bademantel, auf dem Klodeckel abgelegt.

Cut. Die Kamera hat sich dem Boden zugewandt. Reproduktionen alter Schwarz-Weiß-Aufnahmen, einige davon so unscharf, dass man die marschierenden Soldaten darauf nur erahnen kann. Ein Moment der Privatheit, mitten im Krieg: Drei Offiziere lächeln verkrampft ins Objektiv des Fotografen. An ihren Kragen leuchten die Abzeichen der deutschen Wehrmacht. Die Kamera bleibt irritiert hängen. Einer der Männer sieht nicht aus wie ein Deutscher. Seine Haut, seine Augen, sein Haar sind dunkel. Wie bei dem Mann in der Badewanne, dessen Hand mit dem elektrischen Gerät gerade langsam über die abgerundete Kante aus weißem Porzellan rutscht.

Das Klingeln eines Mobiltelefons durchschneidet die Stille und löst eine Kettenreaktion aus. Mehmet Khan wacht auf, starrt auf seine Hand mit dem Diktiergerät, wird sich der Gefahr bewusst und wirft das Ding panisch aus der Badewanne. Mit einem unangenehmen Knirschen schlägt es auf die Fliesen. Mehmet springt auf, Wasser spritzt auf die Fotos. Er zwängt sich fluchend, astreines Britisch fluchend, in den Bademantel und schliddert aus dem Zimmer.

Cut. Die Kamera irrt suchend umher, folgt seiner Stimme und findet ihn schließlich, wie er vor dem Fenster steht und in sein Handy spricht.

»Alan! Ja, dir auch ein frohes neues Jahr. Nein, Liz ist in London, sie ist heute Morgen von Paris abgeflogen. Ich bin da in Frankreich auf etwas gestoßen –«

(Pause)

»Nein, verdammt, es ist nicht zu teuer. Ich habe den Artikel schon fast komplett. Ich brauche nur noch einen Zeitzeugen. Und ich habe einen aufgetan, hier in der Nähe von Hamburg. Ja, du hast richtig gehört. Hamburg. Alan, ich kenne unser Budget!« Er drückt eine Taste, murmelt »Idiot« und legt seinen Kopf an die kühle Scheibe.

Leichter Schneeregen hat das Fenster mit einem Schleier überzogen. Passanten ziehen Mehmets Aufmerksamkeit auf sich. Junge Deutsche. Wiedervereinigt. Ausgelassen. Über der Tür, aus der sie herausgekommen sind, leuchtet ein weißes Neonschild mit blauer Schrift. Fritz Lang: Das indische Grabmal entziffert er mühsam.

 

Cut!

 

»Quatsch, Madita!« Du kannst Theresas hochgezogene Augenbrauen hinter der rechteckigen schwarzen Brille vor dir sehen. »Das ist doch kein Filmanfang, du musst das subtiler angehen.«

Hundertmal, tausendmal müsst ihr beiden als Letzte, bis es dämmerte, im Kino gesessen haben. Jede mit einem Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, die Asche einfach auf den Boden, wo jemand die Kippen einer langen Filmnacht zu kleinen Häufchen zusammengefegt hatte. Ab dem dritten Bier habt ihr angefangen, Filme zu erfinden. Aber Theresa ist eben Expertin für Nouvelle Vague. Und du? Tatort oder was?

»Deine Vorstellungswelt ist so was von bürgerlich romantisch«, hat sie dich aufgezogen, nicht nur einmal. Du konntest nicht nachgeben. Nie. Dabei weißt du selber, dass Zufälle im Film nicht zufällig, sondern unglaubwürdig rüberkommen. Warum sollte Mehmet Khan auch ausgerechnet in dem Hotel gegenüber dem Kino gewohnt haben?

Deine Gedanken hoppeln davon, als hätte jemand Fast Forward gedrückt. Wenn du die weiteren Ereignisse bedenkst, könntest du dich allerdings als Expertin für dramatische Überschneidungen des Schicksals lizenzieren lassen. Als wärt ihr alle, du, Nick und Cal, zu Darstellern in einem überspannten Bollywood-Film geworden. Drei Stunden Melodram. Acht Songs. Opulente Tanzszenen. Exotische Drehorte. Abspann.

Vor deinen Augen materialisiert sich der in Einzelteile zerlegte TK-35. Du hast Wochen gebraucht, um einen zu finden. Er ist der Klassiker unter den tragbaren Projektoren, und wer einen hat, rückt ihn nicht so schnell wieder raus. Dieser hier stammt aus einer Nachlassversteigerung und muss jahrelang außer Betrieb gewesen sein. Du hast jedes einzelne Rädchen poliert und geölt. Jetzt wartet er darauf, dass du ihn wieder zusammensetzt.

Ein Blick auf die Uhr sagt dir, dass du seit einer vollen Stunde keinen Finger gerührt hast. Damit verschiebt sich dein mögliches Scheitern doch bloß nach hinten.

Du versuchst, dich innerlich zu lockern, aber die fehlende Vertrautheit der Wohnung trifft dich wie ein Schock. Du warst noch nie gut in provisorischen Lebenszuständen. Immer brauchst du ein Geländer, an dem du dich festhalten kannst. Menschen. Gegenstände. Vertraute Wege. Willst du das alles auf einen Bus reduzieren, der dich wie ein Raumschiff durchs Universum trägt?

Um dich herum stapeln sich Kisten und Filmdosen. Nicht abschweifen! Der Projektor! Er baut sich nicht von selber zusammen, auch wenn du noch so lange wartest. Du merkst, wie sich dein Magen verkrampft.

»Reiß dich doch mal zusammen, du Schlampe!« Mensch, jetzt fängst du schon an, mit dir selbst zu reden. Ein schlechtes Zeichen. Ganz schlecht. Hat es bei Emma auch so angefangen? Du bist aber nicht Emma. Emma hatte Angst und sie hatte allen Grund dazu. Sie hat die Fäden ihrer Angst zusammengerollt und zu einem dicken Knäuel gewickelt, bis du daran gezogen hast und der ganze verfilzte Wust sich wieder aufgereppelt hat.

Du sammelst deine Gedanken auf. Es ist eine banale mechanische Angelegenheit, vor der du scheust. Wenn du es nicht bei Tageslicht zu Ende bringst, wirst du ganz andere Probleme haben. Morgen früh, in weniger als 24 Stunden, kommen Theresa und Markus, um dir zu helfen, den ganzen Krempel im Bus unterzubringen. Also mach dich an die Arbeit.

Einen Film kann man immer wieder auf Anfang spulen. Das Leben nicht.

2 Abspann

Debra Paget und Paul Hubschmid sahen sich tief in die Augen und versanken in einem endlosen indogermanischen Kuss. Nikolaus zappelte nervös hinter dem Mischpult auf und ab, die Kopfhörer schief auf einem Ohr, um seinen Einsatz nicht zu verpassen. Pauken über dem CCC-Logo. Abspann. Und los!

Während sich der Vorhang schloss, ließ er die Musik fast nahtlos auf die Boxen hinüberfließen. Fast. Die Menge im Saal hatte es nicht mitbekommen, aber er hatte wieder mal den Bruchteil einer Sekunde zu früh die Regler hochgeschoben. Unzufrieden biss er sich auf die Lippe und ließ den Beat reinknallen. Die Gesichter schossen zu ihm herum. Er musste lachen. Einige lachten zurück und setzten sich in Bewegung. Aber er entspannte sich erst, als mehr und mehr Leute sich dem Rhythmus ergaben. Er war bestimmt kein begnadeter Musiker, aber er verstand es, Effekte zu setzen. Und dies war immerhin sein Laden.

Am Anfang hatten sie versucht, alles zusammen zu planen, das Kinoprogramm, die Partys, die Bar. Aber Theresa und Madita hatten auch ohne große Gruppenentscheidungen schnell klar gemacht, wer hier Kino machte und wer nicht. Sie brauchten niemand anders, um ihre endlosen Diskussionen über den Verleihkatalogen zu führen. Sie fuhren auf Festivals, knüpften Kontakte und schon im zweiten Jahr holten sie den ersten Förderpreis für die Programmgestaltung nach Hause. Annette und Markus zogen sich auf das sichere Terrain von Einkauf und Technik zurück, und er selber hatte sich mit seinen auf Filmmusik spezialisierten Clubnights seine eigene Nische geschaffen.

»Nicht mehr lange«, korrigierte er sich in Gedanken und strich sich ungeduldig die Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm dauernd vor den Augen hing. Abschneiden wollte er sie aber auf keinen Fall, denn er fand, so sah er weniger nett aus. Er versuchte die Datumsanzeige auf seiner Uhr zu erkennen. Sie zeigte bereits den zweiten Januar. Wie jedes Jahr hatten sie gleich nach Silvester die lange Nacht der Klassiker hinterhergeschoben, als Chill-out sozusagen. Diesmal war es gleichzeitig ihre Abschiedsparty, und das war’s dann.

Die Zukunft leuchtete nicht besonders hell. Von der Abfindung würde er eine Weile leben können und dann würde das Getingel durch die Clubszene beginnen, immer in der Hoffnung auf einen Plattenvertrag. Wenn alle Stricke rissen, würde er eben seinen Vater anrufen müssen. Seit er das Jurastudium geschmissen hatte, war zwar Funkstille, aber das würde sich schon irgendwie wieder hinbiegen lassen.

»Du ruinierst deine Zukunft«, hatte er in den Augen seines Vaters gelesen.

»Und alles wegen dieses Mädchens«, hatten die Augen seiner Mutter hinzugefügt, in grammatisch korrektem Genitiv. Schweigend saßen sie auf dem Sofa, neben sich, auf einem antiken Tischchen zwischen den Bildern seiner Schwestern, das Foto von ihm selbst: ein strahlender kleiner Junge mit blonden Locken.

Unwillkürlich suchte er auf der Bühne und im tiefer gelegenen Kinosaal nach Madita. Zuletzt hatte er sie vor Stunden am Einlass gesehen, wo sie blass und mit zusammengebissenen Zähnen die Karten kontrollierte. Sie konnte nicht mal mehr den letzten Abend genießen. Dabei hatte sie den beiden Indien-Klassikern von Fritz Lang in der restaurierten Fassung wochenlang nachgespürt wie einem vergrabenen Knochen. Keiner von ihnen hatte geglaubt, dass sie es schaffen würde, bis die Filmrollen plötzlich auf dem Tisch lagen. Madita hatte wieder mal einen Volltreffer gelandet. Das Kino war ausverkauft. Er reckte den Kopf und versuchte die tanzende Menge zu überblicken, aber irgendwie wusste er, dass sie nicht darunter war.

 

Cut!

 

Du hast dich also nach draußen verzogen. Kalte Luft schneidet deine Lunge in Scheiben. Der Schneeregen tropft vom Vordach des Kinos, unter dem du stehst, und wird vor deinen Füßen zu grauem Matsch.

Dir ist einfach nicht nach Abschied feiern. Es fühlt sich falsch an. Warum muss man überhaupt Abschiede feiern? Das dumpfe Wummern der Beats zieht dich nicht wie sonst nach drinnen, sondern lässt den Kloß in deinem Hals auf und ab hüpfen. Im Takt.

Du bist aus dem vertrauten Kreis ausgebrochen, als wolltest du das zwangsläufig folgende Gefühl der Verlassenheit schon vorwegnehmen. Es austesten wie einen alten Bekannten, den du lange nicht gesehen hast. Du versuchst dich an sein Gesicht zu erinnern. Mit Erstaunen registrierst du, wie schnell die Zeit verflogen ist.

Es ist jetzt fast vier Jahre her, dass du das letzte Mal so richtig abgestürzt bist. Zuerst starb die Oma. Du bist wochenlang kaum aus dem Krankenhaus rausgekommen. Dann hattest du auch noch den Papierkram und die Beerdigung am Hals. Emma ging es so schlecht, dass Hinnarck sie keine Minute allein lassen konnte. Du hättest dich auch gerne irgendwo hingesetzt und geheult. Aber es war das alte Spiel. Emma heulte genug für alle und du hast die Zähne zusammengebissen.

Ausgerechnet diesen Tag, als du durchgefroren und deprimiert nach Hause kamst, haben sich deine Mitbewohnerinnen ausgesucht, um dir zu eröffnen, sie würden eine Tauchschule auf Malta aufmachen.

»Komm doch mit, was willst du noch hier oben in der Kälte?« Kalt war es, ja. Stattdessen bist du nach Harmsdorf gefahren und hast Tim endlich gesagt, dass es aus ist. Er hat geschwiegen und dich angesehen. Als hätte er es nicht schon längst gewusst. Wie ein Foto hat sich die Szene in deinen Kopf eingebrannt. Ein Mann und ein Hund, Mascha, euer Hund, vor dem alten Bootshaus unten am See. Sie wollten mit dir alt werden und du wolltest nicht. Nicht so wie Emma.

Zurück in Hamburg hast du dich in der Wohnung deiner Oma vergraben, bis du schon Angst hattest, auf die Straße zu gehen. Heute fragst du dich, was wohl passiert wäre, wenn Theresa dich nicht gefunden hätte. Vielleicht wärst du einfach verhungert. Aber Theresa hat in Harmsdorf angerufen, nachdem du in deiner alten Wohnung nicht mehr aufgetaucht bist. Hinnarck hat ihr erzählt, dass du die Wohnung in Barmbek geerbt hast. Zusammen mit einem Schwall eisiger Luft kam sie reingestürmt, hat dich kurz angesehen, ein Fenster aufgerissen und sich in den Sessel geworfen.

»Madita, wo lebst du eigentlich? Kriegst du denn gar nichts mehr mit? Du weißt doch, wie oft wir darüber geredet haben, ein Kino aufzumachen. Und jetzt schläfst du hier.«

Wie in Trance bist du ihr in die Außenwelt gefolgt, aufs Fahrrad gestiegen und zu dem alten Lichtwerk-Kino gefahren. Du bist hinter ihr über Schuttberge geklettert in den staubigen großen Saal, wo eine Hand voll Leute mit müden Augen herumsaßen. Wochenlange Verhandlungen mit der Polizei und dem Eigentümer hatten sie mürbe gemacht, und sie waren kurz davor aufzugeben. Du hast es gespürt, innerlich aufgepeitscht wie du selber warst.

Theresa hat nichts gesagt, dich nur angestoßen. Und du hast angefangen zu reden. Darüber, dass du nicht glaubst, das Publikum sei zu doof für gute Filme. Über die Kinomafia und über Verleihpolitik. Und über Filme natürlich. Am Anfang war deine Stimme kaum zu verstehen, weil du wochenlang den Mund nicht aufgemacht hattest. Nach einer Weile hast du gemerkt, wie die Gesichter sich dir nach und nach zuwandten. Besonders ein Gesicht. Nikolaus.

Abrupt knallen Stimmen und Musik an dein Ohr. Ein paar Leute kommen aus dem Kino, mustern dich flüchtig im Vorübergehen, eine Gestalt in Jeans und Turnschuhen, kurze Haare. Routinemäßig nimmst du das Aufflackern der Blicke wahr, dieses unausgesprochene: »Woher kommst du?« Nicht unbedingt feindselig, eher unangemessen. Wie oft hast du diese Frage schon gehört? Wenn du jemanden kennen lernst, fällt sie in der ersten halben Stunde, worauf du wetten kannst. Früher hast du geschwiegen, peinlich berührt, als hätte man dich nach der Farbe deiner Unterhose gefragt. Später hast du gelernt, die Peinlichkeit zurückzuspielen.

»Aus Hamburg, wieso?« Jetzt sind es die anderen, die nach Worten graben. Sie versuchen, die Falle der politischen Unkorrektheit zu umgehen, die du ihnen stellst. Dabei hast du nur die Wahrheit gesagt.

Dein Blick zuckt zurück in die Realität, als du mitkriegst, dass die Gruppe einen Kinosessel mit sich schleppt. Es macht keinen Unterschied mehr, bleib ruhig, lass sie gehen.

»Hey! Was macht ihr mit dem Sessel, der gehört euch nicht!«

Du kannst es nicht lassen, oder? Du machst dich doch nur lächerlich, wie du ihnen keuchend hinterherhechtest und den Letzten am Ärmel ziehst. Siehst du, jetzt wird es Ärger geben. Der Typ stellt in aller Ruhe den Sessel ab, dreht sich um und baut sich vor dir auf. Du reichst ihm gerade mal knapp über den Bauchnabel. Sehr eindrucksvoll.

»Wird doch abgerissen, was willst du, Alte?« Er mault dich an wie ein kleiner Junge. Ein Grinsen überzieht sein Gesicht. »Willst wohl selbst die besten Stücke für dich, was?« Hinter ihm kichert ein Mädchen und er schwenkt die Arme in Siegerpose.

Du tauchst unter seinem Arm ab, fixierst das Mädchen, dem du wenigstens in die Augen gucken kannst, und setzt zu einem Vortrag über die Doppelmoral von Leichenfledderern an. Neben dir schubbert ein blauer Renault Kastenwagen am Bordrand entlang und kommt zum Stehen. Hansen und Söhne Innensanierung entziffert dein eines Auge im Licht der Kinoreklame, während das andere noch mit dem Mädchen beschäftigt ist. Manchmal hat dein Silberblick auch seinen Vorteil.

Zwei verschlafene Gesichter und kurz darauf die dazugehörigen Körper im Blaumann schälen sich aus dem Auto. Ein junges und ein älteres Exemplar derselben Baureihe.

»Hansen senior, das ist mein Sohn. Wir suchen Frau Madita Junghans.«

Du schließt den Mund, der Vortrag verschwindet wieder in der Schublade. »Ich bin Frau Junghans.«

Die Gruppe mit dem Sessel nutzt die Gunst der Stunde und macht sich davon.

»Wir haben hier einen Auftrag des Eigentümers«, Hansen senior schiebt sich eine altertümliche Hornbrille auf die Nase und liest mit leiernder Stimme von einem Zettel ab, den er aus der Tasche gezogen hat, »HUB Immobilien. Laut notariell beglaubigter Vereinbarung vom 1.10. sind die Nutzer dazu verpflichtet, nach Erhalt der Abfindung mit sofortiger Wirkung das ehemalige Lichtwerk-Kino in der …«

Du hast die Kiefer so fest aufeinander gepresst, dass es in den Ohren knackt. Spar dir den Rest. Geh einfach rein und bring es hinter dich. Mechanisch greifst du nach dem großen Schalter und legst ihn um. Die Leuchtreklame erlischt. Die plötzliche Dunkelheit vor deinen Augen verwandelt sich langsam in eine gräuliche Morgendämmerung.

3 Scherenschnitte

Charlotte schob die geklöppelte Spitzengardine zur Seite und starrte in den Schneeregen. Der Harmsdorfer See hatte seine frühmorgendlich bleierne Farbe und sah kalt aus. Am Ufer erkannte sie undeutlich den Strandweg im Schatten der Trauerweiden. Er schien auf die Urlauber zu warten, die erst im nächsten Jahr wiederkommen würden. Wenn sie kamen. Ein verregneter Sommer und halb Harmsdorf war pleite.

Charlotte war froh, dass ihr Vater damals, nach dem Krieg, kein Haus in der Innenstadt gekauft hatte. »Harmsdorf ist ein paradiesisches Fleckchen Erde, wenn man seinen Bewohnern aus dem Wege gehen kann«, hatte er immer gesagt.

Heute war das Grundstück am Ende der Sackgasse Gold wert. Wie oft hatte sie schon reiche Hamburger in ihrem Vorgarten gefunden, die ihr mit Scheckbüchern vor der Nase herumwedelten. Aber das hatte sie ja Gott sei Dank nicht nötig. Solange sie am Leben war, würde hier weder ein Yachtclub noch ein Wellness-Zentrum aufmachen.

Charlotte kannte den See wie einen alten Freund. Dunkelblau mit kleinen Wellen wie auf den Postkarten. Schwarz und still in Vollmondnächten. Hellgrau und schäumend bei Sturm. Dunkelgrau gesprenkelt wie heute früh. Sie blickte noch einmal suchend in die Grautöne, zog ihren Morgenmantel enger um sich und ging zu ihrem Sessel. Ihre Finger strichen automatisch über die kleine verschlissene Stelle auf dem grünen Samt, dann zupften sie das Spitzendeckchen über der Lehne zurecht. Vor den hohen Regalen mit den Büchern ihres Vaters stand die Staffelei mit dem angefangenen Sonnenblumenfeld. Sie war nicht damit fertig geworden im letzten Sommer. Nun stand es herum, fing Staub und ärgerte sie, wann immer ihr Blick darauf fiel.

Charlotte setzte sich, hob die Tasse mit dem Zwiebelmuster, blau auf weiß, und trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken. Vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet lagen Bögen weißen Pappkartons und daneben, säuberlich aufgereiht, fünf oder sechs nahezu perfekt ausgeführte schwarze Scherenschnitte. Zufrieden mit ihrer Arbeit vom Vorabend betrachtete sie die feinen Konturen. Schließlich wählte sie einen aus, legte ihn zwischen einen einmal gefalteten Bogen weißer Pappe und schrieb darauf in geschwungener altdeutscher Handschrift: An mein geliebtes Patenkind.

Der letzte Schnörkel wäre beinahe verrutscht, weil sie plötzlich eine leichte Berührung an der Schulter spürte.

»Ludwig, ich habe dich gar nich –« Der Satz blieb unvollendet, als sie sich umdrehte und ihn ansah. Er war blass und unrasiert, seine Augen gerötet. Das Gewicht des Fernglases um seinen Hals schien den großen schweren Mann zu ihr niederzuziehen. »Hast du wieder nicht geschlafen?«

Er lächelte und wischte die Besorgnis mit einer weiteren Berührung ihrer Schulter beiseite. »Charlottchen, du weißt doch, wer die Rohrdommel beobachten will, muss früh aufstehen. Ich hätte sie fast übersehen. Ganz hinten im Schilf hat sie sich versteckt vor all dem …« Er schien nach dem richtigen Wort für all das zu suchen und schnaubte verächtlich.

Charlotte legte ihre Hand auf seinen Arm. Er brauchte es ihr nicht zu erklären. Sie verstand auch so, was er meinte.

4 Diva

Du ziehst den Geruch nach abgestandenem Bier und kalter Asche durch die Nase, der noch von der Party im Saal hängt. Halbherzig fegst du ein paar Kippen zusammen. Werden die anderen dich für verrückt halten, wenn du jetzt laut sagst: »Ich liebe diesen Gestank«?

Nein, das ist kein gutes Thema. Guck dich um, präg dir den Raum ein, konserviere deine Erinnerungen. Mit den neuen Multiplexkinos – verstellbare Sitze, Dolby Surround – hättet ihr sowieso nicht mithalten können. Dein Blick wandert über die verblichene rote Textiltapete, die dunklen Holzdielen, die jedes Mal knarren, wenn einer zu spät kommt, und bleibt an dem riesigen Kristalllüster hängen, der über dem Ganzen schwebt wie eine alternde Diva. Ihr habt beschlossen, dass sie hängen bleibt, niemand nimmt sie mit nach Hause. Basisdemokratisch bis zum Letzten.

Der Kopf von Nikolaus taucht hinter dem Pult auf, wo er seine Kabel und Geräte zusammenpackt. Obwohl ihm seine Haare wie immer ins Gesicht hängen, siehst du den kurzen prüfenden Blick, den er dir zuwirft. Markus rumort unsichtbar im Projektorraum. Annette steht nutzlos und träumend herum und streichelt zum x-ten Mal in den letzten zehn Minuten zärtlich ihren Bauch. Du zwingst dich zu der nüchternen Überlegung, ob es Neid ist, der in dir hochsteigt. Oder die Wut darüber, dass sie nur darauf zu warten scheint, endlich in ihre neue Welt aus Geburtsvorbereitungskurs und Nestbau verschwinden zu können. Vor deinem inneren Auge erscheint ein Bild von dir, Nikolaus und einem schreienden Kind, eingesperrt in deiner Wohnung. Kein Neid, entscheidest du, nicht gerade unparteiische Richterin.

Was machst du hier eigentlich, vertrödelst deine Zeit mit Aufräumen, wo doch spätestens morgen sowieso alles in Schutt und Asche liegt. Da ist er wieder, hinter seinem Pult. Nikolaus geht dir absichtlich aus dem Weg, meidet den Blickkontakt. Als wärst du eine tickende Zeitbombe.

Endlich hörst du hinter deinem Rücken die Tür gehen und weißt, ohne dich umzugucken, dass Theresa zurück ist. Wie aus dem Nichts tauchen um dich herum die anderen auf, erleichtert durchbrechen ihre Stimmen die Stille. Du drehst dich um und stützt dich auf deinen Besen. Theresa sieht ernsthaft und ein bisschen abwesend aus, wie so oft. Wahrscheinlich denkt sie über ihre Doktorarbeit nach, die sie jetzt in Angriff nehmen will. Die Konstruktion des Weiblichen in den Filmen der Nouvelle Vague. Du berufst zum zweiten Mal deinen Neid-Gerichtshof ein. Ihr hattet damals einen Riesenstreit, als du dich wegen dem Kino exmatrikuliert hast.

»Du hältst dir alle Türen offen!«, hast du sie angebrüllt, als sie dir vorwarf, taktisch unklug zu handeln. Du wolltest ihr klar machen, dass es darum geht, eine Entscheidung zu treffen und nicht nur nebenbei ein bisschen Kino zu spielen, wie es von Hausbesetzern erwartet wird. Sie hat dich nicht verstanden. Genau wie jetzt.

»Okay, dann wollen wir mal. Bitte stellen Sie sich der Reihe nach an und nehmen Sie Ihre Existenzgründungsförderung in Empfang.« Ihre Stimme trieft vor gut gelaunter Ironie. Sie zieht einen Packen Geldscheine aus dem Umschlag in ihrer Hand, und es entsteht ein lachendes Gewusel um die knisternden Bündel.

»Und Nummer fünf. Madita.« Theresas Stimme hallt nach in der plötzlichen Stille, als sie merken, dass du immer noch mit deinem Besen dastehst wie in Beton gegossen. Na los, geh schon! Geh hin, nimm das Geld und mach, dass du hier rauskommst.

»Existenzgründungsförderung!« Zu spät. Die Zeitbombe geht los. »Kaufen lassen haben wir uns! Scheiß dreckiges Investorengeld haben wir genommen, um keinen Stress zu haben mit dem Eigentümer. Ist ja auch super, ein bisschen Kohle fürs private Glück, oder?«

Markus schiebt sich schützend vor Annette, die ihren Blick kurzzeitig von innen nach außen stülpt und dich betrachtet wie eine ihr völlig unbekannte Spezies.

»Und für die akademische Karriere, Frau Doktor!« Du knallst den Besen auf den Boden, aber Theresa zuckt nur kurz zusammen und hebt resigniert die Schultern.

»Das haben wir doch schon hundertmal –«, setzt sie an und guckt zu Nikolaus, der wiederum dich anguckt, als würde er dir am liebsten den Hals umdrehen. Dann drückt sie ihm einen zweiten Packen Geld in die Hand, schnappt ihre Tasche und zischt im Vorbeigehen: »Du kannst mich gerne anrufen, wenn du wieder runter bist. Hat ja keinen Sinn so.«

Markus legt seinen Arm um Annette, murmelt was von »Wir müssen dann auch mal« und schiebt sie schnell hinterher.

Nikolaus ist noch unentschieden. Kurz denkst du, er wird gleich auf dich zukommen und dich in den Arm nehmen. Du fragst dich, ob du dann heulen oder ihm eine runterhauen würdest. Aber er bückt sich und hievt seinen Kartonstapel hoch. »Du musst wirklich alles kaputtmachen«, murmelt er in deine Richtung. »Ich fahr schon mal nach Hause.« Dann ist er weg.

Du blickst dich um, suchst nach jemandem, auf den du noch losgehen kannst, um dein Level zu halten. Aber es ist niemand mehr da.

Du lehnst den Besen an die Wand. Zeit, nach Hause zu gehen und dein Leben neu zu erfinden, bevor du dreißig wirst. Lange hin ist es nicht mehr. Es kommt dir vor, als würdest du in Zeitlupe nach deiner Jacke greifen und dich in Bewegung setzen. Als du dich ein letztes Mal umdrehst, bemerkst du, wie Hansen senior und junior hinten bei der Leinwand erleichtert ihre Brotdosen verschließen und aufstehen, um sich an die Arbeit zu machen. Für einen kurzen Moment hast du die Vision, die Diva würde ihnen auf den Kopf krachen. Aber sie lässt nur wie immer ein leichtes Klirren hören, als die Tür hinter dir ins Schloss fällt.

5 Dreck

Seit sie die Fußgängerzone gebaut hatten, war der Dreck deutlich weniger geworden. Hinnarck starrte missmutig auf den kleinen Haufen nasser alter Blätter. Sie verklebten die harten Borsten seines Besens und er musste sich immerzu bücken, um sie mit der Hand abzumachen.

Im Sommer ließen die Touristen überall ihre Eispapiere und Lollistiele und Sonnencremetubendeckel fallen. Hinnarck hatte immer genug zu fegen und genug zu gucken. Jetzt im Winter war der Bahnhofsvorplatz von Harmsdorf ab nachmittags wie ausgestorben. Trotzdem fegte Hinnarck jeden Montag das Stück Bürgersteig vor seinem Haus. Er machte das, seit er ein Junge gewesen war, gleich nach Kriegsende.

Damals hatte seine Mutter immer aus dem Küchenfenster geguckt und ihn wissen lassen, dass sie sehr wohl sah, wenn er zu den anderen Kindern entwischte, die am Brunnen spielten und ihre Schilfboote schwimmen ließen.

Automatisch guckte er nach oben. Seine Mutter war schon lange tot. Da war nur Emmas unbewegliches Gesicht hinter der Scheibe. Er wusste nie, ob sie ihn eigentlich anguckte oder nicht. Aber er sah die lange Aschewurst an der Spitze ihrer Zigarette und schüttelte den Kopf. Irgendwann würde sie das ganze Haus abbrennen und sich selbst dazu.

Hinnarck fegte weiter. Er hielt seine massige Gestalt aufrecht, auch wenn der Wind ihm ab und zu nasse kalte Fetzen Schneeregen ins Gesicht klatschte.

»Schönen guten Tag auch, Hinnarck!«

Manchmal hatte er den Verdacht, dass Charlotte mit Absicht immer dann aufkreuzte, wenn er gerade die Straße fegte. Wie in einem Stück, das er schon zu oft gesehen hatte, trat sie von links auf, mit Persianer und Fellmütze, im Arm einen Blumenstrauß für das Grab ihres Vaters. Die Tochter vom Herrn Studienrat Weidenkamp. Das hatten sie jeden in Harmsdorf merken lassen, dass sie was Besseres waren. Schon als Charlotte noch eine Deern war, mit blonden Zöpfen und gestärkter Schürze.

»Moin«, brummte Hinnarck und guckte demonstrativ von Charlotte zu Emma hinter der Scheibe. Emma war verschwunden. Charlotte zögerte, dann ging sie weiter. Hinnarck atmete erleichtert aus. Wenn man ihn fragte, war sie schuld an Emmas Zustand. Sie musste seiner jungen Frau damals all die Flausen in den Kopf gesetzt haben von Arbeit und Unabhängigkeit. Und er war nicht hier gewesen, um sie zu beschützen. Hinnarck sah auf die Uhr. Dann stellte er den Besen ab. Es war Zeit für Emmas Tabletten.

6 Krimis

Nikolaus tigerte durch Maditas Wohnung und kam sich vor, als sähe er das Ganze zum ersten Mal. Durch die Schließung des Kinos hatte sich sein Alltag aufgelöst und war einer Art Katerstimmung gewichen, die ihn mit der gewohnten Umgebung fremdeln ließ. Er fühlte sich wie in einem skurrilen Heimatmuseum. Wie konnte sie bloß in diesem voll möblierten Altersheim wohnen?

Madita, die quer über dem Sofa hing und auf den laufenden Riesenfernseher im Nussbaumdesign starrte, schien das überhaupt nicht zu merken. Nikolaus hatte es langsam satt, ignoriert zu werden. Normalerweise trieb Madita ihn damit in den Wahnsinn, dass sie ständig drei Sachen auf einmal dachte oder tat. Wenn sie aber einmal damit aufhörte, dann ging ihre Aktivität auf null, wie bei einem Androiden, den man abschalten konnte. Er hatte keine Ahnung, wie lange ihr Stand-by-Modus diesmal dauern würde.

Unentschlossen kam er vor dem furnierten Bücherregal zum Stehen und zog wahllos einen der vielen Krimis heraus. »Deine Oma muss ein Heidengeld für diese Dinger ausgegeben haben«, versuchte er ein Gespräch in Gang zu bringen.

Nichts.

Er trank einen großen Schluck Wodka aus der Flasche auf dem Tisch, die letzten Reste aus der Kinobar.

Nichts.

Er fasste in seine Jackentasche, zog das ganze Geld heraus und ließ es über Maditas Kopf frei. »Armes reiches Mädchen! Sitzt in der Wohnung ihrer toten Oma und weiß nicht, was sie will.«

Die Provo-Nummer drang zu ihr durch. »Lass meine Oma in Ruhe!«, fauchte Madita. »Die war ihr Leben lang Putzfrau und hat sich nicht kaufen lassen!« Und wieder zurück auf den Fernseher.

Nikolaus verfluchte sich, weil er die Oma erwähnt hatte. Sie war vielleicht Maditas einziges Vorbild, wenn sie überhaupt eins hatte. Als die Oma starb, hatte Madita die Wohnung in der runtergekommenen Arbeitersiedlung mit allem Drum und Dran übernommen. Das war die Zeit, als sie sich in dem alten Kino über den Weg liefen. Sein eigenes großbürgerliches Elternhaus steckte ihm noch in den Knochen, und Madita inmitten ihres verblichenen proletarischen Miefs war ihm exotisch und begehrenswert erschienen. Doch im Lauf der Zeit hatte er sich daran gewöhnt.

Er trank weiter und starrte abwechselnd auf seine Freundin und auf den Krimi in seiner Hand. »Ich wünschte, ich wäre so ein Detektiv und könnte mich in anderer Leute Leben rumtreiben statt in meinem eigenen«, murmelte er vor sich hin und schielte auf Madita. Schon besser. »Hey, wir könnten ein Detektivpaar sein, so wie ...«, er ließ sich von der Bücherwand inspirieren, »Nick und Nora bei Hammett oder Maggie und Nick bei Carlson.«

»Hab gar nicht gewusst, dass du die alle gelesen hast«, knurrte Madita, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

Noch ein Schluck und – »Nick und Mattie!«, prustete Nikolaus los. War das etwa ein Lächeln? »Aber wir haben gar keinen Fall!« Suchend sah er sich um. »Keine Geheimfächer, keine versteckten Botschaften!« Die Wodkaflasche eilte ihm zu Hilfe. »Mattie!«

Für einen kurzen Moment sah er sie doppelt auf dem Sofa liegen. Und nicht nur das. Da lagen zwei verschiedene Maditas, eine in Jeans und Turnschuhen und eine in einem bunten Sari. Beide schauten ihn an. Nikolaus kniff die Augen zusammen, bis die indische Madita wieder verschwand.

»Na klar! Dein richtiger Vater. Der große Unbekannte aus Indien!« Maditas Gesicht zeigte ihm, dass er heute noch nicht alle Fettnäpfchen hinter sich gebracht hatte. Aber dank des Wodkas war ihm das jetzt egal. Seine neue Rolle gab ihm Mut. »Wenn wir ihn finden, kriegst du das ganze Geld, wenn nicht, kriege ich es.«

»Du spinnst ja. Nimm das Geld, ich will’s nicht.« Sie war wütend, aber wenigstens war er nicht mehr Luft für sie.

»Und was willst du sonst machen?«

»Ich will ein Kino, das mir keiner wegnehmen kann!«

Er wagte es, sich neben sie zu setzen. »Aber ohne Kohle kein Kino, Schätzchen!«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Madita rückte von ihm ab und sah ihm direkt ins Gesicht. »Du willst ein Spiel spielen, ja? Aber das kannst du vergessen. Du weißt genau, dass Emma krank ist. Und Hinnarck – du hast es immer noch nicht kapiert. In Norddeutschland schweigt man lieber und trinkt noch einen. Prost!«, sagte sie, hob die Wodkaflasche an den Mund, nahm einen tiefen Schluck und zwinkerte ihm zu.

Oder hatte er schon wieder eine Halluzination? War sie wirklich aus ihrer Starre aufgewacht? Ihr Gesicht war jetzt ganz nah an seinem. Unsicher wich er ihrem Blick aus und drehte den Kopf zur Seite. Wollte sie ihn auflaufen lassen? Maditas Oma in ihrem Bilderrahmen sah ihn auch an.

»Komm schon, du Krimiheld«, säuselte es neben ihm und er fühlte Maditas Hand unter seinem T-Shirt.

Mit letzter Kraft griff er nach dem Bilderrahmen und legte ihn mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch. Dann drehte er sich zu ihr um und sie kullerten vom Sofa auf den falschen Perserteppich.

7 Nachtschicht

Durch die offene Stubentür dringt ein Familienfest. Leute sitzen um einen großen Tisch, essen Grünkohl und trinken Korn. Du selbst, kleines Mädchen mit Pferdeschwanz, sitzt auf der Treppe im Flur und spielst mit einem Schlüsselanhänger. Ein kleiner Holzelefant, mit schillernden Pailletten besetzt. Das Stimmengewirr vermischt sich mit dem Dröhnen des Fernsehers aus dem Zimmer gegenüber. Du weißt, da sitzt deine Mutter ganz allein, guckt einen ihrer kitschigen Nachmittagsschinken mit turbantragenden Indern und heult. Hinnarck schwankt aus dem Festzimmer an dir vorbei zu Emma. Sie streiten sich, weil Emma nicht rüberkommt.

Und dann – eine Tante? Wohl eine von Hinnarcks Schwestern auf dem Rückweg vom Klo. Entdeckt dich auf der Treppe.

»Na du kleene Schwatte. Dich hätten se glatt mitgenommen damals. Hahaha!« Das Lachen dröhnt in deinen Ohren. »Nur ein Spaß, nicht weinen, Lütte. Komm zu Tante Marianne.«

Du schießt aus dem Schlaf und schnappst nach Luft. Nikolaus befreit sich brummend aus deinem Arm und schläft weiter. Reste von Traumbildern legen sich über deine Wahrnehmung. Du willst dich aufsetzen und stößt mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Wo bist du? Langsam kommt die Erinnerung. Du liegst auf dem Boden. Wenn du die Hand auf den Unterleib legst, spürst du noch ein leichtes Ziehen. Sex und Versöhnung, ein altbewährtes Team, wie du und Nikolaus. Vor allem hat er endlich aufgehört zu reden. Sonst hätte er immer weiter herumgeritten auf dem Inder.