Mami 1847 – Ich gebe mein Kind nicht her

Mami –1847–

Ich gebe mein Kind nicht her

Roman von Reutling Gisela

Es gibt Sekunden der Klarsicht, die gleichzeitig Verzückung und Erschrecken in uns erwecken. Für Marion Hesse war es jener Moment, in dem sie Richard Wiltons Blick auffing.

Sie hatte sich nach beendeter Sitzung erhoben und die Unterlagen zusammengelegt. Sie wechselte ein paar Worte mit einem der Konferenzteilnehmer, er wollte sich bei ihr für ihre Dienste bedanken. Mit der ihr eigenen höflichen Unverbindlichkeit lächelte sie ihm zu. Sie hatte ihren Job getan, weiter nichts.

Dann wandte sie plötzlich wie auf einen telepathischen Befehl hin den Kopf. Ihr Gesicht wurde ernst, sie sah Wilton an. Ihr Herzschlag stockte. Silke stand, inmitten des allgemeinen Aufbruchs, wie in einer atemlosen Stille, während sie sich in die Augen sahen. Versunken, wie gebannt von einer unbegreiflichen Macht, gegen die sie sich nicht wehren konnte.

Endlich rissen sich ihre Blicke voneinander. Ja, wie ein Losreißen war es, das eine Spur hinterließ.

Marion atmete langsam und vorsichtig, bis ihr Herz wieder in seinem normalen Takt schlug.

Was war denn nur geschehen? Ihr Blick hatte sich mit dem eines Mannes getroffen, der seit fast drei Stunden an diesem Konferenztisch gesessen hatte. Ein Engländer, wie einige der anderen Herren auch, für die sie hier gedolmetscht hatte. Es waren Industrielle, leitende Persönlichkeiten in Handel und Industrie, die über europäische Wirtschaftsfragen berieten.

Sie hatte sich so völlig auf ihre Aufgaben konzentrieren müssen, daß es nichts anderes für sie geben konnte. Bis zu diesem Augenblick…

Vorbei. Vergessen. Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr, das leicht zu verwirren war, sondern eine sechsundzwanzigjährige berufstätige Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand.

Sie verließ das Gebäude und ging, ohne sich umzusehen, über den Parkplatz zu ihrem Wagen. Sie wollte ihn gerade aufschließen, als sie Wilton auf sich zukommen sah.

Wieder hielt sie mitten in der Bewegung inne, als wittere sie eine Gefahr. Und doch – und doch –. Es war wie ein leichter Taumel hinter ihrer Stirn, sie verspürte das Pulsen ihres Blutes bis in die Fingerspitzen.

»Ich möchte mir die Frage erlauben, ob ich Sie zum Essen einladen darf«, sagte er.

Diesmal wich Marion dem Blick seiner stahlgrauen Augen aus. Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, lächelte höflich und sagte mit einer Gelassenheit, die sie nicht empfand: »Danke, nein. Ich möchte lieber gleich nach Hause.«

»Ich verstehe. Sie werden sich abgespannt fühlen nach dieser Marathon-Sitzung. – Reicht es auch nicht zu einem kurzen Drink in der Hotelbar?«

Marion schüttelte den Kopf. Sie schickte sich an, in ihr Auto zu steigen. »Vielleicht ein anderes Mal, Mister Wilton. Guten Abend.«

»Auf Wiedersehen, Frau Hesse«, sagte der Mann. Er trat zurück, als sie die Tür zuzog und sich anschnallte.

Marion fuhr auf direktem Weg nach Hause. Sie vergaß, daß sie unterwegs noch etwas hatte einkaufen wollen. Es fiel ihr erst ein, als sie in ihrer Wohnung war. Aber sie hatte keine Lust, noch einmal wegzugehen, obwohl der Supermarkt gleich um die Ecke lag und bis neunzehn Uhr geöffnet hatte. Würde sie eben ein Knäckebrot essen, die eiserne Ration, die immer vorhanden war. Wozu brauchte sie Reiseproviant, es gab unterwegs Raststätten genug.

Sie schlüpfte aus ihren hochhackigen Schuhen und legte das hellgraue, schmalgeschnittene Kostüm ab, das sie zu Anlässen wie dem heutigen gern trug, weil es klassisch und von dezenter Eleganz war. Ab morgen, übermorgen würde sie nur noch leichte Sandaletten tragen und Ferienkleidung, bunt und luftig.

Nein, es würde kein Wiedersehen geben mit einem Mann namens Wilton, der sie auf niegekannte Weise aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Verrückt, daß ihr so etwas passieren konnte.

Sie zog ihre Jeans an und ein lose fallendes Hemd darüber, dann brühte sie sich einen Tee auf. Kaum hatte sie ihn abgegossen, da läutete das Telefon. Ihr Freund Manfred war am Apparat.

»Hallo Marion!« sagte er aufgeräumt. »Wenn du willst, können wir uns heute abend noch mal sehen. Ein Kollege ist bereit, mich zu vertreten.«

»Wir haben uns doch schon verabschiedet, Manfred.«

»Na und? Doppelt hält besser. Was tust du gerade?«

»Ich mache mir ein äußerst bescheidenes Abendessen, meine Vorräte habe ich in den letzten Tagen so ziemlich ausgehen lassen.«

»Dann können wir doch zusammen essen gehen«, schlug Manfred eifrig vor.

»Das geht leider nicht. Ich habe vorhin schon eine Einladung zum Abendessen ausgeschlagen.«

»Waas?« entfuhr es ihm. »Etwa von einem dieser Managertypen, denen du heute zu Diensten sein mußtest?«

»Genau.« Marion lächelte ein wenig. »Aber du weißt ja, daß es keine privaten Anknüpfungspunkte für mich gibt.«

»Das hoffe ich schwer. Wenn du mich schon schnöde drei Wochen allein läßt, wirst du nicht am letzten Abend noch mit einem anderen ausgehen. Doch um auf meine Frage zurückzukommen: Krieg ich noch einen Abschiedskuß, ja oder nein?«

»Nein, Manfred, sei vernünftig. Ich bin kaum eine halbe Stunde zu Hause, die Sitzung hat bis sechs gedauert, und ich muß noch packen und etwas aufräumen. Morgen vormittag kommt Margerita und will die Wohnung gründlich sauber machen. Also, ich habe wirklich keine Zeit mehr für dich.«

»So was Kaltherziges«, entrüstete sich der junge Mann. »Liebst du mich nicht mehr?«

»O Gott«, lachte Marion auf, mit einer Spur von Ungeduld, »mach’s nicht so dramatisch. Versieh du schön deinen Dienst in der Klinik, wie es vorgesehen war, und gönne mir meinen wohlverdienten Urlaub.«

»Okay«, kam es enttäuscht zurück. »Dann bleibt mir nichts, als dir erholsame Tage zu wünschen, vergiß mich nicht, ruf mich an, schreib mir…«

»Ja, ja«, unterbrach sie ihn, »das hast du mir alles schon mal gesagt, und nun ist es gut. Mein Tee wird kalt, Manfred. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir.«

»Gute Fahrt, paß auf dich auf. Tschüs, Marion!«

»Adieu, Manfred.«

Marion holte kurz Atem, als sie auflegte. Manchmal wurde es ihr schon zuviel, daß er glaubte, sie könne immer für ihn dasein. Zwar war er zwei Jahre älter aus sie, aber in seiner Art war er manchmal noch ein großer Junge. Nur seinen Beruf nahm Manfred Sievers sehr ernst. Er war Assistenzarzt am Johannes-Krankenhaus.

Daß eine engere Bindung daraus wurde, lag nicht zuletzt an ihrer Freundin Beate, die sie wieder zusammengeführt hatte. Beate fand nämlich, daß Marion nun lange genug allein gewesen sei. Ewig durfte man doch nicht einer verlorenen Liebe nachtrauern, war ihre Meinung gewesen, die sie temperamentvoll vertrat.

Nun, ewig konnte man ein Jahr nicht nennen. Ein Jahr konnte kurz und auch lang sein. Dieses war ihr sehr lang erschienen, weil sie etwas niederkämpfen mußte, das nicht nur für ein Heute gedacht, sondern schon mit Plänen für die Zukunft behaftet war.

Aber Herbert hatte sich für eine andere entschieden. Die Frage nach dem Warum war offengeblieben. Sie wäre nicht hübscher, nicht klüger, nicht attraktiver als sie, hatte Beate ihr mit Heftigkeit versichert, die jene einmal kennengelernt hatte. Was sollte es. Solche Dinge geschahen.

Sein Bild war schließlich verblaßt, die Fotos zerrissen, die Erinnerungen an eine einmal glückliche Zeit erloschen, wie eine flackernde Kerze schließlich erlischt.

Aber eine Ernüchterung war zurückgeblieben. Marion glaubte nicht mehr an die große Liebe. Die gab es nur in Romanen und Filmen. Man konnte einen Mann lieben, aber man mußte sich ein Stück von seinem Selbst bewahren.

Mit dieser vernünftigen Einstellung ging Marion daran, Koffer und Reisetasche zu packen. Ihren Wagen wollte sie morgen früh noch auftanken, denn bis nach Südfrankreich war es immerhin ein ganzes Stück.

*

Am nächsten Abend, als die Sonne glutrot unterging, kam Marion in dem kleinen, malerisch zwischen Meer und Olivenhainen gelegenen Ort an, der sich noch viel vom Reiz eines ehemaligen Fischerdorfes bewahrt hatte.

Entzückt sah sie sich um. Hier gab es keine Luxusyachten, wie sonst vielerorts an der Riviera, kein mondänes Leben und Treiben, nur Kähne wiegten sich an den Bootsstegen, alles war ein Bild des Friedens und der Anmut.

O ja, sie hatte ihr Ferienziel gut gewählt!

Das Hotel, in dem sie ein Zimmer vorbestellt hatte, war dem Stil der Landschaft angepaßt, mit Rundbögen, die zu einem Hof mit rieselndem Brunnen führten, mit weinlaubumrankten schattigen Terrassen, die einen herrlichen Ausblick boten. Die Gasträume waren reizend und geschmackvoll eingerichtet, weder hier noch in den Zimmern fehlte es an Komfort.

Frohgemut richtete sich Marion häuslich ein, bevor sie zum Essen hinunterging. Man pflegte hier spät zu speisen. Merkwürdigerweise verspürte sie keine Müdigkeit nach der langen Fahrt. Sie fuhr gern und gut, auch weite Strecken.

Es war Anfang Mai, noch keine direkte Ferienzeit, deshalb war das Hotel vorerst nur mäßig besetzt.

»Die Touristen kommen erst später«, sagte die freundliche Inhaberin zu ihrem neuen Gast, »aber lärmenden Betrieb gibt es hier nicht. Wer sich vergnügen will, geht nach Nizza, dort gibt es Discos und Spielcasino, und natürlich die Elegance der großen Welt.«

»Die suche ich nicht«, versetzte Marion. »Ich bin beruflich sehr eingespannt und möchte nur meine Ruhe haben.«

»Dann sind Sie hier gerade richtig«, lächelte die andere. Sie beendeten ihre kleine Plauderei, als der Kellner eine delikate, nach Rosmarin und sonstigen Kräuter duftende Speise servierte, zu der Madame »Bon apétit« wünschte.

Den hatte Marion. Sie trank ein Glas Rotwein dazu, der sie nun doch alsbald in eine wohlige Müdigkeit einhüllte. Als die Sterne am Himmelszelt aufzogen, ging sie in ihr Zimmer und sank mit einem Gefühl tiefen Wohlbehagens in ihr breites Bett.

Als sie erwachte, war es halb acht. Wahrhaftig, sie hatte neun Stunden durchgeschlafen wie ein Kind. Und wie neugeboren fühlte sie sich auch, als sie duschte und sich fertig machte. Sie packte den Rest aus ihrem Koffer aus, brachte alles ordentlich im Schrank und in den Schubladen unter.

Wie schön war es doch, alle Zeit der Welt zu haben.

Bevor Marion das Zimmer verließ, trat sie noch einmal vor den großen Schrankspiegel, der das Bild einer schlanken mittelgroßen Frau in hellen Leinenhosen und sonnengelbem Baumwollpulli zurückwarf. Sie strich sich das kurzgeschnittene glatte Haar zurecht, das die Farbe reifer Kastanien hatte, dann schulterte sie ihre Tasche und lief leichtfüßig die Treppe hinab.

Im Frühstücksraum waren die Tische gedeckt. Marion hätte es vorgezogen, auf der Terrasse zu frühstücken, aber die Wirtin, die anscheinend abends die letzte und morgens die erste war, sagte zu ihr: »Es ist noch recht frisch draußen, Mademoiselle. Wenn Yvonne hier serviert hat, wird sie die Liegestühle im Garten aufstellen. Dort haben Sie die Morgensonne.«

»Ich möchte eigentlich zuerst die Umgebung ein bißchen erkunden«, meinte Marion, während sie zu ihrer Serviette griff.

Madame ließ es sich nicht nehmen, ihr ein paar Tips zu geben. Sie wünschte Mademoiselle einen wunderschönen Tag, bevor sie sich einem anderen Tisch zuwandte, an dem ein älteres Ehepaar Platz genommen hatte.

Mademoiselle… Marion lächelte in sich hinein. In Frankreich wurde eine unverheiratete Frau selbst bis ins hohe Alter so angeredet und würde es sich verbeten, anders betitelt zu werden. Wohingegen ›Fräulein‹ zu Hause fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden war. Andere Länder, andere Sitten.

Sie ließ es sich schmecken, sah dabei durch das breite Fenster hinaus auf das in unwahrscheinlicher Bläue schillernde Meer. Die Côte d‘Azur, die Blaue Küste, es konnte keinen treffenderen Namen dafür geben. Immer wieder war der Anblick überwältigend, auch wenn man wußte, daß dieses tiefe Blau seine Ursache in der Tiefe des Meeres hatte, die eine besondere Brechung des Lichtes bewirkt.

Es war nach zehn Uhr, als Marion sich auf den Weg machte, neugierig auf alles Neue, das sie entdecken wollte.

Sie wandte sich zum Ortskern hin, bummelte durch schmale Gassen mit bunten Häusern und roten Flachdächern. Wäschestücke flatterten im Frühlingswind, kleine Kinder spielten auf den Wegen, auf Treppenstufen und Stiegen sonnten sich träge die Katzen.

Bald war sie wieder am Strand, der hier überall nahe war. Dort saßen Fischer und flickten ihre Netze, wie es ihre Vorfahren wohl schon zu allen Zeiten taten. Es war kein leichtes Brot, die Jüngeren suchten ihren Verdienst denn auch eher in der Touristikbranche, die allenthalben Hochkonjunktur hatte. Aber die Alten hielten die Tradition aufrecht und fuhren Nacht für Nacht hinaus, um am frühen Morgen die Hotels mit den frischesten und delikatesten Meeresfrüchten zu beliefern.

Weiter draußen zog Marion ihre Sandaletten aus und lief bloßfüßig durch den Sand. Kleine Wellen umspülten ihre Zehen. Uij, kühl war das Wasser noch. Mit Schwimmen würde sie wohl noch ein paar Tage warten müssen.

Als sie ins Hotel zurückkam, war Yvonne schon dabei, die Tische für das Mittagessen zu decken. Daran mochte Marion freilich noch nicht denken, hatte sie doch spät und gut gefrühstückt. Sie beschloß, sich im Garten auf einem Liegestuhl auszustrecken. Dort waren die Sonnenschirme schon aufgestellt.

»Ein Herr hat nach Ihnen gefragt, Mademoiselle«, sagte das Mädchen, »er sitzt draußen auf der Terrasse.«

»Nach mir?« fragte Marion verwundert. Sie ging hinaus.

Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie den Mann erkannte, der sich von einem der Tische erhob.