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Über dieses Buch:

Wer tief gesunken ist, kann noch weiter fallen … Die junge Shelley ist mit der Erziehung ihrer sechs Kinder völlig überfordert – und dann geschieht das Unfassbare: Ihr 11-jähriger Sohn Joey wird beschuldigt, ein Baby getötet zu haben. Die Medien wittern die Story des Jahres. Ein Aufschrei nach Vergeltung geht durch die englische Bevölkerung. Und eine öffentliche Hetzjagd auf die alleinerziehende Shelley und ihre Kinder beginnt, die gnadenlos ihre Opfer fordert …

Eiskalt, brutal – und very, very British!

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Romane »Das Ginsterhaus«, »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Das Hotel bei den Klippen«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge« und »Der Nachmieter«.

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eBook-Neuausgabe November 2016

Copyright © der Originalausgabe 2002 Gillian White

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Refuge« bei Bantam Press, a division of Transworld Publishers, London.

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Helen Hotson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-95824-772-7

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Gillian White

Das Familiengrab

Roman

Aus dem Englischen von Isabella Bruckmaier

dotbooks.

1. Kapitel

Ihr war sofort klar, wer das Baby angezündet hatte. Acht Wochen war es erst alt gewesen. Ein winziges, neugeborenes Baby. Die graukörnigen Bilder der Überwachungskameras zwei Läden entfernt von Clinton Cards brauchte sie sich nicht anzusehen, diese Aufnahmen von den Jungs, die die High Street hinunterrannten, zwischen den Bussen durchschossen, den einzigen Fahrzeugen, die in dieser Fußgängerzone zugelassen waren.

Kennen Sie das Gefühl, im Meer zu schwimmen und plötzlich bricht über Ihnen eine riesige Welle zusammen, zieht Sie hinunter auf den Grund und Sie haben gerade noch Zeit für den einen Gedanken – nämlich dass Sie sterben? Genau dieses Gefühl hatte Shelley, als sie ihren Sohn in den Nachrichten sah. Und während diese Erkenntnis sie unter sich begrub, wunderte sie sich darüber, welche albernen Kapriolen der Verstand in solchen wesentlichen Momenten des Lebens schlägt – nur ein einziger Gedanke raste nämlich durch ihren Kopf: Wo zum Teufel hatte dieser Mistkerl denn dieses Mal schon wieder seine blaue Jacke gelassen?

Dem Rest der Meldung versperrte sich Shelley, nur ein, zwei Wörter sprangen sie an wie Wölfe, Wörter wie Paraffin und eine weinende Mutter, Intensivstation und ein silbernes Zippo-Feuerzeug mit einem eingravierten Löwen, das von einem Passanten am Tatort gefunden und bei der Polizei abgegeben worden war. Starr vor Schock zog sie an ihrer Zigarette. Oben hörte sie ihr Baby schreien. Joey teilte sich mit Julie ein Zimmer. Wahrscheinlich kam er gleich runter, vom Schlaf zerzaust und sich die Augen reibend, Kindermörder und Unschuldsengel zugleich.

Später würde Shelley Zeit finden, darüber nachzugrübeln, ob sie wohl die einzige Mutter war, die sich vor zwei Dingen am meisten fürchtete: ihrem eigenen Kind könne etwas zustoßen oder ihr Kind könne eines Tages einem anderen ein Leid zufügen. Letzteres nicht etwa, weil dieses Kind besonders missraten schien, sondern weil sie sich einfach manchmal vorstellte, was für dunkle Seiten in ihrem Sohn schlummerten. Joey hatte nämlich die besten Voraussetzungen. Sosehr ihn Shelley liebte, der arme Teufel hatte eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine glückliche Zukunft: zu viele Dads, zu viele Umzüge, zu viele Schulen, zu viel schief gelaufen. Wer normal ist und angepasst, der rennt nicht herum und Verbrennt Babys.

Verbrennt Babys.

Verbrennt Babys, die erst acht Wochen alt sind.

Diesen Gedanken blendete Shelley aus. Kein Schrei der Welt war laut genug, um hier Trost zu schaffen, weshalb sie versuchte ihre Kräfte zu sammeln, um sich gegen das, was auf sie einstürzen würde, zu wappnen.

Wie lange würde es noch dauern, bis die Polizei vor ihrer Tür stand, bis die Lehrer, die Nachbarn und alle anderen, die mit drinsteckten, davon erfuhren? Dann würden sie ihr ihren Jungen wegnehmen und ihn der Allgemeinheit zum Fraß vorwerfen, diesem Hass, den die Gesellschaft normalerweise für Pädophile und Vergewaltiger aufsparte? Der Film war grobkörnig, nur schemenhaft waren Personen zu sehen. Shelley hatte Joey an seinem Gang erkannt. Die Tat selbst hatten sie nicht auf Band, der Bürgersteig außerhalb von Clinton Cards wurde nicht von Kameras überwacht. Nein, es gab nur Bilder von der Bande von der Zeit vor und nach der Brandstiftung.

Shelley stand auf, ging durchs Zimmer und schob den Vorhang beiseite. Draußen war es dunkel. Niemand zu sehen. Noch nicht.

Aber das Baby. Das Baby ist tot. Das Baby starb an einem Schock.

Als Kind rief man ihr Schimpfworte hinterher, weil sie eine Schielbrille tragen musste. Ihre Kindheit war wegen dieser ständigen Spötteleien die reinste Hölle gewesen. »Brillenschlange. Brillenschlange.« Jetzt kreisten Shelleys Gedanken um den mordlüsternen Mob, sich durch Gedränge schiebende Polizeiwagen und sensationshungrige Reporter. Die Gemeinheiten, die sie in ihrer Kindheit hatte über sich ergehen lassen müssen, waren ein Sonntagsspaziergang verglichen damit, wozu eine aufgebrachte Öffentlichkeit bei einem Babymord in der Lage war.

Frauen mit Kinderwagen.

Schlägertypen mit Knüppeln.

Einsame Omas mit Zungen so spitz wie Stricknadeln.

Sie hatte nicht vor, ihr ältestes Kind der wütenden Menge auszuliefern. Wenn Joey log, würde sie ihm den Rücken stärken, mit der ganzen Kraft, die in ihrem zähen Körper steckte. Aber in ihrem tiefsten Inneren war ihr klar, Kinder in diesem Alter können ihre Klappe nicht lange halten. Es hieß, sie wären zu fünft gewesen. Fünf… sie mussten alle unter zwölf sein. Einer der Kerle würde irgendwann anfangen zu singen, und dann kämen die Geständnisse der anderen so schnell wie die Windpocken. Es würde nicht lange dauern, und die Presse wüsste Bescheid. Angriff im Morgengrauen. Kameras und Mob. Lieber Gott, bitte mach, dass ich das nur träume. Mach, dass ich aufwache, nach oben gehe und nach den Kindern sehe. Dass Joey träumend in seinem Bett liegt. Dass ich wieder runtergehe und mir eine Tasse Kaffee aufbrühe, mich vor den Kasten hocke und morgen früh jemandem von diesem Albtraum erzähle.

Bei aller Liebe, wie könnte ihr Joey, ihr elfjähriger Sohn, nach Hause kommen, seine Pizza essen, sich mit den anderen Questions of Sport ansehen und anschließend ins Bett gehen und schlafen? Wie zum Teufel könnte Joey das tun mit dem Wissen, was er getan hatte? Hatten sie mit der Meldung die Sechsuhrnachrichten eröffnet, während Joey draußen einen Ball herumkickte, vielleicht sogar mit seinen mitschuldigen Kumpeln, während sie selbst hier in der Küche Jason einen Klaps gab, weil er irgendeinen Blödsinn angestellt hatte?

Es hieß, es wäre an diesem Nachmittag passiert. Shelley zermarterte sich das Hirn, was genau vorgefallen sein konnte. Sie konnte sich keinen Fehler erlauben, wegen der Bullen. Das hieß, sie musste alles genau mit Joey absprechen. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal mit diesen Typen, mit Marcus und Shane Lessings und ihrer Bande, die Schule geschwänzt. Er hatte zwei Pfund haben wollen, um sich in der Schule was zu essen kaufen zu können, und Shelley hatte auf ihn eingeredet, das auch wirklich zu tun, sie werde ihn kontrollieren. Aber er wusste genau, wie ernst er ihre Worte zu nehmen hatte. Erst vor kurzem hatte Shelley angefangen, die Kinder die Straße hinunter zu dem neuen Familienzentrum zu bringen, wo es zumindest Kaffee und Tee und ein paar Frauen gab, mit denen man quatschen konnte. Ihre drei Jüngsten, die noch nicht schulpflichtig waren, konnten vormittags mit den neuen Spielsachen spielen, was es für Shelley einfacher machte. Sie hatte dann nur noch das Baby, um das sie sich kümmern musste. Joey war in der letzten Klasse der Grundschule. Kez, er war sechs, war der Nächste. Dann kamen die Kleinen, Saul, Jason sowie Casey und Julie. Sechs Kinder. Kein Mann. Kein nennenswertes Einkommen und noch keine dreißig Jahre alt.

So hatte sich Shelley ihr Leben bestimmt nicht vorgestellt.

Obwohl ihre Mutter sie immer gewarnt hatte.

Mannstoll hatte Mum sie immer genannt. Du wirst es schon noch lernen. Hatte sie aber nicht. Sie war zu naiv, das war ihr Problem. Und sie war süchtig nach Anerkennung. »Brillenschlange. Brillenschlange.« Mit zwölf wurde sie ihre Brille los, und dann hörten diese Hänseleien auf. Mit einem Schlag war sie hübsch, Shelley Tremayne war endlich ein ganz normaler Teenager.

Mum stammte aus Cornwall, war dort geboren worden und aufgewachsen. Dad allerdings war Chinese. Er arbeitete als Steward auf einer Fähre. Er sagte, er sei Seemann, doch seine Uniform war enttäuschend – in dieser weinroten Hose und der dazu passenden Weste sah er eher wie ein Billardspieler aus. Er machte sich aus dem Staub, als Shelley sechs war. Und er kam nie mehr aus Santander zurück. Ab diesem Tag brach Iris jeden Kontakt zu seiner Familie ab. Sie heiratete nie wieder.

Und jetzt war auch Shelley wieder ohne Mann. Die Katastrophe war über sie hereingebrochen, und Shelley hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Doch wie nahe musste man jemandem stehen, um mit ihm über etwas derart Entsetzliches sprechen zu können? War es nicht eher so, dass man nebeneinander saß und jeder für sich seinen Gedanken nachhing, darauf bedacht, seine schlimmsten Befürchtungen vor dem anderen geheim zu halten? Denn was würde passieren, wenn der Partner anderer Meinung wäre? Wenn er davon überzeugt wäre, es sei am besten, sich nicht dem gnadenlosen Räderwerk des Gesetzes zu entziehen? Shelley glaubte nicht daran, jemals einen Menschen an ihrer Seite zu haben, von dem sie sicher sein konnte, er halte absolut zu ihr. Auf alle Fälle liebte niemand auf der Welt ihre Kinder so sehr wie sie.

Sie gäbe ihr Leben für jedes von ihnen.

Gott, könnte sie doch nur mit jemandem darüber reden.

Als Erstes hieße es: »Was für eine Mutter muss das sein, die einen solchen Teufelsbraten heranzieht?«

Diese Frage hatte sie sich selbst schon gestellt, früher, als ihr Leben noch normal war.

Shelley starrte das Telefon an wie ein Ertrinkender ein Floß, das weit draußen am flirrenden Horizont treibt. Die Telefonseelsorge? Schwachsinn. Als Erstes würde die Polizei herauszufinden versuchen, wer dort angerufen hatte. Und warum sollte sie in dieser Situation bei der Telefonseelsorge anrufen? Schließlich hatte sie das bisher doch noch nie getan. Nein, sie musste sich so unauffällig wie möglich verhalten. Es konnte ja sein, dass man bereits das Haus beobachtete. Sie musste zur selben Zeit wie immer ins Bett gehen, das Licht ausschalten, die Milchflasche hinausstellen. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie zitterte. Ihre Lippe blutete, weil sie, ohne es zu merken, ständig daran herumzupfte.

»Mum«, jammerte er verschlafen. »Julie heult.«

Da stand er.

Joey.

Ihr Ältester.

Ein mageres Kerlchen in Unterhosen.

Klapperdürre Beine, die von oben bis unten mit blauen Flecken übersät waren, überall Hautabschürfungen, schwarze Flusen zwischen den Zehen. Sein dichtes, schwarzes Haar wirkte fast orientalisch, und seine Augen waren so schwarz wie Kohlen. Shelleys Haare waren genauso blauschwarz gewesen, bevor sie sie zu färben begonnen hatte. Durch die Farbe und die Dauerwellen hatten sie diese Schwere verloren.

»Muuum«, nörgelte Joey. »Kommst du endlich?«

Das war’s. Den Stier bei den Hörnern packen. Shelley drehte sich um. Die Hände zu Fäusten verkrampft fragte sie ihn so beiläufig wie möglich: »Warum hattest du heute deine Jacke nicht an?«

»Darren wollte sie sich ausleihen, warum? Was ist schlimm daran?«

Sie wirbelte herum und blickte ihm in die Augen. So schmächtig sie auch war, gegen den kleinen Jungen, der verloren auf der Treppe stand, war sie eine Riesin. »Kannst du dir nicht denken, woher ich weiß, dass du deine Jacke nicht anhattest?«

»Was?«, gähnte Joey. Er schien nicht im Geringsten auf der Hut zu sein. Warum sollte er auch? Sie stellte keine Bedrohung für ihn dar. Weil sie zu nachgiebig war? Wohl eher zu müde.

Shelley trat einen Schritt näher und flüsterte: »Ich weiß, dass du diese Scheißjacke nicht anhattest, Joey, weil ich dich heute Abend ohne die Jacke im Fernsehen gesehen habe

»Was meinst du damit?« Sein Blick wirkte plötzlich wachsam.

»Du weißt ganz genau, was ich damit meine.«

»Du warst dort, Joey, stimmt’s? Du warst dort, als sie dieses Zeug auf das Baby warfen?«

»Nee…«

Sie schlug ihm ins Gesicht. Er taumelte erschrocken nach hinten. »Wag es ja nicht, mich anzulügen, nicht dieses Mal, nicht jetzt.« Sie packte ihren Sohn an einem seiner dünnen Arme und zog ihn zum Sofa. Er zitterte, wahrscheinlich vor Kälte, es war kurz vor elf, und die Heizung schaltete sich um zehn Uhr aus. Shelley hatte es gar nicht bemerkt.

»Erzähl mir, was los war«, forderte sie ihn auf. »Glaub mir, du musst es mir sagen.«

»Ich weiß nicht, was…«

Sie verpasste ihm eine weitere Ohrfeige, und er versuchte seinen Kopf mit den Armen zu schützen. »Wie konntest du nur… lieber Gott… wie konntest du? Was immer die anderen getan haben, wie konntest du nur mitmachen?« Sie schüttelte ihn. Lieber Gott im Himmel, bitte mach, dass das nicht wahr ist. »Oben ist Julie, selbst noch ein Baby. Du hast erlebt, wie die anderen aufwuchsen, hast mir mit ihnen geholfen, mit ihnen gespielt und sie im Kinderwagen herumgefahren…«

Shelley würgte, aber es kam nichts. Zitternd presste sie sich ein Papiertaschentuch vor den Mund. »Lieber Gott, Joey«, sie war so aufgeregt, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Das letzte Mal ging es ihr so bei der Geburt ihrer Jüngsten, das lag am Schock, doch dann gaben sie ihr das Pethadin. »Hast du denn kein bisschen nachgedacht… warst du verrückt… der Schmerz… das kleine unschuldige Ding und du großer Idiot mit deinen blöden Kumpeln, diesen hirnlosen, perversen Mistkerlen. Euch ist alles recht, jede Mutprobe, wenn ihr nur was zu lachen habt. Scheiße noch mal, was habt ihr euch bloß dabei gedacht…?« Nun war ihr richtig übel, doch es landete nur Galle im Taschentuch und sie drehte sich um, als sie spürte, dass das Sofa bebte.

Tränenüberströmt blickte Joey auf zu ihr. Sein Alter war wie weggewischt, er war wieder das daumenlutschende Baby, starr vor Angst und ohne jede Gegenwehr. »Wir wollten doch nicht…« Mehr brachte er nicht heraus. Seine Schultern waren schmal, wie die eines viel jüngeren Kindes. Ein Arzt hatte einmal behauptet, er sei unterernährt.

Shelley schüttelte den Kopf, bevor er auf ihre Brust sank. Seine Worte drohten sie zu ersticken.

»W… w… wie geht es jetzt…?«

»Wie geht es jetzt weiter? Das frag ich dich.«

»W… woher wusstest d… du…?«

»Du kleiner blöder Arsch. Da waren überall Kameras. Ja, ihr seid alle fünf gefilmt worden… wie ihr herumlungert, Zigaretten klaut, mit diesem blöden Ball rumkickt, ihr Nervensägen, wo hattet ihr das Benzin überhaupt her?«

»Es war kein Benzin.«

Sie atmete geräuschvoll ein und wich seinem verzweifelten Blick aus. »Erzähl mir keine Märchen.«

»Es war kein Benzin. Es war Paraffin.«

»Und woher hattet ihr dann das verdammte Zeug?«

Die Tränen strömten weiter über sein Gesicht. »Das waren Marcus und Shane. Sie ließen es bei B & Q mitgehen. Ihre Mama renoviert gerade den Flur und…«

Shelleys Stimme nahm einen bedrohlichen hohen, beinahe hysterischen Ton an. »Und was hatte das Baby damit zu tun?«

»Das war Darren Long. Er machte Blödsinn, machte halt so rum.«

»Also Darren bekam die Flasche in die Hände und warf sie in den Kinderwagen? War es so? Einfach so, aus heiterem Himmel? Ohne dass die anderen davon wussten?«

»Genauso war es, Mum. Ich schwör es. Ich schwöre

Shelley wollte nicht glauben, worüber sie und ihr Sohn gerade sprachen. »Und dann? Was geschah dann? Ich muss es wissen, Joey. Wenn du willst, dass ich dir helfe, musst du es mir sagen. Du musst mir die Wahrheit sagen.«

»Wir wollten gerade weglaufen, als sich plötzlich Connor Mason umdrehte und dieses Feuerzeug, das er gestohlen hatte, in den Kinderwagen warf.« Joey registrierte, wie blass, angespannt und verzerrt das Gesicht seiner Mutter war. »Wir rechneten doch nicht damit, dass da ein Baby drin war. Wir wussten das nicht. Das Sonnendach war oben, so eins mit Teddybären drauf. Wir dachten, der Wagen war leer und seine Mum hat das Baby mit in den Laden genommen.«

»Der Kinderwagen fing an zu brennen«, flüsterte Shelley. »Das Baby war gerade zwei Monate alt.«

Joey ließ geknickt den Kopf sinken.

»Sie schafften es nicht einmal mehr ins Krankenhaus mit der Kleinen.«

Shelley war überrascht, dass sie sich an diese Einzelheiten erinnern konnte. Sie musste diese Details unbewusst aufgenommen haben. »Sie starb noch im Krankenwagen. Ihre Mum ist total fertig. Sie haben sie mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Kann nicht reden.« Ihre Zähne schienen fast die Lippe durchzubeißen.

Joey starrte unverwandt auf seine schmutzigen Füße. Seine Zehennägel mussten unbedingt geschnitten werden. Anscheinend hatte er nichts mehr dazu zu sagen.

»Die Polizei wird dich verhören wollen«, sagte sie. »Das muss dir klar sein.«

Dieses Mal schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Sie erklärte es ihm erneut. »Sie haben dich gefilmt.«

Er schwieg.

»Ich erkannte dich sofort. Und zwei von den anderen.«

»Ja.«

»Du hast jemanden umgebracht. Du bist elf Jahre alt und hast einen Mord begangen.«

»Nein, nein, nein, das stimmt doch gar nicht.«

»Doch, Joey, genau so war es.«

»Doch keinen Mord.«

Ihr war nicht danach, sich deshalb mit ihm zu streiten. »Du hast also die Schule geschwänzt… anders hättest du um diese Zeit wohl kaum in der Fußgängerzone sein können.«

Es war zwecklos, es weiter abzustreiten. »Wir hatten Tanner in Kunst, und er kann mich nicht ausstehen.«

Was sollte Shelley darauf schon entgegnen? »Und die zwei Pfund, die ich dir für das Mittagessen mitgegeben habe?«

»Wir gingen zu McDonald’s.«

Ihre Verzweiflung wuchs ins Unermessliche. »Ach ja. Klar.«

»Ich war’s nicht Mum. Ich hab es nicht getan. Nicht die wirklich schlimmen Sachen.«

Hielt sich ihr Sohn für unschuldig? Glaubte er, er käme damit durch? Erwartete er einen Klaps auf den Hinterkopf, eine Strafarbeit, eine Woche Hausarrest? Wo lebte er denn, in irgendeinem Vergnügungspark, wo Elfjährige tun und lassen konnten, was sie wollten, jeden nach Lust und Laune anpöbeln, Rentner vor den Wettbüros Hundescheiße auf den Kopf werfen, Leute mit ihren verdammten Kickboards umfahren, Fensterscheiben einwerfen, jedermann in Angst und Schrecken versetzen und quälen, ohne dass jemand Notiz davon nahm? Ob es daran lag, dass ihnen von den Erwachsenen zu wenig Grenzen gesetzt wurden? Hatte das zu diesem entsetzlichen Verbrechen geführt? Wissen wollen, wie weit man gehen kann… Shelley fühlte sich entsetzlich. Es schien keine Antwort zu geben. Es gibt nie eine Antwort. Aus Jux ein Baby umbringen…

Die Zeitungen würden schreiben, sie habe ein Monster geboren.

Stimmte das? Könnte es so sein? Es musste sich um eine schwere Verhaltensstörung handeln, oder Joey war psychotisch. Sie würden sich seine letzten Zeugnisse vornehmen, sie würden jede Menge Anhaltspunkte finden, die schon früher Aufmerksamkeit hätten erregen müssen. Doch wer hätte die Zeichen erkennen sollen? Natürlich seine Mutter. Wer, wenn nicht seine Mutter?

Shelley drückte ihren schluchzenden Sohn an sich. »Wir werden ihnen eine Geschichte erzählen müssen.«

»Was denn für eine Geschichte?«

»Wir werden ihnen erzählen müssen, dass du hier warst, zu Hause, und nicht auch nur in die Nähe der Fußgängerzone gekommen bist. Du hast eine blaue Jacke, auf diesen Videoaufnahmen war nichts von einer blauen Jacke zu sehen. Also kannst du es gar nicht gewesen sein, oder?«

»Aber ich habe sie verliehen…«

Sie blieb stur. »Das kann niemand beweisen.«

»Die anderen werden sagen…«

»Die können sagen, was sie wollen.«

»Da waren so viele Leute, jemand kann mich gesehen haben. Vielleicht gibt es eine Gegenüberstellung. Und ich bin immer mit denselben Freunden unterwegs.«

»Nicht heute Nachmittag.« Shelley packte ihn an den Handgelenken und drückte sie fest, als sie ihm ihre Botschaft einzutrichtern versuchte: »Du warst krank. Du kamst mittags heim. Ich war schon vom Familienzentrum zurück und ließ dich rein. Die Kleinen bekamen Käsebrote und Apfelstücke zu essen, aber du hast nichts gegessen, sondern dich gleich ins Bett gelegt, weil es dir nicht gut ging. Und da bist du geblieben. Du bist nicht mehr aufgestanden.«

»Mich haben Leute gesehen, wie ich draußen rumgekickt habe mit den anderen. Nachmittags, auf der Straße.«

»Okay«, Shelley richtete sich auf. »Okay, dir ging es also besser. Du bist nachmittags kurz rausgegangen. Dann wurde dir wieder unwohl und du bist wieder rein und ins Bett. Wichtig ist, dass du an diesem Nachmittag nicht in die Nähe der Fußgängerzone gekommen bist. Kapiert?«

Joey nickte mit tränenverschmiertem Gesicht. Er nagte an der Lippe.

»Was sie auch sagen, wie sie dich auch reinzulegen versuchen, egal, welche Geschichten sie sich ausdenken, du bleibst bei der Version. Auch wenn sie dich zum Weinen bringen oder dich so lange in die Mangel nehmen, bis du nicht mehr kannst. Hast du das verstanden?«

Er versuchte, seine Handgelenke aus ihrer Umklammerung zu befreien. Sie tat ihm weh. »Wenn nicht…« und sie schüttelte den Kopf. Wenn nicht…«

»Was?« Joey starrte sie mit offenem Mund an. War es möglich, dass er gar nicht über die Konsequenzen seiner Tat nachgedacht hatte?

»Sie werden dich mitnehmen. Dich wegsperren. Wahrscheinlich für den Rest deines Lebens.« Langsam ließ sie seine Handgelenke los. »Und es bringt dir überhaupt nichts, so zu tun, als ob du nur Bahnhof verstehst.« Sie schüttelte sich eine Zigarette aus der Packung, die auf dem Sofatisch lag. Als sie sich die Zigarette anzündete, zitterte ihre Hand noch immer, doch der erste Zug Nikotin beruhigte sie. »Du frierst, hier…« Sie warf ihm die flauschige Decke über, mit der sie normalerweise Julie in ihrem Buggy zudeckte, und trat anschließend rasch ans Fenster, zog den Vorhang zurück und suchte nervös die Straße ab.

Im Hintergrund lief der Fernseher. Shelley wollte ihn nicht abschalten aus Angst, weitere Nachrichten zu verpassen. Informationen über die bisherigen Ermittlungsergebnisse der Polizei zum Beispiel. Schon häufiger waren Sendungen wegen entsetzlicher Vorfälle unterbrochen worden, und dieser Fall würde zweifellos dazuzählen. Ein Baby, um Himmels willen. Ein brennendes Baby. Wie krank, würden sie fragen, war die Gesellschaft – das fragten sie jedes Mal, immer wieder. Und bisher hatte sie sich das auch immer gefragt.

»Mum«, aus Joey, der sich offensichtlich unwohl fühlte, brach es heraus: »Mum, Julie weint.«

»Was?«

»Julie weint.«

Shelley sank in sich zusammen, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie hatte den Lärm von oben gar nicht wahrgenommen. Jetzt zuckte sie zusammen, die kleinen Sorgen und Nöte des Alltags waren zurückgekehrt. Sie seufzte: »Sei so lieb und hol sie herunter, ja?«

Er setzte sein süßestes Lächeln auf und fragte: »Kann ich eine Tasse Tee haben?«

»Du holst Julie, und ich schau mal«, antwortete sie.

So wie jeden Abend.

2. Kapitel

Die drei Betonklötze der Eastwood-Siedlung ragten auf dem Hügel über der Stadt in den Himmel. Lange, schnurgerade Straßen liefen wie Fließbänder durch die Anlage, gelegentlich wagte es der übliche Kirschbaum oder eine Buchs- oder Ligusterhecke, die starre Symmetrie aufzubrechen. Doch in letzter Zeit – die Arbeitslosigkeit lag noch immer bei zwanzig Prozent mit steigender Tendenz – schien die Gegend immer mehr zu einer Müllhalde zu verkommen: Autowracks verrotteten am Straßenrand. Einkaufs- und Kinderwagen und eine fleckenübersäte Matratze waren an der Ecke von Shelleys Haus abgeladen worden.

An diesem Morgen schnappte Shelley sich Joey und zog ihn ganz nahe an sich heran. »Du gehst in die Schule, sagst im Sekretariat Bescheid, dass du wieder da bist, nimmst die zwei Pfund für dein Mittagessen, hältst dich fern von diesen Burschen, du weißt schon, wen ich meine. Und mach ja alles so, wie ich es dir sage, hörst du mich? Sonst bring ich dich um.«

»Und wenn die Bullen…?« Joey warf einen Blick über die Schulter seiner Mutter in die Küche, wo Kez, der sich gerade über eine Scheibe Toast hermachte, nicht entging, wie dick die Luft heute Morgen war. Kez lag kein Stein auf der Brust. Joey betete zu Gott, er wäre Kez. Er betete, er könnte die Uhr zurückdrehen. Als seine Mutter das Wort »Mord« aussprach, hatte sie ihn damit zu Tode erschreckt. Aber nicht deshalb fühlte er sich heute so unwohl in seiner Haut. Das kam von diesem Gefühl, Komplize eines Erwachsenen zu sein. Damit stand er eindeutig auf der Seite der Erwachsenen, was Joey irritierte. Er wollte los, konnte aber erst in die Schule aufbrechen, wenn Kez fertig war. Er musste dafür sorgen, dass Kez samt Lunchbox sicher in St. Martins Primary ankam. Doch Joey wollte nur weg von hier. Seine Mum kam sonst noch auf die Idee, ihn schwören zu lassen, seinen Kumpeln aus dem Weg zu gehen. Aber Scheiße noch mal, er musste doch wissen, was im Busch war?

»Du weißt, was du zu sagen hast. Ich hab es dir genau erklärt. Daran hältst du dich, und ansonsten halt die Klappe.«

»Aber die anderen…«

»Was mit den anderen passiert, kann dir egal sein.«

Sie trieb Kez zur Eile an, dem, kaum dass er sich das Gesicht gewaschen hatte, schon wieder die Nase lief. Sobald die beiden unterwegs waren, wollte Shelley Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen, um ihre Nerven zu beruhigen, bevor sie sich auf den Weg ins Familienzentrum machte. Mit ihrer Karawane, dem Vierjährigen, der im Schneckentempo hinterherzockelte, Casey und Jason, beide noch in Windeln, die sich am Buggy festhielten, in dem eine laut kreischende Julie saß.

Ihre schlimmsten Befürchtungen waren bestätigt worden, als sie am Morgen die Schlagzeile des Mirror las. Sie hatte die Zeitung zusammengefaltet unter die Rechnungen gesteckt, die in der Schublade warteten. Es wäre nicht gut für Joey, wenn er merkte, wie sich die Presse auf den Fall stürzte. Auch Shelley bekam es nicht gut. Den Namen »Holly« als Schlagzeile auf der Titelseite zu sehen, darunter das kleine Köpfchen mit der Mütze und das Wort »Monster«, in riesigen schwarzen Lettern.

Kaum waren die Jungs zur Tür hinaus, sauste Shelley zur Schublade. Ohne das Chaos um sich herum zu beachten, breitete sie die Zeitung auf dem unabgeräumten Tisch aus und stürzte sich auf die Neuigkeiten. Weiter hinten in der Zeitung fand sich ein vergrößertes und »überarbeitetes« Bild aus dem Video, das gestern Abend in den Nachrichten gesendet worden war. Gott sei Dank waren die Jungs nur von hinten zu sehen. Sie überflog die Schlagzeilen, bevor sie sich den Artikel vornahm. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Die Polizei bat Zeugen, sich zu melden. Man ging davon aus, dass die Familien und Freunde der Täter die Schuldigen kannten. Außerdem befürchtete man, dass die Angehörigen versuchen würden, ihre Kinder zu decken. Im Kommentar wurden diese Familien als Abschaum bezeichnet. Die Polizei wollte sich an diesem Tag auf die Schulen konzentrieren, ließ sich jedoch nicht darüber aus, um welche Altersstufen es sich handelte.

Obwohl es keine Aufnahmen von dem Brandanschlag selbst gab, hatten sich bereits zahlreiche Zeugen gemeldet. »Alles ging wahnsinnig schnell«, wurde eine Zeugin zitiert, Catherine Pole aus Plympton, die noch immer unter Schock stand und deshalb psychologisch betreut werden musste. »Man konnte nichts tun. In dem einen Moment sah ich die Jungs kommen, im nächsten schlugen schon die Flammen aus dem Kinderwagen… ein Mann neben mir warf seinen Mantel über den Wagen, ein anderer riss das Baby heraus und verbrannte sich dabei die Hände. Da kam die arme Mrs. Coates aus dem Supermarkt… diesen Schrei werde ich mein Leben lang nicht vergessen.«

»Ihr Herz hörte einfach auf zu schlagen«, erklärte der Notarzt. »Sie starb nicht an den Verbrennungen an sich. Es war der Schock, den der Organismus dieses winzigen Wesens nicht verkraftete.«

Die Einwohner der Stadt schienen empört darüber zu sein, dass eine solche Tragödie hier möglich war, nicht in Liverpool, Birmingham oder Manchester, sondern in dem friedlichen, gesetzestreuen Südwesten des Landes.

Die Obduktion war für diesen Tag angesetzt.

Tränen schossen Shelley in die Augen. Sie musste sich auf ihre Atmung konzentrieren. Eine Panikattacke. Seit damals, als sie in der Schule ständig gepiesackt worden war, hatte sie keine mehr gehabt. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder ruhig atmen konnte. Sie lief in der Küche herum, klammerte sich am Kühlschrank fest, an der Spüle, an jedem Möbelstück, an dem sie vorbeikam. Ihre Kinder hingen schweigend mit weit aufgerissenen Augen an ihr. Noch schrecklicher wäre es gewesen, redete sie sich ein und holte tief Luft, wenn das arme kleine Ding unter den Verbrennungen leiden und monatelang auf der Intensivstation hätte liegen müssen. Wenigstens war es schnell gegangen… und dann hielt sie inne, unglaublich, ihre Gedanken, sie versuchte tatsächlich das teuflische Verhalten ihres elfjährigen Sohnes zu rechtfertigen.

Der Mirror hatte Recht in seinem Kommentar. Was musste das für ein Abschaum sein, der einen dieser kleinen Mistkerle beschützte?

Aber wenn diese kleinen Jungen der Polizei ins Netz gingen und vor Gericht gestellt würden, würden sie bis ans Ende ihres Lebens verfolgt. Nicht nur von der Presse, sondern auch von einer aufgebrachten Öffentlichkeit und einer Mutter und einem Vater, die nichts mehr besaßen, wofür es sich zu leben lohnte.

Oh nein, der schon wieder!

»Ich wollte gerade gehen«, erklärte sie Kenny zehn Minuten später, als könne er das nicht selbst sehen. Er hatte diese Angewohnheit, ohne Vorwarnung oder rechten Grund einfach aufzutauchen. Joeys nutzloser Vater war an diesem Morgen der letzte Mensch auf Erden, den sie sehen wollte.

»Hab Zigaretten für dich«, nuschelte er. »Zwei fünfzig das Päckchen. Nicht schlecht.«

Sie musste sich anstrengen, um zur Normalität zurückzufinden. »Wie viele?«

»Sechs Zwanzigerstangen. Wird immer schwieriger. Der Zoll ist richtig scharf. Ich geh mit dir mit.«

»Bring das Zeug vorher rein. Ich kann dir das Geld jetzt nicht geben. Du kriegst es am Montag.« Shelley zuckte die Achseln. »Bist du auf Landurlaub?« Wenn er sich einbildete, mit ihr mitkommen zu müssen, ließ sich das nicht verhindern. Kez und Saul stammten auch von ihm, jeder das Ergebnis eines kläglichen Versöhnungsversuches. Jedes Mal, wenn sie Kenny traf, fragte sie sich einmal mehr, was sie je an diesem Typ hatte finden können. Während sie ihn jetzt musterte, fühlte sie sich versucht, ihm zu erzählen, dass sein ältester Sohn tief in der Patsche steckte. Doch sie täte dies aus den falschen Gründen. Sie täte es, um einmal einen anderen Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen als das übliche dumpfe Gegrinse. Und doch hatte es eine Zeit gegeben, da hatten ihr bei seinem Anblick die Knie gezittert. Der glatt rasierte Kopf, die kräftigen, muskulösen Oberarme mit den Tattoos, die lachenden Augen und die Navyuniform. Die langen Monate, die er auf See verbrachte, war sie ihm treu gewesen und hatte sich bei seiner Rückkehr aufgetakelt wie eine Nutte, die Haare getönt und sich in Rosenwasser gebadet. Babysitter standen bereit, damit sie die Nächte in den Clubs unten in der Union Street durchfeiern konnte.

Aber als sie an Connor Masons Haus vorbeikamen, war Shelley froh, Kenny an ihrer Seite zu haben. So konnte sie sich auf etwas anderes konzentrieren als auf die Gestalt hinter der Veranda, Connors Mum. Dot schien ihr dort regelrecht aufgelauert zu haben. Wartete sie darauf, dass Shelley vorbeikam, und zog sich zurück, als sie ihren Begleiter entdeckte? Teilte Dot Mason dieses schreckliche Geheimnis mit ihr? Und was war mit der Mutter von Marcus und Shane, was mit Hayley Long? Wussten sie, dass ihre Söhne Mörder waren? Wie gerne hätte sie die Antwort auf diese Frage gekannt, dann hätte sie jemanden zum Reden gehabt.

»Üble Sache«, stieß Kenny hervor. Wie immer ging er davon aus, sie wisse, wovon er rede.

Shelley wandte sich irritiert zu ihm. Er hätte sich wirklich mal umdrehen und Saul ein Stück tragen können. Sah er denn nicht, dass der Kleine kaum noch nachkam? »Was ist ’ne üble Sache?« Es wurde Zeit, dass er diese blöden Piercings loswurde. Mit fünfunddreißig war er zu alt für so was.

»Sollen von hier sein, heißt’s.«

Sofort begriff Shelley, was er gemeint hatte. Natürlich. Worüber sonst sollten die Leute hier an diesem Morgen reden? »Die Geschichte mit dem Baby?«

»Jep.« Er hielt an, um sich eine Zigarette zu drehen, wiederholte etwas lauter: »Üble Sache.«

»Die kriegen sie«, meinte Shelley.

»Da kannst du Gift drauf nehmen. Sie werden sie dafür einlochen.«

»Aber das sind doch noch Kinder«, warf Shelley ein und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Das sind keine Kinder, die waren schon bei ihrer Geburt alt und böse. Arschlöcher sind das.«

»Gehören aufgehängt«, stimmte Shelley ihm zu.

»Genau«, murmelte Kenny und hievte endlich den quengelnden Saul auf seine Schultern.

Der letzte Hügel war steil, ihre Stiefel drückten sie, und sie hatte Julies Fläschchen zu Hause vergessen. Scheiße. Sie würde nie den ganzen Vormittag ohne etwas zu trinken durchhalten. Aber wie konnte man von Shelley verlangen, an solche Banalitäten zu denken, wo doch dieser Horror auf ihr lastete? Sie spürte Tränen aufsteigen, gegen die sie jedoch ankämpfte. Ein Zeichen von Schwäche genügte und Kenny würde über sie herfallen, hatte überall seine Hände, sexbesessen wie er war. Er begriff noch immer nicht, dass Shelley nichts von ihm wollte, weder von ihm noch von einem anderen Mann. An diesem Morgen hatte sie nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Joey.

Ob die Bullen in der Schule auftauchen und die Kinder befragen würden?

Gab es noch andere Beweismittel außer den Augenzeugenbeschreibungen, dem Video, dem Zippo-Feuerzeug und der Dose Paraffin? Sicher hatten sie bereits Fingerabdrücke. Aber nicht Joeys Fingerabdrücke, er hatte schließlich geschworen, dass er nichts angerührt hatte. Würde Joey dem Druck standhalten, dem er ausgesetzt war? Durften sie ihn laut Gesetz überhaupt befragen, ohne dass seine Mum dabei war?

»Kommst du mit rein?«, fragte sie Kenny, als sie am Familienzentrum ankamen. Sie wusste, er würde nein sagen.

»Nee«, erwiderte er gedehnt und lehnte sich an die Wand. Langeweile, das war sein Problem. Landurlaub und kein Ort, wo er hingehen konnte. Nur seine Mum, und bei der gab es nun wahrlich nicht viel zu lachen. Er hatte keine andere Frau gefunden, nachdem ihm Shelley erklärt hatte, er könne seinen Seesack packen.

»Wie viel Zeit hast du?«, fragte sie ihn. »Willst du Joey sehen?«

»Könnte ja mal abends vorbeikommen«, sagte Kenny.

»So meinte ich das nicht«, entgegnete sie bestimmt. »Du könntest was mit ihm unternehmen, ihn mir mal abnehmen. Etwas zusammen machen, skaten, schwimmen, zum Bowling gehen…«

»Könnte ich, sicher.« Er kratzte sich am Kopf und ein paar Schuppen fielen herab. Angeekelt wandte Shelley den Blick ab und hakte nach: »Was ist nun? Kez würde bestimmt auch gerne mitkommen.«

Saul war bereits durch die Tür und rannte zum Plastikbagger. Man käme nie auf die Idee, dass Kenny sein Dad war oder Kez’, so wenig, wie er die beiden beachtete. Seine Söhne freuten sich nie besonders, ihn zu sehen. Warum sollten sie auch?

»Vielleicht«, sagte Kenny. »Wenn’s mir mal passt.«

Shelley hob den Buggy über die Schwelle des in knalligen Grundfarben gehaltenen Raumes. Eine Wohltätigkeitsorganisation hatte das in der Siedlung ins Leben gerufen und wollte damit eine Art Gemeinschaftsgefühl fördern. Keine einfache Aufgabe angesichts der wenigen finanziellen Mittel und der Apathie der Bewohner. Die Kriminalität in Eastwood stieg beständig, meistens Autodelikte, Diebstahl und Vandalismus, und man dachte, um diese Probleme in den Griff zu kriegen, müsse man die Kinder von Eastwood so früh wie möglich von der Straße holen. Daher die Knete und die Fingerfarben zur Förderung der Kreativität und die großbusige Jean zum Knuddeln. Mrs. Cresswell, wie sie lieber genannt wurde, war eine ausgebildete Kindergärtnerin. Allerdings lag ihre Ausbildung dreißig Jahre zurück. Damals waren die Kinder noch mit Zwieback und Saft zufrieden zu stellen gewesen. Kinder waren damals noch Kinder und Mütter noch Mütter.

Was für eine Mutter…?

Und so begrüßte Jean jeden hier betont fröhlich mit dieser hohen, leicht schrillen Stimme, die nicht nur die Kinder nervte. Mrs. Cresswells Helferinnen waren junge Auszubildende. Erleichtert leerte Shelley ihre Tasche und schob Julie zu der Gruppe von Müttern, die rauchend an der Tür standen, während um sie herum am Boden sich die Kippen anhäuften. An der Art ihrer Blicke konnte Shelley erkennen, dass sie tratschten, und es ging nicht um den Preis für eine Tasse Kaffee.

Die junge Mutter mit der unreinen Haut nickte Shelley zu. »Sie war dort, hat es gesehen.« Dabei wies sie mit einem Zucken ihrer Schulter auf ihre plötzlich im Mittelpunkt stehende Freundin. »Das wird Val nicht mehr los, so was verfolgt einen einfach.«

Shelley erstarrte, als die Kronzeugin das Wort ergriff. »Ich habe zwar die Jungs vorher noch nie gesehen, aber ich würde sie sofort wiedererkennen. Das hab ich auch der Polizei gesagt: Wenn ich sie sehe, erkenne ich sie.«

»Das falsche Alter für sie«, warf die aknegeplagte Mutter ein. »Diese Kinder sind ja wirklich alt genug, um zu wissen, was sie da angestellt haben.«

»Ich habe ausgesagt, dass sie alle über zwölf sind. Und dann der arme Teufel, der sich die Hände verbrannt hat. Er hat sie am besten gesehen.«

Das Mädchen mit dem schlafenden Baby mischte sich ein. »Da waren so viele Leute dort, irgendeiner von denen muss doch einen der Jungs kennen. Und wenn sie einen von diesen Scheißkerlen haben, haben sie alle.«

»Es heißt, die Eltern der Jungs müssten Bescheid wissen.«

»Klar wissen die Bescheid«, meinte die Mutter mit der Akne und wischte sich eine fettige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Erzählt mir bloß nicht, ihr wüsstet es nicht, wenn eines dieser Arschlöcher euch gehörte.«

»Brauchen doch nur zu fragen, wer Schule schwänzte.«

»Logisch«, antwortete jemand, »wahrscheinlich wär es einfacher zu zählen, wer im Unterricht war.«

»Ohne das Geringste zu wissen, und ich möchte nicht zitiert werden«, sagte Pam, die Dicke, die ihre speckigen Beine in fleischfarbene Leggings gezwängt hatte, »ich wette meine letzten Pfund, dass diese Lessings dabei waren.«

Shelley spürte, wie ihre Beine nachzugeben drohten. Marcus und Shane, sie hatte sie ebenfalls erkannt. Sie hatten diese aggressive Art sich zu bewegen.

»Und ich sag das«, fuhr Pam fort, »weil ich die arme Sau bin, die zwei Häuser weiter von ihnen wohnt. Und ich aus erster Hand weiß, dass Mrs. Turner, die in dem Haus neben ihnen wohnt, eine andere Wohnung beantragt hat. Nicht diese arme alte Schachtel sollte umziehen müssen, sondern diese beschissene Familie. Dieses Pack ist schlecht.« Sie zog eine Grimasse. »Wirklich schlecht.«

»Warst du schon bei der Polizei? Das solltest du denen sagen.«

»Der Polizei sind die schon bekannt, mach dir mal da keine Sorgen.«

»Du hast doch ein Kind in dem Alter, wie alt ist dein Junge eigentlich, der Älteste? Er muss diese Lessings doch kennen.« Die Worte der Mutter mit dem pickligen Gesicht trafen Shelley mit voller Wucht, sodass sie den Eindruck hatte, einen Schritt zurückgewichen zu sein.

»Der weiß genau, was ihn erwartet, wenn er sich mit diesen Typen abgibt«, entgegnete sie wie aus der Pistole geschossen.

»Möchte jemand von den Kleinen Saft?«

Mrs. Cresswells vogelartiges Gezwitscher rettete Shelley. Vielleicht war ein Fläschchen übrig, oder war Julie schon so weit, aus der Tasse zu trinken? Saul, Jason und Casey saßen schon auf Miniaturstühlchen um ein Miniaturtischchen. Ein warmes feuchtes Tuch wurde um den Tisch gereicht, eines der Kinder putzte sich damit die Nase.

»Mum, ich möchte Plätzchen«, rief Saul. »Ich mag den Zwieback nicht.« Er hielt ihn hoch. Shelley griff nach dem aufgeweichten Stück.

»Es gibt keine Plätzchen«, erklärte sie bestimmt. »Du weißt doch, dass du hier keine Plätzchen bekommst. Trink einen Schluck«, redete sie ihm zu.

»Bäh«, weigerte sich Saul mit gerümpfter Nase. Shelley nippte daran. Der Saft war so verdünnt, dass er beinahe nach Wasser schmeckte. Ihre Kinder waren mit Coca Cola und Limo aufgewachsen.

»Lass ihn einfach stehen und mach kein Theater«, erklärte sie ihm.

»Die Polizei war heute Morgen mit einem Plakat da.« Mrs. Cresswell langte mit ihrer feisten Hand in ihre Schürzentasche und zog das Bild von der kleinen Holly heraus, das aus dem Mirror. Shelleys Kehle wurde trocken. Sie versuchte sich zu räuspern, zu schlucken. »Ich fand nicht, dass das hier der geeignete Ort dafür ist,« fuhr Mrs. Cresswell fort. »Etwas unpassend, gelinde ausgedrückt. Und das habe ich ihnen auch gesagt. Ich sagte ihnen, ich wollte das Bild hier nicht haben. Nicht an einem Ort, wo kleine Kinder sind. Wer weiß, wie sich dieser Anblick auf sie auswirkt. Schließlich sind Kinder so empfindlich, was Atmosphäre angeht.«

Sie faltete das Poster wieder zusammen und steckte es weg. »Als ob hier jemand etwas wüsste und es für sich behielte. Schon der Gedanke ist total abwegig«, murmelte sie vor sich hin, schon wieder unterwegs zu den Kindern. »Wir sind doch alle Mütter hier.« Und dann klatschte sie in die Hände und stimmte ein Kinderlied an, wobei sie die ersten Strophen wegließ und gleich mit den schnatternden Müttern im Bus begann.

»Kommt Kinder, singt alle mit …«

Oh the mummys on the bus go chatter chatter chatter

Chatter chatter chatter

Chatter chatter chatter

The mummys on the bus go chatter chatter chatter

All day long.

Es gab kein anderes Gesprächsthema. Und hätte es eines gegeben, wäre Shelley unfähig gewesen, sich darauf zu konzentrieren. Sie schüttete den Kaffee in sich hinein, ließ ihre Kinder nicht aus den Augen und half ihnen beim Ausschneiden und bei den Klebearbeiten. Doch was immer sie tat, sosehr sie sich auch bemühte, sie hatte ständig Hollys rosafarbenes Gesicht vor Augen.

Eine Beerdigung würde stattfinden. Mit einem unglaublich winzigen, rührenden weißen Sarg. Den gebrochenen Eltern, die von Freunden und Verwandten gestützt durch die Kirchentür ging, vor sich die Leere. Die Gerichtsverhandlung würde weltweit übertragen. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, die einzelnen Länder lägen miteinander im Wettbewerb um den sensationellsten Kindermörderclub, so viele Sendungen darüber gab es heutzutage. Kinder, die mit Maschinengewehren ganze Schulklassen abknallten, Gangs, die mit Macheten bewaffnet in Cafés einfielen, einsame kleine Außenseiter mit umfangreichen Waffensammlungen, eine traurige Geschichte ohne Ende.

Und nun ihr eigener Sohn, Joseph Tremayne. Elf. Sein Name ein neuer Eintrag in der Liste der grausamen Verbrechen.

Ob sie ihn wegschicken konnte, in ein fremdes Land, wo ihn niemand kannte? Später vielleicht könnten sie nachkommen, sie konnte versuchen, Geld aufzutreiben, und alle wären wieder zusammen. Aber welches Land? Wohin? Flohen nicht die meisten Verbrecher nach Spanien? Dass Spanien heutzutage noch immer kein Auslieferungsabkommen mit Großbritannien hatte, war schwer zu glauben. Schließlich gehörten sie doch jetzt alle zu Europa.

Nein, nein. Nicht Spanien. Es musste ein anderer Platz auf der Welt sein, exotischer, Mauritius womöglich, oder Peru. Oder vielleicht Kuba?

Schluss damit! Sofort Schluss damit!

Shelleys Gedanken rasten in ihrem Kopf herum. Sie musste ruhig bleiben. Dann würde es nie so weit kommen. Wenn Joey den Mund hielt. Wenn niemand ihn identifizierte. Wenn seine Fingerabdrücke nirgends auftauchten. Wenn er die eventuellen Beschuldigungen seiner Kumpel überzeugend abstritt. Wenn er stark blieb und dem Druck der Polizei standhielt.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Mittagszeit.

Sie würde die Kinder nach Hause bringen.

Julie zum Mittagsschlaf hinlegen.

Den Kleinen etwas zu essen geben und selbst etwas hinunterzwingen.

Was immer geschah, sie durfte nicht zusammenklappen, und genau das war eben fast geschehen.

Keine hysterischen Ausbrüche.

Keine Dramen.

Als sie zu Hause ankam, war Shelley völlig erschöpft. Sie wollte sich nur noch hinlegen und schlafen, sehnte sich nach diesem weißen Rauschen des Vergessens. Pech gehabt. Doch als sie oben auf dem Hügel ankam, an der Matratze neben ihrem Haus vorbeiging, an dem kaputten Kinderwagen und dem Einkaufswagen, war ihr mühsam erkämpfter Mut wie verflogen. Vor ihrem Haus stand ein Polizeiauto, zwei Bullen in Uniform warteten vor ihrer Tür, einer von ihnen drückte auf die Klingel, die nie funktionierte, der andere beobachtete die Straße.

Shelley hob die Hand.

Sie winkte.

Als wären Freunde gekommen. Ganz überraschend.

3. Kapitel

In den ersten Wochen, in denen sie hier wohnte, hatte Shelley ihr Haus an der Farbe der Haustür erkannt – die war knallrot. Und jetzt fiel der Schatten von Uniformen auf diese Farbe, und das Rot hieß sie nicht willkommen, sondern bedeutete Gefahr.

Hatte Joey geplappert?

Wollten sie sie mitnehmen?

Wer zum Teufel kümmerte sich um ihre Kinder, wenn sie sie einfach ohne Vorwarnung überfielen?

»Mrs. Tremayne? Shelley Tremayne?«

»Ich bin Shelley Tremayne.« Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und ihre Unterlippe zitterte, sosehr sie sich auch bemühte, ruhig zu bleiben. Quietschend brachte sie den Buggy zum Stehen, klemmte sich aus Gewohnheit Julie unter den Arm, legte den Buggy gekonnt mit einem Tritt zusammen und scheuchte ihre Kleinen die Stufen hoch, bevor sie aufsah und fragte: »Was ist los?«

»Nichts, hoffe ich«, erklärte der Polizist mit dem jungenhaften Gesicht, während er Shelley und den Kindern in das Haus folgte, ohne den Blick von seinem Notizblock zu wenden. »Ein reiner Routinebesuch.« Groß und hager, wie er war, musste er sich unter dem Türstock in die Küche bücken. Er sah auf und lächelte sie an. »Lassen Sie sich nicht stören«, meinte er mit einem Blick auf die quengeligen Kinder.

Schuldgefühle und Angst lasteten wie Bleigewichte auf ihr, machten jede Bewegung zur Qual. Eines der Kinder hatte in die Windeln gemacht. Es stank. Aber sie hatte nicht vor, jetzt ein Kind zu wickeln, nicht unter dem abschätzigen Blick dieser Frau.

Die weibliche Polizistin, die sich vor ihr ausgewiesen hatte, hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht und eine Nase, die vorne spitz zulief. Shelley war sofort klar, dass sie die Gefährlichere von den beiden war. »Wachtmeisterin Juliet Hollis und das hier ist Wachtmeister Michael Frey«, sagte die Polizistin.

»Ich mach den Kindern nur schnell was zu trinken«, sagte Shelley, während sie Julies Fläschchen wärmte. »Worum geht es eigentlich? Weshalb sind Sie hier? Was liegt an?«

In der Küche herrschte morgendliches Chaos. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Shelley sich wohl gewünscht, sie hätte sie vor dem Aufbruch ins Familienzentrum aufgeräumt. Daran dachte sie jetzt keine Sekunde, ihr Kopf schien zu platzen. Dennoch räumte sie einen riesigen Pub-Aschenbecher weg, der von alten Zigarettenkippen überquoll.