Cover

Jörg Kastner

Im Schatten von Notre-Dame

Band 1: Der Geistermönch

Historischer Roman
nach den Aufzeichnungen des Armand Sauveur de Sablé

hockebooks

Victor Hugo und Walter Scott gewidmet – den Meistern.
Und meiner Frau Corinna – zum Dank für
Guernsey und Paris.

Wozu braucht ihr Priester,
wenn ihr Künstler unter euch habt?

Victor Hugo

 

Victor Hugo muss sehr zornig mit Gott gewesen sein,
als er »Notre-Dame de Paris« geschrieben hat.

Charles Laughton

 

Wer Sünde tut, der stammt vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an.

1. Johannes 3.8

Vorbemerkung

Liebe Leserin, lieber Leser,

willkommen im Schatten von Notre-Dame, jener mächtigen Kathedrale mitten in Paris, die Sie vielleicht schon einmal selbst staunend besichtigt haben, die Sie aber gewiss aus dem Roman von Victor Hugo oder einer der zahlreichen Hugo-Dramatisierungen kennen. Im späten Mittelalter, jener Zeit, in der Hugos Roman spielt, war Notre-Dame de Paris für die Menschen nicht nur ein Ehrfurcht gebietendes Bauwerk – für die größtenteils des Lesens unkundigen Menschen war die Kathedrale eine in Stein gehauene Verkörperung der Heiligen Schrift.

Der geeignete Schauplatz also für eine Geschichte voller Hoffnungen, Wünsche, Ängste, Zweifel und Leidenschaften, wie Hugo sie erzählt hat – und wie sie auch hier erzählt wird. Nicht nur die Kathedrale hat mein Roman mit dem von Victor Hugo gemeinsam, sondern auch etliche der auftretenden Personen. Der bucklige Glöckner Quasimodo, die schöne Tänzerin Esmeralda, der verschlagene Dom Frollo und viele andere mehr erleben auch hier ihre Abenteuer.

In meinem Roman lesen Sie die »Geschichte hinter der Geschichte«, erzählt von dem mittellosen Kopisten Armand Sauveur, der voller Hoffnungen nach Paris kommt und schon gleich zu Beginn Bekanntschaft mit dem »Geistermönch« macht, von dem schon Hugo berichtet. Der französische Dichterfürst verschwieg aber, was es mit dem geheimnisvollen Mönch auf sich hat. Gemeinsam mit Armand Sauveur werden Sie dem Geheimnis auf den Grund gehen, mannigfache Abenteuer bestehen und viele erstaunliche Entdeckungen machen in den engen, dunklen Gassen des alten Paris – im Schatten von Notre-Dame.

Ich wünsche Ihnen gute, spannende Unterhaltung bei Ihrer Reise ins späte Mittelalter!

Herzliche Grüße

Jörg Kastner

Kapitel 1:
Der Geistermönch

Sie wird sterben, und ich kann es nicht verhindern. Der große schwarze Vogel, Sendbote des Todes, hat seinen Horst auf dem Mondberg verlassen und ist unterwegs, um seine mächtigen Schwingen über sie zu breiten. Sie ahnt es schon lange, und jetzt, da sich das Verhängnis den alten Mauern von Notre-Dame nähert, fühle ich es auch. Ihr Entschluss, nicht zu fliehen, steht unverrückbar fest, und ich habe mein Schicksal an ihres gekettet. Doch kann ich nichts weiter tun, als auf die zu warten, die sie zu retten vorgeben und ihr doch den Tod bringen werden. Der schwarze Vogel wird kommen. Ich weiß es, nicht im Kopf, aber tief drinnen in meinem verzweifelten Herzen.

Dunkle Nacht, ewige Verbündete des Todesvogels, hat sich über Paris gesenkt, und die Häuser rund um die Kathedrale sind nur noch schemenhafte Wesen, kauernde Raubtiere, bereit zum Sprung. Die Seine ist eine riesige Schlange und ringelt sich, dem rätselhaften Ouroboros gleich, um die Insel, jeden Fluchtweg versperrend. Alles hat sich verschworen, um ihr das junge Leben zu rauben.

Um mich abzulenken von den düsteren Gedanken, bin ich in meine Zelle auf den Nordturm gegangen, habe die zweischnabelige Lampe auf dem Tisch entzündet, Papier, Tintenfass und Feder zurechtgerückt und beginne, meine Geschichte, die zugleich die ihre ist, aufzuschreiben. Ich weiß nicht, ob ich diese Aufzeichnungen werde beenden können, ob fremde Augen sie jemals lesen werden. Höre ich nicht schon ein dumpfes Dröhnen, die tausendfachen Schritte jener, die vom Wunderhof kommen und sich zu Vollstreckern des Verhängnisses aufschwingen, ohne zu ahnen, dass sie Satans Willen erfüllen? Vielleicht komme ich dennoch bis ans Ende, wird mein Bericht den Menschen eine Warnung sein, sich nicht die Rolle Gottes anzumaßen, indem sie unbändige, zerstörerische Kräfte entfesseln. Kräfte, die stärker sind als jeder Mensch.

Der Ort, an dem ich dies niederschreibe, die Kathedrale von Notre-Dame zu Paris, ist nur scheinbar ein friedlicher Platz der Besinnung und inneren Einkehr. Irgendwo in ihren unzähligen Kammern und Ecken, ihren Kapellen und Türmen birgt Unsere Liebe Frau ein Geheimnis, dessen Entschleierung über das Schicksal der Menschheit entscheidet. Und ich verfluche den Mann, der ausgerechnet mich dazu ausersehen hat, dieses Geheimnis zu lüften.

Belauern mich die finsteren Kreaturen der Kathedrale, das bucklige Ungetüm und sein gestrenger Meister? Auch sie suchen das Geheimnis von Notre-Dame zu ergründen. Ob es ihnen gelingen wird oder mir, weiß ich nicht. Nur eins scheint mir sicher: Mein Schicksal wird sich an diesem Ort, in dieser Stadt erfüllen.

Doch ich greife vor, sollte besser am Anfang beginnen, ein halbes Jahr in der Zeit zurückeilen zu jenem Winter, als ich voller Hoffnungen nach Paris kam. Nicht ahnend, dass eine unbekannte Macht mich zu ihrem Spielball gemacht hatte, zu einem Bauern auf dem unüberschaubaren Schachbrett, dessen Felder die verwinkelten Pariser Gassen bilden. Der Weg, der mich zu Notre-Dame führte, war längst von fremder Hand vorgezeichnet. Hätte ich es geahnt, wäre ich wohl sogleich umgekehrt, hätte mich nicht auf dieses Spiel um Leben und Tod, um himmlisches Glück oder ewige Verdammnis eingelassen. – Zu spät.

Ich wollte in Paris ein neues Leben beginnen und nahm, als ich zwei Tage vor Weihnachten das Saint-Michel-Tor durchschritt, den lärmenden Trubel der großen Stadt begierig in mich auf. Nicht im Entferntesten erwartete ich, dass ich schon bald daran denken würde, meinem Leben ein Ende zu setzen, dass ich zum gesuchten Mörder werden sollte, dass eine finstere Gestalt mir auflauerte – der Geistermönch …

In der wolkendüsteren Nacht zum sechsten Januar Anno Domini 1483 verwünschte ich den Satan Johannes Gutenberg mitsamt seiner schwarzschmierigen Druckerpresse und beschloss zu sterben. Nur durch den Tod, so glaubte ich damals, konnte ich dem Würgegriff der verwünschten Druckerzunft mit ihren monströsen Teufelsmaschinen entkommen. Ganz Paris schien ihren gnadenlosen Händen ausgeliefert, umklammert von schmutzigen, ölüberzogenen Fingern. Waren es keine dichten Wolkenbänke, die den Nachthimmel zusätzlich verdunkelten, sondern schwarze Himmelsdämonen, Sendboten einer neuen düsteren Zeit, die gar nach diesem Deutschen, Gutenberg, sich einmal nennen würde? Mich schauderte bei diesem Gedanken, als mein Blick über das Gewirr der Dächer, Türme und Zinnen von Paris wanderte und sich in der grenzenlosen Finsternis verlor.

Schlimmer als die Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten, und die Verwirrung angesichts dessen, was Gutenbergs Jünger über den Erdkreis brachten, war nur die grobe Faust, die sich in meinem Magen zusammenballte, mir die Gedärme zuschnürte und mir zum Bewusstsein brachte, dass Gevatter Hunger sich anschickte, meinen Entschluss, freiwillig aus diesem nicht länger lebenswerten Leben zu scheiden, zunichte zu machen. Ich hatte auch nicht einen trockenen, schimmelpelzigen Brotkrümel im Magen und nicht einen Sol in der Börse, um diesem höchst misslichen Zustand abzuhelfen. Um aufrichtig zu sein: Ich besaß nicht einmal mehr eine Geldkatze. Das mit teurem Brokat besetzte Ledersäckchen, Erinnerung an eine bessere Zeit, hatte sich bei einem knauserigen Pfandleiher auf dem Pont-aux-Changeurs in den Gegenwert von einem Krug Aniswein, einem Laib Roggenbrot und einem guten Stück Brie verwandelt. Zwei Abende war das jetzt her, und von den Köstlichkeiten war nicht einmal mehr die Erinnerung an den Geschmack übrig.

Ich drehte mich um mich selbst wie ein vom Veitstanz Heimgesuchter, ohne dass mein suchender Blick Hilfe oder wenigstens Hoffnung fand. Düster und menschenleer erschien die Seine-Insel, umspült von den unermüdlichen Wassern des großen Stroms. Längst hatte die Angelusglocke drüben an der Sorbonne die Nachtruhe befohlen. Die Geräusche aus den Handwerkerstuben waren ebenso verhallt wie die Stimmen der in lilafarbener Pracht umherstolzierenden Ausrufer, welche die Festlichkeiten des morgigen Tages angekündigt hatten. Zu Ehren von Kaspar, Melchior und Balthasar sollten vor der Kapelle des Arnauld de Braque ein Maibaum aufgestellt, im Justizpalast ein Mysterienspiel des jungen Dichters Pierre Gringoire aufgeführt und auf der Place de Grève ein Freudenfeuer angezündet werden.

Vermaledeiter Grève-Platz! Nicht weit von mir lag er am rechten Flussufer, nichts als ein riesiger dunkler Fleck in der alles verschlingenden Schwärze. Sollten sie dort morgen die Heiligen Drei Könige und das Narrenfest feiern, mit tausend Feuern meinethalben. Mir war es einerlei, ich würde es nicht mehr erleben, würde keinen Fuß mehr auf diesen Platz der Schande setzen. Geh zur Place de Grève, hatten sie mir geraten, früh am Morgen, und ein paar ehrlich verdiente Sols werden dir sicher sein. Pah!

Ich stand mir in klirrender Morgenkälte die Beine in den Bauch, ohne auch nur ein einziges Mal Arbeit zu erhalten. Zu viele andere, die mit mir froren, wollten das Gleiche. Keine Erfahrung, taten die Baumeister mich hochmütig ab. Zu feine Hände hätte ich, eher zum Nähen und Sticken geeignet, spöttelten die Flussschiffer und die Fuhrleute. Und als Kopist zu arbeiten, in meinem angestammten Beruf, erwies sich erst recht als unmöglich. Gutenbergs teuflische Erfindung hatte viele Pariser Schreiber um ihre Anstellung gebracht, und die hielten zusammen, gönnten keinem Zugewanderten etwas. Geh doch zurück nach Sablé, sagten sie, doch das konnte ich nicht.

Das Unglück hatte mich kurz vor dem Weihnachtsfest in meiner Heimatstadt ereilt, als mein Dienstherr, der ehrenwerte Advokat Donatien Frondeur, zu früh von einer auswärtigen Angelegenheit heimkehrte und mich an dem einzigen Ort in seinem Haus vorfand, an dem ich seiner Meinung nach nichts zu suchen hatte. Aber wer will mir verübeln, dass die kecken Blicke und die frischen Rundungen seiner viel zu jungen, viel zu hübschen Gemahlin Etiennette mich in ihr großes, warmes Bett lockten?

Der alte Knaster Donatien war so aufgebracht, dass er sich wie ein Rasender auf mich stürzte. Um meine Gurgel vor seinen Klauen zu retten, schubste ich ihn weg, und er stieß sich den fast kahlen Schädel ein wenig unsanft an einer Kommode. Das bisschen Blut, viel war es wirklich nicht, versetzte ihn in noch größeren Zorn. Wenn ich Sablé nicht augenblicklich verließe, brüllte er mich an, würde er mich wegen versuchten Mordes an den Galgen bringen. Er hatte die Macht dazu und ich zu wenige einflussreiche Freunde. Also ließ ich die süße, um Verzeihung wimmernde Etiennette unter seinen strafenden Händen zurück und stapfte im ersten Morgendunst durch den Schnee davon, um rechtzeitig zum Fest des Herrn in Paris zu sein, wo ich neue Gunst zu finden hoffte. Welch trügerischer Schluss!

Hinter mir erhob sich die Königin der Insel, ja von ganz Paris: die Kathedrale von Notre-Dame. Unter ihren unzähligen nachtdunklen Augen, in die sich die tagsüber so bunt leuchtenden Fenster verwandelt hatten, kam ich mir klein und unwichtig vor. Stolz und mächtig reckten sich die beiden stumpfen Türme nach oben, wie um von himmlischer Macht ihre nie vollendeten Helme zu erflehen. Ein Gedanke, der meine Verzweiflung nährte. Wenn selbst Notre-Dame nur eine Bettlerin vor dem Herrn war, wie konnte dann ich, der arme, heimatlose Kopist Armand Sauveur de Sablé, Gnade erhoffen?

Den meisten Gebeutelten mochte die Kathedrale Trost spenden, wie ihre Erbauer es erhofft hatten, aber seltsam, auf mich übte sie eine ganz andere Wirkung aus. Nicht prächtig und verheißungsvoll wie das Paradies erschien sie mir, sondern finster, unheimlich und schreckenerregend. Die Schatten von Notre-Dame verwuchsen mit dem Dunkel der Nacht, verwoben sich mit ihm zu einem undurchschaubaren Geflecht von Verzweiflung und Verhängnis. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur nachträglich ein, jetzt, da ich um das Geheimnis von Notre-Dame weiß.

Aus welchen Gründen auch immer, in jener grimmen Januarnacht waren meine Hoffnung und mein Lebenswille erloschen. Der alte Pont Notre-Dame schob seine windschiefen Häuserreihen wenige Schritte vor mir zum rechten Ufer der Seine. Ich trat zum Brückenkopf, an einer Ecke, wo weder Häuser noch Mauern den Zugang zum Fluss versperrten. An dieser Stelle fiel das Ufer ungewöhnlich steil ab. Ein Schritt nur, ein kleiner Sprung, und der Fluss würde mich mit tröstenden Armen umfangen und meinen knurrenden, schmerzenden Magen mit seinem Wasser füllen.

War es der Herr im Himmel, der mich zurückhielt? Hatte er seine Engelsscharen gesandt, mich an Schultern, Armen und Beinen zu packen und von der Todsünde abzuhalten? Doch kaum erspähten meine Augen die zerlumpten, dreckstarrenden Gestalten, die wie Auswürfe der Finsternis aus dem Nichts aufgetaucht waren, wusste ich, dass es keine Engel waren. Eher das Gegenteil!

Hände, die mehr Klauen waren, zerrten und rissen an meinen abgewetzten Kleidern. Triefäugige Gesichter, bösartige Fratzen oder Masken des Elends, starten mich halb flehend, halb befehlend an. Immer mehr dieser menschgewordenen Ratten krochen aus ihren Verstecken, lösten sich aus den Schatten und scharten sich um mich wie räuberische Wölfe um ihre Beute.

»Gnade, Monsieur!« – »Herr, erbarme dich unser!« – »Einen Sol für einen Blinden!« – »Ein Stück Brot für einen Krüppel!« – »Eine milde Gabe für einen Lahmen, o Ehrwürdiger!« – »Der Allmächtige segne Eure Mildtätigkeit, Messire!«

Die gekreischten, gequiekten und gestammelten Ausrufe mochten noch so flehend, schmeichlerisch, drängend und erbärmlich sein, bei mir waren die teils traurigen, teils abscheuerregenden Kreaturen an den Falschen geraten. Vergeblich erhob ich meine Stimme, um dem Bettlervolk klarzumachen, dass ich eher einer der Ihren war denn einer, der sich Mildtätigkeit erlauben konnte. Mir gelang es kaum, das lärmende Flehen zu übertönen. Vielleicht wollten die kotigen, amputierten Gestalten jene Botschaft auch gar nicht hören. Meine Weigerung, wie sie es wohl sahen, stachelte sie erst recht an, verwandelte ihr Betteln in ein Fordern. Sie schienen gewillt, sich mit Gewalt zu holen, was ich ihnen verwehrte. Schon riss mein löchriger Mantel, zerfetzt unter den Bettlerhänden.

Und ich, der ich mich eben noch nach der Erlösung des Todes gesehnt hatte, bekam es mit der Angst zu tun. O Mensch, wie wankelmütig ist dein Geist, wie täuschend dein Selbstmitleid, wie stark der Lebensfunke!

Ich wollte davonrennen, vermochte aber nur einen Schritt zu tun. Ein garstiges Wesen, mehr Spinne als Mensch, schob sich vor meine Füße und brachte mich zu Fall. Mein Gesicht schlug in feuchten Moder, den die Nachtkälte noch nicht erhärtet hatte. Dicht vor mir das verhängnisvolle Wesen, das sich in grotesker Gewandtheit in meinen Weg geschwungen hatte, obgleich es weder Füße noch Beine besaß. Ein verhutzelter Kopf saß auf einem mageren Leib, der sich auf unverhältnismäßig kräftigen Händen und Armen fortbewegte, seit ein unbekanntes Schicksal ihm die Beine geraubt hatte. Mit fast zahnlosem Maul griente er mich an und verlangte als Wegzoll einen Sol von mir oder, besser noch, einen Gulden.

»Warum nicht gleich zwei Gulden oder zwanzig?«, grinste ich zurück und wusste selbst nicht, woher ich diese Frechheit nahm. Sie kam mich teuer zu stehen, als mir die Spinne einen schmerzhaften Schlag – oder sollte man es in diesem Fall Tritt nennen? – gegen den Schädel versetzte. Sie schwang sich auf mich wie ein Ritter auf sein Ross, und die Meute johlte beifällig.

»Recht so, Escarbot, zeig dem feinen Pinkel, wer in der Nacht das Regiment führt!« – »Reite den Stutzer zuschanden, braver Escarbot!« – »Nehmen wir uns, was er uns nicht geben will, beim Hermes!« – »Und beim Merkur, falls es ‘nen Unterschied macht!« – »Reißt dem Pinsel die Kleider vom Leib!« – »Die Zähne aus dem Maul!« – »Die Haut in Fetzen!« – »Die Knochen aus dem Körper!«

Mich derart aufgeteilt zu sehen, setzte ungeahnte Kräfte in mir frei. Ich bäumte mich auf und schüttelte die widerliche Spinne, die sie Escarbot (Käfer) nannten, ab. Das missgestaltete Wesen stauchte oder brach sich beim Aufprall einen Arm – oder ein Bein, wie man’s nimmt – und quiekte jämmerlich. Mich rührte das nicht, dachte ich doch vor allem an meine Knochen, meine Haut und meine Zähne. Doch kaum stand ich auf meinen Beinen, hing die Meute an mir wie eine Fuhre steinschwerer Kletten und riss mich erneut zu Boden.

Spitze Knochen und scharfe Fingernägel stachen in mein Fleisch. Schreie dröhnten mir in den Ohren. Speichel troff auf mich aus fauligen Mäulern. Knüffe, Püffe und Tritte ließen mich mit meinem Leben abschließen. Der Tod erschien mir beileibe nicht mehr so wünschenswert wie noch kurz zuvor, gleichwohl ebenso nahe wie unausweichlich.

Rasch erlahmten meine Kräfte unter der Vielzahl von Armen und Beinen, die mich traktierten und am Boden hielten. Eine erstaunliche Überzahl schmutziger Gliedmaßen, bedachte man die eben noch zur Schau gestellten Gebrechen. Manch ein Krüppel war plötzlich keiner mehr, hatte sein fehlendes Glied aus dem Nichts hervorgezaubert, um schmerzhaften Gebrauch davon zu machen.

Als meine Pein alles andere auslöschen wollte, als ein würgender Griff um meine Kehle mir in einem nahezu gnädigen Akt den Atem zu rauben drohte, ließ der Druck der unzähligen Leiber unvermittelt nach. Ein Spiel, das die Lumpenkerle trieben, um mein Leid und ihren Spaß daran zu verlängern?

Doch sie wichen vor mir zurück wie vor einem Aussätzigen, Erschrecken und Furcht in den eben noch höhnischen Fratzen. Wie ein Haufen Herbstlaub, der von einem Windstoß durcheinandergewirbelt wird.

Es war ein schwarzer Wind, ein Nachtschatten, der unter das Bettelpack gefahren war. Ein seltsam unbeweglicher Wind, der nichts weiter tat, als starr dazustehen und in befehlender Geste einen Arm auszustrecken, der in die Finsternis wies. Doch das genügte.

Die Schnorrer und Halsabschneider erbleichten, bekreuzigten sich und riefen den Herrgott an, dessen Gebote sie eben noch sehr großzügig ausgelegt hatten. Fast erleichtert folgten sie dem stummen Befehl des Nachtschwarzen und ergriffen die Flucht, in solch wilder Angst, dass sie über ihre – vorhandenen wie nicht vorhandenen – Beine stolperten. Nur wenige Augenblicke nachdem ich mich als lebloser Fleischklumpen in der Seine hatte treiben sehen, war der letzte meiner Peiniger in den engen, düsteren Gassen verschwunden.

Nur der Schwarze stand noch da, halb verschmolzen mit den Schatten, gehüllt in eine dunkle Kutte, deren weit vorgezogene Kapuze sein Gesicht in einem finsteren Loch verbarg. Ich lag am Boden, eine zerschundene Kreatur; wie ein geprügelter Hund, der ergeben zu seinem Herrn aufschaut.

Seltsamerweise empfand ich kaum Erleichterung, geschweige denn Freude über meine wundersame Errettung. Das Gaunerpack war ein Schrecken gewesen. War dann die starre Gestalt, der Schrecken eines Schreckens, nicht eine noch größere Bedrohung? Von den würgenden Händen befreit, atmete ich durch, aufatmen konnte ich nicht. Zu ungewiss erschien mir, was diese unheimliche Nacht im Herzen von Paris noch für mich bereithielt.

Der Schwarze trat auf mich zu, und mir war, als wehe plötzlich ein eiskalter Wind über die Ile de la Cité. Doch die Apfelbäume am Uferstreifen standen unbewegt, und das Wasser kräuselte sich nicht. Die Wolken verharrten am Himmel. Ich aber erschauerte und spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken sträubten.

Unheimlich, fast tonlos, drang ein flüsternder Singsang an mein Ohr: »Sucht Eure Sachen zusammen, die Nacht wird kalt.«