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Beppo Beyerl
DIE BENEŠ-DEKRETE

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur/Wien

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Beyerl, Beppo :

Die Beneš-Dekrete : zwischen tschechischer Identität und deutscher Begehrlichkeit / Beppo Beyerl. –

Wien : Promedia, 2002.

ISBN 3-85371-194-4

© 2002 Promedia Druck- und Verlagsges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Gisela Scheubmayr, unter Zuhilfenahme von zwei Fotos, die dem Buch Komlosy/Bůžek/Svátek (Hg.), Kulturen an der Grenze. Waldviertel – Weinviertel – Südböhmen – Südmähren, Wien 1995, entnommen sind.

Lektorat: Erhard Waldner

ISBN 3-85371-194-4

eISBN 978-3-85371-842-1

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Inhalt
VORWORT
DIE FAMILIEN KOTRČ UND DRACH
DIE SITUATION DER SUDETENDEUTSCHEN
Zahlen
Unterdrückung der sudetendeutschen Bevölkerung?
Konrad Henlein als sudetendeutsche Integrationsgestalt
Das Geschichtsbild der Vertriebenenverbände (1)
Sudetendeutsche als Antifaschisten
DIE SITUATION DER TSCHECHEN
Die Katastrophe: Das Münchner Diktat
Die Okkupation der „Rest-Tschechei“
Die Liquidierung des alten Staates
Arisierung und Zwangsarbeiter
Das Geschichtsbild der Vertriebenenverbände (2)
DAS REICHSPROTEKTORAT BÖHMEN UND MÄHREN
Karl Hermann Frank als sudetendeutscher Machtpolitiker
Interview mit Ivo Kieslich, Prag
Der Widerstand im Reichsprotektorat
Die ersten Pläne der Exilpolitiker
Transferpläne in der Geschichte
Transferpläne in der konkreten Situation
Die Sistierung des Planes 5
Das Geschichtsbild der Vertriebenenverbände (3)
DIE BEFREIUNG
Die Situation im Jahr 1945
Der Aufbau des neuen Staates
Das Kaschauer Programm
DIE EINZELNEN DEKRETE
Dekret vom 19. Mai 1945
Dekret vom 19. Juni 1945 („Retributionsdekret“)
Dekret vom 21. Juni 1945
Dekret vom 20. Juli 1945
Dekret vom 2. August 1945
Dekret vom 19. September 1945
Dekret vom 27. Oktober 1945
Gesetz vom 8. Mai 1946
Der Potsdamer Vertrag
VERTREIBUNG/FLUCHT/ABSCHIEBUNG/ODSUN
Flucht vor Kriegsende
„Wilde“ Vertreibungen
Einzelne Massaker
Die geregelte Vertreibung
Das Geschichtsbild der Vertriebenenverbände (4)
DIE SITUATION IN DEUTSCHLAND NACH 1945
Die Landsmannschaft
Die Integration
Die Verträge
DIE GEGENWART
Aufhebung der Dekrete?
Reaktionen auf tschechischer Seite
Positive Lösungsszenarien
ANHANG
Dekret des Präsidenten der Republik vom 19. Mai 1945
Dekret des Präsidenten der Republik vom 21. Juni 1945
Dekret des Präsidenten der Republik vom 19. September 1945
Gesetz vom 8. Mai 1946
Potsdamer Konferenz, Artikel XIII
Anmerkungen
Übersichtskarte

VORWORT

Die Diskussion über die Beneš-Dekrete wurde viel zu lange den Vereinen der Sudetendeutschen sowie den ihnen vorgespannten Politikern aus Österreich und Bayern überlassen. Ihre Positionen sind eindeutig: weg mit den Dekreten, Restitutionszahlungen für alle Vertriebenen. Dabei erwähnen sie nicht, welche historischen Ereignisse zu den besagten Dekreten geführt haben. Zudem unterstützen viele Sprecher der Sudetendeutschen größtenteils noch immer die Forderungen des Münchner Abkommens vom Oktober 1938 und rücken so in bedenkliche Nähe zu Positionen des Nationalsozialismus.

Linke und Grüne bezogen zu diesem Themenkreis bisher kaum eindeutig Stellung. Einerseits fehlt vielen der Zugang zu der doch etwas komplexen Materie – die Publikationen der Vertriebenenverbände liefern kein brauchbares Material. Zum anderen wollen sie sich nicht durch vorschnelle Kritik an den Dekreten von den populistischen Nationalisten vereinnehmen lassen.

Diese Situation – Besetzung der Themen und damit politische Tabuisierung durch die Rechte sowie Schweigen der Linken – war für mich äußerst unbefriedigend. So begann ich Material zu sammeln, vor allem über die Zeit der Okkupation, aber auch über die Phase der Vertreibungen. Ich sprach mit Tschechen, unter anderem auch mit Pepi Bičan, dem letzten damals noch lebenden Kicker des „Wunderteams“, der im Dezember 2001 gestorben ist. Und ich wühlte mich durch verschiedene Zeitdokumente.

Dann schrieb ich dieses Buch.

Nach seiner Lektüre möge – so mein Wunsch – über die Beneš-Dekrete eine Debatte stattfinden, die ohne Schuldzuweisungen auf einem komplexeren Niveau ablaufen könnte als auf jenem der Vereine der Sudetendeutschen.

Beppo Beyerl
Wien, im Juni 2002

DIE FAMILIEN KOTRČ UND DRACH

České Velenice, die Stadt an der niederösterreichisch-böhmischen Grenze, in der Wohnung von Miroslav Kotrč. Seine Frau erzählt von ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Die Großmutter wohnte bereits zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie in České Velenice, als die Stadt Unter-Wielands hieß und zu Niederösterreich gehörte. Damals kaufte eine Schwester der Großmutter in Eibenstein in der Nähe der Gmünder Blockheide ein Wirtshaus, das ihre Nachkommen heute noch betreiben.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich gezogen. Trotzdem blieben die Familienbande noch recht intakt: Der auf der tschechischen Seite siedelnde Zweig der Familie unterstützte den auf der österreichischen Seite, der infolge einer großen Kinderzahl kurzfristig mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte.

Die Mutter von Frau Kotrč wohnte malerisch am nördlichen Ufer der Lainsitz/Lužnice. Doch schon in den späten 1920er Jahren marschierten südlich der Lainsitz, am österreichischen Ufer, in der Nacht die fackelbewehrten Nationalsozialisten. Sie grölten ihre hasserfüllten antitschechischen Parolen und warfen Steine auf die nördliche Seite, wo viele tschechische Arbeiter lebten.

Anfang Oktober 1938 – nach dem Münchner Abkommen – annektierten die NS-Truppen den als Sudetenland bezeichneten südböhmischen Landstrich, der von nun an zum Großdeutschen Reich gehörte. Aus České Velenice machten die Nationalsozialisten kurzerhand „Gmünd III“.

Nun folgte die von tschechischer Seite als „evakuacia města“, als „Evakuierung der Stadt“ bezeichnete Vertreibung der Tschechen. Mit allen Landsleuten mussten die Mutter von Frau Kotrč und ihre kleine Tochter Heim und Haus in České Velenice beziehungsweise „Gmünd III“ verlassen. Aus der neuen provisorischen Unterkunft wurden die beiden bald darauf wieder vertrieben. Nach weiteren vier provisorischen Unterkünften und vier Vertreibungen gelangten sie in den größtenteils von Tschechen besiedelten Ort Suchenthal/Suchdol, der sich knapp außerhalb des von den NS-Truppen annektierten Gebietes befand. Dort gründeten die beiden ihre neue Heimstätte.

Am 7. April 1945 wurde „Gmünd III“ von der Roten Armee befreit, die Stadt hieß wieder České Velenice, diesmal mussten die Deutschsprachigen weichen. Frage an Frau Kotrč: „Alle?“ – „Nein, nicht alle, es gibt auch welche, die hier geblieben sind.“ – „Aber warum mussten auch die weichen, die nachweislich nichts mit den Nazis zu tun hatten?“ – „Das ist Geschichte und wir müssen aufhören, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen, und uns die Hände reichen.“

In der Zwischenzeit hatte Frau Kotrč ihren heutigen Mann Miroslav kennen gelernt und war wieder nach České Velenice zurück übersiedelt. Nach der „velvet revolution“ von 1989 wurde ihr Mann zum Bürgermeister des Ortes gewählt. In regelmäßigen Abständen traf er sich mit seinem Kollegen Alfred Drach, dem Bürgermeister von Gmünd, zu gemeinsamen Konsultationen.

Der Gmünder Alfred Drach wurde in der Tschechoslowakei geboren. Seine Eltern wohnten in Suchenthal/Suchdol, also in jenem Ort, in dem 1939 die Mutter von Frau Bürgermeister Kotrč neu angesiedelt wurde. Vater Drach, ein Glasbläser in der Glashütte zu Suchenthal/Suchdol, war sieben Jahre lang arbeitslos, sicher auch deshalb, weil die Tschechen bei der Beschäftigungspolitik die eigenen Leute bevorzugten.

Am 1. Oktober 1938 marschierten die Nationalsozialisten in die sudetendeutschen Gebiete ein. Nun erfolgte ein ethnischer Austausch: Die dort wohnenden Tschechen mussten ins tschechische Landesinnere und die Deutschen aus dem tschechischen Landesinneren heraus. So übersiedelten die Eltern Drach mit dem damals zweijährigen Alfred nach „Gmünd III“. Vater Drach ging zur SA-Blasmusik und erhielt eine Stellung als Streckengeher bei der Eisenbahn sowie eine Wohnung im Bahnwärterhäuschen im Bereich des großen Hauptbahnhofs. Ohne zur Wehrmacht einrücken zu müssen, versah er seinen Dienst bis 1945.

1945 wurde Gmünd III von der Roten Armee besetzt; nun wurden die Deutschsprachigen vertrieben. Erst hoffte Vater Drach als Deutsch und Tschechisch sprechender Eisenbahner in České Velenice bleiben zu können. Eines Tages im August 1945 kamen Partisanen und sagten zu ihm: „Du stehst auf der Liste, weil deine Schwiegermutter eine Nazifrau war, und wir müssen dich morgen holen. Wir sagen dir das, weil du gut warst zu den Tschechen. Also verschwinde lieber gleich!“

Noch am selben Tag flüchtete er mit seiner Frau und dem kleinen Alfred auf die österreichische Seite. Einige Habseligkeiten konnte er über die Lainsitz/Lužnice mitschleppen, doch auch nach der Flucht schlich er ein paar Mal nach České Velenice hinüber, um sich eigenen Hausrat zu schnappen.

Bald wurde Vater Drach Eisenbahner in Gmünd. 1948 kam der Sohn Franz auf die Welt. Mutter Drach lebt heute hochbetagt in Gmünd. Die tschechische Sprache, die sie früher recht gut beherrschte, ist ihr seit den Ereignissen von 1945 verleidet. Der ältere Sohn Alfred wurde wie sein Vater Eisenbahner. Später engagierte er sich in der Kommunalpolitik, im Januar 1988 wurde er zum Bürgermeister von Gmünd gewählt. Zu Beginn der 1990er Jahre verlor jedoch seine sozialdemokratische Fraktion Stimmen bei den Gemeinderatswahlen, weil die Bevölkerung es ihm übel nahm, dass er sich für den Fußgängerübergang über die Lainsitz/Lužnice in die Tschechische Republik eingesetzt hatte. Seither hat er sich aus der Politik zurückgezogen.

Der zweite Sohn, Franz, unterrichtet heute an der Gmünder Handelsakademie die Fächer Geschichte und Deutsch. Im Rahmen eines Schulversuches können auch einige tschechische Schüler die Handelsakademie in Gmünd besuchen. Sollte Franz Drach aus administrativen Gründen einen Brief von Gmünd aus an den Bürgermeister von České Velenice schicken, so kommt dieser Brief nach etwa zehn Tagen an, da er erst nach Wien, dann nach Prag und von dort zu seinem Zielort transportiert wird. So zieht es Franz Drach vor, zu Fuß über den neuen Grenzübergang zu gehen und sich mit dem Bürgermeister der Nachbarstadt in einem Café zu treffen.

Was geschah in den Jahren 1945/46? Warum wurden damals Personen vertrieben, die objektiv – nach den gültigen Bestimmungen des Strafrechts – keine Schuld auf sich geladen hatten? Gut, Vater Drach war einer der SA angereihten Organisation beigetreten. Das allein erfüllt aber nicht den Tatbestand eines Verbrechens. Zudem erscheint die Begründung plausibel, dass Vater Drach sich der SA-Blasmusik anschloss, um einen Job bei der Eisenbahn zu erhalten – als Eisenbahner hatte er große Chancen, nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden.

Warum also wurden Unschuldige vertrieben, ausgesiedelt, abgeschoben und transferiert, stets unter Zurücklassung des größtes Teils ihres durch Generationen hindurch erworbenen Besitzes?

Was heißt da schon: Es „wurden“ Unschuldige vertrieben. Bis heute, bis in die unmittelbare Gegenwart, werden in ethnischen Mischgebieten bei politischen Auseinandersetzungen oft recht brutale Lösungen durchgeführt. Betrachten wir aus der jüngsten Vergangenheit etwa die Ereignisse in der Krajina. Dort vertrieben erst die serbischen Truppen die dort wohnenden Kroaten. Bis dann 1995 kroatische Truppen in der Aktion „Oluja“ – zu Deutsch: Sturm – die Krajina zurückeroberten, die Serben vertrieben und ihre Häuser sprengten. Woraufhin ein Treck von 200.000 bis 300.000 derangierten und mittellosen Serben gegen Osten in das serbische Stammland zog. Die Krajina ist seither rein kroatisch besiedelt und von allen fremden Elementen gesäubert.

Ethnische Mischgebiete sind also potenziell brisant und konfliktträchtig. Wie man in der Vergangenheit – konkret: vor etwa sechzig Jahren – in der Tschechoslowakei diese Konflikte löste und bereinigte, darüber soll dieses Buch Auskunft geben.

DIE SITUATION DER SUDETENDEUTSCHEN

ZAHLEN

Wie allgemein bekannt, umfasste die 1918 neu gegründete Tschechoslowakische Republik an ihrer Nord-, West- sowie Südgrenze Gebiete mit einem großen Anteil an deutschsprachiger Bevölkerung. Weiters gab es in Böhmen und Mähren die deutschen Sprachinseln in Brünn/Brno und in Iglau/Jihlava. Nach dem Gebirgszug der Sudeten, der die damalige Tschechoslowakei von Polen trennte, nannte man etwa ab 1920 alle Deutsch sprechenden Bewohner der tschechischen Randbezirke, also auch die Bewohner der südlichen Randbezirke Krumau/Český Krumlov, Kaplitz/Kaplice und Neuhaus/Jindřichův Hradec, mit einem Sammelbegriff: die „Sudetendeutschen“.

Weiters dürfte allgemein bekannt sein, dass auf dem Territorium der ersten Tschechoslowakischen Republik – abgesehen von den Sudetendeutschen – auch im slowakischen Teil Deutsch sprechende Gruppen lebten, die als „Karpatendeutsche“ bezeichnet wurden.

Weniger bekannt hingegen ist die Tatsache, dass ein Sudetendeutscher aus Jägerndorf/Krnov mit seinem Landsmann etwa aus Znaim/Znojmo außer der Verwendung der deutschen Sprache keine Gemeinsamkeiten aufwies. Jägerndorf/Krnov gehört zu Schlesien, Znaim/Znojmo zu Südmähren. Ein Bewohner von Jägerndorf/Krnov verfügte über eine völlig andere Geschichte, Kultur und Identität als der Bürger aus Znaim/Znojmo. Der Begriff „sudetendeutsch“ ist demnach eine Konstruktion ohne geschichtliche Legitimität, entstanden im Volkstumskampf der frühen 1920er Jahre.

Zudem kann man in diesem Zusammenhang nicht von einem geschlossenen rein deutschen Siedlungsgebiet sprechen. Nehmen wir die Volkszählung der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder vom 31. Dezember 1910 als Grundlage. Um eine etwaige Nationalitätenzugehörigkeit zu bestimmen, wurde damals die „Umgangssprache“ als Kriterium erhoben, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Zweifelsfall – etwa bei Doppelsprachigkeit – die Personen unter dem damals herrschenden Germanisierungsdruck eher für die Amtssprache „Deutsch“ als für „Tschechisch“ votierten, das von vielen Deutschen als „Dienstbotensprache“ verachtet wurde.

In den böhmischen Grenzbezirken votierten 46,6% für „Deutsch“ und 53,4% für „Tschechisch“. Für die mährischen Grenzbezirke lauten die Zahlen 37,2% für „Deutsch“ und 59,2% für „Tschechisch“. Natürlich gab es Regionen mit absoluter Präferenz für „Deutsch“, etwa den Bezirk Kaplitz/Kaplice mit 94,7%, aber ebenso mit tschechischer Präferenz, etwa Budweis/České Budějovice (79,2%) oder Wittingau/Třeboň (94,1%).

1921, genau elf Jahre später, fanden die ersten Zählungen in der neuen Tschechoslowakischen Republik statt. Dabei wurde nicht mehr die Sprache, sondern das nationale Bekenntnis erhoben, wobei auf Grund des Tschechisierungsdrucks die Gemischtsprachigen wahrscheinlich eher für „tschechisch“ votierten. Zudem konnten viele Juden, die 1910 „deutsch“ angaben, sich 1921 zur „jüdischen Nationalität“ bekennen.

In Zahlen: In den böhmischen Grenzbezirken votierten 39,4% für „deutsch“ und 60,8% für „tschechisch“. In den mährischen Grenzbezirken lauten die Zahlen 27,6% für „deutsch“ und 71,5% für „tschechisch“. Ziemlich ausgeglichene Resultate erbrachten die Zählungen in Iglau/Jihlava sowie in Znaim/Znojmo. In Kaplitz/Kaplice führten die Deutschen mit 90,2%, in Budweis/České Budějovice die Tschechen mit 89%.1

Insgesamt lebten auf dem Territorium der Tschechoslowakei etwa 3,3 Millionen Deutschsprechende: Sudetendeutsche, Karpatendeutsche und die Bewohner der Sprachinseln. Die Zahl der Sudetendeutschen kann man mit 2 bis 2,3 Millionen ansetzen.

Trotzdem kann man nicht von rein deutschen Siedlungsgebieten sprechen. Um ethnisch bereinigte Gebiete herzustellen, mussten 1938 erst einmal die Tschechen aus den Gebieten der Sudetendeutschen vertrieben werden.

UNTERDRÜCKUNG DER SUDETENDEUTSCHEN BEVÖLKERUNG?

Am 28. Oktober 1918 wurde vom Národní Výbor, dem Nationalausschuss, die neue Tschechoslowakische Republik proklamiert. Nun beklagten die insgesamt etwa 3,3 Millionen Deutschen, dass die Siegermächte es zwar den Tschechen und Slowaken ermöglichten, gemäß den Thesen des US-amerikanischen Präsidenten Wilson den Nationenverbund – oder den Völkerkerker – der Monarchie zu verlassen und einen eigenen Staat zu gründen. Hingegen wurde es der deutschsprachigen Minderheit nicht gestattet, ihrerseits aus dem neuen Vielvölkerstaat der Tschechoslowakei auszuscheiden und gemäß denselben Prinzipien desselben Präsidenten selbst das Recht auf nationale Selbstbestimmung wahrzunehmen.

Laut der neuen tschechoslowakischen Verfassung gab es nur ein Staatsvolk, das „tschechoslowakische“. Der Text der Verfassung unterschied dabei nicht einmal zwischen Tschechen und Slowaken, die übrigens zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in einem gemeinsamen slawischen Staat lebten. Die neue Republik war demnach der Nationalstaat der „Tschechoslowaken“, die Deutschsprachigen galten weder als staatstragende noch als staatsbildende Nation. Sie erhielten die juristisch deutlich schlechtere Position einer „nationalen Minderheit“.

Dessen ungeachtet gab es unter den „Deutschen“ eine große Gruppe, die sich zur Tschechoslowakei bekannte und sich aktiv an Aufbau und Verwaltung des neuen Staates beteiligen wollte: die „Aktivisten“. Bei den Wahlen von 1925 votierte immerhin die Mehrheit der Sudetendeutschen für die sudetendeutschen Sozialdemokraten und die sudetendeutschen Christlichsozialen, die eine Zusammenarbeit mit den „Tschechen“2 anstrebten. Franz Spina von der Agrarier-Partei und später der Sozialdemokrat Ludwig Czech – beide Sudetendeutsche – übernahmen Ministerämter in den jeweiligen tschechoslowakischen Regierungen.

Die Parteien waren in der ersten Tschechoslowakischen Republik in tschechische und deutsche Gruppierungen gespalten. Die einzige übernationale Partei in der damaligen Parteienlandschaft war die KPČ, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei. Ihr Parteivorsitzender, der damals noch recht junge Klement Gottwald – 1948 wurde er zum Drahtzieher des kommunistischen Umsturzes und danach zum ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Volksrepublik –, wollte zusammen mit den unterdrückten Deutschen den Kampf gegen die tschechische Bourgeoisie aufnehmen. Er optierte wie Wilson für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und verkündete anlässlich des 6. Parteitages im Jahr 1931 den doch überraschenden Satz: „Die Tschechoslowakei ist ein schlimmerer Völkerkerker, als es das alte Österreich war!“

Den „Deutschen“ ging es immer schlechter. Zwei völlig verschiedene Faktoren gaben dafür den Ausschlag.

Einmal erfasste die in den späten 1920er Jahren einsetzende Wirtschaftskrise akkurat jene Bereiche, die vor allem in den Sudetenländern angesiedelt waren: die Leicht- und die Konsumgüterindustrie. Viele deutsche Glasbläser, Strumpfwirker, Weber und Stoffdrucker wurden arbeitslos. Die Arbeitslosenzahlen in den deutschen und gemischtsprachigen Randgebieten waren etwa doppelt so hoch wie in den innertschechischen Bezirken. Einen Schuldigen für diese Strukturprobleme hatten die Politiker der Sudetendeutschen recht bald gefunden: die in Prag amtierenden tschechischen Behörden.

Zum anderen benachteiligten die tschechischen Behörden die deutschsprachige Minderheit tatsächlich bei vielen staatlichen Regulierungsmaßnahmen: Einstellung in den Staatsdienst, Förderung der Infrastruktur, Bereitstellung von Bildungsangeboten.

Trotzdem muss ergänzend gesagt werden, dass die Klagen vieler Sudetendeutscher über die brutale Unterdrückung und den entsetzlichen Terror von Seiten der tschechischen Behörden sicher nicht zutreffend waren und eher vom Tschechenhass der deutschen Bevölkerung als von der Einsicht in reale Gegebenheiten getragen wurden. Zwar stimmt es, dass die Zahl der deutschen Beamten – zum Teil durch das Einführen von sprachlichen Eignungsprüfungen – verringert wurde. Dennoch war 1930 der relative Anteil der Deutschen im Staatsdienst noch immer höher als der der Tschechen.

Auch ist es richtig, dass die tschechischen Schulbehörden den Bau von tschechischen Schulen vor allem im deutschen Siedlungsgebiet forcierten. Doch wiesen die deutschen Klassen der Grundschulen noch immer geringere durchschnittliche Schülerzahlen auf als die tschechischen, selbst die Klassen im Deutschen Reich hatten mit größeren Schülerzahlen zu kämpfen. Auch die Zahl der höheren Schulen der Deutschen überstieg die der Tschechen im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungszahl.

Einige Beispiele für die De-facto-Autonomie der deutschsprachigen Bevökerung in den „Sudetengebieten“: In den Grundschulen wurden alle Fächer auf Deutsch unterrichtet. Tschechisch war nicht einmal Pflichtfach, sondern wurde nur im Rahmen von „Unverbindlichen Gegenständen“ gelehrt. Selbst die amtlichen Formulare für die Zeugnisse waren zur Gänze auf Deutsch und wiesen kein einziges tschechisches Wort auf. Am Kopf stand „Cechoslowakische Republik“, sogar das „Háček“ auf dem C wurde ihr verweigert, in der Rubrik „Land“ war Böhmen eingetragen, im „Schulbezirk“ etwa Karlsbad.

Wer sein erspartes Geld, also seine tschechoslowakischen Kronen, auf die Bank trug, konnte ein „Einlagebuch“ etwa der „Volksbank Karlsbad“ erwerben, in dem von der Angabe des Zinsfußes bis zu den abgedruckten „Bestimmungen für Geldeinlagen“ ausschließlich die deutsche Sprache verwendet wurde. „Zinsen“ wurden berechnet, der „Stand“ wurde mit manchmal feiner, manchmal grober Handschrift notiert und am Schluss jeder Seite der „Fürtrag“ ausgerechnet. Mit 1. November 1938 erfolgte dann die Umrechnung des Guthabens in „RM“, also in Reichsmark.

Dennoch verstärkte sich bei vielen Deutschen um 1930 die Bereitschaft, ihr Heil nicht in einem Verbleiben in der Tschechoslowakischen Republik zu suchen. Als dann 1933 im Deutschen Reich Adolf Hitler an die Macht kam, konnte die Heilssuche ziemlich eindeutig lokalisiert werden: Heim ins Reich.

Die zwei Parteien, die den „Heim ins Reich“-Wunsch besonders stark artikulierten – die Deutsche National-Sozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) und die Deutschnationale Partei (DNP) –, wurden 1933 von den tschechischen Behörden verboten, da die von ihnen angestrebte Sezession aus dem Gesamtstaat eindeutig nicht verfassungskonform war.

KONRAD HENLEIN ALS SUDETENDEUTSCHE INTEGRATIONSGESTALT

Nun schlug die große Stunde des Turnlehrers Konrad Henlein. Er gründete die Sudetendeutsche Heimatfront (SHF) als Sammelbecken aller nichtsozialistischen deutschen Aktivisten – überraschenderweise wurde die Heimatfront von den tschechischen Behörden nicht verboten.